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Die Literaturzeitschrift Lichtungen erscheint vier Mal im Jahr und hat ihren Redaktionssitz seit 1979 in Graz. Nahezu jede Ausgabe widmet sich einem internationalen Schwerpunkt und zeitgenössischer Literatur. Doch für die vorliegende Nummer 177 rücken wir schlicht die Literatur an sich in den Fokus. Clemens J. Setz. Patrick Holzapfel. Kateřina Černá. Mario Hladicz. Kholoud Charaf. Pietro Russo. Jan Decker, Nadia Rungger. Mario Huber. Vladimir Arsenijević. Andrea Grill. Theodora Bauer. Martin Peichl, Ingrid Zebinger-Jacobi. Das sind die Autor:innen in der Reihenfolge ihres Erscheinens.
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Seitenzahl: 92
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Das letzte Jahr war ziemlich fordernd für uns – wir haben die Lichtungen als E-Book verfügbar gemacht und die Edition Lichtungen gelauncht: eine nach Bedarf erscheinende Sondernummer, in der wir uns zweisprachig einem bestimmten Thema widmen. Edition Lichtungen #1 fokussiert ganz auf den albanischen Autor Lasgush Poradeci und wurde in der albanischen Kulturszene voller Begeisterung aufgenommen.
Edition Lichtungen #1
Die internationalen Schwerpunkte 2024 scharren schon in den Startlöchern, doch für die vorliegende Nummer rücken wir schlicht die Literatur an sich in den Fokus. Clemens J. Setz. Patrick Holzapfel. Kateřina Černá. Mario Hladicz. Kholoud Charaf. Pietro Russo. Jan Decker, Nadia Rungger. Mario Huber. Vladimir Arsenijević. Andrea Grill. Theodora Bauer. Martin Peichl, Ingrid Zebinger-Jacobi. Das sind die Autor:innen in der Reihenfolge ihres Erscheinens, begleitet von wunderbaren Übersetzer:innen und einem hochaktuellen Kunstteil von Anita Fuchs.
Wir hoffen, Sie haben an dieser Ausgabe genauso viel Freude wie wir!
Andrea Stift-Laube
EDITORIAL
POESIE AN UNVERMUTETEN STELLEN
Clemens J. Setz
Pfandbrief und Kommunalobligation, die Schutzgeister des deutschen Taschenbuchs Folge 18
LITERATUR
Jan Decker
Steine und Worte
Patrick Holzapfel
Wörter für die Welt
Kateřina Černá
Mondvögel
Mario Hladicz
Traumprosa
Kholoud Charaf
Gedichte
Aus dem Arabischen von Kerstin Wilsch
Pietro Russo
Einer Geschichte zugehören
Aus dem Italienischen von Helmut Moysich
Nadia Rungger
Gedichte
Ingrid Zebinger-Jacobi
Perfektionen
Mario Huber
Rundenweise
Vladimir Arsenijević
Das ist kein fröhlicher Ort
Aus dem Serbischen von Lejla Alibašić, Jelena Dabić, Mascha Dabić, Brigitte Döbert, Ivana Miloš und Rebekka Zeinzinger
ZEITKRITIK
Theodora Bauer
Später wird es wieder morgen
ABSPANN
Martin Peichl
I want to believe Über die unheimlichen Grenzen des Erzählbaren
GUTES VON GESTERN
KURZBIOGRAFIEN
IMPRESSUM
Clemens J. Setz
Folge 18: Pfandbrief und Kommunalobligation, die Schutzgeister des deutschen Taschenbuchs
In alten Rororo-Taschenbüchern findet sich eine bemerkenswerte Sache, über die viel zu wenig gesprochen wird. Den Jüngeren unter uns dürfte sie wahrscheinlich gar nicht mehr bekannt sein, und selbst Ältere haben dieses bizarre Poesieangebot vermutlich so oft gedankenlos überblättert, dass sie sich nur dunkel an seine Existenz erinnern.
Ich spreche von der, im Nachhinein betrachtet, ungewöhnlich erscheinenden Idee des Rowohlt-Verlags, Werbeeinschaltungen mitten in einem Roman, anstatt im Anschluss an den Haupttext, zu drucken, und darüber hinaus nicht einfach Werbung für verschiedene, sondern immer nur für ein einziges Produkt, oder besser: für eine einzige Art der Investition, nämlich der in „Pfandbrief und Kommunalobligation“.
Man kann sich darunter einfach verzinste Wertpapiere vorstellen, die genauen Details müssen uns hier aber nicht interessieren. Das Interessante daran ist, dass diese Werbeseiten in den Taschenbüchern so gestaltet wurden, dass sie aus dem literarischen Text, ja manchmal sogar aus den auf der vorangegangenen Seite erwähnten Motiven der Erzählung zu folgen schienen. Ich besitze einige alte Rororo-Taschenbücher, etwa von François Mauriac (Das Gewand des Jünglings) oder David Garnett (Meine Frau, die Füchsin), in denen noch mitten im Buch vollkommen anlasslos und plump für Zigaretten geworben wurde. Ab 1962 wurde das anders.
Der offiziellen Webseite des Verfassers der Kleinanzeigen, Claus D. Grupp, entnehme ich folgende Fakten:
Auftraggeber war der Gemeinschaftsdienst der Boden- und Kommunalkreditinstitute in Köln, dem alle privaten Hypothekenbanken und öffentlichen Banken angeschlossen waren. Zuvor waren in Taschenbüchern Anzeigen für Zigaretten oder Autos erschienen, ohne jeden Bezug zum Inhalt der Bücher. Das Neue an den Pfandbriefanzeigen war, dass sie auf eine Stelle im Buch Bezug nahmen, z.B. eine Aussage aus einem Dialog aufgriffen und dies als Aufhänger für den Anzeigentext nahmen. Die Vorderseite (rechte Seite im Buch) brachte eine grafisch anspruchsvolle Illustration zum Buchtext (zu 90 Prozent von der Grafikerin Christa Janik aus Leinfelden-Echterdingen gestaltet). Darunter stand ein kurzer Text aus höchstens vier oder fünf Wörtern und drei Fortsetzungspunkten, der auf der Rückseite fortgesetzt wurde.
Und so sah das Ganze aus:
Mancher, der ein Buch liest, murrt …
... wenn er Werbung findet, wo er Literatur suchte. Reklame in Büchern !!!? Warum nicht auch zwischen den Akten in Bayreuth oder neben den Gemälden in der Pinakothek?
Das stimmt in meinem Fall übrigens gar nicht. Als junger Leser deutschsprachiger Übersetzungen von Faulkner, Thomas Wolfe, Genet oder Sartre in den angenehm billigen und häufig sogar gratis auffindbaren Gebrauchttaschenbüchern der alten Reihe las ich diese beiden so erzdeutsch klingenden Wörter, „Pfandbrief und Kommunalobligation“, so oft, dass sie mir, obwohl ich ihren Sinn gar nicht kannte, zu einer Art von Begleitzauber zu guter Literatur wurden. „Pfandbrief und Kommunalobligation!“, schrie das Buch immer dann, wenn es gerade richtig spannend wurde. Und ganz egal, wie anmutig und bewusstseinserweiternd sich irgendein mehrzeiliger Satz bei Faulkner (selbst in den etwas kraftlosen deutschen Übersetzungen) beim Lesen anfühlte, irgendwann, ja, vielleicht schon auf der nächsten Seite, trat jedes Mal dieses monokeltragende, steifgewandige Begriffspaar auf und erinnerte mich mit onkelhaftem Augenzwinkern daran, dass es hinter all der literarischen Poesie noch eine unglaublich gewichtige andere Welt gab: die Herzensangelegenheiten der deutschen Sparkassen.
In der Rororo-Ausgabe von Daniel Defoes Moll Flanders findet sich etwa folgende Einschaltung:
Von Gläubigern verfolgt …
... das war vor dreihundert Jahren nicht angenehmer, als es heute ist. Die beiden Möglichkeiten des Entkommens damals: Die Schulden bezahlen oder in die Münze flüchten, wo Bedrängte unantastbar waren. Misslang beides, wurde der Säumige in den Schuldturm gesperrt – was den Gläubiger zwar nicht finanziell, aber wenigstens auf eine andere Art befriedigte.
Das beste Mittel, Verfolgungen der Gläubiger vorzubeugen, war indes damals wie heute: keine Schulden machen. Auch Daniel Defoe erkannte das, aber zu spät: Von ihm stammt ein Traktat über die Wunder, die Sparsamkeit hervorbringen kann. Er schrieb es im Schuldturm.
Das berührt beinah die Sphäre des „camp“, also einer mehr oder weniger gezielt Elemente von Albernheit, Stilverfehlung, Kitsch und Missverständnis einsetzenden Art von Formulierkunst.
Oder hier, dieser unglaubliche Einschub mitten in Albert Camus’ Die Pest:
Als Gefangener der Pest …
... versucht Rambert die fast aussichtslose Flucht. Seine Situation in Oran, der Stadt „der Steine und des Staubes“, ist komisch; sie wäre absurd, wenn er sich entschlossen hätte, in Oran zu bleiben.
Aber Rambert ist kein absurder Typ; er glaubt an Möglichkeiten. Er glaubt an eine Zukunft, und er tut etwas dafür. Wie es auf seine Art der Doktor Rieux tut. Wie es auf seine Art jeder tut, der – für sich oder andere – vorsorgt.
Man weiß natürlich ganz genau, wie die Pointe lauten wird. Nie ist es eine andere. Es geht immer um Investitionen in Pfandbrief und Kommunalobligation. Und nach zwanzig vorhergehenden Beispielen jubelt man irgendwann innerlich mit, ja, gleich wird der Werbetexter das Lenkrad wieder in die bekannte Richtung herumreißen. Gerade lasen wir eine extrem dusselige Sexszene bei Henry Miller und bumm – denk daran, Junge, dass nur der Mann Erfolg bei Frauen haben kann, der auch finanziell vorgesorgt hat, nämlich durch PFANDBRIEF UND KOMMUNALOBLIGATION.
Es ist so fantastisch.
Die postmoderne Theorie der „Dekonstruktion“, wie sie etwa Jacques Derrida in seinen Lektüren von Freud, Rousseau oder de Saussure vorzeigte, besteht in der auf den ersten Blick etwas spielverderberisch klingenden Erkenntnis, dass der „Sinn eines Textes“ keineswegs etwas ist, was in dem Text selbst enthalten ist. Der Sinn werde vielmehr, so die Vertreter dieses Ansatzes, durch sozial und historisch suggerierte, also letztendlich rein arbiträre Festlegungen von Sinnstiftung, also vollständig von außerhalb, in das Ritual des Lesens hineingepresst. Alles kann alles „bedeuten“, abhängig von den internalisierten Kategorien vornehmlich kolonial oder patriarchal geprägter Denkhierarchien. Als gelebte Weltanschauung überzeugt mich das nicht im Geringsten, aber es findet zumindest eine recht lustige Bestätigung in den alten Rororo-Werbungen. Denn egal, für wie unschuldig man einen Satz oder eine Szene in einem Roman auch halten mag, es lässt sich immer, wirklich in jedem Fall, der Kapitalismus darin lesen. Alles kann als Werbung für ihn gewonnen werden, jeder Gedanke, jeder Autor, ja, selbst ein leidenschaftlicher Kommunist wie Sartre:
Was für Walther von der Vogelweide die Leier war …
... ist für Jean-Paul Sartre das Mikrofon. Für den Dichter von heute empfiehlt Sartre daher: „Die wahren Quellen, über die wir verfügen, um das mögliche Publikum zu erobern, sind: Zeitung, Rundfunk, Kino“ (Sartre: Was ist Literatur?). Die Mittel der Ansprache haben sich also, wie die Mittel der Aussage, mit dem Kreis der Angesprochenen verändert.
Unverändert aber ist die Situation des Schriftstellers insoweit, als er für die Freiheit zum Schreiben und Handeln eine gewisse Freiheit von materieller Bedrängnis braucht. „Ich han min Lehen“, sang deshalb schon Walther von der Vogelweide, als ihm sein Kaiser ein Bauerngut schenkte, für den Dienst an Seiner Majestät.
Seine Majestät das Volk gibt zwar heute keine Güter mehr zum Lehen, läßt jedoch die Dienste des Schriftstellers von Buchverlagen, Fernsehen, Funk und Massenpresse geziemend honorieren. Ein erfolgreicher Dichter unserer Zeit kann es sich leisten, unabhängig zu handeln. Ein kleines Vermögen im Hintergrund wurde selbst von Philosophen wie Schopenhauer nicht verschmäht: „So viel zu besitzen, daß man ... in wahrer Unabhängigkeit leben kann, ist ein unschätzbarer Vorzug. Nur unter dieser Begünstigung ... ist man Herr seiner Zeit und seiner Kräfte und darf jeden Morgen sagen: Der Tag ist mein. Auch ist eben deshalb zwischen dem, der tausend, und dem, der hunderttausend Taler Renten hat, der Unterschied unendlich kleiner, als zwischen ersterem und dem, der nichts hat.“
So der Text der Werbeeinschaltung in der alten Ausgabe von Sartres Der Ekel, absolut hinreißend und unüberbietbar in seiner werbezielbetonten Kaltschnäuzigkeit, seinem humorvoll-eingeweihten Vorbeilesen an den eigentlichen Motiven des Buches, und insgesamt sehr charakteristisch für diese Quelle unfreiwilliger Poesie, die es leider längst nicht mehr gibt und deren Blüten nur noch antiquarisch zu finden sind. Aber das müsste ja nicht so bleiben. Jawohl, man sollte durchaus heute wieder in der Mitte von Büchern inhaltsspezifische Werbungen zwischenschalten. Je sonderbarer die Kombinationen, die dadurch entstehen, desto besser. Dann könnten Autor:innen vielleicht auch etwas mehr mit den Buchverkäufen verdienen als die durchschnittlichen 1 bis 2 Euro pro verkauftem Exemplar. Wir akzeptieren Werbung überall, warum dann nicht auch dort, wo die in ihr verwendeten Formulierungen in Kontrast treten könnten mit Formulierungen ganz anderer Art. Was für Reichtümer an unfreiwilliger Komik, was für magische Übereinstimmungen, was für rätselhafte Textcollagen könnten sich da ergeben. Ich freue mich schon drauf.
Jan Decker
Steine und Worte
Steine auf dem Grabstein von Günther AndersAuf dem Hernalser Friedhof in WienDie sagen: Auch ich war hierWo Raben den Schnee des Vergessens aufwühlenDas Exil in Paris lebt hier fortAll unsere schreibenden Schwestern und BrüderDie im Dunkeln nach der Freiheit des Wortes grabenSie sollen nicht vergessen seinWie Steine auf deinem Grabstein
Patrick Holzapfel
Wörter für die Welt
Manchmal erzählt man von einer Zeit, die kommen wird. Das betrifft Gebete, Trost oder Weisheit, geheuchelt oder nicht. Man glaubt zu wissen oder weiß zu glauben, dass dieses oder jenes, auch wenn es noch so unerreichbar und fern liegt, eintreten wird. Ich habe den wildesten Prophezeiungen gelauscht, sie alle konnten sich dahinter verstecken, dass niemand sie im Augenblick ihrer Verkündung widerlegen konnte. Ich habe sie auch selbst ausgesprochen, wenn ich nicht weiterwusste. Als könnten Wörter Ereignisse beschwören: