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Beschreibung

Das prosperierende literarische Schaffen nordmazedonischer Autor:innen in ein repräsentatives Paket zu packen ist keine leichte Aufgabe. Marija Girevska hat sich ihr in Zusammenarbeit mit Alexander Sitzmann gestellt. Nikola Madzirov, Rumena Bužarovska, Magdalena Horvat, Lidija Dimkovska und Vlada Uroševićs schreiben über „Die Nähe der Entfernungen“. Außerdem in dieser Ausgabe zu finden: Gedichte der afghanischen Lyrikerin Nargis Niromand (übersetzt von Ali Abdollahi und Sarah Rauchfuß), Texte von Luca Kieser, Gertrude Maria Grosseger und Bernadette Schiefer, Folge 20 der Reihe Poesie an unvermuteten Stellen von Clemens J. Setz und ein Essay von Florian Rötzer zum Thema ChatGPT und Lesen. Weitere literarische Überraschungen finden Sie im Heft!

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Seitenzahl: 170

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179

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Editorial

Stellen Sie sich vor, man würde Ihnen verbieten, etwas laut vorzulesen. Stellen Sie sich vor, jegliche Öffentlichkeit wäre Ihnen nur unter strengsten Vorkehrungen gestattet. Stellen Sie sich vor, das Verlassen Ihrer Wohnung oder Ihres Hauses wäre Ihnen nur gestattet, wenn Sie ein Gewand tragen, das jeden Körperteil, jedes Stückchen Haut verhüllt. Stellen Sie sich vor, man würde Ihnen verbieten, zu singen. Auch Musik ist verboten – Homosexualität sowieso. Willkommen in Afghanistan 2024. Dort regieren islamistische Taliban, und sie regieren von Jahr zu Jahr ärger. Doch auch in Afghanistan leben Menschen, die sich nach Freiheit sehnen und nach der Möglichkeit, sich auszudrücken. Es ist uns deshalb eine Freude und Ehre, Gedichte von Nargis Niromand in den Lichtungen vorzustellen. Sie ist eine afghanische Autorin, die nicht wirklich so heißt. Wir danken Evelyn Schalk von der Grazer Wandzeitung ausreißer sehr für das Aufmerksammachen und Herstellen des Kontaktes. Sarah Rauchfuß und Ali Abdullahi haben die Lyrik übersetzt und wer weiß, was sich aus dieser Zusammenarbeit noch entwickelt. Wir hoffen weiter für die Menschen in Afghanistan.

Das prosperierende literarische Schaffen nordmazedonischer Autor:innen in ein repräsentatives Paket zu packen, ist keine leichte Aufgabe. Marija Girevska hat sich dieser in Zusammenarbeit mit Alexander Sitzmann gestellt. Nikola Madzirov, Rumena Bužarovska, Magdalena Horvat, Lidija Dimkovska und Vlada Urošević schreiben über „Die Nähe der Entfernungen“. Wir freuen uns sehr, dass dieser Schwerpunkt schon vor dem Erscheinen angefragt wird, die ersten Veranstaltungen dazu finden auf der Buch Wien und im Literaturhaus Salzburg statt. Danke an Meinhard Rauchensteiner für die zündende Idee und das Vernetzen aller Beteiligten!

„… wunderschöne Blautöne unterschiedlicher Helligkeitsstufen, weich und kantig strukturierte Formenwelten, exotische Blätter- und Bauwerke, beunruhigende Gesichter …“, schreibt Astrid Kury in ihrer Einleitung zum Kunstteil Richard Fleissners. Bereits das Cover lädt dazu ein, sich in diese Formen- und Farbenwelten zu versenken. Nehmen Sie sich die Zeit!

Wir hoffen, Sie haben an diesem Heft genauso viel Freude wie wir!

Andrea Stift-Laube

POESIE AN UNVERMUTETEN STELLEN

Clemens J. Setz

Folge 20: Das Ding, das du nicht besiegen kannst

LITERATUR

Tamara Štajner

Luft nach unten

Luca Kieser

Ein Geflecht aus Porträts

Bernadette Schiefer

Abwesenheit des Lichts

Hannah K Bründl

Tang

Nargis Niromand

Gedichte

Aus dem Persischen von Ali Abdollahi und Sarah Rauchfuß

Udo Kawasser

tarquinia – gespräche mit schatten

Miriam Drev

Unterwegs wurde es dunkel

Aus dem Slowenischen von Daniela Dämon

Gertrude Maria Grossegger

Frau

Meinhard Rauchensteiner

Skopje mon amour

SCHWERPUNKT: DIE NÄHE DER ENTFERNUNGEN. LITERATUR AUS NORDMAZEDONIEN

Übersetzungen

aus dem Mazedonischen von Alexander Sitzmann

Marija Girevska

Die Ferne der Nähe

Einleitung

Lidija Dimkovska

Koffer

Magdalena Horvat

Verfremdung

Vladimir Lukaš

Familienfotos

Nikola Madzirov

Die Nähe der Entfernungen

Vlada Urošević

Die siebte Seite des Würfels

EMIL-BREISACH-LITERATUR-PREIS 2023 DER AKADEMIE GRAZ

Antonia Löffler

Santa Maria

ZEITKRITIK

Rumena Bužarovska

Phyllis Rose, Proust und das verlorene Paradies

Florian Rötzer

ChatGPT und Co. oder was es heißt, lesen zu können

ABSPANN

Johannes Wally

All You Need Is Ego:

Die Netflix-Serie Altered Carbon (2018) als ideologisches Traktat

KURZBIOGRAFIEN

& Impressum

Poesie an Unvermuteten Stellen – Eine Serie

Clemens J. Setz

Folge 20: Das Ding, das du nicht besiegen kannst

Mir imponiert es immer, wenn Leute auf eigene Faust irgendwo Dinge nachbauen, die im Bezirk der Literatur und Poesie bereits seit Jahrhunderten existieren. Es ist dann fast so, als besäßen Literatur und Poesie noch einen Wert. Neulich etwa freute ich mich, als ich die bizarre „Nacherzähler“-Szene auf Tiktok entdeckte: junge Männer, die für eine zum Teil riesige Followerschaft brutale Hinrichtungsvideos nacherzählen und dabei gewisse Prinzipien der Poetik und der Narratologie von selbst neu entdecken (z. B. Andeuten statt Ausbuchstabieren, Suspension of Disbelief durch die Voice of Authority usw.), als wären sie etwas vollkommen Neues. Es freut mich auch sehr, dass bestimmte moderne Komponisten wie etwa John Cage oder Christian Wolff oder, ganz besonders, die Vertreter der sog. Danger Music wie Dick Higgins den Begriff von Musik so sehr erweiterten, dass die Partituren ihrer in der Aufführung zunehmend schwieriger und unmöglicher werdenden Stücke einfach zu Texten wurden, zu unterhaltsamen, witzigen und verblüffenden Prosagedichten.

Irgendwie scheint die Literatur überall an den Rändern zu warten. In Momenten radikaler künstlerischer Zuspitzung tritt sie immer plötzlich durch die Hintertür.

Auf eine besonders bewegende neue Form erzählerischer Poesie (an einer tatsächlich extrem unerwarteten Stelle) stieß ich vor Kurzem, als ich eines Abends nach möglichst monotonen Einschlafhilfen auf Youtube suchte. Ich wollte ein Playthrough des alten Ego-Shooter-Klassikers Doom anschauen und dabei wohlig wegdämmern. Ich kenne ja das Spiel seit meiner Jugend vollkommen auswendig und ein Gang durch seine ersten Levels fühlt sich für mich so an wie ein Gang durch die Straßen rund um den Grazer Volksgarten und Lendplatz, wo ich aufgewachsen bin. Alles vertraut, unkompliziert, beruhigend.

Aber die Levels, die in einigen der besonders langen und ausführlichen Playthroughs angeboten wurden, waren gar nicht die vertrauten, alten, sondern etwas Neues: Doom Mods (von „modification“). Mit diesem Wort werden die von Fans selbst gebastelten Umgestaltungen des ursprünglichen Spiels bezeichnet. Ich begann ein Video zu schauen und war nach etwa zwanzig Minuten zwar hellwach, aber zugleich tief gerührt und ungeheuer beglückt.

Da waren zuerst die alten Doom-Levels, genau, wie ich sie kannte. Die immer nur Doomguy genannte Hauptfigur erledigt ihre verschiedenen Aufgaben, bringt brav alle feindlichen Monster um und findet am Ende den Ausgang aus dem Level. Aber eine winzige Sache ist anders. Ist in der ursprünglichen Anordnung des Levels nicht diese eine Schaltfläche auf der rechten statt der linken Seite? Hm. Na ja, egal.

Beim nächsten Level allerdings gibt es noch mehr kleine, irritierende Veränderungen im Unterschied zum hunderttausendmal gespielten Original. Bestimmte tief in die „muscle memory“ jedes Doom-Kenners eingebrannte Details tauchen ein paar Sekunden früher auf als gewohnt. Hier, an dieser Stelle, so denkt man, musste man sich früher immer umdrehen und durch den geheimen Durchgang schlüpfen. Wo ist der geblieben? Was, wir sind schon jenseits des Durchgangs? Wann sind wir …?

Man geht weiter durch die weiterhin extrem vertraut wirkenden, aber zugleich immer unbekannter werdenden alten Levels, bis die Verschiebungen so auffällig werden, dass sie buchstäblich Gefühle von Zeitsprüngen oder den realen Verlust einiger Sekunden Lebenszeit hervorrufen. Ein geradezu genialer Effekt in einem Spiel. Es ist genau dieselbe Art von Erfahrung, wie wenn man, beispielsweise, im eigenen Badezimmer nach dem Warmwassergriff an der Seite des Wasserhahns tastet, aber da ist gar kein Griff, sondern eine völlig unbekannte Armatur. Wurde sie ausgetauscht? Wenn ja, wann? Man versucht, sich zu erinnern, kommt durcheinander.

Mit der Zeit verliert man in dieser Doom Mod den Glauben an die eigenen Erinnerungen. Es liegt ja so weit zurück, fast dreißig Jahre, ach, so lange ist das her. Die Doom Mod spielt die enge Vertrautheit der Fans mit dem Spiel, in Kombination mit der Weite der Vergangenheit, virtuos gegen sie aus. Irgendwann wurde man zu oft verwirrt – und denkt nur noch selbstkritisch über die eigene Erinnerung an das Original.

Mit jedem neuen Level erscheinen mehr graue Texturen, wo früher farbige Flächen waren. Dann folgen glitchartige Sprünge und Diskontinuitäten im Gameplay, und man versteht erst gar nicht, was sie bedeuten und wie man sie überwinden soll. Man kommt an eine Stelle im Spiel, wo man in der ursprünglichen Version immer eine Menge Monster auf einmal töten musste – aber nun liegen sie alle bereits erschossen da, als blutige Haufen. Waren wir hier schon? Nein, natürlich nicht. Aber, Augenblick, wir müssen hier entlanggegangen sein, denn es gibt ja im ganzen Level gar keinen anderen Weg, es ist geometrisch unmöglich, dass wir hier nicht schon gewesen sind! Solche wunderschönen Gedanken entwickelt der Spieler.

Ja und dann auf einmal fehlen alle Gegner vollständig, man geht nur noch in weiten, leeren Welten herum, die man, zumindest der äußeren Form nach, noch immer irgendwie wiedererkennt. Aber alles ist so unvertraut geworden, so falsch, so unmenschlich.

Am Ende des Spiels befindet man sich in einer dunkelgrauen, endlosen Fläche, durch die man ahnungslos geht, ohne je irgendwelchen Feinden zu begegnen. Ein Korridor, der an seinem Ende wieder ins erste Level führt. Und der gespenstische Kreislauf beginnt von Neuem.

Der Name dieser Doom Mod ist übrigens THE THING YOU CAN’T DEFEAT. Man kämpft darin nicht gegen die Monster, sondern gegen die immer unverlässlicher werdenden Erinnerungen an das Originalspiel aus der Kindheit. Die meisten Fans deuten es als Parabel auf die Erfahrung von Demenz. Einige Kommentare erwähnen sogar literarische (Alice Munro) oder filmische (The Father mit Anthony Hopkins) oder musikalische (Everywhere at the End of Time von Caretaker) Vorbilder.

Einfach hinreißend.

Ich hatte überhaupt keine Ahnung, zu welcher Poesie, zu welcher existenziellen Wucht diese Kunstform des Doom Modding fähig ist. Es gibt eine andere Mod, in der die Abenteuer der Hauptfigur so gebaut sind, dass Selbstmord immer die rationalste Entscheidung scheint, und die Aufgabe des Spielers ist es, diesen inneren (?) Drang zu unterdrücken und möglichst kunstreich zu umgehen. Auch gibt es ein eindrucksvolles Großprojekt namens My House, in dem man nicht einfach durch die Levels gehen und Monster abknallen, sondern vielmehr sich in dem akribisch nachgebauten Haus eines angeblichen Jugendfreundes des Entwicklers zurechtfinden und dessen geheimnisvolle vierdimensionale Geometrie studieren muss. Vierdimensional? Ja, denn verschiedene Korridore führen zu weit in der Vergangenheit liegenden Versionen desselben Hauses. Das Ganze ist, durchaus bewusst, als Hommage an Mark Danielewskis Roman House of Leaves komponiert, sogar mit einigen wörtlichen Zitaten aus dem Buch. Extrem innovativ, einfallsreich und wunderbar unterhaltsam.

Vielleicht werden alle die begabten Doom Modders irgendwann auf die Vorläufer ihrer Kunstform stoßen: auf die Romane, Erzählungen und Theaterstücke der Vergangenheit, dieses ferne und untergehende Reich, und vielleicht sogar: auf uns, die Leser:innen und Autor:innen der Lichtungen.

Literatur

Tamara Štajner

Luft nach unten

Ich fahre auf aus meinem Kissen. Punkt drei in der Nacht. Sechs verpasste Anrufe und einer eingehend: Papa. Ich weiß sofort, was los ist. Ich will es nicht hören. So liege ich zusammengekauert da und warte aufs erste Licht. Dann rufe ich zurück: In der Nacht hat man dich eingeliefert. Dir ist eh nicht klar, wie wütend ich bin. Ja, wütend auf dich. Und wenn du tot bist, da werde ich noch wütender sein. Verzweiflung gepaart mit Liebe – das zerfrisst einen, weißt du.

Ja, dich zu hassen wäre leichter. Dich zu verachten. Aber es ist unmöglich. Du bist die Wurzel. Jahrzehntelang habe ich mir eingeredet, du hättest einfach nicht begriffen, was du da veranstaltest. Inzwischen habe ich einen Haufen Schotter bei Psychotherapeuten, Kinesiologen, ganzheitlichen Bewusstseinsgurus, traditionellen chinesischen bzw. japanischen Medizinern, Hypnotiseuren, plastischen Chirurgen, Essstörungs-, Familienaufstellungs- und nicht zuletzt NLP-Experten sowie Schweigeexerzitien bei den Töchtern des göttlichen Erlösers in der Jacquingasse deponiert. Alles für die Füße. Schau mich an: Ich bin nach wie vor ein Wrack. Nur älter. Und stachliger. Und missmutiger. Aber es ist, wie es ist, und du bist, wie du bist. Je, kar je. Ich hätte besser in eine Immobilie investiert, weißt du. Dann hätte ich jetzt wenigstens was Eigenes.

Ich ringe mit den Tränen. Dann finde ich es auf einmal gut. Ja – gut. Gut, dass du eingeliefert wurdest! Gut, dass man dich endlich unter Kontrolle hat! Ich weiß, du kannst Spitäler nicht leiden. Mit fünf brauchtest du mal eine Bluttransfusion, musstest wochenlang in der Klinik von Brežice ausharren. Gerade in dem einen Augenblick aber, als du wach wurdest, stand dein Vater, der Blutspender, mit der Krankenschwester an der Tür und meinte, deine Mutter sei mit einem Schwesterchen schwanger. Falls du nicht überleben solltest.

„Ich war austauschbar“, hast du jedes Mal, wenn du die Geschichte erzählt hast, ausdrücklich betont. Ich weiß gar nicht, wie oft ich sie gehört habe. Aber ich hörte dir immer aufmerksam zu! Jedes einzige Mal! Du hast dieses eine Detail nie vergessen: „Falls sie nicht überlebt.“

Als wir aber auf die Welt kamen, hast du sofort alles vergessen. Dass auch wir hören können, verstehen können und vor allem nichts vergessen werden. Dass deine Worte nicht in der Luft verpuffen, sondern landen und Wurzeln schlagen.

Weißt du was: Ich mag diese Floskeln nicht – „Seit ich mich erinnern kann ...“ Aber so ist es: Seit ich mich erinnern kann, hast du auf diesen Totalkollaps hin gefressen. Durch übermäßiges Essen sterben. Deine verfetteten Organe wollen nichts mehr mit dir zu tun haben. Dein Frust ist zur Fäulnis geworden. Selbstmord durch Kauen. Das große Fressen. Es war Gewalt. Gift. Jeden Abend wolltest du dein Unglück zur Schau stellen. Es uns unter die Nase reiben: Du hast uns die Speisen serviert und sobald das getan war, hast du dich umgedreht und bist zum Sofa hingestampft, dass in den Vitrinen die Teller und Schüsseln klimperten. Dann hast du dich langsam auf die durchgesessenen Polster plumpsen lassen. Ganz allein wolltest du dort sitzen, mit den Gnocchi und den Fleischrouladen, die sich vor dir auftürmten. Wir aber aßen brav am Tisch.

Das Sofa ächzte unter dir, während du rings um dich herum nach der Fernbedienung gesucht hast, mit der Gabel im Mund. Dieses alte, speckige Sofa und das kniehohe Nierentischchen waren dein Revier. Eine Telenovela dröhnte aus dem Fernseher und wir schauten dir dabei zu, wie du immer manischer wurdest, das Fleisch immer hektischer zerschnitten und immer größere Stücke in deinen Mund gestopft hast. Bald stand dir Schweiß auf der Stirn, fasrige Fleischreste klebten an deinen mit dunklen Sommersprossen übersäten Wangen. Die Soße rann wie ein Sekret von deinen Mundwinkeln herab. Ständig fiel dir etwas runter: das Messer, die Gabel, eine Brotkrume. Dann hast du schwer geschnauft und auf dem Teppich unter dir danach getastet. Hast dir mit dem Handrücken über die Stirn gewischt oder bist mit der Zunge um deine öligen Lippen gekreist. Meinen beschämten Blick hast du nicht einmal gespürt. Nur ab und an hast du deinen Kopf hastig aufgerichtet, wie von jemandem ertappt, und uns perplex angekaut, als wärst du überrascht, uns noch am Tisch versammelt zu sehen. Uns, die wir ein unabdingbarer Teil deiner Seifenoper waren. Zur Krönung dieses grotesken Abendmahls hast du den Teller blitzblank geleckt. Und statt dass ich mir wie ein Voyeur vorgekommen wäre, kam es mir vielmehr vor, als hättest du eine obszöne Lust dabei, uns all das aufzuzwingen.

Ein fetter Vorwurf. Weil du nicht glücklich warst, sollte es auch keiner von uns werden, hab ich Recht? Mit uns meine ich eben uns: deine Familie. Die, die du freiwillig in die Welt gesetzt hattest, damit sie dich erfüllt.

Einmal – was war ich: vier, fünf? – da kuschelten wir auf dem Sofa. Du und ich. Mein Ohr lag auf deinem Bauch, hob und senkte sich mit deinen Atemzügen. Ich lauschte dem Gluckern und Blubbern der Säfte in deinem Inneren.

„Es war besser, als es euch nicht gab“, sagtest du abwesend und kräuseltest mein Haar mechanisch weiter.

Du bist ein Widerspruch. Eine Dissonanz. Ein Zustand, der nach Auflösung schreit. Doch eine Dissonanz kann sich nicht von allein auflösen, dafür braucht sie andere Töne. Du aber willst in deiner verstimmten Lage Solistin bleiben. Liebe war zu Enttäuschung geworden, Enttäuschung zu Zorn, aus Zorn wurde Selbstverlust. Und den musstest du erstmal verdauen.

Eine jugoslawische Redensart besagt: Wird der Wunsch einer Mutter nicht erhört, so wird ihr Kind von Pünktchen übersät sein. Du bekamst nicht, was du wolltest. Meine Haut bürgt als Zeugin dafür. Aber nicht ich allein habe eine dalmatinische Haut. Auch du, deine Mutter und ihre Mutter, die Urgroßmutter. Jugoslawinnen: Pikčaste babe. Gepunktete Weiber. Unerhörte Weiber. Launische Weiber. Illyrische Furien. Wir nabeln uns durch die Zeit. Ein Stammbaum befleckter Geburten. Der Staffellauf von Müttern zu Töchtern.

*

Das Haus in der Kidričeva 5 hatten deine Eltern zehn Jahre nach der Rückkehr aus dem deutschen Zwangsarbeiterlager gebaut. Fast alle Bewohner unseres Städtchens an der Sava hatte man im Zweiten Weltkrieg dorthin deportiert. Auch die Familie deines Mannes, meines Vaters.

In diesem Haus in der Kidričeva 5 hatten wir ein Jahrzehnt gemeinsam verbracht. Die Neunziger. Das Jahrzehnt, in dem wir dem jugoslawischen Schoß den Rücken gekehrt und uns in der neuen Unabhängigkeit alle erstmal gegenseitig zerfleischt hatten. Ein Jahrzehnt. Es klingt nach wenig, aber für ein Kind ist es eine Ewigkeit. Danach zog ich fort.

Dieses Haus blieb dein ganzes Leben lang dein einziges Zuhause. Es war nicht für so eine große Familie gebaut worden. Aber da lebten wir nun, drei Generationen unter einem Dach, und gingen uns auf die Nerven. Es gab nichts Privates. Wir schrieben keine geheimen Tagebücher, hörten keine Musik und träumten nicht unbeobachtet vor uns hin, stellten keine coolen Outfits zusammen, sondern zogen das an, was du uns jeden Morgen auf den Beistelltisch gelegt hattest. Wir führten keine vertraulichen Telefongespräche, weil das Telefon mitten im Flur stand. Wir besuchten keine Freunde, weil sie so den Besuch revanchieren dürften. Und das durfte nicht passieren. Wir beklebten keine Wände mit Spice-Girls-Postern, weil wir keine eigenen Wände hatten. Also baute man unsichtbare, aber spürbare Mauern um sich herum, bis man verbaut war. Das Klo war meistens besetzt, das Bad winzig und stand ohne Ausnahme unter Wasser, sobald man in der Badewanne ohne Vorhang duschte.

Am meisten fürchtete ich die Sonntage. Nicht wegen der Messe, die allen Kindern aus meiner Klasse verhasst war. Ihr habt mich nicht zur Taufe getragen und auch der ganze katholische Klimbim blieb mir erspart. Der Sonntag war der Tag, an dem ich nackt auf die Waage stieg.

An diesem einen Sonntag wachte ich früher auf als sonst, schlich mich ins Wohnzimmer und zog die Tür hinter mir zu, um dich und Papa nicht zu wecken. Dann drehte ich den Fernseher auf, stieg auf das mit roten Nelken lackierte Schemelchen und schob Cinderella in den Videorekorder. Du hattest meinen Onkel in Kalifornien gebeten, mir alle Walt-Disney-Märchenfilme zu schicken, und er hatte das getan. Man wollte dich ja zufriedenstellen. Das Lied, das Aschenputtel nach dem Aufwachen mit Vögeln und Mäusen sang, hypnotisierte mich jedes Mal:

A dream is a wish your heart makes,

when you’re fast asleep,

in dream you will lose your heartaches,

whatever you wish for, you keep …

Während ich so mitsang, übertönte eine vertraute Angst die Ballade immer mehr: Würde die Waage heute mehr als letzte Woche anzeigen? Und würdest du, wenn ich mehr geworden bin, dann wieder die hässlichen Dinge sagen? Ich quetschte meinen Bauch. Ich presste und rieb an ihm. Es half nichts. Mein Darm war wie aus Beton. Ich wollte mich bewegen, eilte die Stiegen hinunter zu den Großeltern. Im Wohnzimmer stand die Terrassentür offen. Ein plötzlicher Windstoß bauschte die gehäkelten Gardinen auf und ließ das gepunktete Frühlicht auf dem bosnischen Kelim flimmern. Im Sommerpyjama gekleidet betrat ich barfüßig die Terrasse. Noch waren die Fliesen angenehm kühl. Ich hob das pinke Sprungseil auf, das neben der Gießkanne zusammengerollt dalag, und begann zu hüpfen … šest, sedem, osem, devet … Das Seil surrte um mich herum, als ich immer rascher hopste. Dann hörte ich ein Hecheln. Ich blieb stehen. Das Seil verfing sich an meinen Knöcheln. Ich ging ein paar Schritte vor und sah unter dem Magnolienbaum die alte Dalmatinerin mit offener Schnauze und ausgestreckter Zunge. Ihr Schwanz warf einen sichelförmigen Schatten auf den Baumstamm, das schneeweiße Fell, das sich straff über ihren muskulösen Körper zog, war getüpfelt mit Punkten und Pünktchen. An diesem Julimorgen sah die Dalmatinerin schöner aus denn je, doch sie schien aufgebracht. Mit überspannter Wachsamkeit blickte sie in die feuerrote Sonne hinter den Hügeln von Gorjanci und wedelte wild mit dem Schwanz. Es war einer dieser Julitage, an denen in Srebrenica tausende von Leichen in Massengräbern verscharrt wurden.

Hinter mir knarzte die Terrassentür.

„Duša!“ Dein Geschrei verscheuchte die Hündin. „Pa kaj se greš?“ Danach hast du mich ins Schlafzimmer zitiert. Es ging los.

Mein Kinderbett stand dreißig Zentimeter von eurem Ehebett entfernt. Wegen der Gestelle ließen sich die Läden und Türen der Kästen dahinter nur halb öffnen, sodass du deine Hand hineinzwängen und blind nach der Unterwäsche und den Kleidern grabschen musstest. Die Waage befand sich unter dem Stuhl, auf dem du nach der Arbeit und vor dem Schlafengehen deine Kleider ablegtest und wo auch ich gleich meinen Pyjama ablegen würde. Du schobst die Waage nun mit deinem angeschwollenen Fuß unter dem Stuhl hervor. Jeden Sonntagmorgen wiederholten wir diese Prozedur, jeden Sonntagmorgen schabte die Waage auf dem Parkett.

„Ausziehen“, sagtest du, ohne mich anzuschauen. Ich tat es. Die schwarzen Ziffern blinkten kurz, sobald du mit der großen Zehe sanft auf die Mitte der Waage tipptest. Jetzt erschienen drei schwarze Nullen, getrennt von einem winzigen schwarzen Dezimalpunkt. Die Waage war bereit.