Liebe, die nach Kirschen schmeckt - Heidi Swain - E-Book
SONDERANGEBOT

Liebe, die nach Kirschen schmeckt E-Book

Heidi Swain

0,0
6,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Kleines Cottage, große Liebe

Lottie hat sich ihren Neuanfang auf dem Land wirklich einfacher vorgestellt. Denn als sie erfährt, dass das bezaubernde kleine Cottage, das sie vor Kurzem geerbt hat, dringend renoviert werden muss, hat Lottie keine Ahnung, wie sie die Reparaturen finanzieren soll. Doch als sie in der Scheune auf wunderschöne alte Wohnwägen stößt, kommt ihr eine Idee, die alles verändern kann. Der charmante Handwerker Matt bietet großzügig seine Hilfe an, aber Lotties Nachbar, der gut aussehende Tierarzt Will, warnt sie davor, Matt zu vertrauen. Wem kann Lottie glauben? Sie beschließt, auf ihr Herz zu hören …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 535

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



HEIDI SWAIN hat Literatur studiert und als Journalistin gearbeitet, ehe sie den Mut fand, ihren Kindheitstraum in die Tat umzusetzen: Sie belegte einen Kurs für Kreatives Schreiben und begann mit ihrem ersten Roman. Nach Frühling im Kirschblütencafé und Träume sind aus Zimt und Zucker entführt auch Liebe, die nach Kirschen schmeckt wieder in das verträumte englische Städtchen Wynbridge.

Außerdem von Heidi Swain lieferbar:Frühling im KirschblütencaféTräume sind aus Zimt und Zucker

Besuchen Sie uns auf www.penguin-verlag.deund Facebook.

Heidi Swain

Liebe,

die nach

Kirschen

schmeckt

Roman

Aus dem Englischen von Veronika Dünninger

Die englische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel Coming Home to Cuckoo Cottage bei Simon & Schuster, London.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichen von Penguin Books Limited und werden hier unter Lizenz benutzt.Copyright © 2017 by Heidi-Jo Swain

Published by Arrangement with Simon & Schuster UK Ltd., London WC1X 8HB, England.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020 by Penguin Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung und Covermotive: www.bürosüd.de

Redaktion: Angela Kuepper

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-25077-5V001

www.penguin-verlag.de

Für Clare Hey in Liebe und Dankbarkeit

Kapitel 1

Zum gefühlt hundertsten Mal an diesem Morgen ging ich zurück zum Schlafzimmerspiegel, musterte meinen dunklen Pferdeschwanz und rümpfte die Nase über mein Spiegelbild. Ich strich den mit Kirschen gemusterten Rock meines Fünfzigerjahre-Kleids glatt und sah nervös auf die Uhr. Alles, was ich brauchte, waren zwei klitzekleine Minuten, um mir etwas anderes, nicht ganz so Auffälliges anzuziehen, aber es war zu spät. Wenn ich nicht sofort aufbrach, würde ich es überhaupt nicht mehr schaffen. Ich zuckte leicht zusammen, als ich meine Füße in die engen roten Lackleder-Heels zwängte, schnappte meine Handtasche und stürzte zur Treppe.

»Ich dachte, du hättest gesagt, du gehst zu einer Beerdigung«, meinte meine Mitbewohnerin Helen stirnrunzelnd, als wir auf dem Treppenabsatz zusammenstießen. »Ich weiß, mein Gehirn ist ein bisschen matschig nach einer Nachtschicht im Krankenhaus«, ergänzte sie kopfschüttelnd. »Aber ich bin mir ziemlich sicher, du hast gesagt, es sei eine Beerdigung.«

»Das habe ich«, bestätigte ich, »und das ist es. Wenn du Gwen gekannt hättest, würdest du es verstehen«, rief ich über die Schulter, während ich die Treppe hinunterstürmte.

»Ich nehme an, du hast keine Zeit mehr, das hier zu trinken?«, rief sie mir nach und hielt einen dampfenden Becher hoch.

»Nein«, antwortete ich und riss die Haustür auf. »Tut mir leid. Aber ich erzähle dir morgen alles. Schlaf gut!«

Normalerweise wäre ich bei dem Gedanken an so eine lange Fahrt mit dem Bus aufgeregt gewesen. Mein Herz hätte in meiner Brust geflattert wie ein gefangener Schmetterling, begeistert von der Aussicht, einhundertzwanzig ununterbrochene Minuten in dem Luxus zu schwelgen, andere Leute zu beobachten. Aber alles, was es an diesem Morgen zustande brachte, war ein dumpfes Pochen – und das sogar, während ich zum Bahnhof sprintete. Sein Zustand erinnerte mich daran, dass es bei dieser Fahrt ausschließlich um das Ziel ging, nicht um den Weg.

Meine hübschen, aber kompromisslosen Schuhe kniffen bereits, als ich die Haltebucht am Busbahnhof erreichte, und in meinem Nacken kribbelte der Schweiß. Es würde mal wieder ein für die Jahreszeit ungewöhnlich warmer Tag werden, geradezu heiß für Anfang April und unerträglich in einem Kleid mit Spitzenpetticoat.

»Eine Rückfahrkarte nach Wynbridge, bitte«, keuchte ich, während ich in letzter Sekunde in den Bus sprang und das Geld, das ich bereits sorgfältig abgezählt hatte, scheppernd in die Schale warf.

»Netten Ausflug geplant?«, lächelte der Fahrer, während er sich zu mir umwandte und mich von Kopf bis Fuß musterte. »Bisschen früh am Tag für eine Party, oder?«, ergänzte er, während die Maschine meine Fahrkarte ausspuckte.

»Beerdigung«, murmelte ich. Es gelang mir nicht wirklich, sein Lächeln zu erwidern.

»Oh«, meinte er zweifelnd, »okay.«

Ich faltete meinen Garantieschein dafür, auch wieder nach Hause zu kommen, sorgfältig zusammen, steckte ihn ein und suchte mir einen Fensterplatz ganz hinten. Ich wunderte mich weder über seine noch Helens Reaktion auf mein Outfit, aber sie trug trotzdem dazu bei, meinen Herzschlag noch ein bisschen mehr auf Trab zu bringen.

Was, wenn der Rest der Trauergäste vergessen hatte, dass Gwen, die beste Freundin meiner Großmutter, immer den Wunsch gehegt hatte, ihre Beerdigung solle von bunten Farben und Gelächter begleitet werden und nicht von einem trübsinnigen Schwelgen in Erinnerungen? Was, wenn sich alle anderen für ein nüchternes, düsteres Schwarz entschieden hatten? Nun ja, sollte das der Fall sein, dann würden sie mein farbenfrohes Retro-Ensemble garantiert nicht so schnell vergessen. Wenn sich herausstellte, dass ich die Einzige war, die einen auf bunt machte, würde ich bis zum Ende des Tages bestimmt das Stadtgespräch sein.

Gwen und meine Großmutter Flora waren seit ihrer Kindheit befreundet gewesen, eine Freundschaft, die fast acht Jahrzehnte überspannt hatte. Zu meinem großen Leidwesen waren beide binnen eines halben Jahres gestorben, aber obwohl sie nicht mehr bei mir waren, konnte ich ihre Gegenwart noch immer spüren, zusammen mit ihrer kollektiven Aura der Unzufriedenheit.

Sie hatten nie aufgehört, an mir herumzunörgeln und mir einzutrichtern, ich solle das Beste aus meinen Zwanzigern machen, und als mein Dreißigster auf einmal näher war als meine Jugendjahre, hatten sie noch so richtig eins draufgesetzt. Offenbar war das überschaubare Leben, das ich mir aufgebaut hatte, nicht annähernd ehrgeizig oder aufregend genug für diese beiden Rentnerinnen, die in ihrer Jugend die Welt bereist, wilde Partys gefeiert und rund um den Globus eine Schar eifriger Verehrer hinter sich zurückgelassen hatten. In ihren Augen musste ich meine Ziele höherstecken und deutlich mehr Risiken eingehen.

Gwen war von den beiden das Langzeit-Partymädchen gewesen und nie im konventionellen Sinn sesshaft geworden, Gran hingegen schon. Sie hatte geheiratet, war aus Wynbridge weggezogen und hatte eine Tochter bekommen – meine Mutter. Meine Ankunft kurz nach Mums siebzehntem Geburtstag löste offenbar einen handfesten Skandal aus, aber das war noch gar nichts, verglichen mit dem Klatsch und Tratsch, der ausbrach, als sie entschied, mich in Grans und Grandads Obhut zu geben und nach Los Angeles abzuhauen, um ein Leben zu führen, das aufregender wäre als das, was in Lincolnshire im Angebot war.

Ihr plötzliches Verschwinden war schmerzlich und schockierend gewesen, und in der Folge war mein Leben getrübt von der Unfähigkeit, den Leuten, denen ich begegnete, wirklich zu vertrauen. Meine Großeltern hingegen – wenn auch untröstlich, dass sie den Kontakt zu ihrem einzigen Kind verloren hatten – schafften es trotzdem, das Gute in den Menschen zu sehen, und taten ihr Bestes, um sicherzustellen, dass ich eine glückliche und anregende Kindheit genoss. Unsere alljährlichen Aufenthalte bei Gwen im Cuckoo Cottage in den Fens in Ostengland waren das absolute Highlight meiner Sommerferien.

Diese Reisen hörten zunächst für eine Weile auf, nachdem Grandad gestorben war, und dann endgültig ein paar Jahre später, als Gran einen Schlaganfall erlitt. Aber eines Tages nahm Gwen den Weg auf sich, um uns zu besuchen, mit einer riesigen, staubverkrusteten Reisetasche und ihrem temperamentvollen Terrier Tiny, der später durch die ebenso unberechenbare Minnie ersetzt wurde. Es war einfach unvorstellbar, dass ich diese beiden Frauen, die ich über alles liebte und die bei meiner Erziehung eine solch prägende Rolle gespielt hatten, jetzt für immer verloren hatte.

Trotz der Hitze schauderte ich bei dem Gedanken, wie kläglich ich bislang damit gescheitert war, die Dinge zu erreichen, an denen zu arbeiten ich Gran versprochen hatte. Nur wenige Tage vor ihrem Tod hatte ich feierlich geschworen, eine richtige Karriereplanung in Angriff zu nehmen und meine Ziele höherzustecken, und doch hatte sich jetzt, ein halbes Jahr später, nichts geändert. Ehrlich gesagt hatte ich zu viel Angst, um auch nur den Versuch zu starten.

Nachdem ich es zu spüren bekommen hatte, dass meine Mutter ihre hedonistischen Träume verfolgte, hatte ich es nie gewagt, mir meine eigenen auch nur auszumalen, geschweige denn sie zu leben. Nun aber wurde mir mit einem Ruck bewusst, dass ich völlig allein war und tun und lassen konnte, was immer ich wollte. Wenn ich nur so mutig gewesen wäre und gewusst hätte, was genau ich eigentlich mit meinem Leben anfangen wollte …

»Das ist deine Haltestelle!«, rief der Fahrer über den Lärm des im Leerlauf tuckernden Motors hinweg. »Willst du nicht aussteigen?«

»Doch«, sagte ich, sprang auf und schnappte mir meine Tasche vom Boden. »Entschuldigung, das habe ich gar nicht mitbekommen.«

»Ich hoffe, alles geht gut«, meinte er freundlich, als ich an ihm vorbeiging. »Wenigstens hast du einen schönen Tag für den traurigen Anlass erwischt.«

»Das stimmt«, meinte ich, während die Tür aufging und mir ein Schwall warmer Luft entgegenschlug. »Das hätte ihr gefallen.«

Ich trat auf den Gehsteig, blinzelte in den hellen Sonnenschein und versuchte, mich zu orientieren. Die Zeit drängte, und wenn ich nicht bald ein Taxi fand, das mich zur Kirche brachte, würde ich mich verspäten.

»Lottie!«

Als ich herumschnellte, sah ich einen Mann von der anderen Seite des Marktplatzes auf mich zustürzen. Mein Gehirn brauchte eine Sekunde, um es zu realisieren, aber es war eindeutig Chris Dempster. Gewöhnlich in Jeans und einem karierten Hemd an dem Obst- und Gemüsestand, der seit Generationen im Besitz seiner Familie war, trug er jetzt einen leuchtend blauen Anzug und hatte mit dem größten Luftballonstrauß zu kämpfen, den ich je gesehen hatte. Der Anblick war völlig unerwartet, und ich war froh darüber. Wenigstens einer hatte sich an Gwens letzten Wunsch erinnert, aber da er ein solch enger Freund von ihr gewesen war, hätte ich eigentlich nichts anderes erwarten sollen.

»Du hast es geschafft!«, rief er. »Du liebe Güte, sieh dich einer an. Es muss ja eine Ewigkeit …« Er stockte. »Na ja, ich kann mich nicht genau erinnern, aber es ist auf jeden Fall eine ganze Weile her, dass wir uns gesehen haben. Gewachsen bist du aber nicht, was, Liebes?«, neckte er mich, während er allmählich seine Fassung wiedergewann. »Geht es dir gut?«

Ich schluckte schwer in dem Wissen, ihm nicht in Erinnerung rufen zu müssen, dass wir uns das letzte Mal bei der Beerdigung seines ältesten Sohnes Shaun gesehen hatten, der bei einem tragischen Motorradunfall ums Leben gekommen war. Ich beschwor mich, nicht zu weinen, und war auch ein bisschen erleichtert, dass er mich entdeckt hatte, bevor ich mich auf die zweifelhafte Suche nach einem Taxi hatte machen müssen.

»Na, dann komm«, sagte er und nahm meinen Arm. »Als wir das letzte Mal telefoniert haben, wollte ich dir noch sagen, dass wir dich mitnehmen. Ich hoffe, du kannst dich mit deinem Kleid bei uns mit hineinquetschen.«

Die Fahrt zur Kirche verbrachte ich eingezwängt mit den Luftballons auf der Rückbank von Chris’ Wagen, während seine Frau Marie neben ihm auf dem Beifahrersitz saß. Es war bizarr und drückend heiß, aber wenigstens würde ich pünktlich sein.

»Mach die Fenster nicht auf!«, bellte Chris Marie an, als sie sich über die steigende Temperatur und die defekte Klimaanlage beklagte. »Sonst verlieren wir das verdammte Teil noch!«

Wir alle begannen zu lachen, und ich war unwillkürlich dankbar für Gwens schrulligen Humor.

»War das alles Gwens Idee?«, fragte ich mit einem Nicken in Richtung des ausladenden Straußes um mich herum.

»Natürlich«, bestätigte Marie.

»Sie hat sich auf jeden Fall alle Mühe gegeben, um dafür zu sorgen, dass jeder lächelt, stimmt’s?«, meinte ich, biss mir auf die Lippe und blinzelte angestrengt.

»O ja.« Chris zwinkerte mir im Rückspiegel zu. »Ich bin in den letzten paar Tagen wie ein Huhn ohne Kopf herumgelaufen, um sicherzustellen, dass alles genau so abläuft, wie sie es wollte. Obwohl es schon ein Schock war, festzustellen, dass sie so detaillierte Anweisungen hinterlassen hat.«

»Bist du sicher, dass du nicht etwas sagen willst?«, fragte Marie und wandte sich zu mir um. »Bei der Trauerfeier, meine ich. Es wird alles ziemlich aus dem Stegreif sein, daher würde sicher niemand etwas dagegen haben, wenn du aufstehst und ein paar Worte sagst. Schließlich warst du für sie am ehesten so etwas wie eine echte Verwandte.«

»O nein«, antwortete ich kopfschüttelnd. »Danke, aber nein. Das könnte ich einfach nicht ertragen.«

Chris hatte das Thema bereits angeschnitten, als wir telefoniert hatten. Ich hatte sofort Nein gesagt, und ich hatte nicht vor, meine Meinung zu ändern.

»Ich kann noch immer nicht glauben, dass sie nicht mehr ist«, meinte Marie kopfschüttelnd.

»Ich auch nicht«, flüsterte ich. Ich wünschte, ich hätte mich dazu gezwungen, ihr einen Besuch abzustatten, nachdem ich Gran verloren hatte, anstatt es aufzuschieben in der irrigen Annahme, ich könnte es im Sommer nachholen.

»Aber wenigstens war sie nicht krank«, meinte Chris aufmunternd. »Der Gerichtsmediziner hat bestätigt, dass es da nichts in der Art gab. Du weißt ja, wie sehr sie es gehasst hätte, für jemanden eine Belastung zu sein.«

»Ja«, pflichtete ich ihm bei, während ich an Gwens sture Art dachte. »Das wäre ihr zuwider gewesen.«

Es war spät an einem Sonntagabend gewesen, als Chris meine Nummer neben Gwens Telefon in der Diele gefunden und mich angerufen hatte, um mir zu sagen, was passiert war. Am Nachmittag hatte er, so wie jeden Sonntag, bei ihr hereingeschaut und sie auf dem Liegestuhl unter dem Kirschbaum in ihrem kleinen Garten gefunden. Er sagte, sie habe ausgesehen, als ob sie schliefe, und der Jackie-Collins-Roman in ihrem Schoß ließ vermuten, dass sie keine Schmerzen gehabt hatte. Sie hatte sich einfach entschieden, draußen zu sitzen, um die erste Frühlingssonne zu genießen, und war sanft entschlafen.

»Okay«, sagte Chris, zog die Handbremse fest an, als wir die Kirche erreichten, und holte mich in die Gegenwart zurück. »Bringen wir diese Show über die Bühne.«

»Diese Show« entpuppte sich als ziemlich treffende Bezeichnung. Ich wurde am Eingang der Kirche postiert und angewiesen, jedem, den ich dazu überreden konnte, einen Luftballon in die Hand zu drücken.

»Aber pass auf, dass du nicht selbst weggeweht wirst«, neckte mich Chris, während er mir die verhedderten Fäden überreichte. »Eine Windböe, und ein kleines Persönchen wie du wird auf und davon fliegen!«

Ich war dankbar für seinen unerschütterlichen Humor und gerührt, dass niemand von den Trauergästen wirklich überredet werden musste. Die Menschen, deren Reihe sich von der Kirche bis zur Straße schlängelte, waren mehr als glücklich, mit heliumgefüllten Luftballons, die über ihren Köpfen schaukelten, den Mittelgang entlangzuschreiten, und es zeugte davon, wie sehr Gwen geliebt wurde, dass nicht einer von ihnen Schwarz trug.

Die Trauerfeier war eine vergnügliche und überraschende Mischung aus Gedichten und Anekdoten, aufgelockert mit einer bunten Auswahl von Liedern von Sinatra bis Queen und allem dazwischen, und es herrschte größtenteils eine fröhliche Stimmung. Anschließend standen wir schweigend in einem Meer von Schlüsselblumen auf dem Friedhof, während der winzige Sarg in die Erde hinabgelassen wurde. Es flossen reichlich Tränen, aber dann veränderte sich die Gefühlslage, als alle ihre Luftballons losließen und zusahen, wie sie davonschwebten.

»Okay!«, rief Chris aus vollem Hals, sodass wir zusammenzuckten. »Zeit, in den Pub zu gehen!«

Das Mermaid, Gwens über alles geliebte Kneipe, war zum Bersten voll, und obwohl mein letzter Besuch dort schon längere Zeit zurücklag, hatte niemand vergessen, wer ich war. So lief das natürlich in Wynbridge, und nachdem ich vor vielen Jahren als Gwens Ersatzenkelin adoptiert worden war, galt ich praktisch als Einheimische, obwohl ich die Stadt oder den Pub schon eine ganze Weile nicht mehr besucht hatte.

»Was darf es sein, Liebes?«, fragte der stämmige Barmann. »Lottie, richtig?«

»Ja«, lächelte ich, kletterte wenig elegant auf einen Barhocker und fluchte innerlich darüber, dass diese Sitzgelegenheiten viel zu hoch für jemanden waren, der knapp einen Meter sechzig groß war, selbst wenn dieser Jemand Absätze trug. »Das stimmt, und du bist …« Ich stockte, zermarterte mir das Gehirn. »… John.«

»Fast«, strahlte er. »Jim, und meine Frau ist …«

»Evelyn«, unterbrach ich ihn, »natürlich.«

Sie war eine Frau, die niemand so schnell vergessen würde.

»Schön, dich wiederzusehen«, sagte er, »wenn auch unter diesen Umständen.«

»Ganz meinerseits«, pflichtete ich ihm bei. »Ich nehme eine Limonade, bitte, mit viel Eis und Zitrone.«

»Ein Glas Limonade, kommt sofort.«

Im Pub war es etwas kühler, und alle waren dankbar für die sanfte Brise, die durch die offene Eingangstür wehte.

»Bist du schon versorgt?«, fragte Chris, als er mich an der Bar sitzen und auf mein Getränk warten sah.

»Ja, danke«, nickte ich. »Jim macht mir eben eine Limonade.«

»Limonade«, lachte er, während er seine Krawatte lockerte und den Hemdkragen aufknöpfte. »Ich hatte dich eher als eine Art Cocktailmädchen in Erinnerung.«

»Lass dich von dem Outfit nicht täuschen«, gab ich lachend zurück. »Ich brauche etwas, um meinen Durst zu löschen, nichts, was mich umhaut. Ich kann nicht glauben, wie heiß es heute wieder ist.«

»Ich auch nicht«, lächelte er mit einem Blick auf das Bierglas in seiner Hand. »Vermutlich sollte ich das hier gar nicht trinken. Ich hatte eigentlich vor, heute Nachmittag den Stand aufzubauen.«

»Das wirst du wohl delegieren müssen«, schlug ich vor. »Kannst du nicht Steve bitten, heute für dich zu übernehmen?«

»Schön wär’s«, kicherte er bei der Erwähnung seines Jungen. »Er bummelt noch immer mit seiner Freundin Ruby um die Welt.«

»Ach ja, natürlich.« Ich nahm das Glas, das Jim mir hinhielt, dankbar entgegen und trank einen langen, erfrischenden Schluck. »Gwen hat vor ein paar Monaten erwähnt, dass sie im Ausland sind, aber ich hatte es vergessen.«

»Im Moment sind sie in Neuseeland«, erklärte Chris stolz.

»Das klingt aufregend.« Ich nahm an, dass die Pläne für meine eigene Zukunft nicht annähernd so ehrgeizig ausfallen würden – wenn ich tatsächlich dazu kommen sollte, welche zu schmieden. »Obwohl, nach dem heutigen Tag zu urteilen, bin ich mir nicht sicher, ob ich mit der Hitze klarkommen würde!«

»Ich auch nicht«, pflichtete er mir bei. »Klirrender Frost und mein Marktstand sind mir jederzeit lieber.«

»Was ist eigentlich aus Gwens Stand geworden?«, erkundigte ich mich. Der Gedanke kam mir eben erst in den Sinn. »Ich hoffe, er wird noch immer betrieben?«

Gwen hatte auf dem Markt jahrelang einen Stand gehabt, an dem sie allen möglichen Krimskrams verkauft hatte, um Geld für verschiedene örtliche Hilfsorganisationen zu sammeln. Jeden Tag, bei Wind und Wetter, war sie da gewesen, um ihre Ware zu verhökern, und ich hasste die Vorstellung, dass jetzt, wo sie nicht mehr unter uns war, der Stand ebenfalls verschwinden würde.

»Ach, keine Sorge deswegen«, erwiderte Marie, die sich zu uns gesellt hatte. »Er läuft noch immer richtig gut. Ein paar Damen vom Fraueninstitut haben ihn übernommen, und nach allem, was ich gehört habe, soll er nicht geschlossen werden. Sie sind schon dabei, einen Dienstplan auszuarbeiten, und haben einen Haufen Ehrenamtlicher, die entschlossen sind, ihn weiterzubetreiben.«

»Na, das ist ja schön«, sagte ich und leerte mein Glas. »Ich bin wirklich erleichtert, das zu hören.«

Gwen hatte jeden Tag hart und lange gearbeitet und war eine engagierte Händlerin gewesen. Es wäre ein Jammer, wenn ihre Bemühungen jetzt im Sande verlaufen sollten.

»Nimmst du noch eine?« Chris wies mit einem Nicken auf mein Glas.

Ich sah auf die Uhr, um mich zu vergewissern, dass ich noch genügend Zeit hatte, bevor ich zurück zum Bus musste. Der Gedanke, in mein erbärmliches, schlecht geschnittenes Zimmer zurückzukehren, lastete auf einmal schwer auf meinem Herzen. Ich würde weitaus lieber bleiben, wo ich war, unter diesen freundlichen Menschen, über Gwen reden und draußen in dem farbenfrohen, mit Narzissen übersäten Biergarten sitzen, den ich über Chris’ Schulter durch die offene Tür sehen konnte.

»Na schön«, lächelte ich, »du hast mich überredet, aber ich kann nicht mehr lange bleiben.«

Ich hatte eben mein zweites Glas in Angriff genommen, als Evelyn ihren Posten hinter dem Tresen einnahm und einmal fest an der Schnur der großen Messingglocke zog.

»Kann ich bitte eure Aufmerksamkeit haben?«, rief sie, und alle kamen im Gänsemarsch vom Biergarten herein, um ihr Glas auf Gwen zu erheben und einen Moment des stillen Gedenkens zu teilen.

Es war aufmunternd und bewegend zugleich, all die Menschen in solch bunter Kleidung zu sehen, und ich fragte mich unwillkürlich, wie viele andere Leute im Raum oder sogar in der ganzen Stadt eine solch hohe Beteiligung bei ihrer eigenen Trauerfeier hätten erzielen können.

»Wo wir schon alle versammelt sind«, rief ein Mann in den Sechzigern in einem farbenfrohen Anzug, nicht unähnlich dem von Chris, als das Gesprächsgemurmel wieder lauter zu werden begann. »Kann ich kurz fragen, ob sich unter uns eine Miss Charlotte Foster befindet?«

Meine Kehle war auf einmal wie ausgedörrt, und ich konnte spüren, wie meine Wangen knallrot wurden.

»Miss Foster?«, rief er noch einmal.

»Hier ist sie«, brüllte Chris, packte mich am Arm und riss meine Hand hoch. »Das hier ist Lottie Foster!«

Kapitel 2

»Tut mir leid, dass ich Sie da weggezerrt habe, Miss Foster«, sagte der Mann, der mir von dem hohen Barhocker heruntergeholfen und sich als David Miller von Miller, Moffat & Matthews vorgestellt hatte, der Wynbridger Anwaltskanzlei, die, wie er erklärte, mit Gwens Angelegenheiten befasst war. »Aber ich dachte, das könnte meine einzige Gelegenheit sein, Sie persönlich zu sprechen. Soweit ich weiß, leben Sie nicht vor Ort.«

»Nein«, antwortete ich, während ich mich in seinem kleinen, beige gestrichenen Büro mit der Balkendecke umsah. »Das tue ich nicht.«

Ich hatte absolut keine Ahnung, warum er mich herausgegriffen hatte, und rutschte verlegen auf meinem Platz hin und her. Mein Petticoat raschelte, und ich versuchte unauffällig, mich zu räuspern. Stocksteif einem Mann gegenüberzusitzen, der mich über den Rand seiner Brille hinweg beäugte, gab mir das Gefühl, wieder im Büro des Schulleiters auszuharren, auch wenn ich diesmal keinen blassen Schimmer hatte, warum ich hier war. Ich hüstelte noch einmal.

»Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«, fragte er.

»Könnte ich bitte ein Glas Wasser haben?« Ich schluckte. »Falls es keine Umstände macht.«

»Natürlich.«

Ich kam mir etwas albern vor, so auf mein Benehmen zu achten, aber irgendwie erschien es mir notwendig, mich von meiner besten Seite zu zeigen. Ich konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass Mr. Miller mich abschätzte, und irgendwie fühlte ich mich moralisch verpflichtet, einen guten Eindruck zu machen.

»Danke.« Ich lächelte höflich, als er mir ein Glas reichte.

»Ich hoffe, Sie haben nichts gegen die Frage«, begann er, sobald er wieder hinter seinem Schreibtisch Platz genommen hatte und mich mit seinem Blick fixierte. »Aber ich würde gern erfahren, ob Sie bereits wissen, was ich Ihnen sagen werde?«

»Leider nein.« Ich zuckte die Schultern und hoffte, dass es nichts Schlimmes war.

Alles, was ich über Anwälte je gelernt und erfahren hatte, beruhte auf den großzügig ausgeschmückten nächtlichen Dramen, die ich hin und wieder im Fernsehen sah, und da wurden in Situationen wie derjenigen, in der ich mich gerade befand, nur selten gute Neuigkeiten mitgeteilt.

»Gwen hat zu keinem Zeitpunkt mit Ihnen darüber gesprochen, wie es nach ihrer Beisetzung weitergehen sollte?«, hakte er nach.

»Nein«, antwortete ich zunehmend verwirrt. »Sie hat nur ein einziges Mal mit mir über ihre Beerdigung geredet, vor Jahren. Damals hat sie darauf bestanden, dass niemand Schwarz tragen soll.«

»Sie hatte mit Ihnen in letzter Zeit nicht über ein Testament gesprochen?«

»Nein«, sagte ich noch einmal. Allmählich fühlte ich mich richtiggehend beunruhigt von seinem hartnäckigen Verhör. »Ich wusste gar nicht, dass sie eines gemacht hatte.«

»Nun, in dem Fall«, verkündete er, »muss ich Sie warnen, dass das, was ich Ihnen gleich sagen werde, ein gewisser Schock sein könnte.«

»O Gott«, piepste ich und versuchte, den Kloß in meiner Kehle hinunterzuschlucken.

Ich glaubte wirklich nicht, dass meine überstrapazierten Gefühle noch einen Schlag verkraften könnten. In den letzten paar Monaten hatte ich mehr als genug einstecken müssen.

»Meine liebe Freundin Gwen«, fuhr Mr. Miller fort, offenbar ohne etwas von meiner aufsteigenden Panik zu ahnen, »hat mich angewiesen, Ihnen mitzuteilen, dass sie Ihnen etwas ganz Besonderes vermacht hat.«

»Oh«, sagte ich noch einmal, aber diesmal in einem völlig anderen Ton. Meine Schultern sackten wieder zurück dorthin, wo sie hingehörten. Einen schrecklichen Moment lang hatte ich befürchtet, er würde mir sagen, dass Gwen beängstigende Schulden oder ein grauenvolles Geheimnis an mich weitergegeben habe, aber »etwas ganz Besonderes« ließ vermuten, dass es nichts Schlimmes sein würde.

»Na ja«, sagte ich, um die Stimmung aufzulockern, jetzt, wo ich mich eher erleichtert als neurotisch fühlte. »Ich hoffe, es ist nichts allzu Großes. Gwens Anrichte werde ich niemals im Bus nach Hause verfrachten können.«

Mr. Miller beäugte mich wieder über den Rand seiner Brille hinweg.

»Verzeihen Sie«, entschuldigte ich mich, hob ungeschickt mein Glas und verschüttete mindestens die Hälfte des Inhalts über meinen Rock. »Manchmal sage ich alberne Dinge, wenn ich nervös bin.«

»Schon gut«, meinte er, legte seine Brille auf den Schreibtisch und rieb sich die Augen. »Das verstehe ich, aber ich wundere mich trotzdem, dass Gwen nie etwas zu Ihnen gesagt hat. Sie war so begeistert, als ihr die Idee kam, und nachdem sie kein Geheimnis für sich behalten konnte, war ich mir sicher, sie würde es ausplaudern.«

Meine Nerven spannten sich erneut an, während ich mich fragte, was in aller Welt sie ersonnen haben könnte, um sie in eine solche Begeisterung zu versetzen. Ich hoffte, sie hatte für mich nicht geplant, dass ich losziehen und in irgendeinem abgelegenen Winkel der Welt »mich selbst finden« sollte, denn für solche Dinge war ich absolut nicht zu haben. Das war weitaus mehr ihre Vorstellung von Spaß gewesen als meine.

»Wie ich bereits sagte«, beharrte ich, »sie hat nie ein Wort darüber verloren, und es ist mir auch nie in den Sinn gekommen, dass sie mir irgendetwas hinterlassen wollte. Nebenbei bemerkt, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie wirklich irgendetwas zu vererben hatte.«

Mir wurde bewusst, dass ich schwafelte, und ich klappte den Mund rasch zu. Innerlich versuchte ich, mich zusammenzureißen, und steckte mir eine verirrte Strähne hinters Ohr. Meine Gedanken huschten zurück zu Gwens hübschem, aber vollgestopftem kleinen Zuhause und dem bunt zusammengewürfelten Inhalt, und ich fragte mich, ob es vielleicht tatsächlich die alte Anrichte war, die sie mir zugedacht hatte.

»Hören Sie, es tut mir wirklich sehr leid, Mr. Miller«, meinte ich, als meine Erinnerungen an dem unverwechselbaren Glockenschlag der Standuhr im Wohnzimmer hängen blieben und mir die Uhrzeit bewusst wurde. »Aber meinen Sie, wir könnten dieses Gespräch vielleicht am Telefon weiterführen? Es ist so, ich muss den Bus erreichen, und ehrlich gesagt kann ich es mir nicht leisten, die Fahrkarte verfallen zu lassen. Wäre es vielleicht möglich, das, was Gwen mir zugedacht hat, auf dem Postweg an meine Adresse zu senden?«

»Wohl kaum, Miss Foster«, sagte Mr. Miller mit leicht belustigter Miene.

»Aber trotzdem«, warf ich ein, »ich muss jetzt wirklich gehen.« Und dann, in der Annahme, ich würde mich damit besser und nicht mehr so gestresst fühlen, ergänzte ich: »Bitte nennen Sie mich Lottie, das tun alle.«

»Na schön«, sagte er, »Lottie. Wir müssen diese Sache wirklich heute durchsprechen.«

»Aber …«

»Ich werde gern sicherstellen, dass Sie die Mittel haben, um nach Hause zu kommen.«

»Na ja, ich …«

»Miss Foster«, erklärte er mit Nachdruck, womit er meine Aufmerksamkeit von meinem wartenden Bus wieder auf die vor uns liegende Angelegenheit lenkte, »mir ist es zugefallen, Ihnen zu erklären, dass Gwen Ihnen das Cuckoo Cottage vermacht hat.«

»Sie hat was?«, stieß ich hervor und fuhr mir mit einer Hand an die Brust. Meine Lungen fühlten sich an, als wäre der letzte Rest Luft aus ihnen herausgepresst worden, und ich rang verzweifelt nach Atem.

»Sie hat mich gebeten, Vorkehrungen zu treffen, damit Sie das Cottage, seinen gesamten Inhalt, die Scheunen und das dazugehörige Land erben.«

Das konnte unmöglich stimmen. Ich musste mich verhört haben. Er oder ich oder wir beide hatten sicher irgendetwas missverstanden.

»Ich denke, da ist Ihnen ein Irrtum unterlaufen …«, begann ich.

»Ich kann Ihnen versichern, es liegt kein Irrtum vor.«

»Sind Sie sich absolut sicher?«, stammelte ich.

»Hundertprozentig«, bestätigte er. »Es ist alles arrangiert.«

»Aber …«, stotterte ich. Meine Augen wurden so groß wie Untertassen, und meine Wangen fühlten sich noch heißer an als vorhin im Pub, als er das erste Mal meinen Namen gerufen hatte. »Aber warum?«

»Warum was?«

»Warum sollte sie das alles mir vermacht haben wollen?«

Zitternd stellte ich das Glas Wasser zurück auf den Schreibtisch, bevor ich den letzten Rest auch noch verschütten würde. Ich konnte es einfach nicht glauben.

»Nun ja«, sagte er, während er in einem Stapel Papiere blätterte, »im Grunde ist es einfach so, dass sie Sie sehr geliebt hat, dass sie Sie als ihre Familie, als ihre eigene Enkelin angesehen hat und dass sie hoffte, das Geschenk des Cuckoo Cottages würde Ihnen die Gelegenheit geben, wirklich etwas aus Ihrem Leben zu machen.«

Ich sah ihn vorwurfsvoll an.

»Ihre Worte, nicht meine«, ergänzte er hastig und hielt mir ein Blatt Papier unter die Nase.

Ich überflog die Seite rasch. Die Zeilen mit Gwens krakeliger Handschrift verschwammen vor meinen Augen, während Mr. Miller weiter Worte sagte, die ich weder hörte noch begriff.

»Ach, und ein Letztes noch«, ergänzte er, als ich mich schließlich wieder einklinkte. »Es gibt da noch eine Bedingung.«

Offenbar hatte ich irgendetwas übersehen, aber ich war zu aufgeregt, um ihn zu bitten, alles noch einmal mit mir durchzugehen.

»Gwen hat hartnäckig darauf bestanden, dass Sie vom Tag Ihres Einzugs an mindestens ein Jahr in dem Cottage leben müssen.«

»Ein Jahr?«

»Und keinen Tag weniger«, erklärte Mr. Miller mit Nachdruck. »Sie hat mir gesagt, dass Sie sich von einer solch dramatischen Veränderung Ihrer Lebensumstände überfordert fühlen und das Erbe aller Wahrscheinlichkeit nach überhaupt nicht antreten wollen würden.«

Ich konnte nicht leugnen, dass Gwen meine unmittelbaren Gefühle perfekt auf den Punkt gebracht hatte.

»Sie war sehr entschieden darin, dass Sie lange genug in dem Cottage wohnen sollten, um sich an den Gedanken zu gewöhnen. Sie wollte, dass Sie dem Ort eine Chance geben, aber wenn Sie danach entscheiden, dass Sie verkaufen wollen …«

»Schon gut«, schnitt ich ihm das Wort ab, in dem Wissen, dass jetzt die Zeit war, einmal tief Luft zu holen und mutig zu sein. »Ich habe das Cuckoo Cottage immer geliebt, und wenn es wirklich mir gehört, könnte ich es nicht ertragen, mich davon zu trennen, niemals.«

»Na, das ist ja eine Erleichterung«, seufzte Mr. Miller, »denn ehrlich gesagt war ich besorgt, ob Sie überhaupt einziehen wollen.«

»Die Sorge hätten Sie sich nicht gemacht, wenn Sie sehen könnten, wo ich im Moment lebe«, entgegnete ich und biss mir sogleich auf die Zunge. Ich schob den Gedanken an meine derzeitigen Lebensumstände entschieden beiseite und dachte zurück an die langen, trägen Tage der Sommerferien, die ich mit Gran, Grandad und Gwen verbracht hatte. Ich erinnerte mich, wie ich Erdbeeren und Himbeeren gepflückt hatte, wie ich den Schwalben zugesehen hatte, die in die Scheunen und wieder hinaus huschten, wie ich auf Gwens altem Fahrrad über die Felder geradelt war und die Tatsache genossen hatte, dass es nie regnete, nicht ein einziges Mal in all der Zeit, die ich dort verbrachte.

Das Cuckoo Cottage war einfach perfekt, und wenn das, was Mr. Miller mir erzählte, wirklich stimmte, gehörte es jetzt mir. All die Jahre hatte ich darum gerungen, eine Zukunft für mich zu finden, und Gwen hatte sie mir einfach so auf einem Silbertablett überreicht. Und ja, genau wie sie es vorhergesagt hatte, machte mir der Gedanke an einen solchen Umbruch in meinem Leben schreckliche Angst, doch ich würde mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen und einen Versuch wagen. Aber wollte sie womöglich, dass ich irgendetwas Bestimmtes mit dem Cottage anfing?, fragte ich mich. Hatte sie noch irgendeinen anderen Plan für meine Zukunft im Sinn gehabt, abgesehen davon, dass ich einfach dort lebte?

»Natürlich«, fuhr Mr. Miller fort, »gibt es Dinge, die wir durchgehen müssen, um die Angelegenheit abzuwickeln, die Eigentumsübertragung und so weiter, aber das ist alles sehr unkompliziert. Sowohl ich als auch Gwens Steuerberaterin, Miss Smith, haben detaillierte Anweisungen erhalten. Gwen war extrem gut organisiert«, ergänzte er stirnrunzelnd.

»Na ja, das ändert so einiges«, seufzte ich, erstaunt, dass Gwen überhaupt eine Steuerberaterin und einen Anwalt gekannt, geschweige denn engagiert hatte.

»Ja, nicht wahr?«, gab er mir lächelnd recht.

»Meinen Sie, sie wusste, was passieren würde?«, fragte ich, auf einmal entsetzt von dem Gedanken. »Meinen Sie, sie war vielleicht doch nicht gesund?«

Wenn sie besorgt oder krank gewesen wäre, hätte sie es mir doch sicher erzählt. Ich hasste die Vorstellung, dass sie möglicherweise das Gefühl gehabt habe, nicht mit mir darüber reden zu können, weil sie wusste, dass ich noch immer um Gran trauerte. Ich griff nach meinem Taschentuch, als ich noch mehr Tränen hinter meinen Augen brennen spürte. Es war ein Wunder, dass mein Körper überhaupt noch welche produzieren konnte. Ich musste in den letzten sechs Monaten in einem permanenten Zustand der Beinahe-Dehydration gewesen sein.

»Nein«, sagte Mr. Miller beschwichtigend, »absolut nicht. Ich bin mir ganz sicher, dass sie nicht krank war.«

Ich nickte, außerstande, etwas zu sagen.

»Aber als sie zu mir kam, war sie sehr bestrebt, alles in Ordnung zu bringen«, fuhr er fort. »Sie hat darauf bestanden, dass für den Fall ihres Ablebens, wann immer er eintreten würde, alles richtig vorbereitet sei. Nachdem sie ihre liebe Freundin Flora, Ihre Großmutter, verloren hatte, dachte sie wahrscheinlich, es sei höchste Zeit, ihre eigenen Angelegenheiten zu regeln.«

»Verstehe«, sagte ich heiser, bemüht, die Flut von Tränen aufzuhalten und den letzten Rest meines Lidstrichs zu retten.

»Ich nehme an, es ist Ihnen recht, wenn ich die juristischen Formalitäten der Angelegenheit Gwens Wunsch gemäß abwickele?«, fragte Mr. Miller.

»Ja«, nickte ich, »natürlich. Ich wüsste gar nicht, wo ich anfangen sollte.«

»Sie hat auch die Anweisung hinterlassen, Chris und Marie Dempster zu bitten, dass sie sich um das Cottage kümmern, bis es offiziell Ihnen gehört, aber ich denke, es wäre eine gute Idee, wenn Sie es sich wenigstens ansehen, bevor Sie tatsächlich einziehen.«

»O nein«, sagte ich entschieden und steckte mein Taschentuch wieder ein. »Das ist nicht nötig.«

»Sind Sie sicher?«

»Absolut«, erwiderte ich, mit jeder Sekunde überzeugter. »Mein Entschluss steht fest. Ich kenne jeden Winkel dieses Cottages in- und auswendig. Lassen Sie uns heute alles durchgehen, was wir können, und wenn ich nach Wynbridge zurückkomme, dann, um die Schlüssel für das Cuckoo Cottage und meine Zukunft abzuholen.«

Kapitel 3

»Ich glaub’s nicht.« Helen schüttelte den Kopf, als ich am nächsten Tag am Fußende ihres Bettes saß und erklärte, was passiert war. »Du verlässt das Haus als armes Mädchen und kommst als Prinzessin wieder.«

»Wohl kaum.« Ich verdrehte die Augen und wand mich innerlich angesichts ihrer befremdlichen Analogie.

Ich kannte Helen noch nicht sehr lange, da ich erst vor ein paar Monaten in das Haus eingezogen war, aber ich wusste, dass sie manchmal eine etwas seltsame Ausdrucksweise hatte. Ich hatte meine große Neuigkeit nicht unbedingt mit ihr teilen wollen, aber ein Schock kann seltsame Dinge mit einem normalerweise zurückhaltenden Menschen anstellen, und bevor ich mich bremsen konnte, war auch schon alles aus mir herausgeplatzt.

»Das ist das Zeug, von dem man in Büchern liest«, sagte sie und zeigte auf den Stapel pastellfarbener Liebesromane neben ihrem Bett. »Eine echte Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Geschichte.«

Ich entschied, ihre Fantasie nicht noch mehr zu beflügeln, indem ich in die Küche stürzte, mir den Besen schnappte und wie Aschenbrödel damit herumwirbelte.

»Niemand hat IRL so viel Glück.«

»IRL?«

»Im richtigen Leben«, führte sie aus.

In diesem Moment, noch immer mitgenommen von der Beerdigung, dem unerträglichen Gefühl von Verlust und all den Informationen, die ich zu verdauen versuchte, hatte ich, ehrlich gesagt, nicht das Gefühl, allzu viel »Glück« zu haben.

»Glaub mir«, erwiderte ich schroff, »ich hätte weitaus lieber Gwen in meinem Leben als ihr Haus.«

»Natürlich.« Helen lief purpurrot an, als ihr der Fauxpas bewusst wurde. »Entschuldige, ich hab’s nicht so gemeint …«

»Oh, das weiß ich«, seufzte ich. »Das weiß ich, und ich wollte dich auch nicht anfauchen. Ich werde nur eine Weile brauchen, um das alles in den Kopf zu kriegen.«

»Das kann ich mir vorstellen«, seufzte sie mit einem verträumten Blick. »Aber damit ich anfangen kann, eine neue Mitbewohnerin zu suchen, was meinst du, wann du ausziehen wirst?«

Mr. Miller und ich waren seit Gwens Beerdigung fast täglich in Kontakt gewesen, aber unsere häufigen Gespräche schienen nicht dazu beizutragen, das Verfahren zu beschleunigen. In den ersten paar Wochen, während die Details des gigantischen Vermächtnisses allmählich zu mir durchdrangen und ich ernsthaft darüber nachzudenken begann, meine wenigen Habseligkeiten zusammenzupacken und meine Kündigungsfrist abzuarbeiten, rechnete ich bei jedem Anruf damit, gesagt zu bekommen, es sei Zeit, die Schlüssel abzuholen. Bald aber wurde mir klar, dass es nicht so ablaufen würde. Gwens Anwalt zufolge würde ich, obwohl das Erbe völlig unkompliziert war, so schnell nirgends hingehen.

»Diese Dinge brauchen immer Zeit«, beschwichtigte er mich. »Das heißt nicht, dass irgendetwas nicht stimmt – so funktioniert einfach das System.«

»Okay«, sagte ich, »verstehe«, aber ich verstand es nicht wirklich.

»Hören Sie«, ergänzte er, nachdem er meinen Mangel an Verständnis zweifellos herausgehört hatte. »Was halten Sie davon, wenn Sie nach Wynbridge zurückkommen und sich ein bisschen in dem Cottage umsehen? Wenn Sie irgendwelche Ausbesserungsarbeiten, die vielleicht nötig sind, planen oder sich überlegen könnten, wie Sie es renovieren wollen, wird die Zeit vielleicht schneller vergehen.«

»Renovieren?«, entfuhr es mir. Für seinen Vorschlag, dass das Cottage mehr als einen raschen Frühjahrsputz benötigen könnte, war ich momentan absolut nicht zu haben. »Modernisieren? Ich werde gar nichts verändern.«

Trotz der Kleidung, die ich zu Gwens Beerdigung getragen hatte, hatte ihr Anwalt offensichtlich keinen Schimmer von meiner Leidenschaft für alles, was authen-

tisches Vintage oder, wie Gwen schlicht und ergreifend gesagt hätte, »alt« war.

»Verzeihen Sie, Lottie«, meinte er in einem aufrichtig überraschten Ton. »Ich bin einfach davon ausgegangen, Sie würden ein paar Dinge verändern wollen.«

»Ich habe das Cuckoo Cottage immer genau so geliebt, wie es ist«, erklärte ich entschieden, »daher danke für den Vorschlag, aber nein. Wie ich bereits erklärt habe, würde ich wirklich lieber warten, wenn Sie nichts dagegen haben.«

Ich war von Tag zu Tag dankbarer für das wundervolle Geschenk, das Gwen mir gemacht hatte, aber das Letzte, was ich tun wollte, war, über die Schwelle des Cottages zu treten, bevor ich auf der gepunkteten Linie unterschrieben und die Schlüssel in der Tasche hatte. Ich nehme an, ein Teil von mir war noch immer zögerlich, nur für den Fall, dass irgendetwas schiefging.

Obwohl ich wusste, dass alles legal war, fiel es mir schwer zu glauben, dass ich wirklich so viel »Glück« haben könnte. Wie Helen so eifrig hervorgehoben hatte, war es genau das, was auf den Seiten eines Buches passierte und nicht im richtigen Leben.

»Wie Sie wünschen«, seufzte er. »Außerdem bin ich sicher, dass es jetzt nicht mehr allzu lange dauern wird.«

»Na ja«, erinnerte ich ihn nüchtern. »Das haben Sie letzte Woche auch gesagt.«

Es war Anfang August, knapp vier Monate nach Gwens Beerdigung, und die Sonne war nur gelegentlich imstande, es mit der Wärme aufzunehmen, die wir im April genossen hatten, als der Umzugstag endlich dämmerte. Während ich wieder in den Bus nach Wynbridge stieg, war ich diesmal passender gekleidet und trug zweckmäßige Schuhe.

Irgendwie hatte ich es geschafft, mein buntes Sammelsurium von Kleidern zusammen mit allem anderen, was ich behalten wollte, in zwei alte Koffer, die Gran und Grandad gehört hatten, und einen riesigen Tarnrucksack zu stopfen, den ich in einem Army-Shop in der Stadt gefunden hatte. Zugegeben, ich hatte nicht viel materiellen Besitz, aber das hier war, wie ich mir stoisch in Erinnerung rief, schließlich ein Neuanfang, und das Cuckoo Cottage war bereits randvoll mit wundervollen Dingen.

Es war mir alles andere als schwergefallen, mich von meinem winzigen Zimmer und von Helen zu verabschieden, die sich kaum noch mit mir abgegeben hatte, sobald sie gewusst hatte, dass ich weiterziehen würde. Aber von meinen beiden Bossen, Eric und John, Abschied zu nehmen war härter. Ich war zu dem maßgeschneiderten Unternehmen der beiden gestoßen, als ich meinen Kellnerinnenjob an den Nagel gehängt hatte und auf der Suche nach einem Tapetenwechsel gewesen war, um meiner Leidenschaft zum Renovieren und Recyceln frönen zu können. Sie waren meine einzige echte Verbindung zu der Stadt geworden.

Wir hatten fast vier Jahre zusammengearbeitet, hatten alle möglichen Wohnmobile und Wohnwagen umgebaut und neu gestaltet, und ich hatte jede Minute davon genossen. Die beiden hatten mir alles beigebracht, was ich für eine Rundum-Innenrenovierung und -erneuerung wissen musste, und manchmal hatte ich sogar den Besitzern bei den letzten dekorativen Details zur Hand gehen dürfen, was ich über alles liebte.

Wenn nicht mein Umzug dazwischengekommen wäre, wäre das mit Sicherheit ein Aspekt meiner Arbeit gewesen, den ich gern weiterentwickelt hätte. Wenn Gwen mir nicht die Gelegenheit gegeben hätte, mein Leben von Grund auf zu renovieren, hätte ich am liebsten für immer an der Seite meiner beiden freundlichen und großzügigen Arbeitgeber gearbeitet.

»Wir lassen dich wirklich nur sehr ungern gehen«, meinte Eric, während er und sein Zwillingsbruder John mir am Busbahnhof halfen, mein Gepäck von der Ladefläche ihres Vans zu verfrachten.

»Auch wenn wir uns über das Cottage und alles natürlich freuen«, ergänzte John rasch.

»Ja«, sagte Eric, »wir freuen uns natürlich für dich, aber wir werden dich und deine Arbeit wirklich vermissen, Lottie. Dein kreativer Input war unvergleichlich, und die Kunden lieben dein cleveres Styling.«

»Oh, ich bin sicher, ihr werdet jemand anders finden, der Kissen und Vorhänge genauso gut kombinieren kann wie ich«, sagte ich mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Das ist schließlich keine Raketenwissenschaft.«

John und Eric schüttelten einmütig den Kopf.

»Aber sie oder er wird nicht dein künstlerisches Flair haben«, meinte John, »oder deine Finesse.«

»Du hast einen so guten Blick«, ergänzte Eric.

»Na ja, vielen Dank.« Ich errötete verlegen bei dem Kompliment.

»Ist es das, was du in deinem neuen Zuhause tun wirst?«, wollte John wissen.

»Vielleicht könntest du dein eigenes Unternehmen gründen, um etwas Ähnliches zu machen«, schlug Eric vor. »Auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob ich dich ermuntern sollte, uns Konkurrenz zu machen.«

Ehrlich gesagt hatte ich mir noch gar nicht überlegt, was ich tun würde, sobald ich mich eingerichtet hatte, aber ich würde mit Sicherheit genug Platz haben, um ein ähnliches Unternehmen zu gründen, wenn ich es wollte.

»Möglich wäre es.« Ich biss mir auf die Lippe, während ich an das Potenzial der drei leer stehenden Scheunen dachte.

Vielleicht war es das, was Gwen für mich im Sinn gehabt hatte, als sie ihr Testament aufgesetzt hatte. Sie hatte mich immer ermuntern wollen, den Sprung zu wagen und es allein zu versuchen, und jetzt, dank ihr, hatte ich genau den richtigen Ort, um mein eigenes Unternehmen aufzubauen, wenn ich es wollte. Mein Herz flatterte aufgeregt bei der Aussicht, Kunden ein komplettes Renovierungspaket anzubieten, und die zusätzliche Möglichkeit, die dekorativen Elemente ausfindig zu machen, zu beschaffen und einzubauen, ließ es noch härter hämmern.

»Na dann, viel Glück«, sagte Eric und umarmte mich rasch, während sein Bruder meine Taschen in den Bus lud.

»Ja, viel Glück«, wiederholte John und stellte sich wieder zu Eric, um mir zum Abschied zu winken.

Der Busbahnhof war so chaotisch wie eh und je, und während ich die beiden im Gewühl aus den Augen verlor, ging mir der Gedanke durch den Kopf, dass es sich jetzt, wo Gran und Grandad nicht mehr lebten und alle Verbindungen gekappt waren, nicht so anfühlte, als würde ich wirklich irgendetwas zurücklassen. Tatsächlich fühlte es sich eher so an, als würde ich nach Hause fahren.

Die Meilen flogen rasch vorbei, und meine Augen sogen die Sommerlandschaft von East Anglia und Türme flauschiger, sanft wogender Wolken in sich auf. Ich konnte sehen, dass einige der Felder trotz des trostlosen Wetters in der letzten Zeit reif für die Ernte waren, und meine Gedanken kehrten zurück zu glücklichen Nachmittagen, die ich damit verbracht hatte, warme Himbeeren und saure Stachelbeeren zu essen, frisch von den Reihen und Sträuchern gepflückt, die Gwen jahrelang gepflegt hatte. Vorausgesetzt, sie waren noch immer da, gehörten sie jetzt alle mir. Ich döste eine Weile, und dann, als der Bus zum Stehen kam, die Türen aufgingen und der quirlige Marktplatz in Sicht kam, teilten sich die Wolken, wie nicht anders zu erwarten, und die Sonne brannte regelrecht.

»Bist du sicher, du kommst mit diesem ganzen Zeug klar?«, fragte der Fahrer, ohne Anstalten zu machen, seinen Platz hinter dem Lenkrad zu verlassen und mir behilflich zu sein.

»Ja«, keuchte ich, während ich den zweiten Koffer aus der Gepäckablage zerrte und mir dabei fast die Arme auskugelte. »Es geht schon.«

Ich taumelte auf den Gehsteig hinunter, dann blieb ich eine Minute stehen, um zu Atem zu kommen und den Anblick in mich aufzunehmen. Am Tag von Gwens Beerdigung hatte ich keine Gelegenheit gehabt, mir den Ort richtig anzusehen, aber jetzt, wo es mein neues Zuhause war, war ich bestrebt, mich wieder mit der Gegend vertraut zu machen.

Die Stadt war belebt, aber auf eine angenehme Art, und es gab eindeutig mehr Geschäfte, als ich von meinen früheren Expeditionen in Erinnerung hatte. Ich nahm mir vor, das Kirschblütencafé zu erkunden, sobald ich mich eingerichtet hatte. Ein kleines Stück entfernt meinte ich eine Art Secondhandshop zu erkennen. Auf dem Markt herrschte fröhlicher Trubel, aber ich erspähte trotzdem sogleich Chris’ Oberkopf, während er zwischen seinen Kunden herumwuselte und wartende Einkaufstaschen zweifellos großzügig mit frischen einheimischen Produkten füllte.

Ich kehrte der quirligen Szene den Rücken, schlängelte mich unbeholfen den Weg hinunter bis zu der Anwaltskanzlei und wuchtete die schweren Koffer die Stufen hoch, wobei ich meinen Mangel an Größe und Kraft in den Armen verfluchte. Als ich die Tür mit meinem Rucksack aufdrückte und mich dahinter umdrehte, wurden meine Ohren einer Flut von Beleidigungen und einem Streit ausgesetzt, der, es war kaum zu glauben, aus dem Büro des sanftmütigen Mr. Miller zu kommen schien. Zugegeben, er war nicht derjenige, der brüllte, aber ich fand es trotzdem etwas überraschend.

»Sie werden noch von mir hören!«, drohte die Stimme eines Mannes lautstark. »Das ist ein verdammter Witz, ein Skandal!«

»Das ist es wirklich nicht, wissen Sie«, war die einzige Reaktion, die ich auf die hitzigen Vorwürfe hörte.

Ich versuchte, dem Mann auszuweichen, als er durch den Empfangsbereich stürmte und kindisch nach einem Stapel Papiere auf dem Schreibtisch der Sekretärin schlug. Dummerweise war ich nicht schnell genug, und bevor ich mich versah, hatte er sowohl mich als auch meine Koffer gegen den Türrahmen geschleudert.

»Hey«, empörte ich mich, stemmte mich mühsam mitsamt meinem schweren Rucksack wieder hoch und richtete mich zu meiner vollen, aber immer noch winzigen Größe auf. »Passen Sie doch auf, wohin Sie gehen!«»Passen Sie doch auf, wo Sie stehen!«, brüllte er, stürmte vorbei und knallte die Tür hinter sich zu.

»Na, das ist ja eine nette Begrüßung in Wynbridge«, sagte Mr. Miller und eilte herbei, um mir mit den Koffern zu helfen, sodass sie den Eingang nicht mehr blockierten. »Geht es Ihnen gut, meine Liebe?«

»Alles in Ordnung«, antwortete ich, entschlossen, mir von dem unerwarteten Wutausbruch des Mannes meinen lang ersehnten Moment nicht verderben zu lassen.

»Ich möchte wetten, Sie hatten keine Ahnung, dass es hier so lebhaft zugehen könnte, stimmt’s?«

»Nein«, antwortete ich, »das hatte ich nicht.«

»Na ja, achten Sie gar nicht auf ihn. Kommen Sie mit, dann werden wir alles erledigen. Die können Sie hierlassen«, ergänzte er und zeigte auf die Koffer, bevor er die verstreuten Unterlagen vom Boden aufsammelte. »Und könnten Sie bitte Wasser aufsetzen, Iris?«, bat er die arme Sekretärin, die noch immer bestürzt von dem Vorfall zu sein schien. »Ich bin am Verdursten.«

Ich bekam keine Gelegenheit zu fragen, worum es bei dem Tumult eigentlich gegangen war, denn es zeigte sich prompt, dass Mr. Miller bestrebt war, meine eigene Angelegenheit zügig zum Abschluss zu bringen. Sobald ich umständlich den Rucksack von meinem Rücken geschnallt und mich auf den Platz gesetzt hatte, den er mir anbot, stattete er mich mit den relevanten Unterlagen und einem Stift aus. Wir gingen die Papiere gemeinsam durch, und schließlich unterzeichnete ich auf einer Unmenge gepunkteter Linien.

»Das war’s?«, fragte ich heiser, während ich zusah, wie die Tinte trocknete.

»Das war’s«, sagte er und lächelte. »Jetzt sind Sie die Besitzerin des Cuckoo Cottages, und ich hoffe, Sie werden dort sehr glücklich sein, Lottie.«

»Oh, das werde ich bestimmt«, schniefte ich. Ich konnte kaum glauben, dass die juristischen Formalitäten ohne einen einzigen Glockenschlag oder Tusch, geschweige denn eine Fanfare erfolgt waren.

In meinem Ärmel tastete ich nach einem Taschentuch.

»Geht es Ihnen gut?«, fragte Mr. Miller freundlich. »Ich bin mit solchen Dingen tagtäglich befasst, daher ist das alles für mich etwas Selbstverständliches, ehrlich gesagt.«

»Es geht mir gut«, nickte ich und putzte mir geräuschvoll die Nase. »Es sind nur diese gemischten Gefühle, nehme ich an. Ich meine, ich freue mich natürlich, das Cottage und all das zu haben, aber mir wäre es so viel lieber, Gwen wäre noch immer dort.«

Er wollte eben etwas erwidern, als die Sekretärin klopfte und mit dem Teetablett hereinkam. Ich war froh über die Unterbrechung zur rechten Zeit, denn was hätte es schon für einen Sinn, wegen dieser Sache jetzt rührselig zu werden? Ich hatte Gran und Gwen verloren, aber noch mehr Tränen zu vergießen und eine weitere Dehydration zu riskieren, würde sie mir nicht wiederbringen, und außerdem hatte ich das deutliche Gefühl, dass es noch reichlich Gelegenheit geben würde, mich auszuheulen, wenn ich erst beim Cottage ankam.

Mr. Miller dankte seiner Sekretärin für den Tee, und bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, hatte ich meine Fassung wiedergewonnen.

»Ich dachte, wir könnten morgen zur Bank gehen«, schlug er vor, während er mir eine Tasse reichte. »Wenn Ihnen das recht ist, natürlich.«

»Ja, sehr gern.«

Am Tag der Beerdigung, als er mir das erste Mal von Gwens außergewöhnlicher Großzügigkeit berichtet hatte, war ich so schockiert gewesen, dass ich nur mit halbem Ohr zugehört und einige der Details gar nicht mitbekommen hatte. Folglich waren wir in den Wochen danach alles noch einmal durchgegangen, und ich hatte erstaunt festgestellt, dass Gwen mir außerdem genügend finanzielle Mittel hinterlassen hatte, um mich einrichten zu können, ohne irgendwelche überstürzten Entscheidungen darüber treffen zu müssen, wie ich meinen Lebensunterhalt bestreiten würde.

»Ich dachte mir«, fuhr er fort, »dann hätten Sie heute den Rest des Tages Zeit, um Ihren Umzugswagen zu entladen und schon einmal mit dem Auspacken anzufangen, auch wenn es mir ein Rätsel ist, wie Sie noch einen Haushalt voller Möbel in diesem winzigen Cottage unterbringen werden«, ergänzte er und kratzte sich am Kopf. »Vielleicht könnten Sie alles erst einmal in den Scheunen einlagern. Wann rechnen Sie damit, dass sie kommen?«

»Entschuldigung?«, fragte ich stirnrunzelnd. »Wann rechne ich damit, dass wer kommt?«

»Die Umzugsleute mit dem Möbelwagen«, sagte er geduldig.

»Es gibt keinen Möbelwagen«, antwortete ich und nahm mir noch ein Stück Zucker.

»Dann eben Kleintransporter«, meinte er schulterzuckend.

»Auch keinen Kleintransporter«, erwiderte ich.

»Aber wo sind denn dann Ihre ganzen Sachen, Lottie?«, fragte er.

»Hier drin«, sagte ich und klopfte auf den vollgepackten Rucksack. »Und in den Koffern draußen«, ergänzte ich mit einem Nicken in Richtung Tür.

»Sie wollen mir sagen, dass Sie es allen Ernstes geschafft haben, Ihren gesamten irdischen Besitz in drei Gepäckstücke zu packen?«

»Das habe ich«, bestätigte ich. »Aber es sind ziemlich große Gepäckstücke.«

Er sagte nichts darauf, blinzelte nur und starrte mich an.

»Ist das in Ordnung?«

»Ja, schon.« Er schluckte und spielte mit seinem Teelöffel. »Natürlich, es ist nur ein kleiner Schock, das ist alles.«

»Na, jetzt habe ich schließlich ein ganzes Haus voller Sachen, oder?«, meinte ich und lächelte. »Bis jetzt habe ich es vorgezogen, mit leichtem Gepäck zu reisen.«

Mr. Miller sah mich an, und dann begann er zu lachen.

»Wissen Sie«, meinte er kopfschüttelnd, »ich glaube, da hat das Cuckoo Cottage mal wieder eine wirklich einmalige Besitzerin gefunden.«

Ich spürte, wie ich errötete, nicht sicher, ob er mir ein Kompliment machte oder mich aufzog, aber ein rascher Blick auf sein Gesicht bestätigte, dass er es tatsächlich ernst meinte.

»Und ich werde Ihnen noch etwas sagen«, fuhr er fort.

»Was denn, Mr. Miller?«

»Ich denke, es ist höchste Zeit, dass Sie anfangen, mich David zu nennen.«

»Oh, danke, David«, lächelte ich, »für alles.«

Wir tranken unseren Tee aus, und ich dachte eben, dass es für mich an der Zeit sei, mir ein Taxi zu rufen, als wir erneut Gebrüll aus dem Empfangsbereich hörten.

»War sie schon da?«, donnerte eine vertraute Stimme. »Verdammt, sagen Sie mir nicht, dass ich sie verpasst habe!«

Ohne weitere Vorrede wurde die Bürotür sperrangelweit aufgerissen, und da stand Chris, rot angelaufen und keuchend.

»Wie Sie sehen können«, tadelte ihn Iris über seine Schulter hinweg, »haben Sie sie gar nicht verpasst.« Sie bahnte sich entschlossen einen Weg ins Büro. »Verzeihen Sie die zweite Störung an diesem Morgen, Mr. Miller, aber Mr. Dempster hier ist noch jemand, der nicht gewillt ist zu warten.« Mit einem knappen Nicken verschwand sie wieder durch die Tür und ließ Chris kopfschüttelnd stehen.

»Hatten Sie heute Morgen schon einmal Ärger, David?«

Mein Anwalt, professionell wie immer, sagte nichts darauf.

»Kommen Sie schon«, forderte Chris ihn auf. »Wer ist es diesmal? Jemand, der versucht, ein paar Pfund aus irgendeiner ahnungslosen Seele herauszupressen, möchte ich wetten!«

»Na, na, na«, meinte ich, als es Chris nicht gelang, Mr. Miller eine Antwort zu entlocken. »Höre ich hier etwa eine Intrige heraus? Und ich dachte, ich würde in ein verschlafenes Nest ziehen.«

»O nein«, donnerte Chris. »In Wynbridge kommt nie Langeweile auf, Lottie. Wenn du Aufregung suchst, bist du auf jeden Fall am richtigen Ort.«

»O ja«, bestätigte David, der endlich seine Stimme wiederfand, und verdrehte dabei die Augen. »Unser Ort ist eine wahre Brutstätte der Spionage und Erheiterung, aber diesen kleinen Aufruhr habe ich bereits im Keim erstickt.«

Ich musste unwillkürlich lachen.

»Na, das freut mich zu hören«, nickte Chris, ohne auf die Ironie in Davids Ton einzugehen.

»Nun ja«, meinte ich, »so fasziniert ich auch bin, du wirst mich ein andermal aufklären müssen.« Ich erhob mich und griff nach meinem Rucksack. »Auf mich warten heute weitaus aufregendere Dinge als Kleinstadttratsch, wenn du mich daher bitte entschuldigst …«

»Dabei habe ich noch gar nicht richtig Hallo gesagt!«, rief Chris und zog mich zu einer erdrückenden Umarmung an sich. »Ich bin eigens vorbeigekommen, um dich in Wynbridge willkommen zu heißen, Lottie, und schon bin ich vom Thema abgeschweift.«

»Schon gut«, keuchte ich und schnappte nach Luft, als er mich endlich losließ. »Ich wollte später sowieso noch bei dir und Marie vorbeischauen, um mich dafür zu bedanken, dass ihr diese ganze Zeit auf das Cottage aufgepasst habt.«

»Kein Problem, Liebes«, sagte er mit feuchten Augen und schniefte.

Er war eindeutig ein echter Softie.

»Na ja, ich weiß es wirklich zu schätzen«, fuhr ich fort, »und ich bin sicher, Gwen auch. Es hätte ihr bestimmt nicht gefallen, wenn das Cottage all die Monate verwaist gewesen wäre.«

»Das kannst du laut sagen«, pflichtete Chris mir bei. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich es vermisse, ihr Radio dröhnen zu hören. Und dass ich sonntags nicht mehr auf meine Tasse Tee bei ihr vorbeischauen kann … An den Gedanken musste ich mich erst mal gewöhnen, das sag ich dir.«

»Na, jetzt wirst du vorbeischauen und diesen Tee mit mir trinken müssen«, sagte ich lächelnd.

»Das werde ich«, strahlte er. »Aber jetzt sollten wir dich erst mal nach Hause bringen!«

»Ja«, sagte ich und holte einmal tief Luft. »Zeig mir, wo ich ein Taxi finden kann, und dann bin ich weg von hier.«

»Aber nein«, sagte Chris, nahm meinen Rucksack und warf ihn sich über die Schulter, als wöge er nichts. »Deswegen bin ich ja hier. Ich bin gekommen, um dich hinzufahren.«

»Das musst du doch nicht, Chris.«

»Ich weiß, dass ich es nicht muss, aber ich will.«

»Was ist denn mit deinem Stand?«, rief ich ihm in Erinnerung. »Den kannst du doch nicht einfach im Stich lassen.«

»Marie ist da, sie kümmert sich gern eine Weile allein darum«, versicherte er mir. »Und jetzt komm, sonst ist der Tag schon wieder fast um.«

»Schlüssel!«, rief David, während Chris sich zur Tür wandte. »Ohne Schlüssel werden Sie nicht weit kommen, Lottie.«

Er reichte mir den kleinen Schlüsselbund und schüttelte mir herzlich die Hand.

»Ich hoffe wirklich, Sie werden sehr glücklich im Cuckoo Cottage sein, meine Liebe. Ich habe so das Gefühl, an Ihrem Horizont ziehen jetzt aufregende Zeiten herauf.«

»Danke, David«, sagte ich und blinzelte. »Ich denke, da könnten Sie recht haben.«

»Wir sehen uns morgen bei der Bank«, rief er mir nach, während ich losstürzte, um Chris einzuholen, der mit meinen Koffern im Schlepptau bereits zur Tür hinaus war. »Genießen Sie Ihr neues Zuhause!«

Kapitel 4

Die Fahrt vom Stadtzentrum von Wynbridge zum Cuckoo Cottage war nicht besonders lang, aber Chris schien von Anfang an entschlossen, keine Minute davon zu vergeuden. Sobald mein Gepäck eingeladen und der Motor angelassen war, begann er, die Lücken auszufüllen, die David hinterlassen hatte, entzifferte meine Wünsche und Bedürfnisse, fragte meinen Familienstand ab und organisierte im Grunde mein ganzes Leben.

Der quirlige Marktplatz war kaum außer Sichtweite, als er loslegte. Er kam sofort zum Kern der Sache und auf eine Sorge zu sprechen, die mich längst im Stillen beschäftigte.

»Also, Lottie«, begann er, während wir in Richtung Fenlands losfuhren. »Ich nehme an, dir ist bewusst, dass das Schicksal des Cuckoo Cottages in den letzten Monaten das Stadtgespräch war?«

»Das dachte ich mir schon«, sagte ich und nickte, als ich meine Befürchtungen bestätigt sah. Ich fragte mich unwillkürlich, ob es so einfach sein würde, mein neues Zuhause zu genießen, wie David es mir vorgeschlagen hatte.

Nachdem meine Mum in die USA gegangen war, hatte ich oft genug ungewollt im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gestanden, und ich hatte absolut nicht das Bedürfnis, diese leidvolle Erfahrung zu wiederholen. Ich wollte einfach nur einziehen, ohne prüfende Blicke oder irgendwelches Getue, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es nicht ganz so ablaufen würde.

»Die ganze Stadt wartet mit angehaltenem Atem darauf zu erfahren, was jetzt aus dem Cottage wird«, erklärte Chris, ohne etwas von meinem Bedürfnis zu ahnen, erst mal abzutauchen. »Und die Tatsache, dass es so lange leer stand, hat jedermanns Neugier nur noch beflügelt.«

»Natürlich«, seufzte ich. »Aber was geht es die Leute an, was Gwen verfügt hat?«

Chris warf mir von der Seite her einen Blick zu und schüttelte den Kopf.

»Bei Gott, du musst noch viel lernen, Mädchen«, erwiderte er mit einem ironischen Lächeln. »Nur weil es niemanden etwas angeht«, erklärte er geduldig, »heißt das nicht, dass sie es sich verkneifen könnten, ihre Nase in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken!«

»Oh, ich weiß.« Ich gab meine Abwehrhaltung auf und dachte zurück an den grausamen Klatsch und Tratsch, dem ich als Kind ausgesetzt gewesen war. »Ich mache mir wirklich keine Illusionen darüber, wie neugierig die Leute sind.«

»Na, das ist ja beruhigend«, sagte er.

»Vor allem in der Gegend hier«, ergänzte ich. »Gwen hat sich immer über das Geschwätz beklagt.«

»Vor allem, wenn sie davon ausgeschlossen war«, kicherte Chris.

»Vor allem dann«, stimmte ich ihm lächelnd zu. »Aber trotzdem, es wundert mich, dass irgendjemand besonders interessiert an der Zukunft ihres alten Cottages sein sollte. Es ist ja wohl kaum ein hochherrschaftlicher Landsitz.«

»Das vielleicht nicht«, gab Chris mir recht, »aber das Land und die Nebengebäude nehmen eine beträchtliche Fläche ein, und sie würden einen anständigen Preis erzielen, sollten sie je zum Verkauf stehen.«

»Oh.« Meine Gedanken huschten unwillkürlich zu dem aufgebrachten Mann in Davids Büro. War er vielleicht einer von denen, die an der Zukunft meines neuen Zuhauses interessiert waren? »Verstehe. Na ja, ich kann dir schon jetzt sagen, dass das zu meinen Lebzeiten nicht passieren wird.«

»Das freut mich zu hören«, meinte Chris und grinste zufrieden. »Das ist die richtige Einstellung.«

»Und ich nehme an, es hat sich herumgesprochen, dass ich es bin, die dort einzieht?«

»Natürlich«, bestätigte er. »In dieser Gegend kannst du nichts geheim halten.«

»Und ich wage zu behaupten, das hat die Gerüchteküche erst recht angeheizt«, seufzte ich. »Ich möchte wetten, es gab ein paar Einheimische, die gehofft hatten, das Cuckoo Cottage würde zum Verkauf stehen, und jetzt sind sie alle schwer enttäuscht, oder? Haben sie am Ende angedeutet, ich hätte aus der Ferne irgendwie Einfluss auf Gwens Entscheidung genommen, mir das alles zu vermachen?«

Danach zu urteilen, wie Chris das Lenkrad plötzlich umklammerte, nahm ich an, dass meine Überlegung nicht allzu weit hergeholt war.

»Na toll«, stöhnte ich.

»Vorsichtig ausgedrückt war Gwens Testament für manche Leute eher ein Schock«, sagte er schließlich.

»Wem sagst du das«, seufzte ich. »Ich konnte kaum glauben, dass sie überhaupt eines gemacht hat.«