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Ein Dark-Romance-Roman. Novalee betrachtete lange das vertraute Gesicht, bevor sie sagte: »Es wäre besser gewesen, du hättest mich in einer anderen, glücklicheren und gerechteren Zeit geliebt.« »Gleichgültig in welcher Zeit, ich werde dich immer lieben.« »Liebe mich in einer neuen Zeit«, antwortete Novalee und schob den Widerstrebenden sanft zur Tür hinaus. Ein ungleiches Liebespaar wird getrennt. Bis sie sich inmitten der gefahrvollen Auseinandersetzung der Ausgebeuteten mit den Mächtigen begegnen. Novalee steht für die Rechte der Näherinnen ein, als Fynn verzweifelt versucht, sie vor den Folgen ihres mutigen Protests zu schützen, um ihr eigenes Glück zu retten.
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Seitenzahl: 172
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I.
Teil
Die Kalte Gwendolyn
Novalees Ankunft
Fynns Vertreibung
Die Nacht vor der Reise
II.
Teil
Im Bann des Fließbands
Fantastische Träume
Fynns dritter Brief
III.
Teil
Die Fabrik der einäugigen Riesen
Lucille
Die alte Näherin
IV.
Teil
Das zweite Leben
Jaron und Fynn
Lucille reist zu Fynn
V.
Teil
Lucilles Opfer
Novalees Rede
Das höchste Glück des Lebens besteht in der Überzeugung, geliebt zu werden.
Victor Hugo
Ja, wir glauben, daß die Menschen noch einen höhern Beruf haben, als sich gegenseitig auszubeuten.
Moses Hess
Zunächst muss ich gestehen, dass ich in meiner Jugend nie träumte. Es verwirrte mich, wenn eine Freundin erzählte, dass sie in der vergangenen Nacht einen wunderlichen Traum hatte. Natürlich wünschte ich mir, dies auch einmal zu erleben. Es vergingen viele Jahre, bis ich diese Erfahrung machen sollte.
Dieser Roman beginnt in den Tagen der Kindheit, in der viele beachtenswerte Geschichten ihren Anfang nehmen. In einem Provinzstädtchen lebten drei Jungen in derselben Straße. Sie hätten ihr Schicksal nicht allzu ernst nehmen müssen, da sie fern aller historisch bedeutsamen Ereignisse aufwuchsen, die das Weltgeschehen zu jener Zeit bestimmten. Aber natürlich waren ihnen die Geschehnisse in ihrem Viertel genauso wichtig, wie den Mächtigen Krieg und Frieden, Handel und Einfluss der unablässig miteinander konkurrierenden Nationen.
Ugrin kam aus einfachen Verhältnissen und heiratete die wohlhabende Unternehmerin Bertha, die lange vergeblich nach einem Mann Ausschau gehalten hatte. Vor der Heirat stand er in Berthas Diensten, stieg durch die Vermählung zum Vorarbeiter auf und schuftete danach unverändert weiter. Während Berthas kräftige Stimme weit über den Werkhof schallte, duckte sich ihr Gatte unmerklich wie alle anderen. Auch im Lauf der Jahre änderte sich wenig im Verhältnis der Eheleute, Bertha blieb die Besitzende und Ugrin knechtete in ihrem Betrieb. Ihnen wurde ein Sohn geboren, den sie Tyren nannten, und je mehr dieser verstand, desto intensiver verabscheute er, dass sein Vater so nachgiebig war und sich von Bertha herumkommandieren ließ. Tyren wünschte, Ugrin wäre stärker und würde endlich seine eigene Stimme finden. Er hasste es, dass Bertha überall so offensichtlich den Ton angab. Er verwünschte die Stärke seiner strengen Mutter, die viele hinter vorgehaltener Hand unbeugsam, geizig und hässlich nannten. Sie waren reich, lebten aber genügsamer als ihre Nachbarn.
Im Haus nebenan betrieb Gwendolyn einen Laden. Zu jener Zeit bewohnte ihr schwärmerischer Sohn Jaron mit seiner zarten Frau Chiara und ihrem Sohn Fynn, der in Tyrens Alter war, die kleinen Räume unter dem schiefen Dach. Fynn und Tyren waren Spielkameraden und Tyren beneidete Fynn um dessen Eltern, die so ganz anders waren.
Demian war der dritte Junge in der Straße, der gleich alt wie Tyren und Fynn war. Damals war die Welt der Kinder den Erwachsenen nahezu unbekannt. Jungen taten auf der Straße, was ihnen in den Sinn kam. Sie führten irgendwo da draußen ein unabhängiges und wildes Leben mit eigenen Regeln und Gesetzen. Die Eltern blieben ihrem abenteuerlichen Treiben fern, hielten sich fast ausschließlich innerhalb der Mauern ihrer Häuser auf und interessierten sich nicht allzu sehr für das Treiben der Heranwachsenden, solange diese pünktlich zu den Mahlzeiten erschienen, mit sauberen Händen am Tisch saßen und ihre Kleidung nicht zerrissen.
Tyren gründete eine Straßenbande, welcher zunächst nur Demian angehörte, der längst sein treuer Vasall war und fast ein Leben lang bleiben sollte. Demian war der geborene Befehlsempfänger. Mit blinder Ergebenheit befolgte er Tyrens Anweisungen. Demian fühlte sich im Bereich von Tyrens wachsender Macht sicher. Er hasste Fynn leidenschaftlich, weil Tyren und Fynn als kleine Jungen unzertrennliche Freunde waren und er lange der Außenseiter blieb.
Fynn hingegen trat Tyrens Bande nie bei. Diese war ihm zu tyrannisch. Dabei lag jene Zeit noch nicht lange zurück, als Tyren und Fynn auf dem Fußboden saßen, sich gemeinsam Märchenwelten ausdachten, und Spielfiguren laufen und sprechen, kämpfen und siegen ließen. Damals hatte noch Fynns Mutter Chiara gelebt, eine empfindsame Frau mit sanfter Stimme, die den Jungen bisweilen liebevoll über das Haar strich. In diesem Haus liebten sich alle mit einer Intensität, die Tyren als kleiner Junge erstaunt wahrnahm. Zumindest in seinen frühen Jahren hätte Tyren gerne in dieser Familie gelebt, wollte abends nach dem Spielen einfach bleiben, als sei er von nun an nicht nur Fynns bester Freund, sondern dessen Bruder. Tyren wünschte sich schon früh andere Eltern. Sein Vater hatte Bertha geheiratet, ohne sie zu lieben, und sie kommandierte ihn herum, wie sie es gewohnt war und weil ihr ringsum alles gehörte. Bertha verließ nie den Werkhof. Sie wollte sich in keiner anderen Welt als in der ihrer Besitztümer aufhalten. Sie war für ihre dröhnenden Anordnungen bekannt. Die Männer ihres Baubetriebs befehligte sie mit unüberhörbarer Stimme, die weit über den Hof hinaus in den Straßen widerhallte. Abends hasste Tyren nichts mehr, als seine unter dem Tor des Werkhofs stehende Mutter, die den Namen ihres Sohnes in zwei langen, gedehnten Silben herausbrüllte, welche bis in die letzten Winkel des Viertels drangen. Dabei stemmte sie ihre Arme in die Seiten und war in ein einfaches, grobes Kleid aus dunkelblauem Stoff gepresst, welches ihre tonnenförmige Figur umgab.
Einmal wollten die Bandenmitglieder Fynn zwingen, ihrer Gruppe beizutreten. Sie drückten den Widerstrebenden zu Boden und forderten ihn auf, das Treuebekenntnis zu sprechen. Fynn weigerte sich. Demian war der grausame Antreiber, als Tyrens Vertreter stand ihm dies zu, denn sie hatten Fynn abgepasst, als Tyren nicht zugegen war. Fynns Blut mischte sich mit der Erde, die sie ihm ins Gesicht rieben. Weil Tyren unvermittelt auftauchte, geschah nichts Schlimmeres. Tyren begnadigte Fynn nicht nur, sondern erklärte zornig, dass Fynn tabu sei. Wenn jemand gegen ihn vorgehen dürfe, dann nur er selbst. Das war eine ungewöhnliche Ausnahme, denn ihre eiserne Regel war: Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns.
„Aber er will nicht beitreten“, protestierte Demian, im nächsten Moment streckte ihn Tyren mit einem Fausthieb nieder. Keiner wagte mehr zu fragen, warum Tyren mit Fynn eine Ausnahme machte. In diesem Moment glühte Demians alter Hass auf Fynn hell auf und fraß sich noch tiefer in ihn hinein. Demian schwor sich, dass er geduldig darauf warten würde, bis er sich an Fynn rächen konnte, und er ahnte, dass diese Stunde kommen würde. Eines Tages …
Ugrin war fleißig, sprach nie viel, verhielt sich auch nach Jahren in der Ehe eher wie Berthas Angestellter als ihr Ehemann, ein Verhalten, welches Tyren beharrlich verachtete. Aber seine Eltern blieben unverrückt wie sie waren und formten sich nie nach seinen Wünschen um. Erst als Bertha starb, änderte sich alles und ohne darüber zu reden, atmeten Tyren und sein Vater auf. Ugrin gab den trauernden Witwer. Tyren hingegen wirkte nach dem Tod seiner Mutter befreit und konnte nun endgültig tun und lassen, was er wollte, denn Ugrin schrieb seinem Sohn nichts vor. Ugrin suchte nie die direkte Auseinandersetzung. Wenn ein Arbeiter im Betrieb, der nun ihm gehörte, sich nicht nach seinem Ermessen verhielt, verlor er kein Wort darüber, sondern entließ denjenigen durch seinen Vorarbeiter. Ugrin blieb ein genügsamer Mann und mehrte unermüdlich das Vermögen, welches Bertha hinterlassen hatte.
Chiaras Gesundheit war stets von zerbrechlicher Beschaffenheit. Sie zog nach der Heirat zu Jaron in dessen Elternhaus. Jarons Mutter Gwendolyn empfing Chiara mit offenen Armen. Bald darauf wurde Fynn geboren. Jahre später, als Chiaras Zustand sich schleichend aber stetig verschlechterte, empfahl ein Arzt den dauerhaften Aufenthalt in einer klimatisch gemäßigteren Region. Jaron suchte und fand durch die Vermittlung eines entfernten Verwandten in einer südlichen Provinz eine Stelle als Majordomus bei einer wohlhabenden Familie.
Chiara ging es nach dem Umzug besser, und so verlebten sie in ihrer neuen Heimat unbeschwerte Jahre. Jaron indessen war vordergründig nicht wegen seines Könnens angestellt worden, denn er verfügte über keine besonderen Fähigkeiten, tat sich nicht als Handwerker, Koch oder Gärtner hervor, sondern wegen seiner liebevoll-einfühlsamen Art, welche die vermögenden Leute zu schätzen wussten. In einem Winter, der diesmal auch den Süden des Landes ungewohnt lange und heftig mit Eis, Feuchtigkeit und Kälte umschloss, kehrte eines Abends unerwartet Chiaras Krankheit zurück, von der sie sich nicht mehr erholen sollte.
Nachdem Chiara gestorben war, dachte Jaron daran, mit Fynn an einen Ort zu ziehen, wo nicht alles an den Verlust der geliebten Frau und Mutter erinnerte. Als Jaron bei einem der seltenen Besuche feststellen musste, wie schlecht es um Gwendolyn stand, entschied er, dass sie in sein Elternhaus zurückkehren müssen. Gwendolyn starb jedoch wenige Wochen nach ihrer Ankunft.
„Jetzt sind nur wir Männer übrig. Aber Chiara und Gwendolyn zuliebe werden wir nicht aufgeben, nicht wahr?“, fragte Jaron mit Tränen in den Augen. Fynn konnte in diesem Moment nicht sprechen und antwortete mit einem Nicken.
Gwendolyn hatte in jenen Tagen, die unendlich lange zurückzuliegen schienen, als Fynn ein kleiner Junge war, ihrem Enkel oft erzählt, warum sie die Kalte Gwendolyn genannt wurde. Sie hatte schon als junges Mädchen kalte Hände und deshalb riefen sie die anderen Kinder ausschließlich auf diese Weise. Dieser Spitzname blieb ein Leben lang an ihr haften, und sie zeigte nie ein Bestreben, dies zu ändern.
Nachdem Gwendolyn immer vergesslicher geworden war und trotzdem allein den Laden betrieb, hatten gewissenlose Handelsvertreter Waren in riesigen Mengen anliefern lassen. Sie hatten der verwirrten, alten Frau vorausgefüllte Listen vorgelegt. Gwendolyn signierte, ohne zu verstehen, was sie tat. Wahrscheinlich wusste sie damals schon nicht mehr, was eine Bestellung, geschweige denn eine Unterschrift war, und führte, vom Vertreter geduldig angeleitet, den Stift über das Papier. Skrupellose Händler wurden auf diese Weise einen beachtlichen Teil ihrer überflüssigen Posten los. In gleichem Maß, wie sich die Waren zunächst im Lager, dann, als dieses übervoll war, im Treppenhaus, daraufhin in den Wohnräumen und sogar im Schlafzimmer stapelten, nahm das über Jahrzehnte angehäufte Vermögen ab.
Jaron hatte den Verkaufsraum zunächst geschlossen. Weil die Kalte Gwendolyn durch ihre Krankheit vielfältige Unordnung hinterlassen hatte, musste zuallererst aufgeräumt werden. Jaron und Fynn trugen die Waren hin und her, aber es gelang ihnen nicht, die Wohnräume völlig davon zu befreien.
Erst danach entschloss sich Jaron zur Wiedereröffnung des Ladens. Sein Unvermögen als Kaufmann zeigte sich jedoch bereits Wochen zuvor. Lachend schlug Jaron eines Abends vor, dass er seinen Lieblingsschauspieler, der landesweit berühmt war, engagieren werde. Dieser solle am ersten Tag jedem Kunden zur Begrüßung die Hand schütteln. Das wäre doch eine riesige Überraschung und ein immenser Paukenschlag. Fynn erschrak nicht wenig, als sein Vater dies vorschlug, denn im Gegensatz zu Jaron sah er die Reaktionen der Kunden unmissverständlich voraus. Diese würden zahlreich kommen, sich die kostenlose Attraktion nicht entgehen lassen, schließlich lebten sie in einer Region, in die sich zuvor noch nie eine bekannte Person verirrt hatte. Sie würden Jaron für diese gelungene Sensation loben und fröhliche Gesichter machen. Aber schon im Weggehen würden sie kopfschüttelnd mutmaßen, was das wohl gekostet habe, manche sogar lästernd urteilen, dass man so kein Geschäft beginne, mit Ausgaben, die sich nicht wieder hereinholen ließen, außer mit überhöhten Preisen, die sie nicht bereit wären, zu bezahlen. Diese Aktion sei zwar ein Glanzstück, aber letztlich doch eine Verschwendung. Jaron könne kein guter Geschäftsmann sein.
Die Kalte Gwendolyn hingegen war zwar nicht beliebt, aber respektiert gewesen. Fynn wusste, dass niemand inmitten eines solchen Rummels etwas Teures kaufen wollte, manche könnten vielleicht eine Kleinigkeit erstehen, die sie sowieso brauchten, aber in den Tagen danach würde eine deprimierende Leere einkehren und Jarons Vorhaben nichts als ein Strohfeuer sein. Es kostete Fynn nicht wenig Mühe, seinen Vater davon zu überzeugen, die Idee fallenzulassen.
Nach einer gewöhnlichen Eröffnung übernahm Jaron selbst den Verkauf. Die wenigen Ersparnisse waren für den Ankauf von nötigen, anstatt der im Überfluss vorhandenen schwer verkäuflichen Waren im Handumdrehen verbraucht, wodurch es unmöglich wurde, jemanden anzustellen. Die im Alter völlig verwirrte Gwendolyn hatte zwar Lieferung auf Lieferung bekommen, aber längst nicht mehr registriert, dass es sich dabei um Ladenhüter oder alte Waren handelte, die nicht mehr gefragt oder bereits verdorben waren.
Jaron war Gwendolyns einziges Kind. Nach ihrem Tod redete Jaron gerne mit Fynn über den Laden, den die Familie seit Jahrzehnten unterhielt. Seine Ausführungen waren zwar schön anzuhören, hatten jedoch seltsamerweise nichts mit der Fortführung des Betriebs oder dessen künftigem Erfolg zu tun. Jaron liebte seine Anekdoten selbst am meisten und beschrieb ausführlich, wie es früher gewesen war: Etwa, dass es damals im Städtchen einen weiteren Laden gegeben hatte, der die gleichen Waren wie sie vertrieb.
„Die Besitzer waren sehr beliebt“, erwähnte Jaron. „Die waren somit eine große Konkurrenz.“
Dieses Geschäft gab es doch schon so lange nicht mehr, dachte Fynn und verzichtete darauf, seinen Vater durch einen solchen Einwand zu unterbrechen. Jarons Geschichten waren zwar unterhaltsam, belebten aber ihren Handel nicht. Eigentlich hatte ausnahmslos alles, was Jaron sagte, nie etwas mit einer möglichen Umkehr der besorgniserregenden, geschäftlichen Situation zu tun.
Während Fynn zur Schule ging, kochte sein Vater nur zu gerne. Er lief deswegen überall umher, besorgte die Zutaten an vielen Orten, verfing sich auf den Wegen durch die Stadt in so mancher Plauderei und verbrachte daraufhin ausgiebig Zeit in der Küche. Da Jaron niemand eingestellt hatte, musste er bei jeder Abwesenheit das Geschäft schließen. Er hängte in solchen Fällen kleine Papierfetzen an die Tür, auf denen Sätze standen wie: „Ich bin gleich wieder da.“
Mit Entsetzen erblickte Fynn irgendwann solch eine Nachricht am geschlossenen Eingang. Ein anderes Mal sah er schon von Weitem, dass dort wieder ein Zettel hing. Auf diesem stand: „Bitte an der Tür klopfen“, darunter ein Pfeil, der in Richtung des Hauseingangs zeigte.
Dies tat jedoch kein gewöhnlicher Kunde. Schließlich wollte man ja nicht stören. Entweder war ein Kaufmann für einen da oder eben nicht, dann ging man in einen anderen Laden, in dem man jederzeit gut bedient wurde, ohne wie ein Störenfried oder Bittsteller anklopfen zu müssen.
Manchmal beobachtete Fynn, wie jemand vor verschlossener Ladentür stand und kopfschüttelnd eine dieser Nachrichten las. Dann lief Fynn zu dem Ausgesperrten, sagte, sein Vater komme gleich und eilte ins Haus, um Jaron zu suchen. Aber auch das half nicht. So verloren sie nach und nach immer mehr der letzten, treuen Kunden.
Es wäre besser gewesen, Jaron hätte den Verkaufsraum über Mittag länger geschlossen, sich an feste Zeiten gehalten. Aber da er abgesehen von dem Dienst bei der reichen Familie nie irgendwo außerhalb des eigenen Hauses gearbeitet hatte, war ihm ein strenger, festgelegter Arbeitsrhythmus immer fremd geblieben. Stattdessen gehorchte er nur zu gerne seiner flatterhaften Natur. Fynn erschien sein Vater manchmal wie ein Schmetterling, der nie lange irgendwo bleiben konnte, sondern nur, solange ihn Farbe, Geruch und Nektar festhielten, bis er erneut bunt und fröhlich durchs Leben flattern würde.
Jaron war ein liebevoller Vater, aber es gelang ihm weiterhin nicht, sich das nötige Wissen über die Führung eines Geschäfts anzueignen, und wahrscheinlich hätten allerlei merkantile Kenntnisse auch nicht geholfen, denn er war im Grunde seines Wesens kein Kaufmann. Obwohl der Verkauf nicht gut lief, sie kaum Kundschaft hatten, hielten sie einige Jahre durch. Das war jedoch nur deshalb möglich, weil so schlimm die Verwirrtheit der Kalten Gwendolyn am Ende auch gewesen war, gerade diese einige unerwartete Ereignisse mit sich brachte.
Jaron und Fynn durchsuchten die Lagerbestände nach verkaufbaren Waren – und fanden wiederholt, womit sie nicht gerechnet hatten. In einem schiefen, deckenhohen Stapel, den sie nach und nach abtrugen, tauchten unerwartet Geldscheine auf. Mal waren es nur zwei, bisweilen ein kleines Bündel, meist eine unerhebliche Summe, aber mehrmals auch ein größerer Betrag. Dadurch und nicht durch den Ertrag des Ladens konnten sie eine gewisse Zeit die nötigsten Ausgaben bestreiten. Die Blütezeit des Geschäfts hingegen war endgültig vorüber. Der Versuch, zu diesen wunderbar erfolgreichen Zeiten zurückzukehren, misslang gründlich – eine leitende Hand, wie die der Kalten Gwendolyn in ihren besten Jahren, fehlte überall. Im verfälschenden Rückblick erschien alles so mühe- und widerspruchslos.
Eines Morgens standen Jaron und Fynn am Fenster und betrachteten die umherschwebenden Schneeflocken.
„Ist das nicht wunderschön?“, flüsterte Jaron überwältigt.
Fynn nickte. Er liebte diese gemeinsamen Momente, lauschte und fühlte den feinen Zauber der Welt. Diese herrliche Empfindsamkeit wurde gleichzeitig von dem störenden Gedanken durchzogen, dass es doch längst Zeit war, den Laden aufzuschließen. Aber dies war seinem Vater in solchen Momenten gleichgültig, solche Pflichten hatten für Jaron keine Bedeutung. Für ihn war Schnee etwas anderes, als für den unablässig fleißigen Nachbarn. Für Ugrin war Schnee nur ein hinderliches Ärgernis. Seine Arbeiter stapften auch an diesem Tag früh über den Werkhof. Während Fynns Vater seine Hände noch an einer Tasse heißen Tees wärmte, zogen sie ruckartig die Krägen ihrer Jacken hoch, die einzig sichtbare Reaktion auf die schwebenden weißen Traumflocken, wie Jaron sie nannte. Sie gingen zielgerichtet und energisch ihrem Tagwerk nach, während Vater und Sohn die wohlige Morgenstunde genossen. Die Männer dort draußen brummten kurz unwillig über die Störung durch den Schnee, gingen aber stetig und unbeirrt voran.
Und Jaron harrte noch immer am Fenster aus, hatte Tränen in den Augen und war erschüttert von der Anmut dieser einzigartigen, zerbrechlichen Welt: „Weißt du, ich habe schon als kleiner Junge den Schnee geliebt. Ach, Kinder wissen ja gar nicht, wie schön sie es haben. Alles ist noch neu und einmalig und geschieht zum ersten Mal. Die Welt ist für sie ein einziges Abenteuer.“
Irgendwann fragte Fynn so ganz nebenbei, als wäre das gar nicht so wichtig: „Musst du nicht langsam den Laden aufsperren?“
Fynn sagte langsam, obwohl er eigentlich hätte sagen müssen: längst. Aber er wollte seinen Vater nicht zu brüsk daran erinnern. Ihr Umgang war stets ein sehr sorgsamer, liebevoller, und so redeten sie auch an diesem Morgen äußerst taktvoll miteinander.
„Ach, soll ich wieder den ganzen Tag in der stickigen Bude herumhocken und vergeblich auf Kundschaft warten? Bei dem wundervollen Winterwetter! Ich glaube, heute lassen wir den Laden zu und toben draußen herum. Was meinst du? So wie früher!“, schlug Jaron vor und war selbst äußerst begeistert von seinem Vorschlag.
Was würde sein Vater tun, überlegte Fynn, wenn er ihn nicht hätte, der eigentlich auch schon längst zu alt war, um draußen herumzutollen. Dann würde Jaron keine Ausrede mehr haben, sich wie ein Kind aufzuführen.
Wenn sie reich wären, dann müsste es prächtig sein, so einen Vater zu haben. Aber sie konnten sich diese freimütige, lebensfrohe Einstellung einfach nicht erlauben.
„Aber der Laden“, protestierte Fynn deshalb, aber nur schwach, denn er nahm Rücksicht auf die Gefühle seines Vaters und hütete sich davor, dessen unschuldige, euphorisch-kindliche Freude durch öde Alltagsfakten einzutrüben.
„Ach, es kommt doch sowieso niemand und falls doch, kann er ja morgen wiederkommen.“
„Lange gehts nicht mehr gut, nicht wahr?“, erkundigte sich Fynn leise.
Es hatte lange gedauert, bis Fynn sich getraut hatte, jene einfache Frage zu stellen. Seit Monaten zauderte er und hielt diese Worte zurück, während sie in ihm immer dringender und quälender wurden.
Unaufhörlich sahen sie den fröhlich umhertaumelnden Schneeflocken zu. Fynn spürte, dass Jaron trotz allem glücklich war. Er beneidete ihn um diese wertvolle Fähigkeit. In der merkantilen Welt würde er wahrscheinlich scheitern, aber Jaron sah jegliches sinnlose Bemühen der eitlen Menschen, etwas zu erreichen, statt zu lieben, voraus: All diese törichten Unternehmungen sterblicher Individuen, statt sogleich im Paradies des zärtlichen Gefühls aufzugehen.
„Was soll dann aus uns werden?“, wagte Fynn zu fragen, nachdem er nun schon einmal damit angefangen hatte. Es tat ihm sogleich leid, Jaron mit dieser Frage aus seinem träumerisch-engelsgleichen Zustand zu holen.
„Ich werde mir wohl eine Stelle suchen müssen.“
Fynn erschrak nicht wenig, denn Jaron hatte bisher nur einmal außerhalb des Hauses gearbeitet. Wie sollte sein weltfremder Vater eine Stelle finden? Und wenn er eine finden würde, wie sollte er unter solchen Männern bestehen, die im heftigen Schneegestöber unbeirrt und breitbeinig umherstiefelten, um einen Lastwagen mit schwerem Material zu beladen? Dies erschien unmöglich. Fynns Herz durchzog sich mit Furcht. Die Vorahnung eines nahenden Verhängnisses wurde zur drohenden Gewissheit.
Indessen wuchsen Tyren, Fynn und Demian zu jungen Männern heran. Demian nahm Ugrins alte Stelle als Vorarbeiter ein. Tyren wurde sich mit seinem Vater einig. Er würde in die Hauptstadt gehen, um dort eine elitäre Karriere anzutreten.
Jaron und Fynn hingegen suchten seit geraumer Zeit nicht länger nach verkäuflichen Waren in den reichlichen Beständen, von denen sie kaum etwas verkauft hatten, sondern nur noch nach verstecktem Geld, das ihnen helfen könnte, noch eine Zeit lang so weiter zu leben wie bisher. Da jedoch irgendwann alle Zimmer bis auf die letzten Winkel durchsucht und keine weiteren, zu Anfang unerwarteten, dann sehnsüchtig erhofften und inzwischen dringend benötigten Funde zu erwarten waren, war Jaron tatsächlich früher als befürchtet dazu gezwungen, sich um eine Stelle zu bemühen. Zudem war der Umsatz auch Jahre nach der Eröffnung geringer, als er sich das in den fröhlichsten Stunden ausgemalt hatte, was Jaron noch immer in Erstaunen versetzte. Seine Position im Haus der reichen Familie war inzwischen besetzt worden, also musste er sich etwas Neues suchen.