Tante Bella und die Grünpflanzenkommissarin - Markus Reich - E-Book

Tante Bella und die Grünpflanzenkommissarin E-Book

Markus Reich

0,0

Beschreibung

Sechs faszinierende Geschichten »Athenas Verabredung mit einem Unbekannten« Das Blind Date mit Athena wird zu einer gefährlichen und beglückenden Reise für den Sterblichen, der eine Frau für das Leben sucht und eine Göttin gewinnt. »Die Vier-Jahreszeiten-Frau« Diese Suche ist wie ein Ritt zum Jupiter im orangefarbenen Hippiebus. »Das Gespräch« Ein Geständnis soll ihn retten, aber sein Chef schweigt. Würde er nie ... »Pariser Zeitsprünge« Diese Reise war ein Wagnis! Zwischen ihren Dates in Paris lagen dreißig Jahre. »Der unbeugsame Traumdiener« Die Liebe zum Kino, der perfekte Ehemann und ein Chaos-Praktikant. »Tante Bella und die Grünpflanzenkommissarin« Sie verändern die Welt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 220

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Athenas Verabredung mit einem Unbekannten

Die-Vier-Jahreszeiten-Frau

Das Gespräch

Pariser Zeitsprünge

Der unbeugsame Traumdiener

Tante Bella und die Grünpflanzenkommissarin

Athenas Verabredung mit einem Unbekannten

(Diese Erzählung erschien in früheren Ausgaben unter dem Titel Die Spritze Neapels.)

Aeroporto di Roma-Fiumicino

Hauswandhohe Glasplatten und direkt dahinter das Flugfeld mit den aufgereihten Aeroplanen. Seltsam, dass es mir immer noch gefällt, unterwegs zu sein, die Atmosphäre auf Airports, in fremden Städten allein umherzugehen. Vierundzwanzig Länder und vier Kontinente hatte ich für die Firma bereist, seit zehn Jahren war ich unterwegs und dabei hatte ich diesen Job doch nur ein Jahr lang ausüben wollen, um mich danach wieder meinen Themen zu widmen, die außerhalb der Arbeitswelt blühen. Und jetzt werde ich auch noch in meinem Urlaub unterwegs sein.

Der Treffpunkt war vorgegeben. Ich musste nicht lange suchen. Jedenfalls vermutete ich, dass sie es sein könnte. Alle anderen eilten kreuz und quer. Nur wir zwei standen stiller als der Rest des Universums, um uns herum erstarrte die Zeit. Noch wandte sie mir den Rücken zu. Sie hatte eine Wespentaille und sehr lange Beine, längere Beine als ich, obwohl ich etwas größer war. Ihr Schattenriss: Ein Baum mit feingliedrigen Ästen, so schlank und grazil, so gerade, aufrecht und energiegeladen, an dessen oberem Ende Zweige und Blätter eine Kugel bildeten. Der ausufernde Gipfel: Ein kaum zu bändigender Haarbusch, einzelne Strähnenantennen schwebten sich ablösend und zuckend in der Luft, als wären sie elektrostatisch aufgeladen und würden einerseits Unmengen an Energie aus der Luft saugen, andererseits Millionen Signale in eine mystische Parallelwelt senden. Ich rief mich zur Ordnung. Ich neige zu Visionen und hatte unter Spott und Häme von früher Kindheit an gelernt, diese für mich zu behalten. Sie war ausnehmend gut gekleidet, was in ihrem Fall bedeutete: Eine anthrazitfarbene Strumpfhose und ein grauer Wollrock changierten aufs angenehmste, die goldene Jacke endete weit oberhalb des Hüftansatzes und schimmerte wie ein Harnisch, nicht wie ein Gebilde aus Stoff. Aber auch diese Vision verbot ich mir sofort wieder. Wenn ich so anfing, würde sie auf dem Absatz umdrehen.

Es sah alles in allem nach einer guten Wahl aus, die man für mich getroffen hatte! Sogar nach einer sehr guten. Ich war erleichtert. Es wäre äußerst schade gewesen, die Reise umsonst unternommen zu haben. Mehr noch fürchtete ich den unerfreulichen Aufwand, sich aus solch einer erwartungsgeschwängerten Angelegenheit herauswinden zu müssen. Vor allem fürchtete ich die Enttäuschung in den Augen meines weiblichen Gegenübers, wenn ich mich aus dem Staub machen würde. Mir wurde heiß, während ich auf sie zuging, und ich konstatierte feuchte Hände. Würden wir uns mit Wangenküssen begrüßen oder uns nonchalant die Hand reichen oder womöglich nur voreinander stehen und uns ungeniert gegenseitig mustern? Aber vielleicht würde es dieses Mal die ein Leben lang heiß ersehnte Liebe auf den ersten Blick sein. Träum weiter, alter Luftschlossbauer. Wobei – man weiß es nie. Computerliebe. Das war doch Neue Deutsche Welle. Nie jedenfalls würde ich wieder schlecht über Computer und Neuerungen reden, dachte ich noch, während ich ihre näher kommende Rückseite mit den Augen verschlang. In diesem Moment drehte sie sich um – wie eine stillstehende Figur auf einem sich drehenden Podest – in einer einzigen erhaben-gleitenden Bewegung, die mich an die schwebenden Umläufe der Imperia auf ihrem Thronsockel im Konstanzer Hafen erinnerte. Sie sah – sie sah sehr gut aus. Zweifelsohne. Aber sie war wohl fünf, vielleicht sogar zehn Jahre älter als ich. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich hatte an Figur und Intellekt, Steckenpferde und Persönlichkeit und jene Anziehung zwischen zwei Menschen gedacht, die man nicht erzwingen kann. Aber nicht daran, dass sie älter sein würde als ich. Ich beschloss, mir nichts anmerken zu lassen. Zunächst wollte ich sehen, wohin das führte, jetzt, nachdem ich schon einmal hier war.

Sie musterte mich mit riesigen, geradezu überdimensionalen Augen. Ich stand still und ließ mich begutachten. Jedenfalls sagte zunächst keiner etwas. Nur um die Spannung aus dem Ganzen zu nehmen, redete ich gespielt locker drauflos: „Also, ich würde gerne vorab etwas vereinbaren. Wenn einer merkt, dass es für ihn nicht passt, dann sagt er es einfach. Sollen wir ein Codewort ausmachen? Ja? Wie wäre es mit – Termini? Und dann gehen wir wie Erwachsene getrennte Wege. Einverstanden?“

„Fängst du bei einer Beziehung immer am Ende an?“

Wie schlagfertig und flink sie war! „Nein, natürlich nicht.“ Obwohl sie vielleicht nicht ganz unrecht hatte. „Also, ich glaube ja nicht, dass, also, dass das nötig sein wird, aber ich dachte einfach …“

„Das sehen wir ja dann. Ich bin Athena.“ Nach dem kleinen Exkurs streckte sie mir nun doch noch die Hand entgegen. Nichts mit Küsschen oder mit Liebe auf den ersten Blick. Erst mal Ernüchterung. Realität sozusagen. Dennoch herrschte eine außergewöhnliche Spannung zwischen uns. Woran das jedoch lag, konnte ich nicht benennen.

„Weißt du, wo wir wohnen werden?“, fragte ich, um die Sache voranzubringen.

„Ich habe ein Paket mit verschlossenen Umschlägen erhalten.“

„Das habe ich auch bekommen. Und auf einem steht: Nach Begrüßung auf dem Aeroporto di Roma-Fiumicino öffnen.“

„Nun gut …“, meinte sie, fragte sich wohl, worauf ich noch wartete, deutete auf mich, und ich stellte fest, dass sie mich mit ihren Scheinwerfern von Augen betrachtete, nein, mehr noch, geradezu durchleuchtete.

Nachdem ich den richtigen Umschlag hervorgekramt hatte, nestelte ich unter ihren unerbittlichen Blicken nervös daran herum, versuchte ihn elegant zu öffnen, riss ihn jedoch brutal entzwei, weil sie mich währenddessen weiterhin ansah, als sei ich ein Kaninchen und sie die Köchin, die überlegte, wie sie mich am geschmackvollsten anrichten und garnieren könnte. Ihre Augen ein dunkler Waldsee.

„Das ist ein Witz!“, zürnte Athena. Sogar das elektrische Licht stimmte ihr in diesem Moment zu und flackerte kurz bedenklich.

„Ach, ehrlich gesagt – ich bin ganz froh, dass es kein Hotel ist. Ich bin beruflich viel unterwegs und, na ja, so schlecht finde ich es gar nicht.“

Athena verdrehte die Augen, und ich dachte, dass die Agentur ihre Vorlieben bei der Art der Unterkunft nicht berücksichtigt hatte und überlegte, wie es wohl hinsichtlich der Erfüllung unserer geheimen Erwartungen an den jeweiligen Gegenpart bestellt sei. Ob die Agentur dabei bessere Arbeit geleistet und die richtigen Individuen zusammengeführt hatte? Oder wie eben immer nur ein gewisser Anteil der Wünsche bezüglich des Partners erfüllt werden würde.

Zugegeben, das Apartment war klein, aber es war ein, meiner Meinung nach, schnuckliges Domizil, was ich umgangssprachlich dachte, aber nicht aussprach, um nicht erneut Athenas Augenverdrehen hervorzurufen, vor dem ich nicht gerade Angst, aber höllischen Respekt hatte. Es war ein Penthouse in der Nähe des inneren Bezirks, in dem sich die Besucherhorden tummelten. In ein paar Minuten konnten wir zu Fuß einige Sehenswürdigkeiten erreichen. Das Kolosseum war nicht weit entfernt. Unsere Unterkunft war jedoch ausreichend abgelegen, um ohne Mühe einige touristenfreie Lokale aufsuchen zu können. Auf der schmalen Dachterrasse – auf den Rollkoffern pappten noch die Check-in Klebestreifen, stets ein untrügliches Zeichen, dass es sich um den Beginn des Urlaubs handelte – staunten wir über die Schwärme von Staren, die sich als schwankende, schwarze Girlanden über dem im Abendrot versinkenden Rom aufbäumten, um breit gefächert auseinanderzufallen, nur um sich erneut zusammenzuballen und in drehend-windenden Bewegungen über den Dächern der ewigen Stadt sanft hin und her zu schaukeln.

In der Küche stand ein Kofferradio, welches ich versuchsweise einschaltete.

„Ah, die spielen schwedische Musik im italienischen Radio“, rief ich überrascht, um die Stille aufzuheben, während sich Athena mit gestreckten Beinen über ihren indessen geöffneten Rollkoffer beugte. Ihre Kurven waren ausnahmslos perfekt, als hätte ein Bildhauer einem klassischen Muster folgend eine anmutig geschwungene Steinfigur erschaffen.

„Ich hasse ihre Lieder“, stöhnte sie und verdrehte die Augen. Ich sah es nicht, war mir aber ziemlich sicher, dass sie die Augen verdrehte. Dass ich seit früher Kindheit zu Visionen neige, habe ich wohl schon erwähnt.

Das gefiel mir außerordentlich, das war hervorragend, geradezu exzellent! So hatte ich das noch nie gesehen. Ich konnte mir das bisher nur nie eingestehen. Warum war ich nicht selbst darauf gekommen? Denn eigentlich war diese Musik unerträglich. Ich wusste, dass sie recht hatte. Zum ersten Mal spürte ich, dass ich von Athena etwas lernen sollte – und wollte. Das war der Typ Frau, auf den ich stand. Ich flog schon immer auf selbstbewusste Frauen, die etwas aus sich machten: Beruflich, sozial und dabei ihr Frausein in vollen Zügen lebten. Na ja, die Beschreibung ist mir nicht ganz gelungen, aber der geneigte Leser kann in etwa ahnen, was dabei gemeint ist und mag mir verzeihen, da ich mich die letzten Jahre hauptberuflich mit Briefsortieranlagen beschäftigte und nicht alle Zeit der Welt hatte, nach dem mot juste zu suchen.

Natürlich inspizierten wir zunächst gemeinsam die Wohnung. Am größten war die Spannung hinsichtlich der Schlafmöglichkeit. Es gab nur ein Schlafzimmer. Darin standen zwei Betten, durch einen schmalen Nachttischschrank voneinander getrennt. Wir machten uns im Badkabäuschen frisch, in das man vorwärts rein und rückwärts raus ging, weil es zu eng war, um sich darin umzudrehen. Nach dem ersten Kofferöffnen, von auspacken konnte keine Rede sein, wer räumt schon gerne alles für ein paar Tage und Nächte in fremde Schränke, als ob man einziehen würde, meinte Athena lakonisch: „Zeit für den nächsten Umschlag.“ Sogleich zauberte sie einen hervor, öffnete ihn eleganter, als ich das nach jahrelanger Übung vermocht hätte, mit dem Fingernageldolch ihres Zeigefingers.

Nachdem wir dem Aussagesatz, auf der im zweiten Umschlag befindlichen Karte brav Folge geleistet und eine Runde um das Colosseum bis zu den Hügeln mit den Trümmern ein Stück weiter links oben gedreht hatten, und nach diesem Pflichtprogrammspaziergang noch freudig etwas umhergeschlendert waren, ließen wir uns abends von einem beschaulichen Restaurant finden, neben dessen Eingangstüre die Aufkleber von Tripadvisor und Guide Michelin versicherten, dass man hier gut essen könne.

Dort stellte Athena mir eine naheliegende Frage: „Warum hast du mitgemacht?“

„Du meinst beim Blind Date Urlaub?“

„Ja.“

„Ich war beruflich viel unterwegs und da war immer zu wenig Zeit, mich auf dem normalen Markt umzuschauen.“ Ich machte die bescheuerte Geste mit den zwei Anführungszeichen und hielt dabei Messer und Gabel in den Mulden zwischen Daumen und Zeigefinger geklemmt.

„Markt?“

„Na ja, wo man eben jemand kennenlernt. Auf dem Weinfest, in Kneipen, am Gemüsestand, auf dem Wochenmarkt oder beim Töpfern.“

„Umschauen auf dem Markt beim Töpfern?“ Athena sah mich ungläubig an. Manchmal überraschte sie mich.

„Du hast recht. Töpferkurse werden wohl nicht mehr allzu oft angeboten. Dann halt beim Acro-, Anti Gravity-, Anusara-, Bikram-, Flow-, Forrest-, Hatha-, Hormon-, Iyengar-, Jivamukti-, Kundalini-, Kriya-, Lach-, Luna-, Power-, Tri- oder Yin Yoga.“

Athena lachte. Endlich! Tatsächlich! Jetzt waren wir seit sieben Stunden und vierundzwanzig Minuten ununterbrochen zusammen und ich hatte sie das erste Mal zum Lachen gebracht. Mittelschwere Steinbrocken fielen von mir ab.

„Du bist also hier, weil die Vielfalt der Yogakurse zu verwirrend ist?“

„So ungefähr, also …“, nickte ich und dachte, dass ich leichtfertige Formulierungen, wie Auf-dem-Markt-Umschauen, künftig besser unterließ, nippte mittelschwer an meinem Rotwein, um Zeit zu gewinnen und überlegte, dass ich jetzt hier mit Athena saß, weil mein Leben die letzten Jahre mit sich gebracht hatte, dass ich mich nie näher auf eine Frau hatte einlassen müssen, weil ich beruflich ständig weiterreisen musste, durfte, konnte, sollte und auch wollte. Was für eine wunderbare Begründung, Ausrede und herrliche zu nichts verpflichtende Lebensweise. Der moderne Nomade. Das hatte ich gewollt. Und das war in meinen Dreißigern auch unübertrefflich gewesen. Aber in ein paar Monaten würde ich vierzig werden! Eines schönen Tages ist man schlicht und einfach kein Jüngling mehr und die herrliche Lebensweise namens Ungebundensein passt nicht länger zu einem. Zudem war ich in Beziehungen schon oft gescheitert. Nicht dass es nicht meistens an mir gelegen hätte. Wieso sollte ich mich also nicht zur Abwechslung auf ein Computerprogramm verlassen? Das war so gut wie alles andere. Wie Frauen im Yogakurs oder über Freunde kennenzulernen. Und Athena? Ich war höllisch nervös, unentschlossen und neugierig. Anscheinend liebe ich es, mich den Dingen zu überlassen und erst einmal zu schauen, wie sich das Ganze entwickelt. Aber wie sollte ich es jetzt darstellen? Ich fürchtete mich davor, das Falsche zu sagen und damit gleich zu Beginn alles zu verderben: „… das mit dem Übereinstimmungsverfahren scheint plausibel und – ja, wieso dem Ganzen nicht eine Chance geben?“ Womöglich hatte sie nach minutenlangem Schweigen mehr erwartet, also beschloss ich, sie mit einer Gegenfrage zu beschäftigen. „Und warum hast du mitgemacht?“

„Aha“, sagte sie und widmete sich ihrem Essen, sah mich prüfend an und erkannte untrüglich: „Du antwortest mit einer Gegenfrage.“

Sie dinierte mit schlanken Fingern am Besteck, während ich mit meinen breiten Händen versuchte, eleganter als sonst zu hantieren und keine Fettflecken am Weinglas zu hinterlassen. Zudem wirkten die Italiener an den Nebentischen wunderbar römisch-elegant. Ich reckte den Hals im engen Hemdkragen und zweifelte, ob nicht der graumelierte, braungebrannte und äußerst elegante Signore im glänzenden schwarzen Hemd, der am Tisch hinter ihr saß, weitaus besser zu Athena passen würde. Einfach war das alles nicht. Wieso ich mir das hier antat? Weil ich es mit den üblichen Methoden lange genug versucht hatte. Athena schien keine einfach zu erobernde Frau zu sein, aber wenn es zu leicht ist, lohnt es meist nicht, und ich verlor dann stets im Handumdrehen das Interesse. Andererseits hatte ich von der ehemals geliebten Ruhelosigkeit die Nase gestrichen voll.

„Ich habe mich entschlossen nach einer Zeitspanne, die dir sehr lange vorkommen mag, etwas zu verändern. Meine Mythologie sozusagen umzuschreiben.“

Ihre Wortwahl beeindruckte mich sehr. Habe ich schon erwähnt, dass ich eigentlich schreibe und der jahrelang ausgeübte Außendienstjob eine Mischung aus Das-nötige-Kleingeld-Verdienen, Reiselust und So-gar-keine-Lust-auf-Bürojob war? Umso mehr imponierte mir ihre ungewöhnliche Ausdrucksweise, die von Intelligenz und Originalität zeugte. Natürlich braucht jeder Autor, vor allem der verhinderte und unveröffentlichte, eine Lektorin an seiner Seite. Oftmals hatte ich mir von meinen Verflossenen gewünscht, dass sie meine Texte mit ausgleichender Stilsicherheit lesen würden. Aber vielen gab ich von vornherein nichts zu lesen, weil anderes uns verband und sie freiwillig kein Buch zur Hand genommen hätten.

Athena und ich hingegen redeten bereits an unserem ersten gemeinsamen Abend über alles Mögliche, über Erhabenes und Gewöhnliches, erkundigten uns nach der Anzahl der Geschwister, behutsam, ob die Eltern noch lebten. Auf verschlungenen Pfaden tasteten wir uns in immer persönlichere Bereiche vor.

„Dein Vater ist also Grieche?“

„Ja.“

„Und warum verbringst du deinen Urlaub in Italien?“

„Ich wollte verreisen“, sagte sie. „Griechenland kenne ich schon so lange. Und nachdem die Römer nach Griechenland kamen, sollten auch wir Griechen Rom besuchen.“

„Sag mal. Warum hasst du eigentlich die schwedische Musik, die vorhin in unserem Apartment lief?“

„Es sind falsche Göttinnen!“

Nach zwei Nächten und zwei Tagen Sightseeing in Rom, die wir wohl nicht allzu anders verbrachten als andere Touristen, hatten wir, falls dies den geneigten Leser in irgendeiner Weise interessierten sollte – noch immer keinen Sex. Sex wird oft überbewertet, sagte ich mir, außer, wenn man jung ist. Diesmal ging es um mehr. So einfach war das. Wie recht ich damit haben sollte, war mir bedeutungslosem und sterblichem Unwissenden zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar.

Bei unseren Wanderungen durch Rom hatte ich den Eindruck, dass Athena die Kunstwerke Roms äußerst schätzte. Das gefiel mir besonders gut. Ich hatte schon immer nach einer Frau gesucht, die ihr Interesse nicht nur auf das Praktische und Monetäre, das Vernünftige und Naheliegende legte. Eine Frau die Kunst liebt ist etwas Herrliches. Schließlich kam ich aus dem schattigen Schwarzwald und in meiner Siebziger-Jahre-Kindheit war alles zu profan und gewöhnlich gewesen – was ich damals natürlich nicht wusste. Mir war jedoch längst klar geworden, dass mir immer etwas gefehlt hatte, auch während des Ingenieurstudiums. Die Welt war nach meinem Geschmack zu sehr am Alltag orientiert, in einer zwar technisch äußerst fortschrittlichen, aber ansonsten sehr gewöhnlichen, geradezu derben Epoche. Viele kreisten ihr Leben lang um Erfolg und Maschinen, Geld und Karriere. Wir gierten nach den neuesten digitalen Gegenständen, um unser dingliches Dasein zu negieren. Wirkliche Kunst und das Interesse für übergeordnete, ewige Themen verwaisten rasant. Das Leuchten in Athenas Augen, wenn sie etwas wirklich Altes sah, bedeutete mir sehr viel, und ich hütete mich, dies zu kommentieren, denn gewisse Eigenarten, die einem am anderen gefallen, sollte man wie einen geheimen Schatz für sich behalten, unausgesprochen und makellos bewahren. Sie lächelte manchmal geradezu huldvoll, als ob ihr diverse Altertümer persönlich gehören würden, was sicherlich darauf zurückzuführen war, dass sie zumindest auf irgendeine Art über dem Ganzen stand. Über diese Geisteshaltung Athenas rätselte ich, kam aber vorläufig zu keinem Ergebnis. Vielleicht hatte sie einiges von ihren Eltern mitbekommen. Ich würde sie bei der nächstbesten Gelegenheit danach fragen. Vielleicht war die Mutter Künstlerin und der Vater Kunstprofessor gewesen. Denn so eine Haltung musste vererbt sein, die erwirbt man nicht ohne Weiteres während seiner eigenen begrenzten Lebenszeit. Obwohl ich Literatur sowieso und auch andere Bereiche der Kunst aufrichtig liebte, merkte man dennoch bald, dass dies eine junge Liebe war und nicht, wie die Athenas, eine sehr erfahrene, die ihr geradezu innewohnte, als wäre sie ihr angeboren.

Wir besuchten Museen, die ich ohne Athena nicht betreten hätte, darunter eines, das eine Ausstellung über altertümliches Handwerk beherbergte. Natürlich folgte ich ihr, als sie schnurstracks darauf zusteuerte. Schließlich standen wir noch am Anfang unserer Beziehung und in dieser Phase macht man bekanntlich alles mit, von dem man Jahre später einiges höflich ablehnen und vorschlagen würde, dass man auf einer in der Nähe befindlichen Terrasse, je nach Tageszeit, einen Kaffee oder ein Bier trinken würde, oder beides, während sie sich in Ruhe die Ausstellung ansehen könne. Glücklicherweise waren wir noch nicht soweit. Erwartungsgemäß langweilte ich mich zunächst im Museum und war mit einem Mal sehr beschäftigt, denn ich versuchte Athena davon abzuhalten, alles anzufassen, was sie ständig tat, obwohl natürlich überall zu lesen war, dass man dies nicht dürfe. Kaum hatten wir den ersten Raum betreten, registrierte ich mit einem Blick, dass mich die ausgestellten Objekte nicht allzu sehr interessierten. Für ein paar Sekunden hatte ich den Ausblick aus einem der hohen Fenster genossen, da saß sie zu meinem Schrecken an einem Webstuhl – und von Athenas flinker Hand wurde das Schiffchen hin- und hergeschoben. Sie saß in einem römischen Museum und webte! In raumgreifenden Schritten eilte ich herbei, redete mit Engelszungen auf sie ein, löste die Widerstrebende schließlich sanft von ihrer emsigen Tätigkeit und führte sie am galant dargebotenen Arm hinweg.

Nervös lächelnd eilte ich mit meiner anspruchsvollen Gefährtin um die nächste Ecke.

„Wow, du bist ja mal cool. Das hätte ich mich nie getraut. Wenn die uns dabei erwischt hätten. Ich glaube, die verstehen da keinen Spaß.“

„Ein Webstuhl ist zum Weben da!“

„Ja, natürlich“, lachte ich erleichtert auf. Ihr Sinn für Humor war unschlagbar. Und sie sagte das auch noch in überzeugtem Brustton. Unglaublich. Das klang so trocken und abgezockt. Besser als jede versierte Komikerin setzte sie ihre abgebrühten Pointen.

„Ja, und du kannst das auch noch! Das ist richtig beeindruckend!“

„Ich wollte einfach gerne mal wieder weben.“

„Ja, aber besser nicht im Museum. Vielleicht können wir irgendwo einen Webstuhl bestellen.“

Es bedurfte einer gewissen Disziplin, um mit Athena zusammen zu sein, denn ohne es auszusprechen, erwartete sie eine gewisse Haltung von mir. Sie war keine Frau, mit der ich eng umschlungen durch die Straßen schlendern und der ich hin und wieder die Hand auf den Hintern legen konnte. Es war dennoch oder vielleicht gerade deshalb eine eindringliche Zeit mit Athena. Ich hatte wohl eine Frau mit Struktur und festem Willen gesucht, um meinem haltlosen Leben einen Rahmen und endlich auch einen Inhalt zu geben. Wir gingen uns bisher nicht auf die Nerven, hatten scheinbar ähnliche Interessen und Neigungen, sahen Museen von innen, zahllose alte Gemäuer von außen, gingen allzu immensen Touristenansammlungen aus dem Weg, stöhnten darüber, dass dies in den Metropolen der Welt zu einer immer größeren Herausforderung wurde, nutzten deshalb die dämmerfrühen Morgenstunden, um ungestört zu besichtigen und begnügten uns zum Frühstück liebend gerne mit Caffè e Cornetto. Zu dem sich wie selbstverständlich erneuernden Wunder des herrlichsten italienischen Abendschmauses tranken wir eine Flasche des lombardischen Spitzenweins. Welch Genuss und Glückseligkeit! Ach, und es war, wie es schon immer war: In Deutschland hat man erdrückend viel Arbeit und konstruiert zeitlebens Maschinen und in Italien isst man besser.

Bei einem unserer Abendessen in Rom fragte Athena: „Und du hast keine Kinder?“

„Nein.“

„Wolltest du keine?“

So akzentfrei wie möglich antwortete ich: „Da bin ich mir nicht ganz sicher. Ich wusste wohl nie, was ich wirklich will. Ich glaube, ich habe mich lange treiben lassen.“ Und dachte, während ich dies sagte, was für ein, aus heutiger Sicht, lächerlicher Kerl ich mit Anfang zwanzig gewesen war. Als langhaariger Schwarzwaldjüngling hatte ich Hardrock Liedtextfragmente mitgebrummt und mich jahrelang von meinen romantisch-freiheitsliebenden Idealen, die ich jedoch nie wirklich lange durchgehalten hatte, irreführen lassen und war im Grunde ein genauso angepasster Einfaltspinsel wie jeder andere gewesen.

„Und wie verläuft so ein dahintreibendes Leben?“

„Na ja, nach einer Berufsausbildung, die uns Dorfbewohnern als einzige Option verkauft wurde, flüchtete ich vom Land nach Konstanz. Erst einmal einem engen Leben entkommen, war es für mich als Student naheliegend, meiner eigentlichen Natur gemäß, mich treiben zu lassen – und das Wunderbare war, niemand störte sich daran.“

Sie durchleuchtete mich mit ihren Scheinwerferaugen: „Leider ist man nicht ewig zwanzig. Wenn sich manche das auch wünschen mögen.“ Kleine Pause, Scheinwerfer aus, an und mit neuem Ausdruck auf mich fokussiert. „Und nach dem Studium?“

Irgendwie hatte sie etwas von einer unerbittlichen Staatsanwältin, die den ungebildeten Straffälligen auseinandernimmt. Nahmen wir langsam aber sicher unsere wirklichen Rollen ein, fragte ich mich. Diese Gedanken verscheuchend, in dem verzweifelten Versuch, mich auf das Gespräch zu konzentrieren, und in dem Bedürfnis, einen eloquenten Gesprächspartner abzugeben, antwortete ich: „War ich zehn Jahre für einen großen deutschen Konzern weltweit unterwegs.“

„Lass mich raten: Da verdient man gut, kann trinken so viel man will, ohne dass dies jemand kritisiert, muss keine dauerhaften Beziehungen eingehen und die Firma übernimmt die Lebensplanung für einen.“

„So ähnlich“, gab ich zu und hätte fast Frau Staatsanwalt oder Euer Hochwürden angefügt.

„Und jetzt?“

Die Stunde der Wahrheit war gekommen! Jetzt wollte sie wissen, woran sie mit mir war. „Habe ich genug vom Reisen. Ich will sesshaft werden.“

„Zur Abwechslung?“

„Nein, ganz ernsthaft.“

„Du suchst also ein Zuhause!“

Das war kein Fragesatz. Das war eine abschließende Feststellung, dennoch nickte ich bestätigend und strahlte sie an, als wäre ich über eine diesbezügliche Nachricht im nichtvorhandenen Glückskeks hocherfreut, als glaubte ich daran und würde mir schon ausmalen, in welcher Form der orakelhafte Satz sich realisieren werde.

„Willst du mich nicht fragen, ob ich nicht noch Kinder will?“

Fragte sie das ernsthaft? Sie war wohl fünf- oder sechsundvierzig. Ich war ratlos.

„Na ja, wenn du es schon ansprichst. Willst du noch Kinder?“

„Ich denke schon. Aber mach dir keine Sorgen. Es muss ja keine Kopfgeburt sein.“

Manchmal sprach Athena in Rätseln. Um mir nicht anmerken zu lassen, dass ich nichts verstanden hatte, schenkte ich uns von dem Rotwein nach, registrierte, wie viel uns von der köstlichen Flüssigkeit verblieb, überlegte, ob wir noch eine Flasche bestellen sollten und war mir nicht sicher, ob sie solch eine Trinkfestigkeit bei einem Mann gutheißen würde. Ich folgerte, nach dem, was ich bisher von ihr wusste, dass dies wohl nicht so sei und nahm trotzdem einen großen Schluck, denn dass sie noch Kinder wollte, war dann doch etwas viel für den Anfang, und wie das in ihrem Alter gehen sollte, blieb ein Rätsel, war andererseits beruhigend, denn die Aussichten hinsichtlich Nachwuchs erschienen mir äußerst gering. Oder hatte sie etwa Eizellen einfrieren lassen? Zuzutrauen war es ihr. Aber was um alles in der Welt meinte sie mit Kopfgeburt? Wahrscheinlich, dass man es einfach geschehen lassen sollte, statt ewig und drei Tage darüber nachzudenken. Richtig. Genau das hatte meine damalige Freundin vor Jahren zu mir gesagt. Das mit dem Kinder kriegen passiere einfach. Das könne man nicht mit dem Kopf steuern. Natürlich irrte ich auch bei diesen Gedankengängen. Aber ich konnte diesmal wirklich nichts dafür, denn ich hatte nur die Mittlere Reife, das Fachabitur und ein Ingenieursdiplom. All das war schön praktisch und für meinen bisherigen Lebensweg völlig ausreichend. Keiner hatte je mit so einer Wendung gerechnet. Sonst hätten mich meine Eltern sicherlich auf ein humanistisches Gymnasium geschickt. Manche Dinge kann man voraussehen – andere niemals. Was auf unserer italienischen Reise geschah, gehörte zweifelsohne zur zweiten Kategorie. Wovon ich damals nicht das Geringste ahnte.

Nach mehreren sexlosen Nächten in Rom folgten wir den Weisungen, die wir aus einem weiteren Umschlag zogen, nahmen den Schnellzug, fuhren nach Neapel und landeten erneut in einer vorgebuchten Unterkunft, die wir zur Abwechslung nicht allein bewohnten, sondern zu Mitgliedern einer fünfköpfigen Studenten-WG wurden. Wir kamen uns unter den jungen, unbekümmerten Leuten wie Alt-Hippies vor und sahen vielleicht auch etwas so aus, aber sie nahmen uns freundlich und nebenbei zur Kenntnis. Wir bekamen das WG-Zimmer einer Norwegerin zugewiesen, die ihre Semesterferien woanders verbrachte.

Da ich Athena aus übertriebener Höflichkeit keine Fragen über ihre persönlichen Verhältnisse gestellt hatte, sprach sie mich direkt auf meine Zurückhaltung diesbezüglich an: „Interessiert dich eigentlich nicht, was ich so mache, wer ich bin und was ich für eine Geschichte habe?“

„Doch. Sehr.“

„Warum fragst du dann nicht?“

Nachdem ich einen keinesfalls plausiblen Erklärungsversuch irgendwo im zweiten Drittel des Satzes abbrach, berichtete Athena während unseres ersten Abendessens in Neapel von dem misslungenen Urlaub mit ihrem ehemaligen Partner. Sie waren einander längst überdrüssig, ohne sich dies einzugestehen, und im Alltag war es ihnen auch ganz gut gelungen, dies zu überspielen. Im gemeinsamen Urlaub konnten sie diese Tatsache jedoch nicht länger leugnen. Damals entstand aus der Sehnsucht, einen völlig anderen Urlaub zu erleben, der Wunsch, die nächste kostbare, freie Zeit mit einem Mann zu verbringen, der – ja, der ihr alles bot, was sie in ihrer letzten Beziehung schmerzlich vermisst hatte.

„Und wo ist er jetzt?“

„Dort, wo er hingehört.“

„Und das heißt …?“

„Zuerst willst du nichts wissen und jetzt alles.“

„Irgendwie schon.“

„Nun gut. Es kann nicht immer das Treppchen aufwärts gehen, und schon gar nicht, wenn du verlierst.“

„Sondern?“

„Dann geht es auch mal das Treppchen abwärts.“

„Abwärts?“

„Abwärts!“

Aha, dachte ich, jetzt bin ich so klug als wie zuvor. Wenn Athena etwas nicht sagen will, dann redet sie in Rätseln. Und abermals irrte ich.

Wir streiften unentwegt durch die engen Gassen und uns beiden gefiel Napoli besser als Roma. Jedoch bekam