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Ein One-Night-Stand. Ein Geheimnis. Ein Fehler, den sie vergessen wollten.
Es gibt Typen, von denen man besser die Finger lässt – das weiß auch die unschuldige und unerfahrene Ella Shaw. Als Tyler Dare, der beste Freund ihres Bruders, jedoch zu allem bereit ist, kann sie ihm nicht länger widerstehen. Zu lange hat sie sich nach ihm gesehnt ...
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Seitenzahl: 344
DAS BUCH
»Sie nickte und war sich vollkommen dessen bewusst, dass sein großer Körper gerade sehr nah neben ihrem lag. Genauso bewusst war sie sich der Wärme seiner Haut und seiner vollen Lippen, die förmlich darum bettelten, geküsst zu werden. Alles, was sie tun müsste, war, sich nur einen Zentimeter näher an ihn heranzuschieben, und dann wäre ihr Mund auch schon auf seinem. Und er rutschte auch nicht von ihr weg, sondern starrte sie einfach nur mit diesen verdammt sexy Augen an. Sie stöhnte. Das leise Geräusch entschlüpfte ihr ohne jegliche Absicht. Danach hätte sie nicht mehr sagen können, wer sich von ihnen zuerst rührte. Sie wusste nur, dass schließlich – Gott sei Dank – sein Mund von ihrem Besitz ergriff. Ihre Lippen fühlten sich fest an, als er seine Zunge in ihren Mund schob und sie förmlich verschlang, so als ob er am Verhungern und ihm gerade ein Festschmaus angeboten worden wäre.«
DIE AUTORIN
Carly Phillips hat sich mit ihren romantischen und leidenschaftlichen Geschichten in die Herzen ihrer Leserinnen geschrieben. Sie veröffentlichte bereits über zwanzig Romane und ist inzwischen eine der bekanntesten amerikanischen Schriftstellerinnen. Mit zahlreichen Preisnominierungen ist sie nicht mehr wegzudenken aus den Bestsellerlisten. Ihre Karriere als Anwältin gab sie auf, um sich ganz dem Schreiben zu widmen. Sie lebt mit ihrem Mann und den zwei Töchtern im Staat New York.
CARLY PHILLIPS
Liebe nichtausgeschlossen
Aus dem Amerikanischen von Anu Katariina Lindemann
WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN
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Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel Dare To Take bei CP Publishing.
Copyright © 2016 by Karen Drogin
Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81637 München
Redaktion: Birgit Groll
Covergestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock (Christos Siatos, Lisa)
Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-641-19464-2V002
www.heyne.de
Die Sonne schien am Himmel, die Temperaturen überstiegen bereits die dreißig Grad und die Luftfeuchtigkeit war dermaßen hoch, dass man sich kaum vorstellen konnte, dass bald schon ein Orkan über die karibische Insel St. Lucia hinwegfegen würde. Ella Shaw blickte in den blauen Himmel und wusste, dass das Wetter nicht mehr lange so perfekt bleiben würde.
Die berühmte Ruhe vor dem Sturm.
Sie band sich ihr Haar zu einem hohen Pferdeschwanz zusammen und verließ dann das Hotel, denn sie wollte noch bei dem Souvenirshop vorbeischauen, den sie gestern auf ihrem Weg zum Fotoshooting entdeckt hatte. Sie hatte lange, mit blauen Perlen besetzte Ketten im Schaufenster gesehen, aber leider nicht die Zeit gehabt, um in den Laden zu gehen. Ihre Chefin war eine Prinzipienreiterin, die immer genau die richtige Aufnahme in genau dem exakten Licht bekommen wollte, und so hatten sie am gestrigen Tag sehr lange gearbeitet. Als sie endlich mit allem fertig gewesen waren, hatte der Laden bereits geschlossen.
Als Assistentin von Angie Crighton – einer Modedesignerin mit Sitz in Miami – war Ella für die kleinen Details verantwortlich, die zu einem Fotoshooting dazugehörten. Und obwohl Angie, der Fotograf und die Models die Insel bereits an diesem Morgen verlassen hatten, war Ella noch dageblieben, um sicherzugehen, dass der Ort des Shootings ordentlich zurückgelassen worden war. Und ehrlich gesagt, genoss sie diese Auszeit gerade sehr – nach dem hektischen Herumgehetze der Crew, der Rechthaberei von einigen Models und natürlich auch von Angie selbst.
Ella wusste es sehr zu schätzen, dass sie jetzt die Zeit haben würde, um für ihre beste Freundin Avery Dare Souvenirs einzukaufen. Eigentlich war es seltsam, dass die beiden Frauen, die aus zwei so komplett unterschiedlichen Welten kamen, sich überhaupt kennengelernt hatten. Aber das Schicksal wollte es so. Und es war Avery gewesen, die Ella in die schönen Dinge des Lebens eingeführt und schließlich auch dazu gebracht hatte, sich für einen Job bei einer Haute-Couture-Designerin zu entscheiden. Während Avery aus einer reichen Familie stammte, war Ella in einer weniger betuchten aufgewachsen, aber die beiden hatten sich auf Anhieb gut verstanden. Sie hatten sogar mal zusammengewohnt, bis ihre beste Freundin vor Kurzem mit ihrem Rockstar-Freund Grey Kingston zusammengezogen war.
Ja, sie lebten in zwei verschiedenen Welten – auch heute noch, dachte Ella. Aber ihre Freundschaft war dennoch stabil, was sie daran erinnerte, Avery unbedingt noch Bescheid geben zu müssen, dass sie es morgen – wie ursprünglich geplant – vermutlich nicht in die Staaten schaffen würde.
Als Ella von dem Wetterumschwung hörte und dass es einen heftigen Sturm geben sollte, hatte sie zunächst versucht, einen früheren Flug zu bekommen – allerdings ohne Erfolg. Bei dem Gedanken, hier während eines Orkans mutterseelenallein festzusitzen, wurde sie unruhig, und sie wusste, dass Avery diese Nachricht noch weniger gefallen würde. Ihre beste Freundin litt nämlich manchmal unter heftigen Panikattacken, und Ella war überhaupt nicht von dem Gedanken angetan, dass sich ihre Freundin wegen ihr nun Sorgen machen müsste.
Als Ausgleich würde sie Avery ein Extrageschenk kaufen, dachte sie sich, während sie in das Geschäft hineinmarschierte. Sie steuerte geradewegs auf die türkisblaue Perlenkette zu. Der Ladenbesitzer behauptete, es wären Larimar-Perlen. Da man diesen Perlen, die sehr beliebt in der Karibik waren, heilende Kräfte nachsagte, kaufte Ella gleich zwei Dutzend – Armbänder und Ketten –, damit sie den Schmuck mit den Kindern aus dem Krebsbehandlungszentrum, in dem sie und Avery ehrenamtlich arbeiteten, teilen könnte.
Avery war neun und Ella zehn Jahre alt gewesen, als sie sich zum ersten Mal im Miami Hospital begegneten. Beide spendeten Knochenmark, und beide waren dort, weil sie ein Elternteil darum gebeten hatte. Keines der beiden Mädchen begriff damals wirklich, was mit ihnen geschah. Alles, was Ella wusste, war, dass sie damit ihrem Vater einen großen Gefallen tat und sie ihrer Stiefmutter half, die Ella jedoch noch nie besonders gut leiden konnte. Selbst in ihrem jungen Alter verfügte Ella scheinbar über eine ziemlich gute Menschenkenntnis – zumindest eine bessere als ihr Vater. Denn kurz nachdem es Janice wieder besser ging, verließ sie Ellas Vater. Und ab da ging es mit dem Leben von Ella und ihrem Dad steil bergab. Schnell verdrängte sie die unangenehmen Gedanken an ihre Vergangenheit, bevor sie das Ganze noch zu sehr deprimieren könnte. Stattdessen konzentrierte sie sich lieber wieder auf den hübschen Schmuck.
Einige Zeit verbrachte sie damit, ein dickes Armband in Türkis für Avery und ein ähnliches Exemplar für sich selbst auszusuchen, bevor sie schließlich bezahlte und darauf wartete, dass der Ladenbesitzer alles für sie einpackte.
Mit der Tasche in der Hand machte sie sich anschließend auf den Weg zurück ins Hotel, lief durch Seitenstraßen und schaute in die Schaufenster der vielseitigen Geschäfte. Sie saugte das alles geradezu in sich auf, bevor sie dann morgen wieder nach Miami zurückkehren würde. Zumindest gab sie die Hoffnung noch nicht ganz auf, dass sie dann tatsächlich zu Hause sein würde. Da sie wusste, dass sie im Moment sowieso nichts an der Situation ändern könnte, schob sie ihre beunruhigenden Gedanken einfach beiseite. Sie würde sich erst dann damit auseinandersetzen, wenn es so weit wäre.
Wegen der schwülen Luft auf der Insel wurde ihr Nacken vor lauter Schweiß ganz feucht, und sie dachte darüber nach, sich vielleicht doch lieber ein Taxi zum Hotel zu nehmen. Deshalb griff sie in ihre Strohtasche und zog ihr Handy heraus, um beim Taxiservice anzurufen, als sie – ohne jegliche Vorwarnung – plötzlich einen kräftigen Ruck an ihrer Tasche spürte.
»Was zum …?« Blitzschnell wirbelte sie herum, aber wer auch immer es auf ihre Tasche abgesehen hatte, war schneller.
Sie konnte gerade noch einen flüchtigen Blick auf einen großen dunkelhaarigen Mann werfen, während dieser noch heftiger an ihrer Tasche riss und ihr dabei fast die Schulter auskugelte. Dann stieß er sie mit seiner freien Hand gegen das Gebäude, vor dem sie sich befanden.
Ihr Kopf knallte gegen die Betonwand, und augenblicklich sah sie Sternchen. Während sie noch krampfhaft versuchte, nicht das Bewusstsein zu verlieren, schnappte sich der Kerl ihre Tasche und ihr Handy, das bei dem Übergriff auf den Boden gefallen war.
Sie öffnete den Mund, um zu schreien, aber es kam kein Ton heraus. Ihre Beine knickten unter ihr weg, und sie fiel zu Boden, ihr Kopf schlug auf dem Bürgersteig auf, bevor alles um sie herum schwarz wurde.
***
Tyler Dares ganzer Tag war komplett verplant. Er hatte einen straffen Zeitplan voller Termine mit bereits existierenden und auch potenziellen neuen Klienten von Double Down Security – der Firma, die er gemeinsam mit seinem Bruder Scott führte. Serena Gibson, seine enge Freundin und persönliche Assistentin, hatte genaue Anweisungen von ihm bekommen, dass ihn niemand an diesem Morgen stören sollte, damit er sich in aller Ruhe auf jedes einzelne Meeting vorbereiten könnte.
Er schnappte sich den Zettel über die Gefahrenabschätzung für seinen ersten Klienten – einen Diplomaten, der Schutz für seine Familie benötigte – und begann damit, die Befunde zu überfliegen, als er plötzlich laute Stimmen hörte.
»Tut mir schrecklich leid, Avery! Aber er hat gesagt, dass er auf gar keinen Fall gestört werden will!«, hörte er Serena nachdrücklich sagen.
»Das geht schon in Ordnung. Ich bin mir sicher, dass er mich empfangen wird!« Die Stimme seiner Schwester ertönte nun durch die geschlossene Bürotür.
»Avery, er hat mir ausdrücklich gesagt, dass ich niemanden hereinlassen soll!« Die Stimme seiner Assistentin schwoll nun etwas an, aber er wusste, dass die sonst leise sprechende Serena in keiner Hinsicht einer entschlossenen Dare-Frau gewachsen wäre.
Und tatsächlich schwang die Tür kurz darauf auf, und Avery stürmte herein, dicht gefolgt von Serena. »Entschuldige bitte, Tyler!«
Er tat Serenas Sorge mit einer Handbewegung ab. »Ist schon in Ordnung.«
»Danke, Serena«, säuselte Avery mit zuckersüßer Stimme. »Ich lade dich dann irgendwann mal auf einen Kaffee ein!«
»Mach einen Martini daraus, und ich bin dabei«, murmelte Tylers Assistentin und kehrte dann wieder an ihren Schreibtisch zurück.
Tyler wusste, dass sie das auch wirklich so meinte. Serena war alleinerziehende Mutter einer jungen Tochter, nachdem ihr Ehemann … gestorben war. Tyler verdrängte diese Gedanken an Jack Gibson ganz schnell in die entferntesten Winkel seines Hirns. Daran zu denken bedeutete nur, im Geiste einfach viel zu viel Schmerz noch einmal aufleben zu lassen. Schmerz, den er doch eigentlich schon längst hinter sich gelassen hatte, als er damals die Armee verließ.
Stattdessen drehte er sich nun zu seiner Schwester um und erhob sich stöhnend. »Hättest du mich denn nicht vorher anrufen können? Heute werde ich von Arbeit geradezu überschwemmt. Und was wäre gewesen, wenn ich gerade in einem Meeting gesessen hätte?«
Avery rollte mit den Augen … und warum hätte sie das auch nicht tun sollen? Wenn sie einmal ihren Willen durchsetzen wollte, dann schaffte sie das in der Regel auch. Sie und Olivia waren typische Dares – stur und dickköpfig. Genauso wie Tyler.
Sie ging zu ihm rüber und nahm sein Gesicht in ihre Hände, blickte ihm direkt in die Augen. »Die Familie steht immer an erster Stelle. Ist das nicht das, was du immer zu mir gesagt hast?«
Ein eindeutig nervöses Kribbeln jagte seine Wirbelsäule hoch. Dass sie das, was er einst gesagt hatte, nun wortwörtlich wiederholte, bedeutete, dass sie irgendetwas von ihm wollte.
Aber sie hatte auch nicht so ganz Unrecht. Von dem Tag an, an dem ihr Vater bekannt gegeben hatte, dass er noch eine andere Familie hätte, er daraufhin ausgezogen war und sich von ihrer Mutter scheiden ließ, hatte sein ältester Bruder Ian – natürlich mit tatkräftiger Unterstützung seiner beiden Brüder Tyler und Scott – über ihre Schwestern und ihre Mutter mit Argusaugen gewacht. Schließlich war nichts wichtiger als die Familie! Auch wenn Tyler immer noch das Gefühl quälte, als würde er eine gewisse Mitschuld an ihrer Situation tragen, weil er kein Sterbenswörtchen gesagt hatte. Er war damals nämlich bei seinem Vater und dessen Geliebten hereingeplatzt, als er ihn auf seiner Arbeitsstelle besucht hatte. Das passierte ein ganzes Jahr, bevor es die anderen ebenfalls herausfanden und das Leben aller wie ein Kartenhaus zusammenstürzte.
Sein Vater hatte ihm damals Schuldgefühle eingeimpft und ihm eingebläut, er solle sein Geheimnis für sich behalten. »Du willst doch nicht für den Schmerz deiner Mutter verantwortlich sein, mein Sohn. Sei ein Mann! Behalte mein Geheimnis für dich!«
Als Erwachsener kapierte Tyler, dass einzig und allein Robert Dare an dem Schmerz aller verantwortlich war. Aber als Teenager wollte er seine Mutter, die er abgöttisch verehrte, beschützen … und ein Mann sein, so wie es sein Vater von ihm verlangt hatte.
Das waren alles sehr zwiespältige, beschissene Gefühle für einen Jungen, und letztendlich bekam er es dann ja auch absolut nicht auf die Reihe. Die Geheimnisse seines alten Herrn behielt er für sich und gab niemals die Wahrheit zu, nicht einmal Ian oder Scott gegenüber; und indem er das tat, lebte er mit dem Gefühl, dass er, wenn er nur früher den Mund aufgemacht hätte, seiner Mutter vielleicht die Art der Demütigung hätte ersparen können, die sie dann später erlebte. Das geschah, als sein Vater mit der schmerzhaften Aufforderung an sie herantrat, dass alle ihre Kinder getestet werden sollten, ob sie als Knochenmarkspender für eines seiner anderen Kinder infrage kämen. Als die Dinge dann irgendwann emotional zu schwierig wurden, rannte Tyler weg. Und das nicht nur einmal.
»Tyler, alles okay bei dir?«, fragte Avery und legte eine Hand auf seinen Arm.
»Ja, alles in Ordnung.« Er schüttelte die Erinnerungen an seine Vergangenheit ab. »Was ist denn los?«, fragte er dann und konzentrierte sich jetzt wieder nur noch darauf, was seine Schwester wohl von ihm wollte.
»Es geht um Ella.«
Bei dem Namen wurde sein Schwanz augenblicklich munter. »Ella …«
Avery kniff ihre veilchenblauen Augen verwirrt zusammen. »Ja, Ella.«
»Ella«, wiederholte er. Sofort hatte er Bilder im Kopf, die regelrecht auf ihn einstürzten – auch wenn er lange Zeit versucht hatte, sie aus seinen Erinnerungen auszulöschen. Ein geschmeidiger Körper – mit kecken Brüsten und warmer, seidenweicher Haut –, der sich eng an seinen Körper geschmiegt hatte.
»Du weißt schon – Ella Shaw«, sagte seine Schwester erneut und ihre Worte bahnten sich ihren Weg durch seine Gedanken. »Meine beste Freundin!«
Und die Frau, die er als Achtzehnjährige entjungfert hatte …
Ja, Tyler wusste ganz genau, wer Ella Shaw war. Jedes Mal, wenn er ihr Gesicht sah oder ihren Namen hörte, war sein Hirn wie kurzgeschlossen, und eine Mischung aus Selbstverachtung und Schuldgefühlen drohte ihn zu brechen, unmittelbar gefolgt von einer Welle der Erregung, die er sich sofort verbot.
»Was ist denn mit ihr?«, fragte Tyler, konzentrierte sich jedoch schon wieder auf den heutigen Tag – auf potenzielle Klienten, die er gewinnen wollte, und neue Sicherheitssysteme, die er seinen bereits existierenden Kunden schmackhaft machen wollte, damit sie ihre Sicherheitsvorkehrungen sogar noch verbessern könnten.
Was auch immer für ein Problem Ella haben sollte, so war sich Tyler sicher, dass sie dafür ganz bestimmt nicht ausgerechnet seine Hilfe bräuchte. Er ging davon aus, dass Avery vermutlich nur überreagierte. Das musste einfach so sein!
In den vergangenen Jahren hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, sich so weit wie möglich von Ella Shaw fernzuhalten. Für beide war es einfach besser, so zu tun, als ob es jene Nacht nie gegeben hätte, und in einem stillen Einvernehmen hatten sie es bislang hinbekommen, diesen Fehltritt vor seiner Schwester geheim zu halten.
Avery schlug mit der flachen Hand auf seinen Schreibtisch und brachte damit seinen Fokus wieder zurück auf die vorliegende Situation. »Ella wurde in der Karibik auf offener Straße überfallen! Und derzeit befindet sie sich mit einer Gehirnerschütterung in einem Krankenhaus. Ihr Pass ist weg, zusammen mit allem anderen, was sich in ihrer Handtasche befand, und derzeit steuert zu allem Überfluss auch noch ein Orkan geradewegs auf die Insel zu!«
Scheiße, Scheiße, Scheiße! »Geht’s ihr denn einigermaßen gut?«, fragte er und war mehr beunruhigt, als er es sich selbst gerne eingestanden hätte.
»Keine Ahnung. Sie klang am Telefon ziemlich angeschlagen. Und die Krankenschwester wollte dann auch nicht mehr, dass sie noch weitertelefoniert, aber Ty … sie kann die Insel nicht ohne ordnungsgemäße Papiere verlassen, und all ihre Ausweise sind jetzt doch weg! Sie kann auch nicht zur amerikanischen Botschaft gehen, da sie sie für die nächsten vierundzwanzig Stunden nicht aus dem Krankenhaus lassen wollen, weil sie doch mutterseelenallein auf der Insel ist! Und wenn man sie dann später entlässt, dann wird der Orkan die Insel bereits erreicht haben und …« Avery brachte kein weiteres Wort mehr über die Lippen, weil sie zu hyperventilieren begann.
Tyler erkannte die Vorzeichen sofort. Seine Schwester hatte von Kindesbeinen an unter Panikattacken gelitten, und auch wenn sie diese jetzt meistens unter Kontrolle hatte, so konnten doch wirklich stressige Situationen einen Anfall auslösen.
»Komm schon! Setz dich erst mal hin!« Er schlang einen Arm um ihre Schultern und führte sie dann zu einem Stuhl, half ihr behutsam dabei, sich hinzusetzen. »Hast du deine Xanax dabei?« Sie nickte, und obwohl sie immer noch schneller atmete, begann sie jetzt in ihrer Handtasche herumzukramen.
»Serena, ich brauche ein Glas Wasser! Schnell!«, rief Tyler seiner Sekretärin zu.
Kurz darauf eilte diese auch schon mit einem Glas Wasser in der Hand herein.
»Danke!«, sagte er.
Avery schluckte die Pille und begann dann, Atemübungen zu machen.
»Kann ich euch noch irgendetwas anderes bringen?«, fragte Serena.
Tyler schüttelte den Kopf, sein Fokus lag im Moment einzig und allein auf Avery. »Uns geht’s vorerst gut!«
Schnell ging Serena wieder raus und schloss die Tür hinter sich.
»Okay, schau mal …«, sagte Tyler und kniete sich neben seiner Schwester hin. »Du wirst jetzt aufschreiben, wo sie sich gerade befindet, und ich werde dann die Botschaft kontaktieren. Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um sie da so schnell wie möglich wieder rauszubekommen.«
»Du musst selbst hin! Bitte! Ich muss einfach die Gewissheit haben, dass es Ella gut geht und dass jemand bei ihr ist, dem ich vertrauen kann – nach dem Ganzen, was sie durchgemacht hat!« Sie ergriff seine Hand und drückte sie ganz fest. »Ian wird dich seinen Jet nehmen lassen. Das Ganze auf privatem Wege zu regeln ist sowieso die einzige Möglichkeit, wie sie ohne Pass von der Insel wegkommen kann.«
Avery blickte zu ihm auf mit denselben großen Augen, denen er schon damals, als sie noch ein Kind gewesen war, nichts abschlagen konnte. Nur dass sie dieses Mal keinen blassen Schimmer hatte, um was sie ihn da eigentlich bat. Die Vergangenheit brach erneut über ihn herein.
Während seiner Armeezeit war er einmal – pünktlich zu Weihnachten – während seines Urlaubs nach Hause gekommen. Wie immer war auch Ella in den Ferien zu Besuch dagewesen – und heilige Scheiße, sie war ja so verdammt heiß geworden! Sie hatte weibliche Rundungen bekommen mit sexy Titten und süßen kurvigen Hüften. Ihr Anblick hatte ihn förmlich umgehauen! Zum ersten Mal nahm er sie als schöne Frau wahr und nicht mehr nur als die beste Freundin seiner kleinen Schwester. Im Laufe der Nacht hatte er sich dann viele Male ins Gedächtnis rufen müssen, dass sie tabu für ihn war!
Aber leider hatte das keiner Ella gesagt.
Im Nachhinein betrachtet hätte er es eigentlich vorher erkennen müssen, dass sie schon viele Jahre lang in ihn verknallt gewesen war, aber sie war früher doch nur das Kind gewesen, auf das er aufpassen musste; das kleine Mädchen, das er in der Zeit kennenlernte, als sie ihrer Stiefmutter Knochenmark spendete. Er hatte immer das Gefühl gehabt, dass er sie beschützen müsste – hauptsächlich, weil sie lange Zeit ein so kleines Ding gewesen war.
Als er dann erst einmal Soldat geworden war, wurden seine Besuche zu Hause sporadisch, und er hatte Ella jahrelang nicht mehr gesehen. Zumindest nicht bis zu jener besagten Nacht …
»Du verhütest doch?«, hatte Tyler damals eine sehr nackte, wunderschöne und ganz offensichtlich sehr verletzliche Ella gefragt. Aber er war einfach zu wütend auf sich selbst gewesen und auch auf sie, weil sie das ja ganz offensichtlich mitbekommen hatte.
Sie hatte ein Nicken zustande gebracht. Ihr braunes Haar fiel über ihre nackten Schultern, ihre haselnussbraunen Augen waren plötzlich wie ein feuchtes Moosgrün. »Ja, das tu ich.«
Eine Welle der Erleichterung hatte ihn daraufhin überschwemmt. Sie mochte vielleicht uneingeladen in sein Bett gekrabbelt sein, aber er hatte verdammt noch mal ganz genau gewusst, was er tat, als er in sie eindrang. Sie war ja so verdammt eng gewesen, und als er diese offensichtliche Barriere durchstieß, hatte er es sofort kapiert … aber da war es schon zu spät gewesen. Mit seiner Kontrolle war es aus und vorbei, und er hatte sie hart und schnell genommen. Es war nicht einmal annähernd so gewesen, wie ihr erstes Mal hätte sein sollen … wenn er doch nur nüchtern gewesen wäre. Wenn er vorher gewusst hätte, dass sie noch Jungfrau gewesen war. Aber wenn er nicht so betrunken gewesen wäre, dann wäre sie wahrscheinlich gar nicht erst in seinem Bett gelandet.
»Es ist schon in Ordnung.« Sie hatte ihre Hand ausgestreckt und seinen nackten Oberkörper berührt. Diese zärtliche Geste hinterließ ein Brandzeichen auf seiner Haut, und sein Körper war augenblicklich wieder munter und sein Schwanz wieder hart geworden. Was lediglich dazu führte, dass er nur noch wütender wurde.
»Nein, es ist überhaupt nicht in Ordnung! Es war ein verdammter Fehler – eine Riesensauerei, und so was wird ganz bestimmt nicht noch einmal passieren!«
Tränen traten ihr in die Augen, während sie ihre Klamotten zusammensuchte, sich ihr langes Shirt anzog und dann schnell weglief. Die Schlafzimmertür knallte sie hinter sich zu.
»Scheiße!« Er hatte sich in die Kissen zurückfallen lassen und war dermaßen sauer auf sich selbst gewesen, dass er nicht mehr logisch denken konnte.
In die Karibik zu reisen, um Ella zu retten, würde sie wieder zusammenbringen – nur sie zwei ganz allein –, und das wäre das erste Mal, seit jener Nacht, als er ihr in die Augen gesehen und mit all der Gewandtheit eines besoffenen Dreiundzwanzigjährigen mit ihr geredet hatte.
Er war ein richtiges Arschloch gewesen. Noch schlimmer war allerdings, dass er am nächsten Tag noch nicht einmal den Mumm besessen hatte, um dazubleiben und sich bei ihr zu entschuldigen. Stattdessen hatte er seiner Mutter einen Abschiedskuss auf die Wange gedrückt und behauptet, dass man ihn zurück zum Stützpunkt gerufen hätte. Und das alles nur, um Ella nicht noch einmal unter die Augen treten zu müssen. Und in den darauffolgenden Jahren hatte er auch kein bisschen besser seinen Mann gestanden. Er fuhr sich mit einer Hand durch sein Haar, das er heute länger trug als damals. Wenn irgendein Mann mit einer seiner Schwestern so umgegangen wäre, wie er sich Ella gegenüber verhalten hatte, dann hätte Tyler ihm definitiv das Leben zur Hölle gemacht!
»Ty? Du wirst doch hinfliegen und sie holen, oder? Was wäre denn, wenn es doch etwas Schlimmeres als eine Gehirnerschütterung ist und sie haben sie fehldiagnostiziert? Sie braucht dort unbedingt irgendjemanden, der sich um sie kümmert, und das noch bevor der Sturm aufzieht!«
Er ächzte, denn er war bereits zu derselben Erkenntnis gekommen. »Ja. Das braucht sie wirklich.« Er schnappte sich einen Stift und Papier von seinem Schreibtisch und hielt sie Avery hin. »Schreib alles auf! Wo sie sich gerade befindet und in welches Krankenhaus sie eingeliefert wurde. Ich werde Ian anrufen und ihm sagen, dass er seinen Piloten kontaktieren soll!«
»Hm, der Flieger ist bereits voll getankt und startklar«, entgegnete seine Schwester und lief dabei rot an.
Tyler schüttelte den Kopf. »So sicher warst du dir, dass du mich rumkriegst, hm?«
»Du bist ein anständiger Kerl, Tyler! Und du bist der Beste in dem, was du tust. Wenn irgendjemand das für Ella regeln kann, dann weiß ich, dass du es bist!«
Oh Mann. So viel zum Thema Schuldgefühle … Wenn Avery etwas über seine Vergangenheit mit ihrer besten Freundin wüsste, dann würde sie ihn garantiert nicht auf die Insel schicken. Aber er konnte sich jetzt nicht den Kopf darüber zerbrechen, was Avery denken oder nicht denken könnte. Stattdessen müsste er sichergehen, dass es Ella gut ginge, und um dafür überhaupt in der Lage zu sein, müsste er zuerst einmal die Wettervorhersage checken und inständig hoffen, dass er überhaupt auf die kleine Insel käme – noch bevor der Sturm losginge.
***
Der Flug war ziemlich böig, und als Tyler landete, peitschte der Wind bereits durch die Bäume. Er wollte Ella sicher und wohlbehalten ins Hotel bekommen, bevor der Orkan so richtig loslegen würde. Schließlich erreichte er das Krankenhaus und fand dort das reinste Chaos vor. Im Gegensatz zu einem amerikanischen Krankenhaus mit Generatoren und einem allgemeinen Bereitschaftsdienst machte sich das Personal hier mehr Sorgen darüber, selbst sicher nach Hause zu kommen, als sich um das Wohlergehen der Patienten zu kümmern.
Er hielt einige Leute an, bevor ihn endlich jemand zu der Amerikanerin den Gang hinunterführte. In Anbetracht dessen, dass sie auf offener Straße überfallen worden war, war die Tatsache, dass ihn kein einziger Mensch nach seinem Personalausweis fragte oder sich Sorgen machte, dass er vielleicht darauf aus sein könnte, ihr irgendetwas anzutun, ein ziemlich beunruhigender Gedanke. Das alles machte ihn nur noch entschlossener, sie hier so schnell wie möglich wieder rauszubekommen.
Während des Flugs hatte er nicht aufhören können, sich selbst zu fragen, warum er das hier eigentlich überhaupt tat. Er hatte schließlich auch früher schon seiner Schwester einen Wunsch abgeschlagen. Zwar nicht sehr oft, aber er bekam es durchaus hin, wenn er es nur wollte. Also, warum brachte er sich jetzt in eine derartige Situation, eine Frau zu retten, mit der er so eine schwierige Vorgeschichte hatte? Eine Frau, die mit Sicherheit nicht besonders erfreut wäre, ihn hier zu sehen, und bei der ihm auch gar nichts anderes übrig bliebe, als sich bei ihr zu entschuldigen.
Und da hatte er auch schon seine Antwort. Er hatte sie damals im Stich gelassen, und sie war auch nicht der erste Mensch in seinem Leben gewesen, den er enttäuscht hatte, wenn er einmal gebraucht wurde. Aber jetzt wollte er wirklich versuchen, seine vergangenen Fehler wiedergutzumachen.
Als Kind hatte Tyler – wie all seine Geschwister – ihren Vater, Robert Dare, geradezu vergöttert. Als die Wahrheit über sein Doppelleben und seine zweite Familie schließlich ans Tageslicht kam, hatte er dadurch jedes seiner Kinder auf eine andere Art und Weise zutiefst verletzt.
Ian war sofort zur Stelle gewesen und hatte den Posten als Herr des Hauses angetreten. Natürlich hatten ihm Tyler und Scott dabei tatkräftig unter die Arme gegriffen, auf ihre Schwestern achtzugeben, aber es war in erster Linie Ian gewesen, der die Familie zusammengehalten hatte. Und indem Ian sich um alle gekümmert hatte, war er sichergegangen, dass Scott die Möglichkeit bekam, ein Polizist zu werden, und dass auch Tyler das aus seinem Leben machen konnte, was ihm für seine Zukunft vorschwebte.
Und was hatte Tyler getan? Anstatt der Wut, die er seinem Vater gegenüber hegte, geradewegs ins Gesicht zu blicken, war er davongerannt und der Armee beigetreten. Er hatte sich selbst eingeredet, dass das wie eine schallende Ohrfeige für seinen Vater sein müsste. Aber in Wirklichkeit war es doch nichts weiter als eine feige Aktion des Verrats gegenüber seiner Familie gewesen. Und als er während seines Urlaubs nach Hause kam und Ella dermaßen mies behandelte, hatte er sich ihr da etwa am nächsten Tag gestellt? Nein, dachte er, und strich sich mit einer Hand durchs Haar. Stattdessen war er wieder einmal weggelaufen.
Er wollte jetzt nicht mehr darüber nachdenken, wie er damals eine ähnliche Lektion durch Jack Gibson gelernt hatte, der seine Familie auf die schlimmste Art und Weise im Stich gelassen hatte. Tyler wurde schließlich oft genug davon in seinen Albträumen heimgesucht, aber er hatte daraus gelernt. Und wenn der Überfall auf Ella und dieser verdammte Orkan ihm jetzt die Chance bieten sollten, die Dinge wieder geradezubiegen, dann würde er es auch tun! Allerdings schuldete er Ella weitaus mehr als nur eine bloße Entschuldigung.
In den letzten neun Jahren war er nicht imstande gewesen, die Nacht mit Ella oder den Morgen danach aus seinem Kopf zu bekommen. Aber jetzt war endlich seine Chance gekommen, um zumindest einen Teil dieser Schuldgefühle wieder loszuwerden, die er jahrelang mit sich herumgeschleppt hatte, weil er solch ein Arschloch gewesen war.
Weil er sie als Fehler bezeichnet hatte!
Wegen vieler Dinge.
Er ging den Gang hinunter und blieb vor dem Raum stehen, den man ihm gezeigt hatte. Er atmete einmal tief durch und ging dann hinein.
Ella schlief. Ihr hellbraunes Haar lag über dem weißen Kopfkissen verteilt, ihr Gesicht war ganz blass. Und obwohl sie gerade ziemlich schwach aussah, wusste er doch, dass sie eine Kämpfernatur besaß. Er bewunderte sie und hatte während all dieser Jahre niemals aufgehört, an sie zu denken … und er sah definitiv weitaus mehr in ihr als nur eine Freundin der Familie. Er sah sie als die Frau, die er schlecht behandelt hatte … und die er hatte gehen lassen. Es gab in diesem Moment allerdings nichts, das er dagegen tun könnte oder würde. Er traute seinen Fähigkeiten nämlich immer noch nicht über den Weg, sich wirklich an jemanden binden zu können. Und Ella – mit ihrer schmerzhaften Vergangenheit – brauchte definitiv jemanden, der sie nicht schon wieder im Stich lassen würde.
Als er sie nun in diesem Bett liegen sah, versetzte ihn das zurück in die Zeit, als sie sich kennengelernt hatten. Sie war klein für ihr Alter gewesen – eine Zehnjährige, die darauf wartete, ihrer Stiefmutter ihr Knochenmark zu spenden. Genauso wie Avery. Nur dass Avery ihr Knochenmark einer Halbschwester gab, über die sie alle – bis nur wenige Wochen vor der Knochenmarkspende – rein gar nichts gewusst hatten.
Avery und Ella hatten sich sofort angefreundet, aufgrund ihrer gemeinsamen Situation. Und alle Dare-Brüder entwickelten damals einen extremen Beschützerinstinkt, was Ella Shaw betraf. Das war auch genau das, was seine Reaktion ihr gegenüber an jenem Weihnachten so verdammt … falsch machte. Aber warum hatte er sie denn eigentlich überhaupt so schlecht behandelt? Sein Selbstekel hatte sich auf die falsche Person gerichtet. Weil er ihren heißen, geschmeidigen Körper einfach zu sehr genossen hatte.
Kopfschüttelnd drängte er diese Gedanken beiseite.
Er ging weiter in den Raum hinein, und während er noch auf sie zuging, fingen diese Beschützerinstinkte, die er ihr gegenüber immer schon verspürt hatte, wieder einmal an zu wirken – kombiniert mit einer gesunden Dosis von Verlangen nach dieser Frau, die gerade so hilflos in dem Krankenhausbett vor ihm lag.
»Entschuldigung, wer sind Sie, und was tun Sie hier?«, fragte eine Frau, die gerade den Raum betrat. Sie war von Kopf bis Fuß in Weiß gekleidet und vermutlich eine Krankenschwester.
»Ich bin wegen Ella Shaw hier. Ich … ich gehöre sozusagen zur Familie«, antwortete Tyler, quetschte die Worte regelrecht aus seinem Mund heraus, weil das, was er bei Ellas Anblick verspürte, wirklich alles andere als familiär oder brüderlich war.
Die Krankenschwester kniff ihre Augen zusammen. »Nun gut … Also, sie hat ein Trauma erlitten und …«
»Ist schon okay, er kann bleiben«, hörte er plötzlich Ella sagen. Ihre Stimme klang kratzig und war ganz leise.
Daraufhin schaute ihn die Schwester lange prüfend an. Schließlich schenkte sie ihm jedoch ein knappes Nicken, bevor sie dann aus dem Zimmer eilte.
Tyler drehte sich wieder um und begegnete Ellas Blick. »Hey Winzling!«, begrüßte er sie. Der Spitzname aus den Zeiten, als sie jünger gewesen war, rutschte ihm aus Versehen heraus.
»Sobald es mir wieder besser geht, werde ich Avery den Hals umdrehen«, murmelte sie. »Ich nehme an, du bist die Kavallerie?«
»Du könntest ruhig ein bisschen dankbarer klingen.«
»Und du könntest ruhig wie mit einer Erwachsenen mit mir reden!«, schnauzte sie ihn an. Beide fielen sofort wieder in alte Verhaltensmuster zurück.
Um Distanz zu wahren und um ihr nicht zu zeigen, wie sehr er sich in Wirklichkeit zu ihr hingezogen fühlte, hatte Tyler schon vor langer Zeit eine Schutzmauer um sich herum errichtet und Ella stets wie eine nervige kleine Schwester behandelt. Mit diesem Mist müsste nun endlich ein für alle Mal Schluss sein, denn sie hatte ja recht … Sie waren beide erwachsen, selbst wenn er sich in den letzten Jahren alles andere als das verhalten hatte.
Er zog einen Stuhl an ihr Bett heran, seine Knie berührten den Metallbettrahmen. »Wie geht’s dir?«, fragte er nun mit sanfterer Stimme.
Sie atmete tief durch. »Mein Kopf tut schrecklich weh, und mir ist auch ein bisschen schwindelig. Nichts Außergewöhnliches bei einer Gehirnerschütterung«, erwiderte sie. Ihre Augen sahen verdächtig feucht aus und verrieten ihm, dass ihre Schmerzen weitaus größer sein mussten, als sie behauptete.
Ohne vorher besonders viel darüber nachzudenken, griff er nach ihrer Hand. »Ich bin mir sicher, dass es dir wieder besser gehen wird, wenn wir dich hier erst einmal rausbekommen haben.«
»Ich wurde überfallen! Mein Geld, mein Pass … alles ist weg!«
»Ich weiß. Aber die gute Nachricht ist, dass du nichts davon brauchst, wenn du die Insel mit einem Privatjet verlässt.«
Das Geräusch, das sie daraufhin machte, klang nach einem Schnauben – ein hinreißendes Schnauben zwar, aber nichtsdestotrotz ein Schnauben. »Aber natürlich nicht.«
»Hast du ein Problem damit?«
»Keine Ahnung. Ich bin noch nie mit so was geflogen, aber … aber ich bin dankbar, dass du extra wegen mir hierhergekommen bist«, meinte sie dann. Allerdings schaute sie, während sie das sagte, an ihm vorbei und in die Richtung des Fensters. Ganz offensichtlich fühlte sie sich gerade nicht in der Lage, ihm in die Augen zu blicken. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass du das hier eigentlich gar nicht wolltest und Avery dir die Hölle heiß gemacht hat, damit du überhaupt einwilligst!«
Er drückte ihre zarte Hand. »Wir werden über das alles in Ruhe reden, wenn du dich wieder besser fühlst. Aber jetzt lass uns erst einmal einen Arzt finden, der dich entlassen kann!«
Es dauerte eine ganze Weile, bis er jemanden gefunden hatte, aber schließlich stimmte ein erschöpft aussehender Mann zu, dass Ella gehen dürfte – solange sie jemanden hätte, der auf sie aufpassen würde. Und da Tyler dem Arzt versicherte, sie nicht aus den Augen zu lassen, ging das schließlich auch in Ordnung.
Die Fahrt zum Hotel stellte sich dann schon als etwas schwieriger heraus. Es kostete Tyler nämlich ein Vermögen, weil – wieder einmal – die meisten Taxifahrer so schnell wie möglich nach Hause und deshalb keine Passagiere mitnehmen wollten, für die sie extra einen Umweg machen müssten.
Während der Fahrt schwankten die Palmen bereits gefährlich hin und her, und der Taxifahrer umklammerte das Lenkrad des kleinen Wagens sogar noch fester.
Ella schien Gedächtnisprobleme zu haben, denn kaum hatte er sie auf den Rücksitz des Taxis bugsiert, rollte sie sich auch schon neben ihm zusammen, lehnte ihren Kopf an seine Schulter und war augenblicklich weggetreten. Sie mochte zwar im Krankenhaus gewesen sein, roch aber immer noch nach Frau pur. Nie hätte er gedacht, dass ihn irgendetwas von diesem heftigen Sturm ablenken könnte, aber ein Dufthauch von Ellas Haar und das Einatmen ihres Geruchs allein genügten, und schon waren Wind und Regen vergessen. Er war vollkommen versunken in einer Naturgewalt der ganz anderen Art …
Was für ein Perversling bekam denn bitte einen Ständer, wenn eine verletzte, halb bewusstlose Frau arglos an seiner Schulter lehnte? Scheiße! Die Dinge, die diese Frau mit ihm anstellte, ließen ihn immer wieder seinen gesunden Menschenverstand infrage stellen.
Als sie schließlich das Hotel erreichten, weckte er sie auf. Sie lehnte sich bei ihm an, während sie in das Gebäude gingen. Drinnen angekommen, erklärte er der Empfangsdame die Situation. Glücklicherweise konnte sie sich aufgrund des Fotoshootings noch an Ella erinnern und stimmte zu, ihr einen neuen Schlüssel auszuhändigen. Beruhigend legte er eine Hand auf Ellas Rücken, dann nahmen sie den Aufzug nach oben in den sechsten Stock, und sie führte ihn zu ihrem Zimmer, Nummer sechshundertachtzehn. An der Türklinke hing ein Bitte nicht stören-Schild.
»Das ist ja seltsam! Das habe ich aber nicht da hängen lassen!«, meinte sie verdutzt und zeigte auf den Türanhänger.
Er kniff die Augen zusammen. »Warte hier!«
Dann blickte er um sich, aber es gab keine sichere Nische, in der sie sich hätte verstecken können. Deshalb drückte er sie gegen die Wand neben der Tür – nur für den Fall, dass irgendjemand plötzlich herausstürmen sollte. Dann zog er seine Waffe.
Ihre Augen wurden größer, aber sie erhob auch keine Einwände.
Dann öffnete er mit dem Kartenschlüssel die Tür und ging hinein. Das Badezimmer befand sich sofort zu seiner Rechten und er drückte die Tür auf. Der Raum war leer, das Gleiche galt für die Badewanne. Der Wandschrank befand sich auf der linken Seite. Er schob die Tür auf. Ebenfalls leer. Dann überprüfte er den Balkon, der immer noch von innen abgesperrt war.
Aber ganz offensichtlich war das Zimmer durchwühlt worden, denn all ihre Sachen lagen wild verstreut in der Gegend herum. Diese unerwartete Wende der Ereignisse verriet ihm, dass der Überfall vermutlich gar kein Zufall gewesen war. »Scheiße!«
Er machte einen Schritt zurück, aber nur um festzustellen, dass sie bereits wartend und mit offenem Mund im Raum stand.
»Habe ich dir nicht gesagt, dass du im Flur warten sollst?!«, fragte er sie sauer, weil sie nicht auf ihn gehört hatte.
Stirnrunzelnd schaute sie ihn an und trat dann weiter in das Zimmer hinein. »Warum sollte denn irgendjemand so etwas tun?«, fragte sie und ließ das ganze Durcheinander auf sich wirken.
»Das ist eine verdammt gute Frage!«
Sie bückte sich, um ein Kleidungsstück aufzuheben.
»Nichts anfassen!«, fuhr er sie an, sein Ton war schärfer als beabsichtigt.
»Was? Warum denn nicht?« Langsam richtete sie sich wieder auf.
»Wenn die Polizisten hier später alles genauer untersuchen, dann werden sie die Sachen zumindest genauso vorfinden wie wir!« Wenngleich Tyler wegen des nahenden Orkans stark daran zweifelte, dass irgendjemand Zeit haben oder sich überhaupt für den Einbruch interessieren würde.
Ein Blick auf die blasse und zitternde Ella genügte jedoch, und Tyler wusste, dass es ihn hingegen sehr interessierte.
Ella konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, als Tyler den Einbruch beim Empfang meldete und auf ein neues Zimmer bestand. Wenn sie die nötige Energie hätte aufbringen können, dann hätte sie mit Sicherheit darüber nachgedacht, dass dieser sexy Mann, den sie immer schon gewollt hatte, extra hierhergekommen war, um sie zu retten und in genau diesem Augenblick einen Arm um ihre Taille geschlungen hatte und sie dadurch auf den Beinen hielt.
Außerdem roch er dermaßen gut, dass sie ihren Kopf am liebsten in der Krümmung seines Halses vergraben und seinen männlichen Geruch ganz tief eingeatmet hätte, der immer schon eine unheimlich starke Anziehungskraft auf sie ausgeübt hatte. Aber all das bedeutete auch, dass sie dazu gezwungen wurde, sich wieder an all die Gründe zurückzuerinnern, weshalb sie in erster Linie kaum miteinander sprachen, und wenn sie es doch einmal getan hatten, dann war es nur in den seltensten Fällen angenehm gewesen. Und Ella wollte nie wieder an diesen Punkt zurückkehren.
Sie wollte nie wieder an ihren dummen Fehler von damals und an ihre größte Scham zurückdenken müssen. Aber aufgrund des Ausdrucks in seinen Augen, als er gesagt hatte, dass sie später noch miteinander reden würden, beschlich sie das dumpfe Gefühl, dass ihr Wunsch nicht in Erfüllung gehen würde. Deshalb wollte sie sich fürs Erste einfach nur hinlegen und ihrem dröhnenden Kopf eine kleine Ruhepause gönnen.
»Ich gehe davon aus, dass Sie den Vorfall der Polizei melden werden?«, fragte Tyler die Empfangsdame, die im Computer gerade nach einem freien Zimmer suchte, in dem die beiden untergebracht werden könnten.
Glücklicherweise waren viele Leute in Erwartung des Sturms bereits von der Insel geflohen, sodass sie ohne Probleme ein anderes Zimmer bekamen. Ein Tatbestand, auf den sich Ella konzentrieren würde, wenn ihr Sehvermögen und ihr Geist nicht mehr ganz so benommen wären.
»Selbstverständlich, aber Sie sollten wissen, dass das ganze Personal der Insel wegen des momentanen Ausnahmezustands ziemlich beschäftigt ist«, entgegnete die Hotelangestellte, während sie damit fortfuhr, etwas in den Computer einzutippen und sich Ella und Tyler gegenüber rechtfertigte, dass der PC so langsam lief – natürlich auch wegen des Sturms.
»Mit anderen Worten, es könnte eine Weile dauern …«, murmelte Tyler.
»Tut mir wirklich schrecklich leid! Aber hier haben Sie jetzt zumindest schon einmal Ihren Schlüssel«, sagte sie bedauernd und schob eine Karte über den Empfangstresen. »Es ist ein Raum mit Blick in den Innenhof, ohne Balkon. Ich dachte, dass Sie wahrscheinlich wegen des Sturms lieber so wenige Fenster wie nur möglich haben wollen.«
Er nickte. »Dankeschön. Komm!« Er stützte Ella die ganze Zeit über ab, führte sie in die Richtung der Aufzüge auf der anderen Seite der Halle.
Ein paar Minuten später öffnete er die Tür zu einem neuen, gerade erst gereinigten Raum. Ohne zu zögern, ging Ella schnurstracks auf das breite Doppelbett zu – das einzige Bett in dem Zimmer – und krabbelte mit einem lauten Ächzen auf die Matratze.
Wie aus weiter Ferne hörte sie, dass Tyler zum Telefon griff und etwas zu essen bestellte. Allerdings konnte sie sich gerade beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie jetzt überhaupt die Energie aufbringen könnte, irgendetwas runterzubekommen.
Dann erinnerte sie sich an nichts mehr und registrierte auch nichts mehr, bis das Geräusch eines Handy-Weckers ihre Sinne durchdrang. Sie öffnete die Augen und schaute direkt auf Tylers nackten, muskulösen Oberkörper. Ihr Kopf ruhte auf seinem Unterarm, und sie war umgeben von seiner köstlichen, maskulinen Wärme. Sie konnte einfach nicht widerstehen und atmete das ein, von dem sie vorher nur geträumt hatte. Sein moschusartiger Geruch sandte ihr ein Prickeln durch den ganzen Körper, das durch ihre Adern schoss.
Ganz offensichtlich konnte eine Gehirnerschütterung nicht das Verlangen aufhalten, das sie nun erfasste. Denn Kopfschmerzen hin oder her – ihre Nippel zogen sich trotzdem zu festen Knospen zusammen und ihr Höschen wurde augenblicklich feucht. Sie konnte sich gerade keine unpassendere Reaktion vorstellen in Anbetracht dessen, dass er schließlich hier war, um sie zu retten und nicht, um – wieder einmal – verführt zu werden!