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Für ihre Familie würde Sadie alles tun. Als ihr Stiefvater sich verletzt, beschließt sie, selbst Geld nach Hause zu bringen. Im weit entfernten Goldtree, Kansas, kann sie als Verkäuferin arbeiten. Dort hat sie auch endlich Gelegenheit, ihr himmlisches Gesangstalent unter Beweis zu stellen. Selbst wenn das Opernhaus so gar nicht ihren Vorstellungen entspricht: Sadie darf jetzt nicht wählerisch sein. Sheriff Thad McKane will endlich den Schmugglern von Goldtree auf die Schliche kommen. Doch die hübsche neue Opernsängerin verdreht ihm gehörig den Kopf. Sie scheint in die Machenschaften verstrickt zu sein, die er aufdecken soll. Wird die junge Liebe dennoch überleben?
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Seitenzahl: 540
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ISBN 978-3-7751-7169-4 (E-Book)ISBN 978-3-7751-5487-1 (lieferbare Buchausgabe)
Datenkonvertierung E-Book:Satz & Medien Wieser, Stolberg
© der deutschen Ausgabe 2013SCM Hänssler im SCM-Verlag GmbH & Co. KG · 71088 HolzgerlingenInternet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: [email protected]
Copyright © 2012 by Kim Vogel SawyerOriginally published in English under the title: Song of My Heartby Bethany House, a division of Baker Publishing Group,Grand Rapids, Michigan, 49516, U.S.A.Cover art used by permission of Bethany House Publishers.All rights reserved.
Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung 2006,© 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
Übersetzung: Ulrike ChuchraUmschlaggestaltung: OHA Werbeagentur GmbH, Grabs, Schweiz; www.oha-werbeagentur.chTitelbild: Mike Habermann Photography, LLCSatz: Satz & Medien Wieser, Stolberg
Für meinen kleinen Singvogel Kristian.Mögen deine Lieder immer von Gottes Treue erzählen.
Ich will singen von der Gnade des Herrn ewiglichund seine Treue verkünden mit meinem Munde für und für.Psalm 89,2
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Dank
Über die Autorin
Anmerkungen
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Dalton, IndianaMitte Mai 1895
Sadie Wagner stieß einen Freudenschrei aus. Mit einem entrüsteten Flattern ihrer graugefiederten Flügel schoss eine Indianermeise aus einem sprießenden Busch in der Nähe. An einem gewöhnlichen Nachmittag hätte Sadie es bedauert, einen Vogel verscheucht zu haben, der so entzückend musizierte, aber heute war sie zu aufgeregt, um Reue zu verspüren. Sie hob ihren zerschlissenen Baumwollrock mit einer Hand, umklammerte den Brief ihres Cousins Sid mit der anderen und stürmte zum Haus.
Sie stürzte durch die Tür, die offen stand, um die herrliche Frühlingsluft einzulassen, und rief: »Mama! Mama!«
Ihre jüngere Schwester Effie drehte sich von der Spüle zu ihr um, in der Hand ein tropfnasses Geschirrtuch. Beunruhigt riss sie die braunen Augen weit auf. »Was ist los, Sadie?«
Sadie schwenkte den Brief. »Es gibt gute Neuigkeiten! Komm!« Sie schnappte sich Effies nasse Hand und zog ihre Schwester durch den Durchgang zum kleinen Schlafzimmer ihrer Eltern. Ihre Füße trommelten im Stakkato-Rhythmus über die Kiefernholzdielen, passend zu Sadies hektischem Pulsschlag. Sie ließ Effie los und fiel neben dem Bett ihres Vaters auf die Knie.
Wie immer versetzte ihr der Anblick seines verhärmten, schmerzverzerrten Gesichtes einen Stich in der Brust. Doch bestimmt würde die Aussicht, die sich durch den Brief ergab, die Lasten ihres Vaters ein wenig lindern.
Ihre Mutter saß auf einem Stuhl neben dem Bett, eine halb leere Tasse Kartoffel-Zwiebel-Suppe in den Händen. Sie warf Sadie einen beunruhigten Blick zu. Sorgenfalten hatten sich in ihre Stirn eingegraben und ließen sie alt wirken. Sie stellte die Tasse beiseite und berührte Sadies Schulter, die vor Aufregung bebte. »Du liebe Güte, Kind, warum bist du so außer dir?«
Sadie stieß ein vergnügtes Kichern aus. Sie streckte ihren Eltern den Brief entgegen. »Hier! Der Brief ist von Sid. Er hat doch versprochen, sich zu melden, sobald er sich in Kansas niedergelassen hat. Er ist jetzt dort … hat sich gut eingelebt … und –« Sie unterbrach sich, um Luft zu holen. Der stürmische Lauf über den Hof hatte sie doch mehr angestrengt, als sie es gedacht hätte.
Effie trippelte auf der Stelle und rang die Hände. »Was schreibt er denn nun, Sadie?«
»Er schreibt, dass es in Goldtree Arbeit für mich gibt!«
Ihrer Mutter blieb der Mund offen stehen. Ihr Vater schnappte nach Luft. Effie schlug die Hände vor den Mund und starrte Sadie entsetzt an.
Verwirrt sah Sadie von einem Familienmitglied zum anderen. Warum wirkten sie alle mehr bestürzt als erfreut? Im Gegensatz zu ihr schienen sie Sids Brief nicht als Erhörung all ihrer Gebete zu sehen. Seit Wochen hatten sie Gott angefleht, Sadie Arbeit zu schenken. Sie wartete darauf, dass jemand etwas sagte, aber alle verharrten in stummem Entsetzen.
Sadie schnaubte frustriert. »Habt ihr mich nicht verstanden? Es gibt Arbeit für mich!« Sie drehte den Brief um und betrachtete lächelnd die gekritzelten Zeilen ihres Cousins. »Als Verkäuferin in Baxters Laden. Für« – sie kniff die Augen zusammen und versuchte, Sids Schrift zu entziffern – »die Schwestern Melva und Shelva Baxter.« Sie lächelte ihrer Mutter zu. »Anständige Arbeit, Mama.« Im Gegensatz zu den anderen Jobs, die in Dalton zur Verfügung standen. »Für einen fairen Lohn.«
Ihre Mutter reagierte immer noch nicht, also wandte sich Sadie an ihren Vater. »Sid schreibt, die Besitzerinnen wollen eine junge Frau anstellen, weil sie selbst auch Frauen sind. Zusätzlich zum Monatslohn bekomme ich ein Zimmer und Mahlzeiten von ihnen, sodass ich euch beinahe jeden Penny schicken kann.« Sie verzichtete absichtlich darauf, den anderen Teil von Sids Brief anzusprechen – den Teil, der ein brennendes Verlangen in ihr geweckt hatte. Darauf hinzuweisen könnte egoistisch wirken. »Gott hat meine Gebete erhört, versteht ihr das denn nicht?« Alle meine Gebete …
Die Augen ihrer Mutter füllten sich mit Tränen. Sie blinzelte sie weg und griff nach dem Brief. »Aber in Kansas, Sadie? Das ist so weit weg!«
In ihrer Aufregung hatte Sadie nicht über die Entfernung nachgedacht. Ihr Hochgefühl verpuffte. Doch dann straffte sie die Schultern. »Es wird ja nicht für immer sein. Nur bis Papa sich von dem Unfall erholt hat und wieder arbeiten kann.« Entgegen der ärztlichen Prognosen war Sadie überzeugt, dass es ihrem Vater eines Tages wieder besser gehen würde. Sie nahm die Hand ihrer Mutter und sprach leise und beruhigend auf sie ein, wie sie es bei ihren jüngeren Brüdern machte, wenn sie durch einen bösen Traum aus dem Schlaf schreckten. »Hier in Dalton gibt es nichts für mich, Mama. Und jemand von uns muss arbeiten …«
Ihre Mutter biss sich auf ihre Unterlippe. Sadie wurde von Mitleid ergriffen. Ihre Mutter wollte sich so gern um alles kümmern – um den Vater, die Kinder, das Haus. Sie wusste, dass ihre Mutter selbst dafür sorgen wollte, dass die Bedürfnisse ihrer großen Familie gestillt wurden. Aber der einzige annehmbare Job für eine Frau ihres Alters war, Häuser zu putzen. Doch das brachte einfach nicht genug Geld ein. Wenn beide, Sadie und ihre Mutter, putzen gehen könnten, würde es vielleicht reichen, aber jemand musste nach ihrem Vater und den jüngeren Kindern schauen. Diese Stelle in Kansas würde all ihre Probleme lösen, wenn ihre Eltern sie nur ziehen lassen würden.
Ihr Vater räusperte sich. Er hob eine dünne, stark geäderte Hand und nahm den Brief aus dem Schoß ihrer Mutter. »Sadie-Kind und du, Effie, lasst eure Mama und mich nun allein. Wir müssen das besprechen.«
Sadie lag die Bitte schon auf der Zunge, an dieser Diskussion teilnehmen zu dürfen, doch die braunen Augen ihres Vaters, von wochenlangem Schmerz und Kummer getrübt, forderten sie auf, keinen Streit anzufangen. Sie wollte den Mann, der ihr so lieb war, nicht traurig stimmen, deshalb nickte sie und stand auf. »Natürlich, Papa.« Sie drückte einen Kuss auf seine graubärtige Wange, nahm die beiseitegestellte Suppentasse und den Löffel und scheuchte Effie zurück zum vorderen Zimmer des Hauses.
»Macht die Tür zu«, rief ihre Mutter ihnen nach.
Effie zog sie ins Schloss und drehte sich schwungvoll zu Sadie um. »Was meinst du, was sie sagen werden? Glaubst du, sie werden dich gehen lassen?« Ihre leise Stimme bebte geradezu vor Aufregung.
Sadie trat zur Spüle, um die Arbeit fortzusetzen, die Effie stehen gelassen hatte. Das Wasser war in der Zwischenzeit kalt geworden, aber es waren nur noch ein paar Geschirrteile zu spülen. Sie entschied, ihre kostbaren Kohlenvorräte nicht zu verschwenden, um weiteres Wasser zu erhitzen. Während sie die Suppentasse ihres Vaters gründlich schrubbte, antwortete sie: »Ich denke nicht, dass sie es mir verwehren können. Jemand muss Geld für die Familie verdienen und da ich die Älteste bin, erscheint es mir sinnvoll, dass ich das mache.«
Effie zog einen Schmollmund. »Ich könnte auch helfen, weißt du. Ich bin schon dreizehn.«
»Es dauert noch vier Monate, bis du dreizehn bist«, erwiderte Sadie, »und du gehst noch zur Schule.«
»Aber bald kommt der Sommer.« Effie warf den Kopf nach hinten, sodass ihre braunen Zöpfe wippten. »Nur noch zwei Wochen, und dann bin ich den ganzen Tag zu Hause. Ich könnte zumindest den Sommer über helfen.«
»Und an was für einen Job hast du dabei gedacht?« Sadie hatte nicht beabsichtigt, ihre Schwester anzufahren, aber sie wollte Effie auf keinen Fall ermutigen, sich Arbeit zu suchen. Ihre Schwester wollte zu schnell erwachsen werden. Die Kindheit war etwas Kostbares – Effie sollte sich nicht wünschen, sie hinter sich zu lassen. Sadie wählte einen sanfteren Ton. »Außerdem wirst du beschäftigt sein. Mama wird deine Hilfe hier mit den Jungs brauchen.«
Die vier dunkelhaarigen Buben – Matthew, Mark, Luke und John – hatten ihre Mutter schon immer auf Trab gehalten. Jetzt, da ihr Vater ans Bett gefesselt war und fast ständig Pflege brauchte, mussten oft Sadie und Effie die Verantwortung für die Jungen übernehmen.
Effie seufzte und schlurfte zu Sadie hinüber. Sie nahm ein Geschirrtuch in die Hand, doch anstatt das Geschirr abzutrocknen, schlug sie den ausgeblichenen Stoff gegen ihren Rock. »Ich habe langsam genug davon, im Haushalt zu helfen und unseren Brüdern nachzujagen.« Ihre Stimme nahm einen trotzigen Unterton an. »Manchmal kann ich es kaum erwarten, endlich erwachsen zu sein und alles machen zu können, was ich will, anstatt zu kochen und zu putzen und die Jungs zu hüten.«
Sadie zog eine Augenbraue hoch. »Ich kenne keine Frau, die einfach nur das tut, was ihr gefällt.« Mit ihren zweiundzwanzig Jahren galt Sadie längst als Frau, aber sie besaß immer noch nicht die Freiheit, das zu tun, was sie am liebsten wollte.
Effie legte den Kopf zur Seite und betrachtete Sadie nachdenklich. »Willst du wirklich in einem Gemischtwarenladen arbeiten?«
Sadie presste die Lippen aufeinander. Wenn sie ehrlich war, reizte sie es kaum, in einem Laden zu stehen. Doch nach allem, was ihr Vater für sie getan hatte – er hatte ihr ein Heim der Geborgenheit geschenkt und sie wie eine eigene Tochter geliebt –, wollte sie ihn jetzt in der Zeit der Not nicht im Stich lassen. »Es ist eine anständige Arbeit. Für mich wäre das in Ordnung.«
»Wenn du ein Junge wärst«, überlegte Effie laut, »könntest du einfach im Bergwerk arbeiten, so wie Papa es gemacht hat. Dann müsstest du nicht wegziehen.«
»Gott hat mich aber nicht als Jungen geschaffen«, erwiderte Sadie und unterdrückte einen Anflug von Bedauern. Ihr Vater liebte sie – daran gab es keinen Zweifel, obwohl sie kein Junge und nicht sein leibliches Kind war –, aber wenn sie ein Junge wäre, hätte sie endlose Möglichkeiten zu arbeiten. Dann könnte sie Geld für die Familie verdienen und sie müssten sich alle keine Sorgen mehr machen.
Sie drückte Effie die saubere Suppentasse in die Hand. »Komm, benutz das Geschirrtuch.« Sie griff nach den Löffeln und fügte hinzu: »Wie du weißt, sagt Papa außerdem immer, dass er seinen Kindern etwas Besseres wünscht als das Bergwerk. Er träumt davon, dass Matt, Mark, Luke und John aufs College gehen. Selbst wenn ich ein Junge wäre, würde er nicht wollen, dass ich –«
»Sadie?« Die Stimme ihrer Mutter drang hinter der geschlossenen Schlafzimmertür hervor.
Effie packte Sadie am Arm. »Meinst du, sie haben sich schon entschieden?«
Sadie befreite sich sanft aus Effies Griff und trocknete die Hände an ihrer Schürze ab. Ihr Herz pochte heftig gegen den Brustkorb, erwartungsvoll und ängstlich zugleich. »Ich werde es gleich erfahren.«
Effie schluckte schwer. Sie zerknüllte das Geschirrtuch zwischen den Händen. »Soll ich mitkommen?«
Sadie unterdrückte ein Lächeln. Effie konnte es nicht ausstehen, von irgendetwas ausgeschlossen zu sein. »Mama hat nur nach mir gerufen.« Sie fasste Effie an der Schulter und drehte sie zur Vordertür. »Schau du nach den Jungs – prüfe mal, wie viel Boden sie für Mamas Saatgut vorbereitet haben.« So wie sie ihre Brüder kannte, hatten sie mehr gespielt als gearbeitet, aber sie verspürte nicht die geringste Regung der Kritik. Sie war einfach hingerissen von der gesamten sommersprossigen Schar.
Effie verzog enttäuscht das Gesicht.
Sadie zupfte leicht an einem der dunklen Zöpfe ihrer Schwester. »Wenn die Eltern dich brauchen, rufe ich nach dir.« Sie wartete, bis Effie zur Tür hinausgehuscht war, bevor sie zum Schlafzimmer ihrer Eltern eilte. Sie zwang sich ruhig zu bleiben und sandte ein kurzes Gebet zum Himmel. Gott, ich will zuallererst deinen Willen tun. Hilf mir also, es zu akzeptieren, wenn sie Nein sagen. Doch noch während die Bitte still nach oben stieg, erkannte sie, wie groß ihre Sehnsucht war, nach Kansas zu reisen und die Stelle anzunehmen. Sie wollte die Erfüllung des Traums erleben, der in ihrem Herzen brannte.
Sadie öffnete die Tür und trat ein. Während sie ihre Finger ineinanderschlang, erforschte sie die Gesichter ihrer Eltern. Ihre erschöpften Mienen gaben keinen Anhaltspunkt, wie sie sich entschieden hatten. Ihre Mutter deutete schweigend ans Fußende des Betts und Sadie setzte sich schnell hin.
»Sadie, mein Mädchen …«
Die schwache, heisere Stimme ihres Vaters trieb Sadie Tränen in die Augen. Sie unterschied sich so sehr von dem lauten, durchdringenden Ton, den er vor dem beinahe tödlichen Einbruch des Stollens besessen hatte.
»Der Gedanke, dich so weit wegziehen zu lassen, verlangt uns sehr viel ab.« Ihr Vater seufzte tief auf. Ihre Mutter tupfte sich Tränen von den Augen, und ihr Vater nahm ihre Hand, bevor er weitersprach. »Aber nachdem wir den Brief gelesen und zusammen gebetet haben, denken wir –«
Sadie hielt die Luft an.
»– dass diese Stelle wirklich eine Gebetserhörung ist.«
»Das heißt, ihr gebt mir die Erlaubnis, nach Kansas zu gehen?« Sadie konnte es kaum fassen.
Ihr Vater schloss einen Moment lang die Augen. Als er sie wieder aufschlug, strahlte so viel Liebe aus ihren samtigen Tiefen, dass Sadie um das eiserne Bettgestell herumeilte und sich neben seine Hüfte kauerte, damit sie seine Hand fassen konnte. Er sagte: »Wir geben dir die Erlaubnis … und wir danken dir für deine große Bereitschaft, deiner Familie zu helfen.« Er verzog das Gesicht. »Ich stehe nur ungern so sehr in deiner Schuld …«
Sadie hob seine Hand an ihre Lippen und drückte einen Kuss darauf. »Du kannst nichts dafür, Papa. Mach dir keine Vorwürfe.«
»Ein Mann sollte für seine Familie sorgen.« Er holte tief Luft und stieß sie wieder aus. »Sobald ich wieder auf den Beinen bin, werden wir deine Unterstützung nicht mehr brauchen. Du wirst deinen Lohn dann für dich behalten können. Aber fürs Erste sind wir dankbar, dass du uns helfen willst. Und wir sind dankbar, dass es Arbeit für dich gibt.«
Sadie schüttelte den Kopf. Sie war immer noch wie benommen. Sie würde nach Kansas gehen! Sie würde Geld verdienen, mit dem sie ihrer Familie helfen konnte. Und – bei diesem Gedanken wollte ihr das Herz fast aus der Brust springen – sie würde endlich ihren großen Traum wahr machen und auf einer Bühne singen. Sie war so in Gedanken versunken, dass sie die leise Stimme ihrer Mutter fast überhört hätte.
»Du bist jetzt eine Frau – es wird Zeit, dass du dein eigenes Leben führst.«
Sadie begegnete dem Blick ihrer Mutter. Tränen glitzerten in deren Augen und wenn auch ihre Lippen bebten, lächelte sie doch liebevoll.
»Du besitzt eine Begabung, Sadie. Es wird Zeit, sie mit anderen zu teilen.« Ihre Mutter hob den Brief und deutete auf den letzten Abschnitt – den Abschnitt, den Sadie zu ihrem eigenen Schutz, für den Fall einer Absage, zu ignorieren versucht hatte. »Als dein Vater und ich das gesehen haben …« Sie las Sids Zeilen laut vor. »Direkt hier in Goldtree wird ein neues Opernhaus eröffnet. Der Leiter sucht eine Sängerin. Ich habe ihm von dir und deinem Talent erzählt. Er möchte mit dir über einen Auftritt sprechen.«
Sadie war vor Freude fast außer sich, dass Sid ihr so viel zutraute. Hatten ihre Eltern ihr nicht immer gesagt, sie habe die Stimme einer Nachtigall? Sie hatten sie stets ermutigt, ihre Begabung einzusetzen, und erklärt, Gott wolle nie, dass seine Kinder ihre Talente ungenutzt ließen.
Ihre Mutter ließ den Brief sinken. »Wir können nicht so selbstsüchtig sein und dich hierbehalten, nur weil es uns traurig macht, von dir getrennt zu sein. Eine Stelle und die Möglichkeit zu singen. Gott hat eine Tür geöffnet und wir wollen, dass du geradewegs hindurchgehst.«
Sadie huschte am Bett entlang und warf sich in die Arme ihrer Mutter. Dicht an ihren Hals gedrückt flüsterte sie: »Du wirst stolz auf mich sein, Mama.« Sie drehte das Gesicht zur Seite und strahlte ihren Vater an. »Und du auch.« Erinnerungen stiegen auf und schwappten über sie hinweg – wie dieser Mann sie in sein Herz geschlossen und sie immer wie ein eigenes Kind behandelt hatte, auch nachdem er und ihre Mutter eine eigene Kinderschar in die Welt gesetzt hatten. »Ich werde mich an alles halten, was du mir beigebracht hast, Papa. Ich werde mich für meine Arbeitgeber anstrengen. Ich werde jeden Tag in der Bibel lesen und beten.« Sie schluckte den Kloß hinunter, der ihr im Hals steckte. »Und ich werde mein Bestes geben, um Jesus auf die gleiche Weise widerzuspiegeln, wie du es immer tust.«
Ihr Vater streckte die Hände aus und Sadie ergriff sie. Ihren anderen Arm ließ sie um ihre Mutter gelegt, sodass alle drei vereint waren. Ihr Vater lächelte – ein trauriges, wehmütiges Lächeln. »Ich bin immer stolz auf dich gewesen, Sadie, mein Mädchen.« Er drückte ihre Hand. »Und jetzt schließ die Augen, ich möchte beten.«
Sadie senkte den Kopf und schloss ihre Augen zum Gebet, wie sie es schon Tausende Male zuvor getan hatte. Sie hörte zu, wie ihr Vater Gott für seine Fürsorge dankte und ihn bat, Sadie auf der Reise vor allem Unheil zu bewahren. Während er betete, fühlte sich Sadie von Wärme umgeben, von Geborgenheit und Frieden. Sie würde ihren Vater sehr vermissen, wenn sie wegzog.
Tränen brannten in ihren Augen und sie schniefte leise. Die Möglichkeiten, die in Goldtree auf sie warteten, waren eine Gebetserhörung. Aber zum ersten Mal erkannte Sadie, wie schwer es ihr fallen würde, ihr kleines Haus in Dalton und all die Lieben, die unter seinem Zedernholzdach wohnten, zu verlassen.
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Goldtree, KansasEnde Mai 1895
Thaddeus McKane schob den Riegel hoch, um die Klappe des Buckboards1 zu fixieren, und schlug dann kräftig auf das Holz. »Das war's, Sid. Vielen Dank.«
Der junge Mann auf dem Sitz des Wagens legte grüßend die Hand an den Hut und ließ dann die Zügel auf die goldbraunen Rücken der Pferde klatschen. Mit quietschenden Rädern rollte der Wagen davon und Thad blieb mitten auf der staubigen Straße neben seinen aufgestapelten Besitztümern stehen. Es war ein kleiner Stapel, stellte er fest. Für einen achtundzwanzigjährigen Mann war es wenig, was er sein Eigen nennen konnte. Aber so war es bedeutend einfacher, von Ort zu Ort zu reisen. Aber ich hätte nichts dagegen, wenn du, Gott, endlich beschließen würdest, dass es für mich an der Zeit ist, mich irgendwo auf Dauer niederzulassen.
Mit zusammengekniffenen Augen sah er die Straße hinauf und hinunter und begutachtete seinen neuen Wohnort. Es gab wenig Geschäfte, vor allem verglichen mit Kansas City, aber er bewunderte unwillkürlich, wie sauber jedes Gebäude wirkte. Weiß gestrichene Schindelverkleidungen leuchteten in der Nachmittagssonne, und grüne, gelbe, rote und blaue Verzierungen und Schnörkel gaben den Häusern ein festliches Aussehen. Die Menschen hier waren offenbar stolz auf ihre Gemeinde. Das gefiel ihm.
Ein müder alter Gaul kam mit klappernden Hufen auf ihn zu, eine wacklige offene Kutsche hinter sich. Thad griff nach dem Henkel seiner abgenutzten Reisetasche und zog sie rasch aus dem Weg der Kutschenräder. Der Mann auf dem Sitz starrte Thad an, sein ernster Gesichtsausdruck war neugierig, aber keineswegs unfreundlich. Thad tippte grüßend an seinen brandneuen Stetson. Der Mann nickte zögernd und konzentrierte sich dann wieder auf die Straße vor ihm.
Thad lachte leise in sich hinein. Mr Hanaman hatte ihn vorgewarnt, dass die Menschen vielleicht eine Weile brauchen würden, um mit ihm warm zu werden. Offenbar hatte er recht gehabt. Aber Thad würde sich nicht beklagen. Er würde sich an seine Bibel halten – die Menschen so behandeln, wie er von ihnen behandelt werden wollte – und sie würden sich an ihn gewöhnen.
Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Stadt und hielt nach dem Bankgebäude Ausschau. Im Brief des Bürgermeisters hatte er die Anweisung erhalten, sich direkt nach seiner Ankunft in Goldtree zur Bank zu begeben, jedoch unauffällig. Thad hatte sich über diese seltsame Aufforderung gewundert, aber da er sich normalerweise nicht über Anweisungen hinwegsetzte, hatte er den jungen Mann, der ihn in die Stadt gebracht hatte, gebeten, ihn in der Nähe des Gemischtwarenladens abzusetzen und nicht an der Bank. Er würde Hanamans Gründe bald genug erfahren.
Thad stellte die Reisetasche auf seinen Holzkoffer, griff nach den Ledergriffen des Koffers und machte sich bereit, seine Besitztümer hochzunehmen.
»Junger Mann!«, unterbrach ihn da plötzlich eine durchdringende Stimme.
Thad spähte über die Reisetasche und entdeckte eine große, spindeldürre Frau auf der Veranda des Ladens. Der Schatten des Verandadachs fiel über ihren Oberkörper, doch selbst im Schatten leuchtete ihr Haar so weiß wie Schnee an einem sonnigen Nachmittag. Ihr schimmerndes Haar war so fest nach hinten gezogen, dass ihre buschigen Augenbrauen ein wenig in die Höhe standen. Er richtete sich mit einem Ruck auf und riss sich den Hut vom Kopf. »Ja, Madam?«
Sie starrte stirnrunzelnd auf seinen Koffer und die Tasche, als verunreinigten die Gepäckstücke ihre Straße. »Hatten Sie die Absicht, diese Sachen irgendwohin zu bringen?«
Thad kratzte sich am Kopf. Dachte sie, er wollte sie mitten auf der Straße lassen? »Ja, natürlich, Madam.«
Die Frau richtete den Blick nach oben und verdrehte die Augen. »Diese jungen Burschen! Warum sind sie nicht mit einem Körnchen Vernunft ausgestattet?«
Ein Grinsen zuckte um Thads Mundwinkel. Es war lang her, als er das letzte Mal ein junger Bursche genannt worden war. Trotz ihres mürrischen Tonfalls mochte er die Frau auf Anhieb. Sie besaß Mumm.
Den finsteren Blick wieder auf ihn gerichtet, schüttelte sie den Kopf. »Man holt sich leicht eine Zerrung im Rücken, wenn man Kisten hin und her schleppt.« Sie zeigte mit einem knochigen Finger zur Ecke des Gebäudes. »Auf der Hinterseite steht eine Schubkarre. Die gehört nicht mir, wohlgemerkt – die gehört Asa. Aber Sie können sie gern benutzen. Das sollte Ihnen die ganze Sache bedeutend leichter machen.«
Thad lächelte. »Danke, Madam.«
»Achten Sie nur darauf, sie gleich zurückzubringen, wenn Sie fertig sind.« Sie tippte sich über dem rechten Auge an die Stirn. »Ich vergesse nie ein Gesicht und ich weiß genau, auf wen ich Asa hetzen muss, wenn die Karre nicht zurückkommt.«
Thad hatte keine Ahnung, wer Asa war, aber nachdem die Frau seinen Namen wie eine Waffe im Mund führte, war es sicher das Beste, den Mann nicht zu verärgern. »Sie können Asa versichern, dass ich sie gleich wieder zurückbringe, Madam. Das verspreche ich.«
Sie stützte die Fäuste in die Hüften. »Darauf verlasse ich mich.« Sie drehte sich schwungvoll um, wobei ihr grauer Rock flatterte, und bewegte sich zur Tür. Ihr Murren war noch einen Moment lang zu hören. »Diese jungen Burschen … die brauchen einfach mehr Verstand, wenn man mich fragt …«
Lächelnd ging Thad durch die schmale Lücke zwischen dem Kaufmannsladen und dem Haus daneben, das dem Duft nach, der aus der offenen Tür strömte, ein Restaurant sein musste. Eine hölzerne Schubkarre lag umgedreht auf der hinteren Stufe des Ladens. Er pfiff, als er seinen Koffer und seine Tasche mühelos zur Bank karrte, einem beeindruckenden Ziegelgebäude an der Kreuzung der Goldtree Avenue und Hauptstraße. Nach kurzem Nachdenken ließ er die Schubkarre zusammen mit seinen Habseligkeiten vor den verzierten hölzernen Eingangstüren stehen. Die leeren Straßen – war es jeden Mittwochnachmittag so ruhig in Goldtree? – gaben keinen Anlass, mit Ärger zu rechnen.
Er nahm sich einen Moment Zeit, sich so viel Reisestaub wie möglich von der Hose zu klopfen und den obersten Knopf seines besten Hemdes zu schließen. Der enge Kragen machte es unangenehm, tief Luft zu holen, aber für die Dauer eines kurzen Gesprächs würde er das aushalten. Er nahm den Hut vom Kopf und fuhr mit der Hand durch sein dunkles Haar, um es ein wenig in Ordnung zu bringen, so gut es eben ohne Kamm oder Spiegel möglich war. Nachdem er sich nach besten Kräften vorzeigbar gemacht hatte, trat er durch den Eingang, auf dessen Boden sechseckige blaue Ziegel vor einem gelbweißen Hintergrund das Jahr »1874« verkündeten.
Ein sorgfältig gekleideter Mann starrte Thad durch eine Reihe von vier Eisenstäben hindurch an. Er zog seine Krawatte unter dem Kinn gerade und sagte: »Guten Tag.« Seine Stimme klang brüchig, als habe er sie länger nicht mehr benutzt. »Kann ich Ihnen helfen?«
Thad stiefelte zu der engen Theke und legte den Kopf schräg, um durch das Gitter hindurchzuschauen. »Ja, Sir. Man hat mir gesagt, ich solle –«
»McKane!«
Ein beleibter Herr mit grau gesprenkeltem Haar und einem buschigen grauen Schnurrbart schritt mit ausgestreckter Hand auf Thad zu. Ein fruchtiger Geruch von Pomade umwehte ihn. Sein Dreiteiler und die schwarze Seidenkrawatte gaben Thad das peinliche Gefühl, unpassend gekleidet zu sein, aber er schüttelte ihm trotzdem die Hand. »Mr Hanaman?«
Der Mann nickte und sein breites Lächeln verschwand beinahe unter seinem Schnauzer. Thad stutzte seinen Schnurrbart immer ordentlich über der Lippe, aber er ließ sich seine dichten dunklen Koteletten ein wenig weiter ins Gesicht wachsen. Er hatte seine Gründe dafür.
Der Bankier strahlte Thad an. »Ganz recht – ich bin Roscoe Hanaman. Ich freue mich, dass Sie endlich in unserem schönen Ort angekommen sind.« Er ließ Thads Hand los und trat einen Schritt zurück, um Thad von oben bis unten zu mustern. »Sie sehen genauso kräftig und fähig aus, wie Ihr Onkel es mir versprochen hat.«
Thad kam sich vor wie ein Pferd auf dem Auktionspodest. Er versuchte, nicht nervös zu werden.
Hanaman legte eine Hand auf Thads Schulter und wandte sich lächelnd an den Kassierer, der hinter seinen Gitterstäben hervorstarrte wie ein Affe, den Thad einmal in einem Zirkuskäfig gesehen hatte. »Rupert Waller, ich möchte Ihnen Thaddeus McKane vorstellen, den neusten Bürger von Goldtree. Ich hoffe, ich kann ihn überreden, als Vorarbeiter auf meiner Ranch zu arbeiten.«
Thad warf dem Mann einen überraschten Blick zu. »Ich dachte –«
Hanamans joviales Glucksen übertönte Thads Einwand. »Also, dann kommen Sie erst einmal mit in mein Büro, McKane« – er schob Thad über den glänzenden Marmorboden – »damit wir uns ein wenig besser kennenlernen.« Er führte Thad in sein holzgetäfeltes Büro und schloss schwungvoll die Tür hinter ihnen. Seine Schultern schienen einen Moment lang herabzusinken, doch dann holte er Luft und straffte sie wieder. Er zeigte mit dem Daumen Richtung Eingangshalle der Bank. »Sie wundern sich bestimmt über meine Bemerkung zu Waller, dass Sie mein Vorarbeiter werden sollen.«
Thad nickte. »So ist es.« Er schob seine Hand in die Hosentasche und verlagerte sein Gewicht auf eine Seite. Wenn Hanaman etwas Unredliches im Sinn hatte, würde er Fersengeld geben und auf der Stelle nach Kansas City zurückkehren, auch wenn dieser Mann und sein Onkel alte Freunde waren.
»Setzen Sie sich«, sagte Hanaman und deutete auf einen Holzstuhl vor seinem gewaltigen Schreibtisch. Er ließ seine Körperfülle in einen ledergepolsterten, mit Rollen versehenen Sessel auf der anderen Seite des Schreibtischs sinken und wartete, bis Thad sich auf der glatten hölzernen Sitzfläche niedergelassen hatte. Dann stützte er die Ellbogen auf die Tischplatte und bedachte Thad mit einem ernsten Blick. »Ich entschuldige mich für meine kleine Unaufrichtigkeit –«
Thad runzelte die Stirn. Gab es so etwas wie eine kleine Unaufrichtigkeit? Der Bibel nach war jede Art von Lüge schlichtweg falsch.
»– aber wir brauchen ein gewisses Maß an Geheimhaltung über den wahren Zweck Ihres Hierseins.«
Thads Blick wurde noch finsterer. »Mein Onkel sagte mir, Sie bräuchten Unterstützung beim Gesetzesvollzug. Da ich eine Zeit lang als Hilfssheriff in Clay County gearbeitet habe, hielt er mich für qualifiziert. Aber ich möchte ehrlich mit Ihnen sein, Mr Hanaman – ich frage mich langsam, ob ich vielleicht besser nicht gekommen wäre. Es ist nicht meine Art, mich an heimlichen Machenschaften zu beteiligen.«
Hanaman machte ein entsetztes Gesicht und hob beide Hände. »Nein, nein, was Ihr Onkel Ihnen gesagt hat, ist völlig richtig! Wir brauchen Unterstützung beim Gesetzesvollzug. Aber …« Er warf einen Seitenblick zur Tür, als wolle er sich vergewissern, dass auf der anderen Seite niemand sein Ohr dagegendrückte. In viel ruhigerem Ton fuhr er fort: »Die Stadt darf nicht wissen, warum wir das brauchen.«
Thad schüttelte den Kopf. Nun war er völlig verwirrt.
»Lassen Sie mich die ganze Geschichte erzählen.« Hanaman verschränkte die Hände, beugte sich vor und schlug Thad mit seinem ernsten Tonfall in den Bann. »Goldtree ist eine feine Gemeinde, in der gottesfürchtige, ehrliche Menschen leben. Dank des üppigen Weidelands auf den sanften Hügeln, ausreichender Wasserversorgung und angenehmen Temperaturen hat sie genau die richtigen Voraussetzungen, um sich zu einer erfolgreichen Stadt zu mausern.«
Thad legte einen Finger an die Lippen, um ein Lächeln zu verbergen. Er hatte noch nie überzeugendere Verkaufsargumente gehört.
»Als amtierender Bürgermeister von Goldtree möchte ich erleben, wie meine Stadt ihr volles Potenzial ausschöpft.«
Thad vermutete, dass Mr Hanaman ein Zuwachs der Bevölkerung in Goldtree auch als Bankier nicht unangenehm sein würde.
»Es ist von größter Dringlichkeit, dass keine negativen Machenschaften den hervorragenden Ruf der Gemeinde beeinträchtigen. Verstehen Sie, was ich sagen möchte, Mr McKane?«
»Nennen Sie mich Thad«, sagte Thad automatisch. Dann lachte er bedauernd. »Nein, Sir. Um ehrlich zu sein, ist mir nicht ganz klar, was Sie meinen.«
Hanamans Brauen zogen sich finster zusammen. »Sie erwähnten vorhin heimliche Machenschaften … ich habe den Verdacht, Thad, dass jemand möglicherweise Alkohol herstellt und vertreibt.«
Thad ließ sich tiefer in seinen Stuhl sinken. Als sein Onkel angedeutet hatte, die Stadt wolle einen Gesetzeshüter anstellen, hatte er nicht im Entferntesten damit gerechnet, dass es seine Aufgabe sein würde, etwas so Unmoralisches – und Persönliches – anzupacken. »Aber Alkohol ist in Kansas verboten – wir sind ein trockener Staat.«
»Ein Gesetz ist nur so gut wie die Menschen, die sich daran halten.«
Diese Aussage war traurig, aber wahr, das musste Thad sich eingestehen. Er streckte die Arme zur Seite. »Aber warum holen Sie dann jemand von außerhalb dazu? Sie sind der Bürgermeister. Wenn Sie den Verdacht über solche Vorgänge haben, warum berufen Sie dann keine Gemeindeversammlung ein und –«
Hanaman schreckte aus seinem Sessel auf. »Wir können es der Stadt nicht sagen. Du liebe Güte, das wäre das Schlimmste, was wir tun könnten!«
Thad zog die Brauen zusammen.
Hanaman stieß hörbar die Luft aus und ließ sich in seinen Sessel zurückfallen. Die Federung quietschte protestierend. »Bitte, Sie müssen das begreifen, dies ist eine äußerst heikle Situation. Ich habe Handzettel drucken lassen, die bereitliegen, um an jede bedeutende Stadt der östlichen Staaten geschickt zu werden und fleißige, anständige Menschen einzuladen, sich eventuell in Goldtree niederzulassen. Wenn sich diese Vorgänge herumsprechen … das wäre unser Untergang!«
Der Mann strich mit der Hand über sein stark geöltes Haar und beugte sich wieder Thad entgegen. »Ich habe große Hoffnungen, dass Goldtree Clay Centre als Hauptsitz des Verwaltungsbezirks ablöst.«
Thad zog eine Augenbraue hoch. »Obwohl es keine Eisenbahnstadt ist?«
Hanaman tat Thads Einwand mit einer Handbewegung ab. »Aber warum sollten denn unsere Mitbürger hier in Kansas mit Wohlwollen auf Five Creeks Township sehen, wenn in einer ihrer Gemeinden illegale Aktivitäten vor sich gehen? Nein, nein, Mr McKane, Ihre wahre Aufgabe hier in Goldtree muss ein Geheimnis zwischen Ihnen, mir und den anderen vier Männern sein, die im Gemeinderat sitzen.«
Thad kaute auf der Innenseite seiner Lippe und dachte über diese Informationen nach. Durfte er sich wissentlich an einer Täuschung beteiligen? Gott, hilf mir da heraus. Gib mir etwas von dem Verstand, den ich laut der Dame auf der Veranda des Ladens brauche.
Hanaman seufzte und rieb mit dem Daumen über einen dunklen Tintenfleck, der die polierte Oberfläche des Schreibtischs verunzierte. »Ihr Onkel hat mir versichert, dass Sie ein aufrechter Mann sind, der sich an die Bibel hält und bereit ist, auf der Seite des Rechts zu kämpfen. Ich dachte, Sie würden verstehen, wie wichtig es ist, diesen Verbrecherring zu zerschlagen, bevor die Bürger von Goldtree und die der Nachbargemeinden ernsthaft geschädigt werden. Aber wenn Sie –«
Bevor sie ernsthaft geschädigt werden … Hanamans Worte hallten in Thads Kopf wider. Er sprang auf die Beine. »Ich bin dabei.«
Hanaman blieb der Mund offen stehen. Schwankend richtete er sich auf. »Tatsächlich? Sie übernehmen die Aufgabe?«
»Ja, ich übernehme die Aufgabe.«
Der Mann stieß einen unkontrollierten Jauchzer aus. Dann nahm er wieder Haltung an und beherrschte sich. »Und Sie werden sich zur Geheimhaltung verpflichten?«
Thad verschränkte die Arme vor der Brust. »Es gefällt mir nicht, die Menschen im Glauben zu lassen, ich wäre einfach nur ein Arbeiter auf Ihrer Ranch. Sie müssen von Anfang an erfahren, dass ich hier bin, um für Ordnung zu sorgen. Die Einzelheiten müssen sie nicht kennen – ich bin einverstanden damit, die Gesetzesbrecher still und leise aufzuspüren und ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Aber ich bin nicht bereit, den Bürgern von Goldtree ins Gesicht zu lügen.«
Hanaman schob die Lippen vor und zurück und brachte so seinen Schnurrbart zum Zucken. Thad wartete und gab dem Mann Zeit, seine Entscheidung zu treffen. Schließlich streckte Hanaman die Hand aus und mit einem festen Schütteln bekräftigte Thad ihre Übereinkunft.
»In Ordnung, Mr Thaddeus McKane. Beziehungsweise Sheriff McKane.« Ein Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des Mannes aus. »Nachdem die Gemeinde ständig wächst und viele Cowboys herkommen, um Vieh zum Markt zu bringen, leuchtet es vollkommen ein, dass wir einen Vollzeitvertreter des Gesetzes brauchen können. Die Menschen in der Stadt sollten das nicht anzweifeln.«
Mit gemessenen Schritten trat er hinter dem Schreibtisch hervor. »Ich werde den gesamten Gemeinderat heute Abend zusammenrufen. Sie sind natürlich auch eingeladen. Dort werden wir die Gelegenheit haben, alle Einzelheiten Ihrer neuen Aufgabe zu diskutieren. Im zweiten Stock der Bank gibt es ein Separee – gehen Sie über die Außentreppe, denn die Bank selbst wird geschlossen sein. Wir treffen uns, sagen wir, um acht Uhr. Das sollte Ihnen genug Zeit geben, um sich einzurichten und« – sein Blick glitt wieder musternd über Thad – »sich frisch zu machen. Haben Sie irgendwelche Fragen?«
»Nur noch eine.« Thad wippte auf den abgetretenen Fersen seiner Stiefel. »Wo soll ich mich denn einrichten?«
»Das ist wohl ein unverzichtbares Detail, was, Sheriff?«
Sheriff. Es würde eine Weile dauern, bis er sich an diese Anrede gewöhnt hatte, aber Thad gefiel sie irgendwie. Fürs Erste. Bis er die Gelegenheit hatte, sie gegen die Bezeichnung Pastor einzutauschen. Sein Magen zog sich zusammen.
»Ich hatte ursprünglich die Arbeiterbaracke auf meiner Ranch als Ihr Zuhause während Ihres Dienstes hier vorgesehen, aber jetzt …« Er zupfte sich am Kinn und kniff die Augen zusammen. Dann schnalzte er mit den Fingern. »Mir gehört das Gebäude neben dem Gemischtwarenladen. Ein Apotheker hat den gesamten oberen Stock als Wohnung und die Hälfte des Erdgeschosses als Geschäftsraum gemietet. Die andere Hälfte des Erdgeschosses steht derzeit leer und könnte also als Ihr Büro fungieren. Und was die Unterkunft angeht –«
»Wenn ich etwas Holz in die Finger bekomme, kann ich einen Teil des Raums als Schlafzimmer abtrennen. Ich bin geschickt mit Hammer und Nägeln.« Thad zuckte die Achseln. »Ich brauche nichts Großartiges – nur ein Schlaflager und einen Waschtisch, um mich zu waschen. Ich bin kein großer Koch, also werde ich im örtlichen Café essen … vorausgesetzt, es gibt eins.«
»O ja, das gibt es!« Hanaman klopfte sich auf den fülligen Bauch. »Und ein gutes noch dazu. Sie können dort Ihre Mahlzeiten einnehmen und auf Ihr Spesenkonto setzen. Die Gemeinderäte und ich werden dafür sorgen, dass Cora ihr Geld bekommt.« Das Gesicht des Mannes verzog sich und seine Stirn legte sich in Falten. »Aber ich denke, es wäre klug, Ihnen ein kleines Haus zu mieten. Eine Schlafstelle im Hinterzimmer des Ladens erscheint wenig –«
Thad wollte es nicht zu gemütlich haben. Seine Pläne gingen über Goldtree hinaus. »Wahrscheinlich verbringe ich den größten Teil der Zeit in den Straßen von Goldtree, um die Menschen kennenzulernen und einiges herauszufinden. Ich werde also mit wenig auskommen.« Er kratzte sich am Kopf. »Ich brauche aber möglicherweise eine Art Gefängniszelle.«
Hanaman ballte eine Faust und schlug auf den Schreibtisch. »Unter dem Gebäude gibt es einen Keller – nichts Besonderes, nur eine Zuflucht, falls ein Sturm sich in unsere Richtung bewegt. Aber er könnte als Zelle verwendet werden.«
»Das würde völlig ausreichen«, sagte Thad.
»Prima! Prima! Das passt alles ganz wunderbar.« Hanaman wühlte einen Schlüssel aus seiner Schreibtischschublade hervor und drückte ihn Thad in die Hand. Dann legte er einen Arm um Thads Schultern und begleitete ihn in die Eingangshalle. »Das Gebäude befindet sich schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite von der Bank. Soweit ich weiß, hat der frühere Bewohner ein paar Sachen zurückgelassen. Sie können gern alles benutzen, was Sie finden, oder es zur Hintertür hinauswerfen. Ich sorge dann dafür, dass es jemand wegbringt. Im Hof hinter dem Gebäude gibt es eine Pumpe und auch ein – ähem – ein Toilettenhäuschen. Wenn Sie sonst noch etwas brauchen, holen Sie es sich einfach in Baxters Laden und lassen es auf meine Rechnung setzen.«
Die Großzügigkeit des Mannes kannte keine Grenzen. Ihm musste wirklich sehr daran gelegen sein, diese Kriminellen zu fassen. Mit Schwung setzte sich Thad den Hut auf den Kopf. »Herzlichen Dank, Mr Hanaman.«
»Roscoe«, verbesserte ihn der andere mit vergnügt dröhnender Stimme. »Wir werden eng zusammenarbeiten, also können wir uns auch beim Vornamen nennen.« Er schlenderte neben Thad her, als sie in die Nachmittagssonne hinaus traten. »Machen Sie es sich in Ihrem neuen Büro gemütlich, essen Sie etwas bei Cora« – er zeigte die Straße hinunter auf ein weiß gestrichenes Gebäude mit roten Verzierungen, das vermutlich das Restaurant war – »und kommen Sie um acht Uhr wieder hierher. Ich bin davon überzeugt, dass die anderen Gemeinderäte stolz darauf sein werden, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
Dann wich sein freundlicher Gesichtsausdruck unvermittelt einer besorgten Miene. »Ich möchte Ihnen noch einmal danken, Thad. Ich weiß, dass ich Ihnen eine ziemliche Last aufbürde, aber nachdem Ihr Onkel« – sein Blick glitt zur Seite, als schäme er sich, Thad in die Augen zu sehen – »mir von Ihrem Vater erzählt hat, war ich sicher, dass Sie genau der Mann sind, den wir brauchen, um die Dinge in Goldtree in Ordnung zu bringen.«
Thads Brust fühlte sich plötzlich wie eingeschnürt an, sodass das Atmen schmerzhaft wurde. Der Bürgermeister wusste von seinem Vater? Wusste es auch der Rest der Stadt?
Genauso schnell, wie es ernst geworden war, hellte sich Hanamans Gesicht wieder auf. Er klopfte Thad auf die Schulter. »Also dann los. Fühlen Sie sich wie zu Hause. Und lassen Sie mich der Erste sein, der zu Ihnen sagt: Willkommen in Goldtree.«
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Thad schob die Schubkarre über die Straße zu dem Haus, das in den nächsten paar Wochen sein Heim sein würde. Vielleicht auch in den nächsten paar Monaten, das hing ganz davon ab, wie sich die Dinge entwickelten. Das Gebäude besaß eine weiß gestrichene Fassade mit gelben Verzierungen und war lang und schmal. Zwei Türen mit quadratischen Fenstern in der oberen Hälfte waren der Straße zugewandt. Die Tür auf der rechten Seite war mit einem bogenförmigen goldenen Schriftzug auf dem Fenster versehen: . Also steckte Thad seinen Schlüssel ins Schloss der linken Tür. Das Holz war aufgequollen und er musste die Schulter dagegenstemmen, um die Tür aufzudrücken. Doch das kümmerte ihn nicht. Ein kurzer Einsatz des Hobels würde genügen, um das Problem zu beheben.
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