Zu Hause wartet die Hoffnung - Kim Vogel Sawyer - E-Book

Zu Hause wartet die Hoffnung E-Book

Kim Vogel Sawyer

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Beschreibung

Nach einem Autounfall will sich die junge Sonderermittlerin Meghan bei ihrer geliebten Großmutter Hazel erholen - und ist überrascht, dort auch auf ihre Mutter zu treffen. Denn das Verhältnis dieser beiden Frauen ist seit Jahren angespannt. Kann Meghan zwischen den Fronten vermitteln? Und welche Rolle spielt dabei Hazels Schwester, die vor 70 Jahren spurlos verschwunden ist? Auf der Suche nach Antworten stellen sich die drei Frauen ihrer Vergangenheit ... Eine bewegende Geschichte von Verlust und Versagen, an deren Ende eine große Verheißung steht: Bei Gott bleibt kein Fall ungelöst.

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Über die Autorin

Kim Vogel Sawyer hat viele Rollen und Leidenschaften: Sie ist Ehefrau, Mutter von drei Kindern, Künstlerin und leidenschaftliche Jesusnachfolgerin, die sich in ihrer Gemeinde im Bibelunterricht für Erwachsene und im Kirchenchor engagiert. Ihre größte Leidenschaft ist es jedoch, facettenreiche Geschichten zu erzählen, durch die etwas von Gottes unglaublicher Liebe und der großen Hoffnung für uns durchscheint. In über zwölf Romanen ist dies der Autorin aus Kansas bereits gelungen. Einige davon sind auch schon auf Deutsch erschienen.

Für meine Töchter – Kristian, Kaitlyn und Kamryn. Ich weiß, dass ich nicht alles richtig gemacht habe. Aber ich hoffe, ihr wisst, dass ich euch immer geliebt habe.

Hoffnung, die sich verzögert, ängstet das Herz; wenn aber kommt, was man begehrt, das ist ein Baum des Lebens.

Sprüche 13,12 (Lutherbibel)

Kapitel 1

Mitte Juli 1943 Cumpton, Arkansas

Hazel Mae Blackwell

Hazel stellte die Puppentasse mit Unterteller auf die umgedrehte Apfelkiste vor ihre kleine Schwester.

„Möchten Sie Sahne oder Zucker in Ihren Tee, Madam?“

Maggie nickte so eifrig, dass ihre Korkenzieherlocken wippten. Ihr Haar – Papa nannte es immer flachsblond – schimmerte in der Mittagssonne fast so gelb wie die Rosen auf den kleinen Porzellantassen.

Eifersucht flackerte in Hazel auf. Wieso hatte bloß Maggie und nicht sie Mamas sonnengelbes Haar und die himmelblauen Augen geerbt? Ihr Haar war schmutzig braun wie das von Papa und ihre Augen hatten ungefähr die gleiche Farbe.

„Wie sagt man?“, fragte Hazel jetzt in genau dem gleichen scharfen Ton wie Mama, wenn sie diese Frage stellte.

„Ja, bitte zön.“

„Ja, bitte schön“, verbesserte Hazel.

„Bitte ssssön“, wiederholte die kleine Schwester.

Hazel seufzte. Maggie war gerade drei geworden, woran Papa sie immer wieder gerne erinnerte, wenn sie ungeduldig mit ihrer kleinen Schwester wurde. Manchmal wünschte Hazel, Mama hätte mit dem zweiten Baby nicht so lange gewartet. Wie schön wäre es gewesen, wenn der Altersunterschied weniger als die sieben Jahre betragen hätte! Mama und Papa sagten ihr ständig, was für ein Glück sie doch hätte, eine kleine Schwester zu haben, und natürlich liebte Hazel Maggie auch. Aber manchmal …

„Bitte zön, Hazel Mae?“

Hazel nahm den Deckel von der Zuckerdose des Puppengeschirrs und tat erst so, als löffelte sie Zucker daraus in den Tee und gösse dann noch Sahne hinein. So sehr Hazel Mama auch anbettelte, sie hatte noch nie die Erlaubnis bekommen, bei ihren Teepartys echten Zucker und echte Sahne zu verschwenden. Deshalb nahm sie auch jetzt den kleinen Löffel und rührte die Luft in Maggies Tasse um. „So, bitte sehr.“

Als Maggie lächelte, bildeten sich Grübchen in ihren Apfelbäckchen. „Danke zön“, sagte sie, nahm die Tasse und führte sie an ihre rosigen Lippen.

„Ich hoffe, er ist nicht zu heiß.“

Maggie machte laute Trinkgeräusche und ihre blauen Augen wurden ganz groß. Mit gespitzten Lippen sagte sie: „Aua, heiß! Ich hab mir die Ssunge verbrannt.“

Hazel musste sich das Lachen verkneifen. Wenn sie nur mit ihrer Puppe Teeparty spielte, war es nicht halb so lustig. Vielleicht hätte sie Maggie schon längst mit ihrem Puppengeschirr mitspielen lassen sollen, doch sie hatte damit lieber gewartet, bis ihre Schwester drei war. So alt war sie nämlich auch gewesen, als sie das Geschirr von Oma und Opa Blackwell bekommen hatte. Aber sie hatte Maggies pummeligen Babyfingerchen noch nicht so recht getraut und Angst gehabt, dass sie eine der kleinen empfindlichen Tassen oder Teller zerbrechen könnte.

Sie nahm jetzt ihre eigene Tasse in die Hand und hielt sie nah an den Mund. „Du musst pusten“, sagte sie, zeigte der kleinen Schwester, wie man in die Tasse blies, und musste lächeln, als sie sah, wie Maggie es nachmachte.

Die Sonne schien und wärmte ihre Köpfe, sie nippten an den Teetassen, lächelten einander an und halfen ihren Puppen, von einem Teller, der in der Mitte der Apfelkiste stand, Fantasiekekse zu essen. Hazel konnte den staubigen Hof in ihrer Vorstellung mühelos in ein schickes Restaurant in der Stadt verwandeln, wie sie es einmal in einer Zeitschrift gesehen hatte. Aus der Apfelkiste, über die sie ein großes Taschentuch gebreitet hatte, wurden Tische mit weißen Leinentischdecken, an denen feine Damen in Seidenkleidern saßen statt eines kleinen Mädchens in selbstgenähten Sachen. Sie stellte sich sogar vor, wie ihr das Haar in blonden Korkenzieherlocken über den Rücken fiel und nicht in windzerzausten braunen Strähnen, die auf Schulterlänge gestutzt waren.

Sie nahm jetzt den Teller von der Kiste und hielt ihn Maggie hin. „Möchtest du den letzten Keks?“

Maggie griff gerade mit ihrer kleinen pummeligen Hand zu, als quietschend die Fliegengittertür aufging und Mama auf der Veranda erschien. „Hazel Mae? Maggie?“

Maggie drehte sich daraufhin etwas zur Seite, um aufzustehen, stieß dabei aber gegen die Apfelkiste, sodass das Teegeschirr darauf gefährlich ins Schwanken geriet. Erschrocken schnappte Hazel nach Luft und stellte den Teller ab, um den Tisch festzuhalten, doch dabei stieß der Teller gegen die Zuckerdose, und sowohl der Deckel der Zuckerdose als auch der Teller zerbrachen in zwei Teile, sodass der schöne Tagtraum jäh zerplatzte.

„Jetzt guck mal, was du gemacht hast, Maggie!“, sagte Hazel vorwurfsvoll, sammelte die beiden Hälften des ehemals schönen Tellers mit den Kränzen aus gelben Rosen und grünen Blättern darauf ein und drückte sie fest an sich. Ihr Herz fühlte sich genauso zerbrochen an wie der Puppenteller. „Kannst du denn nicht aufpassen? Ich hätte dir nie erlauben sollen, dass du die Sachen anfasst.“

Maggies Augen füllten sich sofort mit Tränen, und ihre Unterlippe bebte, woraufhin Mama so schnell über den Hof geeilt kam, dass ihre bloßen Füße Staub aufwirbelten. Als sie bei ihnen ankam, verbarg Maggie ihr Gesicht in Mamas Kittelschürze.

„Du solltest dich schämen, deine Schwester so anzufahren. Sie hat es doch nicht mit Absicht getan!“, sagte Mama mit einem finsteren Blick auf Hazel.

Aber die starrte nur auf Mamas Hand, die Maggie liebevoll und beruhigend über den Kopf streichelte. Wieso streichelte und beruhigte Mama nicht sie? Schließlich hatte doch sie den Verlust erlitten. „Aber sie hat den Teller und den Deckel von der Zuckerdose kaputt gemacht.“

„Den Teller hast aber du selbst fallen lassen, Hazel, und dadurch die beiden Teile selbst zerbrochen.“

Dabei hätte sie den Teller bestimmt nicht fallen lassen, wenn sie nicht versucht hätte, die Apfelkiste vor dem Umkippen zu bewahren, und das sagte sie Mama auch. Papa hätte jetzt wahrscheinlich gesagt, sie solle aufhören, ihrer Mutter Widerworte zu geben, und Mamas Miene war auch tatsächlich noch finsterer geworden, als sie sagte: „Dadurch, dass du Widerworte gibst, werden die Sachen auch nicht wieder heil.“ Doch dann war in ihrem Blick auch ein Hauch von Mitgefühl zu erkennen. Sie schob Maggie ein bisschen zur Seite und streckte die Hände aus. „Zeig mal die Teile. Das ist ja ein glatter Bruch. Ich glaube, das kann ich kleben.“

Hazel schluckte die Worte herunter, die ihr auf der Zunge lagen – aber dann ist es trotzdem nicht mehr wie vorher –, und gab erst die beiden Tellerhälften zögerlich in die Obhut ihrer Mutter und danach auch die beiden Hälften des Zuckerdosendeckels.

Mama steckte alles in ihre Schürzentasche und sagte: „So, und jetzt räumt eure Spielsachen ein und kommt in die Küche. Ich habe etwas zu tun für euch.“ Und mit diesen Worten ging sie zurück ins Haus.

Als Hazel das zerbrechliche Puppengeschirr in das verdorrte Gras stellte, biss sie die Zähne so fest zusammen, dass es wehtat. Dann drehte sie die Apfelkiste um, setzte ihre Stoffpuppe hinein und stellte die Teekanne, Tassen, Untertassen und Teller um die Puppe herum. Als Maggie sich bückte und auch eine Tasse einräumen wollte, schob Hazel sie weg und sagte. „Lass das.“

„Aba ich will helfen.“

„Nein. Lass mich das machen.“

„’kay“, gab Maggie sich geschlagen, nahm ihre Puppe, die Papa ihr zu ihrem letzten Geburtstag aus dem Spielwarenkatalog bestellt hatte, und umschlang sie mit beiden Armen. Dann wiegte sie sich hin und her, sodass ihr rosa Musselinkleidchen mitschwang, und fragte: „Spieln wir morgn wieda susammn, Hazel May?“

Auf keinen Fall mit dem Puppengeschirr. Nie wieder mit dem Puppengeschirr! Aber sie sagte: „Mal sehen.“

Dann nahm sie die Apfelkiste vom Boden auf und trug sie ins Haus, Maggie ihr immer auf den Fersen. Im Haus angekommen, schickte Hazel ihre Schwester schon in die Küche, während sie selbst die Treppe hinaufging und die Kiste ganz hinten in einer dunklen Ecke ihres Schrankes verstaute, wo Maggie sich nicht hintraute. Als das Teeservice in Sicherheit gebracht war, stieg Hazel die Treppe wieder hinunter und ging in die Küche.

Dort wartete Mama schon mit dem Eierkörbchen, lächelte, als sie es Hazel gab, und sagte: „Geh doch bitte zu dem Brombeergebüsch im Wald und pflücke mir einen Korb voll Brombeeren, ja? Und trödele nicht, denn ich möchte zum Abendessen überbackene Brombeeren machen.“

Schon bei dem Gedanken daran lief Hazel das Wasser im Mund zusammen, weil dieser Nachtisch so schön süß war, eine echte Leckerei. Und vor allem, wenn als Früchte Brombeeren darin waren – denn normalerweise machte Mama aus Brombeeren immer nur Marmelade. „Bekommen wir Besuch?“, fragte sie und hoffte, dass es nicht so war, denn wenn sie den Brombeerauflauf noch mit Gästen teilen mussten, würde jeder nur eine ganz kleine Portion bekommen.

Mama zog eine Augenbraue hoch und sagte: „Hast du vergessen, dass Papa heute Geburtstag hat?“

Sie zog den Kopf ein, denn sie hatte es tatsächlich vergessen. Jetzt musste sie sich aber wirklich sputen, damit sie Papa später noch eine Karte basteln konnte, um sie ihm vor dem Abendessen zu überreichen. Sie hängte sich also den Korb über den Arm und ging zur Tür.

„Nimm deine Schwester mit“, hörte sie Mama hinter sich sagen.

Mit einem Ruck drehte sich Hazel um. „Bitte nicht, Mama. Dann dauert es ewig.“

Doch Mama presste streng die Lippen zusammen und entgegnete: „Ich habe noch viel zu tun und hier ist sie mir nur im Weg. Du nimmst sie bitte mit. Und beeil dich.“ Mit diesen Worten schob sie die beiden Mädchen zur Hintertür hinaus.

Wie sollte sie sich denn beeilen, wenn sie Maggie dabeihatte? Die kurzen Beinchen ihrer Schwester würden schon auf halbem Weg zu der Brombeerstelle müde werden. Doch weiter zu widersprechen, war reine Zeitverschwendung, und außerdem lief ihr beim Gedanken an den Brombeernachtisch schon jetzt das Wasser im Mund zusammen. Also befahl sie Maggie, sich ihre allgegenwärtige Puppe unter den einen Arm zu klemmen, nahm die andere Hand ihrer kleinen Schwester und machte sich auf den Weg. Dabei zog sie ab und zu ruckartig an Maggies Hand, damit sie nicht stehenblieb.

Als sie die Straße entlanggingen, kam von Westen ein Pferdefuhrwerk und von Osten eine glänzende Limousine, sodass die beiden Mädchen die steinige, steil ansteigende Böschung am Straßenrand ein Stück hinaufkraxeln mussten, damit die beiden Fahrzeuge aneinander vorbeikamen. Hazel hatte ihren Arm um Maggie gelegt und tippte ungeduldig mit der Schuhspitze, weil ihr diese weitere Verzögerung gar nicht gefiel. Das Fuhrwerk fuhr an ihnen vorbei und dann weiter, aber das Auto bremste ab und hielt an. Mrs Burton, die Leiterin des Waisenhauses im Westen der Stadt, steckte den Kopf zum Fenster hinaus.

„Guten Morgen, Mädels.“ Dabei bedachte sie Maggie mit einem besonders freundlichen Lächeln. Die Kleine wurde von fast allen Leuten besonders freundlich angelächelt, denn sie war so klein und hübsch wie ein Porzellanpüppchen, und außerdem war sie ein ganz besonders liebenswertes Kind. Hazel wusste in diesem Moment selbst nicht so genau, ob sie darauf eher stolz oder eifersüchtig war.

„’n Morgen“, sagte Hazel.

„Morgen“, wiederholte Maggie wie Hazels Echo.

„Na, wohin seid ihr zwei denn mit dem Korb unterwegs?“

Hazel wünschte, sie hätte einfach schnell weitergehen können, denn sie hatte es eilig und wollte möglichst schnell zu der Brombeerstelle. „Wir sollen Brombeeren pflücken, Mama will einen Brombeerauflauf machen.“

„Tut mir leid, dann kann ich euch nicht mitnehmen“, sagte die Frau seufzend. „Die Brombeerstelle liegt nicht in meiner Richtung. Aber ich wünsche euch viel Spaß, ihr beiden. Und passt auf, dass ihr euch nicht an den Dornen pikst, hört ihr?“ Dann winkte sie noch kurz und das Auto brummte davon.

Hazel führte Maggie wieder in die Mitte der Straße, wo durch die Räder der vielen Fahrzeuge richtige Furchen entstanden waren. Mit leicht zusammengekniffenen Augen schaute sie nach vorn und überlegte. Ungefähr einen halben Kilometer weiter führte ein kleiner Pfad, den das Wild getrampelt hatte, direkt zu dem Brombeergebüsch, aber es gab noch einen kürzeren Weg. Er war zwar unebener und schwieriger zu gehen, aber je schneller sie die Brombeeren pflückte, desto schneller konnte sie wieder zu Hause sein und die Karte für Papa basteln. Sie wollte sich dafür richtig viel Zeit nehmen, damit sie besonders schön wurde und er nicht merkte, dass sie seinen Geburtstag vergessen hatte.

„Los, Maggie, jetzt komm schon. Hier geht’s lang.“

Mit verschwitztem Gesicht und strähnig herunterhängenden Locken strahlte ihre kleine Schwester sie von unten an und sah so niedlich aus, dass Hazel sich dabei ertappte, wie sie zurücklächelte.

Sie hatten jetzt die Schotterstraße verlassen und stiegen eine kleine Anhöhe hinauf. Immer wieder mussten sie sich tief ducken, um unter herunterhängenden Zweigen hindurchzukommen, oder Zweige wegdrücken, die ihnen den Weg versperrten. Maggie war inzwischen völlig außer Atem, und ihr kleines Gesicht war gerötet, doch sie beklagte sich nicht einmal, wenn die Zweige ihr Gesicht oder ihren Kopf streiften, sodass die Haarschleife schon ganz schief saß.

„Wir sind gleich da“, sagte Hazel, hob ein Gewirr von Ästen an und bedeutete Maggie mit einer Geste hindurchzugehen. Ihre Puppe fest an sich gedrückt quetschte sich die kleine Schwester an Hazel vorbei. Die folgte ihr und ließ die Zweige dann zurückschnellen. Plötzlich blieb Maggie so abrupt stehen, dass Hazel zur Seite ausweichen musste, um nicht über ihre kleine Schwester zu fallen. „Hey, was machst du denn?“

Maggie zeigte mit fragend gerunzelter Stirn auf eine aufgewühlte Stelle im Waldboden.

Obwohl sie es eilig hatten, konnte Hazel nicht widerstehen, sich hinzuhocken und die Grassode anzuheben, die von Wurzelwerk zusammengehalten wurde. Darunter lag in einer weichen Höhle ein Knäuel von vier kleinen Kaninchen. Sie senkte die Stimme und flüsterte: „Guck mal, Maggie – Babyhäschen.“

Da strahlte Maggie, und Hazel spürte, dass gleich ein begeistertes Quietschen folgen würde. Deshalb legte sie den Zeigefinger auf den Mund und schüttelte den Kopf. „Pst. Sonst erschrecken sie. Lass sie lieber schlafen.“

Mit staunender Miene kniete Maggie sich neben Hazel. „Tann ich die streicheln?“

„Nein.“

„Will sie abba streicheln, Hazel Mae.“

Daraufhin erklärte Hazel ihrer kleinen Schwester, weshalb man die kleinen Tiere nicht anfassen durfte, genauso wie man es ihr erklärt hatte, als sie zum ersten Mal einen Kaninchenbau entdeckt hatte. „Wenn du sie anfasst, kommt ihre Mama nicht wieder zurück zu ihnen, und ohne ihre Mama sterben sie. Und du willst doch nicht, dass die Häschen sterben, oder?“

Maggie schüttelte so heftig den Kopf, dass die verschwitzten Locken wippten.

„Dann lassen wir sie jetzt lieber in Ruhe.“ Sie deckte die Grassode wieder über die Kuhle mit den kleinen Kaninchen und stand auf. „Komm jetzt“, sagte sie, griff nach Maggies Hand und zog sie mit.

Maggie trottete wieder neben ihr her, stolperte aber ab und zu, weil sie sich immer wieder zu der Stelle umdrehte, wo die kleinen Häschen schliefen.

Beim Brombeergebüsch angekommen sorgte Hazel dafür, dass sich Maggie mit ihrer Puppe an einem schattigen Plätzchen niederließ. Dann drohte sie mit dem Zeigefinger und sagte: „Nicht weglaufen!“ Während die kleine Schwester mit der Puppe spielte und dabei zufrieden vor sich hin brabbelte, pflückte Hazel Brombeeren, so schnell sie konnte. Ihre Fingerspitzen verfärbten sich lila und mehr als einmal blieb sie an Dornen hängen. Doch sie ignorierte das Piksen und pflückte weiter. Hin und wieder warf sie einen Blick in das Körbchen, um zu schauen, wie viel sie schon geschafft hatte.

Als es etwa halb voll war, wurde aus Maggies fröhlichem Geplapper plötzlich lautes Geschrei. Hazel bekam einen solchen Schreck, dass das Körbchen an ihrem Arm heftig hin und her schwang, und sie holte schon Luft, um loszuschimpfen, aber die Worte blieben ihr im Hals stecken, als sie eine wohl anderthalb Meter lange schwarze Schlange erblickte, die sich nur ein paar Meter von der Stelle entfernt, wo Maggie saß, durchs Gras schlängelte.

Hazel ließ den Korb fallen und sprang vor ihre Schwester, woraufhin die Schlange zwar ihre Richtung änderte, jetzt aber direkt auf den Kaninchenbau zukroch. Sie konnte doch nicht zulassen, dass die grässliche Schlange die Häschen fraß! Sie drängte also Maggie noch weiter ins Gebüsch, wo die Brombeeren aus dem Körbchen überall im Gras verstreut lagen. „Sammle die Brombeeren wieder in den Korb, ich bin gleich wieder da“, sagte sie zu ihrer Schwester, griff gleichzeitig nach einem dicken abgestorbenen Ast, rannte hinter der Schlange her und schlug dabei immer wieder mit dem Ast vor sich auf den Boden. Die Schlange wand sich im Zickzack vor ihr her, aber immer noch in Richtung des Kaninchenbaus. Hazel machte ein paar große Schritte um das Tier herum und fuchtelte mit dem Ast, sodass die Schlange kurz innehielt, den Kopf hob und zischelte. Dabei schienen die hellen Augen sie direkt anzustarren. Doch Hazel schlug ein paar Mal heftig mit dem Ast auf den Boden und schrie: „Los, hau ab! Weg hier, du blöde Schlange! Geh weg!“

Die Schlange senkte daraufhin wieder den Kopf und ergriff die Flucht, aber Hazel verfolgte sie und schrie und schlug so lange weiter mit dem Ast auf den Boden, bis sie ganz sicher war, dass sie das Tier endgültig vertrieben hatte. Dann wischte sie sich über die Stirn und stieß einen erleichterten Seufzer aus. Die Häschen waren in Sicherheit. Sie warf also den Ast weg und hastete zurück zu den Brombeeren. Triumphierend trat sie aus dem Gebüsch und rief: „Ich hab’s geschafft, Maggie! Ich hab sie verscheucht!“

Doch dann blieb sie stehen und stutzte. In der der Nähe des umgekippten Brombeerkörbchens lag die Puppe im Gras, aber ihre Schwester war nirgends zu sehen. Mit gerunzelter Stirn schaute sie erst nach links und dann nach rechts. „Maggie?“

Ganz langsam ging Hazel weiter und suchte die Umgebung ab. Auf dem Boden waren überall zerquetschte Brombeeren verstreut, ein Beweis, dass ihre Schwester darauf herumgetrampelt war. Ob Maggie vielleicht beschlossen hatte, Verstecken zu spielen? In einem spielerischen Singsang rief Hazel immer wieder: „Ma-a-aggie, wo bi-i-ist du?“, und lauschte dann auf ein verräterisches Kichern, aber die einzige Antwort war das Wispern des Windes in den Bäumen. Doch sie hatte jetzt wirklich keine Zeit zum Spielen. Deshalb stemmte sie die geballten Fäuste in die Hüften und rief: „Margaret Rose Blackwell, ich spiele nicht mit. Wenn du keinen Ärger willst, dann komm jetzt lieber raus!“

Ein paar Hüttensänger kamen aus einer knarrenden Eiche herausgeflattert, aber Maggie kam nicht aus dem Gebüsch hervor. Ein kalter Schauer lief Hazel über den Rücken, obwohl sie wegen der drückenden Hitze völlig verschwitzt war. „Jetzt komm schon, Maggie, das ist nicht lustig.“ Ganz langsam drehte sie sich noch einmal um die eigene Achse und rief dabei immer wieder den Namen ihrer Schwester, aber Maggie antwortete immer noch nicht. Die Stille machte Hazel nervös. Da war kein Keckern von Eichhörnchen, kein Vogelgezwitscher, und da war nicht einmal ein Kaninchen, das an den zarten Grasspitzen unter den Bäumen knabberte.

Mit einem sorgenvollen Stein im Magen suchte sie erst das Gebüsch ab und dann die nähere Umgebung. Ihr Herz schlug schneller, als sie Maggies Haarband entdeckte, das in Schulterhöhe an einem Ast baumelte. Sie zerrte es los und starrte es dann an. Maggie musste sich also mindestens dreißig Meter von dem Brombeergebüsch entfernt haben. Wie hatte sie das in so kurzer Zeit schaffen können?

Hazel steckte das Haarband in ihre Tasche und legte sich die Hände wie einen Trichter an den Mund. „Maggie, wo auch immer du bist, hör jetzt auf damit und komm raus, sonst kriegst du mächtig Ärger!“ Sie wartete ein paar Sekunden und lauschte, aber es war nichts als Stille zu hören.

Sie schlang sich die Arme um die Schultern und kämpfte mit den Tränen. Warum antwortete Maggie bloß nicht? Vielleicht hatte sie sich ja wie ein kleines Kaninchen irgendwo zusammengerollt und war eingeschlafen. Wieder begann sie zu suchen, bewegte sich langsam vorwärts, spähte in Büsche und unter tief hängende Zweige.

Die Minuten verstrichen ohne ein Lebenszeichen von ihrer Schwester. Hazel bekam jetzt solche Angst, dass sich ein bitterer Geschmack in ihrem Mund ausbreitete. Sie begann zu rennen, zog im Zickzack einen großen Kreis um das Brombeergebüsch und rief dabei immer wieder Maggies Namen, manchmal flehend – manchmal musste sie beim Rufen sogar ein Schluchzen unterdrücken –, und dann wieder klang das Rufen wie ein zorniges Knurren. Sie suchte und rief, bis ihre Kehle so trocken war, dass kein Laut mehr herauskam und ihre Muskeln zitterten.

Sie blieb stehen, beugte sich vor und stützte sich mit den Händen auf die Knie. Ihre Brust schmerzte, Schweiß lief ihr übers Gesicht und vermischte sich mit ihren Tränen. Mama und Papa würden so enttäuscht von ihr sein, dass sie Maggie im Wald verloren hatte, aber sie würde es ihnen sagen müssen, denn sie brauchte Hilfe. Sie holte einmal tief Luft, versuchte, sich zu orientieren, und machte sich dann auf den Heimweg.

Kapitel 2

Siebzig Jahre späterLas Vegas, Nevada

Meghan

Ich hole es Ihnen heraus, Miss.“

Meghan schob sich ein paar Zentimeter vorwärts und erlaubte dem Cowboy, dessen Knie sich während des Fluges von Little Rock nach Las Vegas unentwegt in die Rückenlehne ihres Sitzes gebohrt hatten, ihr Handgepäck aus dem Gepäckfach zu holen. Der Anblick, wie sich sein kariertes Hemd über der Brust spannte, als er sich nach ihrer Tasche ausstreckte, gefiel ihr ausnehmend gut. Ein positiver Aspekt des Umstandes, dass sie die blöden Krücken brauchte, war die Erkenntnis, dass es immer noch Gentlemen gab. Und manche von ihnen, so wie beispielsweise dieser hier, putzten sich sogar mit Westernklamotten heraus – vom Cowboyhut bis zu den Stiefeln –, sodass sie auch noch eine richtige Augenweide waren.

„Und wie wollen Sie die Tasche jetzt tragen?“ Er beäugte sie unter der geschwungenen Krempe seines cremefarbenen Hutes hervor. Er war ganz eindeutig einer von den Guten.

„Wenn Sie kurz meine Krücke halten, dann nehme ich die Tasche auf den Rücken.“

„Aha“, meinte er nur und schwang sich dann die Tasche selbst über die Schulter.

„Aber ich …“

„Ich trage sie Ihnen“, sagte er, und als er sie dabei angrinste, entstanden auf seinen gebräunten Wangen zwei hinreißende Grübchen. „Dann halten wir die Leute hinter uns nicht unnötig auf.“

Ein Blick hinter ihn bestätigte, dass dort eine ganze Reihe von Leuten schon ungeduldig wurden. Und er war auch noch so nett, wir statt Sie zu sagen.

„Danke, das ist wirklich nett von Ihnen.“

Sie humpelte den Mittelgang des Fliegers entlang, und zwar ziemlich langsam, zum einen wegen ihres Gipsbeins und der Krücken, aber in erster Linie, weil der Gang so eng war. Vielleicht hätte sie sitzen bleiben sollen, bis alle anderen Passagiere den Flieger verlassen hatten.

In den Gesprächen an Bord war es in erster Linie um Einarmige Banditen, Blackjack und Poker gegangen. Die Leute wollten unbedingt ihr Geld in den Kasinos loswerden, und jetzt war sie schuld daran, dass sich alles verzögerte. Aber auch sie hatte ein dringendes Anliegen in der Stadt. Sie hatte seit drei Jahren ihre Großmutter nicht gesehen.

So sehr sie den Unfall auch verwünschte, der ihr eine sechswöchige Zwangspause eingebracht hatte, darüber, diese Zeit bei Großmama zu verbringen, war sie absolut nicht unglücklich. Weder Großmama noch Mama wurden jünger, auch wenn Mama ziemlich unwirsch reagieren konnte, wenn Meghan ihr Alter erwähnte. Sean Eagle, ihr Arbeitspartner in der Abteilung der Kriminalpolizei, bei der sie arbeitete, bezeichnete ihren überraschenden Urlaub als Geschenk Gottes. Manche der Kollegen aus dem Office fanden Seans religiöse Anspielungen penetrant, aber sie würde nicht abstreiten, dass diese Reise ein versteckter Segen war.

Als sie von Bord des Fliegers gingen, kam eine Mitarbeiterin der Fluggesellschaft zu Meghan geeilt. „Hier herüber, Ma’am.“

Meghan schaute sich um. „Meinen Sie mich?“

„Ja, Ma’am.“

Meghan runzelte die Stirn. Seit wann waren denn unverheiratete Endzwanzigerinnen „Ma’ams“?

„Ich habe einen Rollstuhl für Sie.“

„Aber ich habe gar keinen Rollstuhl bestellt.“

Die junge Frau schaute verwirrt auf Meghans Krücken. „Aber …“

Darüber musste Meghan lächeln und erklärte: „Es macht mir wirklich nichts aus zu laufen.“ Wenn sie sechs Wochen im Rollstuhl verbrächte, würde sie hinterher nicht mehr in die Hosenanzüge passen, die sie bei der Arbeit trug. Sie trat ein bisschen zur Seite, sodass die anderen Passagiere an ihr vorbeikonnten, und wandte sich dann lächelnd wieder dem Cowboy zu. „So, jetzt nehme ich meine Tasche aber selbst. Vielen Dank für Ihre Hilfe.“

Er runzelte die Stirn und schaute die Fluggastbrücke hinauf, die ins Flughafengebäude führte. „Sind Sie ganz sicher, dass ich Ihre Tasche nicht lieber bis zur Gepäckabholung tragen soll? Es macht mir wirklich nichts aus.“

Sie konnte es gar nicht erwarten, ihrer Mutter zu erzählen, dass es immer noch richtige Kavaliere gab. In der Abteilung für ungeklärte Fälle, in der sie arbeitete, nahmen ihre männlichen Kollegen jedenfalls keine Rücksicht auf sie oder machten Zugeständnisse, weil sie eine Frau war. Irgendwie war ihr die Aufmerksamkeit des Cowboys deshalb auch ein bisschen peinlich, aber in erster Linie gefiel sie ihr. Sie merkte, dass sie gerne wie eine Dame behandelt wurde.

Mama würde natürlich behaupten, die rücksichtsvolle Behandlung hätte nur mit ihren Krücken zu tun. Immer so zynisch, die Gute …

Sie lachte also kurz auf und sagte: „Nein, das schaffe ich jetzt wirklich allein. Ich muss mir die Tasche nur auf den Rücken hieven.“

Daraufhin zuckte er mit den Achseln und gab die Tasche der uniformierten Angestellten der Fluggesellschaft, die in der Nähe stand. „Also gut. Dann wünsche ich Ihnen eine schöne Zeit in Las Vegas.“ Er tippte sich kurz an den Hut, ging weiter, reihte sich in den Strom von Menschen ein und war schon bald verschwunden.

Die freundliche Mitarbeiterin der Fluggesellschaft half ihr dann, die Henkel der Reisetasche über ihre Arme zu schieben, sodass sie die Tasche auf dem Rücken tragen konnte. Die dicken Henkel schnitten ihr zwar ins Fleisch, aber das war nicht weiter der Rede wert. Nachdem sie eine Karambolage von drei Autos überlebt hatte, bei der zwei andere Beteiligte ums Leben gekommen waren, würde sie sich nie mehr über Kleinigkeiten wie einschneidende Taschenhenkel beklagen.

Wieso nur hatte sie ein solches Glück gehabt und die anderen nicht?

Meghan schob das leise, aber hartnäckige Schuldgefühl beiseite, bedankte sich bei der Angestellten und ging zum Ende der Menschenschlange, die sich über die Fluggastbrücke ins Flughafengebäude bewegte. Dabei hallte das dumpfe Geräusch der Krücken laut auf dem Metallboden. Sie trat von der stickigen Fluggastbrücke hinaus in einen Luftstoß aus der Klimaanlage. Und in eine dichte Menschenmenge. In der Mitte der breiten Gänge waren überall Einarmige Banditen aufgestellt, die fast alle von Spielern besetzt waren. Kleine Menschentrauben standen um die Spielautomaten herum und sie hätte sich beim Lärm der Automaten und dem Stimmengewirr am liebsten die Ohren zugestöpselt.

Sie folgte den Schildern zur Gepäckabholung, verzichtete dabei auf die Laufbänder und hielt sich auf dem Gang so weit wie möglich rechts, um nicht von denen, die zwei gesunde Beine hatten, umgerannt zu werden. Zweimal hielt ein Elektrokart neben ihr an, und sie bekam vom Fahrer das Angebot, sie mitzunehmen, aber beide Male lehnte sie dankend ab. Nach dem langen Sitzen im Flieger fühlte es sich gut an, wieder in Bewegung zu sein, auch wenn Mama wahrscheinlich darüber geschimpft hätte, dass sie so hartnäckig Hilfe ausschlug. „Manchmal bist du einfach zu selbstständig, als dass es noch gut für dich wäre, Meghan D’Ann“– abermit Mama war über so etwas auch nicht gut zu reden. Manchmal fragte sich Meghan, ob ihre Mutter Vorsitzende einer ganzen Generation von Feministinnen gewesen war. Sogar die Klempnerarbeiten im Haus erledigte sie selbst.

In der Nähe der Gepäckabholung warteten bereits eine ganze Reihe von ernst dreinblickenden Chauffeuren, die Schilder mit Namen darauf hochhielten. Neugierig warf sie einen Blick auf die Schilder. Vielleicht war ja ein Star einer der vielen Shows in der Touristenmetropole eingeflogen worden. Sie hätte nichts dagegen gehabt, einen Blick auf Bette Midler oder einen der Osmond Brothers zu erhaschen.

Terrence Blake, Huston Family, Dexter Inc., Meghan DeFord … Abrupt blieb sie stehen. Meghan DeFord? Damit konnte doch unmöglich sie gemeint sein. Es gab bestimmt noch eine andere Meghan DeFord. Aber andererseits hätte es ihrer Großmutter auch ähnlich gesehen, sie so zu überraschen. Mama beklagte sich oft über Großmamas Hang zu extravaganten Geschenken, aber Meghan hatte noch nie verstanden, wieso ihre Mutter diesen Charakterzug als so störend empfand. Es gab allerdings vieles an der Beziehung zwischen ihrer Mutter und ihrer Großmutter, was sie nicht verstand und was sie zum Teil sogar irritierte. Vielleicht würde Meghan ja während des langen Aufenthalts bei ihrer Großmutter etwas mehr darüber in Erfahrung bringen.

Sie verlagerte noch einmal das Gewicht der Tasche auf ihrem Rücken, indem sie die Schultern bewegte, und ging dann auf den Fahrer zu, der das Schild mit ihrem Namen hochhielt. „Entschuldigen Sie, ich bin Meghan DeFord aus Little Rock, Arkansas. Sie …“ Sie lachte leise, schaute sich verlegen um und fuhr dann fort: „Sie sind aber nicht meinetwegen hier, oder?“ Wenn er jetzt nein sagte, würde sie vor Scham im Boden versinken.

Aber er warf das Schild in den nächsten Mülleimer, streckte ihr die behandschuhte Hand hin und sagte: „Doch Ma’am. Ich hole Sie im Auftrag von Mrs Hazel Blackwell-DeFord ab.“

Also doch wie sie vermutet hatte. Sie lächelte und wurde von einer Woge von Erinnerungen überrollt. „Na, da werde ich aber verwöhnt!“

Er nahm ihr die Tasche vom Rücken, und sie ließ zu, dass ihr ein erleichterter Seufzer herausrutschte. Der Chauffeur behielt ihre Tasche in der Hand und fragte: „Haben Sie noch mehr Gepäck?“

Sie musste sich beherrschen, nicht loszuprusten. Als ob sie jemals nur mit Handgepäck reisen würde! Als Sean sie morgens früh am Flughafen abgesetzt hatte, hatte er sie scherzhaft gefragt, ob sie vorhabe, mit Sack und Pack nach Nevada umzuziehen.

„Ja, hab ich“, antwortete sie jetzt auf die Frage des Chauffeurs.

„Dann wollen wir es mal holen.“

Mit der Tasche in der Hand begleitete er sie zum Gepäckkarussell. Es dauerte eine Weile, bis sie sich durch die Menschenmassen so weit durchgekämpft hatten, dass sie die Gepäckstücke auf dem schwarzen Band sehen konnten, und nach dem langen Reisetag hatte es beinah hypnotische Wirkung auf Meghan, die Koffer und Taschen vorbeigleiten zu sehen. Doch als sie dann endlich ihre eigenen Koffer erblickte, schüttelte sie ihre Müdigkeit ab und sagte: „Da, die beiden roten Koffer gehören mir.“

Wenn die beiden abgenutzten Gepäckstücke, die sicher schon bessere Tage erlebt hatten, seine Geringschätzung hervorriefen, dann gelang es ihm besser, das zu verbergen als den beiden Teenagern, die in der Nähe standen. Sie zeigten lachend auf die beiden Koffer und machten vielsagende Gesichter.

Meghan verdrehte die Augen. Es brauchte ihr wirklich niemand zu sagen, dass ihre Koffer furchtbar aussahen. Mama regte sich ständig darüber auf, dass sie sie immer noch benutzte. „Himmel, du verdienst doch gut, also kauf dir endlich mal anständige Koffer.“ Aber sie hatte die Koffer vor neun Jahren von Großmama zum Schulabschluss geschenkt bekommen, und selbst wenn sie auseinanderfielen, würde Meghan sich nicht davon trennen.

Der Chauffeur hob die beiden zerschrammten, mit Klebeband reparierten Rollkoffer von dem Gepäckkarussell, packte die Tasche auf den größeren der beiden und nickte ihr dann zu. „Hier entlang, bitte“, sagte er und ging los. Mit jeder Hand rollte er einen Koffer neben sich her, und sie setzte die Krücken so schnell sie konnte, um mit ihm Schritt zu halten. Sie nahm ihm das Tempo nicht übel, denn weil sie einmal einen Taxifahrer gedatet hatte, wusste sie, dass er umso mehr verdiente, je mehr Fahrten er machte. Der Chauffeur wollte sie wahrscheinlich so schnell wie möglich abliefern und dann den nächsten Fahrgast abholen.

Der Mann führte sie zu einer gepflegten silbernen Limousine und hielt ihr die Tür auf. Sie überlegte kurz, ob sie ihn bitten sollte, noch rasch ein Foto von ihr neben dem schicken Wagen zu machen, bevor sie losfuhren, aber das hätte die Abfahrt nur noch weiter verzögert. Und wem hätte sie es auch zeigen sollen? Ihrer Mutter? Den Kollegen im Büro? Sie konnte sich die Reaktionen gut vorstellen. Und außerdem strahlte die Hitze so stark vom Gehweg ab, dass ihre Fußsohlen schon durch die Sneakers heiß wurden, obwohl der Gehsteig im Schatten von Markisen lag. Es hieß, die Hitze in Nevada sei trocken, aber auch bei null Prozent Luftfeuchtigkeit waren 43 Grad nun mal brüllend heiß.

Sie gab dem Fahrer ihre Krücken und stieg unbeholfen hinten in den Wagen. Kühle Luft blies ihr ins Gesicht und erfasste die Haarsträhnen, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatten und im Luftstrom einen wilden Tanz aufführten. Mit einem Seufzer ließ sie sich in der Mitte der weich gepolsterten Lederrückbank fallen. Zweimal federte der Wagen nach, als ihre Koffer im Kofferraum verstaut wurden, bevor mit einem leisen dumpfen Geräusch der Kofferraumdeckel zugeschlagen wurde und der Fahrer einstieg.

Er schaute kurz durch den Rückspiegel zu ihr nach hinten. „Alles klar?“

„Ja.“

Dann schloss er die Scheibe zwischen Fahrer und Fahrgastraum, fuhr los und fädelte die Limousine in den fließenden Verkehr ein, was natürlich nicht ohne Hupkonzert vonstattenging.

Während der Fahrt vom Flughafen zu Großmamas Haus in Kendrickson schaute Meghan nicht durch die getönten Autoscheiben nach draußen, denn sie kannte Vegas, und offen gestanden war die Stadt nicht ihr Fall. Ihr waren Kleinstädte wesentlich lieber. Aber sie genoss den gepolsterten Sitz, die kühle Luft mit Blütenduft aus der Klimaanlage, die ihr das Haar zerzauste, und die Cola aus dem eingebauten Eiskühler. Sogar eine Packung Pfefferminzkonfekt lag auf dem Deckel des holzvertäfelten Eisbehälters bereit. Es stand zwar nicht ihr Name darauf, aber ihr war klar, dass sie für sie gedacht war. Großmama und sie hatten sich früher immer eine Packung davon geteilt, wenn sie Familienfilme geschaut hatten.

Großmama … Schon komisch, wie viele Erinnerungen hochkamen, wenn sie nur an das Wort dachte. Die vier Wochen im Sommer, die sie bei ihrer Großmutter verbrachte, waren in ihrer Kindheit ihre liebste Zeit gewesen. Mama hatte zwar jedes Mal aufs Neue versucht, ihr den Besuch bei Großmama auszureden – hatte sie gelockt mit Schwimm- oder Tennisstunden, Fahrten in Freizeitparks oder einem jungen Hund –, aber keine noch so spektakuläre Ferienaktivität konnte mit diesen Wochen bei Großmama mithalten.

Meghan liebte ihre Mutter, und sie wusste, dass Mama sie auch liebte, aber Großmama hatte eine Art, sie mit Zuneigung, Zuhören und einer so intensiven Aufmerksamkeit zu überschütten, dass sie das Gefühl hatte, alles andere auf der Welt wäre unwichtig. Für Meghan war ihre Großmama der Inbegriff selbstloser Liebe, und die Zeit zwischen den Besuchen bei ihr kam ihr immer viel zu lang vor.

Sean hatte recht. Der Unfall hatte auf jeden Fall etwas von einem Geschenk des Himmels.

Als die Limousine langsam von der Hauptstraße abbog, richtete Meghan sich ein wenig auf, um hinauszuschauen. Vor lauter Vorfreude ging ihr ein leiser Schauer über den Rücken, denn sie hatten jetzt die Sackgasse erreicht, in der Großmama wohnte. Meghan warf die leere Flasche in den Müllbehälter und steckte die noch halb volle Packung Pfefferminzschokolade in die Tasche. Den Rest würde sie sich mit Großmama teilen.

Ganz zappelig vor Aufregung wartete sie im klimatisierten Wageninneren, während der Fahrer ihr Gepäck aus dem Kofferraum auslud und es ans Ende der Auffahrt stellte. Dann öffnete er ihr die Tür und half ihr aus dem Wagen, woraufhin ihr auf der Stelle am gesamten Körper der Schweiß ausbrach. Sie hoffte, dass Großmamas Klimaanlage auf Hochtouren lief.

Der Fahrer überreichte ihr noch ihre Krücken und verabschiedete sich dann mit den Worten: „So, und jetzt wünsche ich Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.“

Meghan zog den Reißverschluss ihrer Handtasche auf. „Moment noch …“

„Vielen Dank, aber für das Trinkgeld wurde schon gesorgt“, sagte er und eilte davon.

Sie schüttelte den Kopf und schmunzelte vor sich hin. Großmama hatte wirklich an alles gedacht.

Durch den lichten Schatten von drei Zwergpalmen ging sie die geschwungene Auffahrt zum Eingang hinauf und wie ein Begrüßungsständchen waren Hundegebell und gedämpftes Jaulen hinter dicken Mauern zu hören. Der Lärm war so aufdringlich, dass sie eine Gänsehaut bekam. Die Nachbarn hatten anscheinend eine ganze Hundemeute. Wie Großmama damit wohl fertigwurde? Sie hatte nie Haustiere gehabt, nicht mal einen Goldfisch. Mama dagegen beherbergte einen ganzen Zoo – Hunde, Katzen, ein Salzwasseraquarium und ein halbes Dutzend Meerschweinchen. Wenn Mama Großmama nicht so ähnlich sähe, hätte man meinen können, sie wären gar nicht miteinander verwandt, denn sie waren in jeder Hinsicht grundverschieden.

Meghan überquerte jetzt die gepflasterte Fläche vor dem Haus, die auch als Terrasse diente, und blieb vor der breiten Eingangstür stehen. Irritiert runzelte sie die Stirn, denn das Hundegebell wurde lauter und noch aufdringlicher. Kam das etwa aus Großmamas Haus? Es war doch nicht möglich, dass …Vielleicht war Großmama ja auch umgezogen und irgendwie hatte Meghan nichts davon erfahren. Sie hätte Mama durchaus zugetraut, ihr so eine Information zu verschweigen. Doch Großmama hatte keine neue Adresse erwähnt, als Meghan sie angerufen hatte, um zu fragen, ob sie sie besuchen kommen könne.

Trotzdem beschlich sie eine seltsame Vorahnung, als sie jetzt auf den Klingelknopf drückte.

Das Gebell wurde noch einmal lauter und durchdringender und jemand rief lachend: „Ist ja gut, ist ja schon gut. Sitz!“, die Tür ging auf, und Meghan blieb vor Überraschung der Mund offen stehen.

„Mama! Was machst du denn hier?“

Kapitel 3

Mitte Juli 1943 Cumpton, Arkansas

Hazel Mae

Hazel Mae Blackwell, was rennst du denn die Straße entlang, als wäre der Teufel hinter dir her? Du kriegst noch einen Hitzschlag.“

Hazel bekam gerade noch die hintere Kante von Miss Minnie Achards Pferdefuhrwerk zu fassen. Sie war so außer Atem, dass sie kaum ein Wort herausbrachte. „Ich muss … schnell… nach Hause.“

„Was ist denn los?“

„Meine kleine Schwester … sie ist verschwunden.“

„Wo denn?“

„Bei… den …Brombeeren.“

Die wässrigen Augen der alten Dame weiteten sich. „So tief im Wald? Oh oh, Mädchen …“ Sie rutschte zur Seite. „Komm, steig auf. Mein Maultier und ich bringen dich zu deinem Papa.“

Miss Minnie meinte es nur gut, aber das alte Maultier war langsamer als eine Schildkröte. „Nein, danke Ma’am, ich laufe lieber. Wenn Sie unterwegs jemanden treffen, könnten Sie dann bitte sagen, dass wir … dass wir Hilfe brauchen bei der Suche?“, sagte Hazel.

Miss Minnie nickte so heftig mit dem Kopf, dass die Krempe ihres schlappen Strohhutes wippte. „Klar mache ich das, aber du läufst jetzt besser ein bisschen langsamer, sonst …“

Aber Hazel war schon wieder auf und davon. Ihre Füße wirbelten den Staub von der Straße auf und ihre Lunge schrie nach einer Pause, aber sie biss die Zähne so fest zusammen, dass es wehtat, und zwang sich den Hügel hinauf, obwohl ihre Beine zitterten, es in ihren Armen pochte und ihr der Schweiß in den Augen brannte, aber Schuldgefühle und Sorge trieben sie weiter. Innerlich betete sie ununterbrochen: Bitte lass ihr nichts passiert sein. Lass sie uns finden. Ich werde nie wieder etwas aus den Augen lassen, wenn du sie uns finden lässt. Bitte, Gott, bitte.

Sie nahm die letzte Wegbiegung und stolperte quer durch den Garten zum Haus. Ihre Beine fühlten sich an wie Gummi und gaben unter ihr nach, als sie die erste Stufe der Verandatreppe nahm, aber sie zwang sich wieder auf und stürzte durch die Fliegengittertür in die Küche. „Mama!“

Ihre Mutter stand am Arbeitstisch, drehte sich um und runzelte fragend die Stirn. „Wo bleibst du denn? Der Teig für den Auflauf ist schon längst …“

Hazel taumelte weiter vorwärts und keuchte nur „Mama … Mama …“ Mehr kam nicht heraus.

Mamas Zornfalten verwandelten sich jetzt in Sorgenfalten. Sie packte Hazel bei den Schultern und schüttelte sie. „Rede mit mir, Mädel. Was ist denn los?“ Sie schaute hinaus in den Garten und plötzlich hatte sie Panik im Blick. Ihre Finger gruben sich in Hazels Schultern. „Wo ist Maggie?“ Sie beugte sich hinunter, schaute Hazel wild ins Gesicht und fragte noch einmal: „Wo ist deine Schwester?“

Da löste sich ein Schluchzer aus ihrer Kehle und sie antwortete: „Ich… ich habe sie verloren.“

GegenwartKendrickson, Nevada

Margaret Diane DeFord

„Jedenfalls bin ich nicht verloren gegangen, falls du das gedacht hast.“ Diane schob mit dem Fuß das Quartett bellender Dackel von der Tür weg. „Wollt ihr wohl ruhig sein! Ihr kennt Meghan doch.“ Sie lachte, als die Hunde noch wilder sprangen und noch lauter bellten, und sagte dann lächelnd zu ihrer Tochter: „Sie freuen sich, dich zu sehen.“

Meghan rührte sich nicht. „Wieso bist du hier? Ist etwas mit Großmama?“

Die Sorge im Blick ihrer Tochter löste einen Sturm leidenschaftlichen Beschützerinstinktes und gleichzeitig eine Welle von Neid bei ihr aus. Wie konnte Meghan einen Menschen so innig liebhaben, der sie selbst mehr aufregte als irgendjemand sonst auf der Welt?

„Es geht ihr gut. Ich …“

„Margaret Diane, jetzt lass sie doch bitte erst mal herein und mach die Tür wieder zu. Du lässt ja die ganze stickige Hitze rein“, rief Dianes Mutter von ihrem Ohrensessel aus, der in einer Ecke des Wohnzimmers stand. „Und krieg um Himmels willen deine kläffenden Bestien in den Griff. Die wecken ja Tote auf.“

Diane verdrehte nur entnervt die Augen, warf ihrer Mutter einen finsteren Blick zu und entgegnete: „Sie geht an Krücken, sie ist also nicht gerade flink.“

Ihre Mutter stand daraufhin aus ihrem Sessel auf, trat in die Mitte des Raumes und widersprach: „Es sind nicht die Krücken, die sie behindern, sondern die Hunde.“ Dann klatschte sie in Richtung der Tiere in die Hände und rief energisch: „Los jetzt, weg da! Bewegt euch. Weg!“

Ginger, der älteste der vier Dackel, zog den Schwanz ein und flitzte Richtung Küche. Duchess, Miney und Molly jagten – immer noch jaulend – hinterher.

„So, und jetzt lass endlich Meghan herein.“

Diane trat zur Seite und machte eine ausladende Geste mit der Hand. „Die Queen hat gesprochen. Komm rein.“

Meghan trat ins Haus. Mit einem strahlenden Lächeln humpelte sie an ihren Krücken direkt auf ihre Großmutter zu. „Großmama!“ Die beiden umarmten sich, und Großmama Hazel beugte sich ein ganz klein wenig hinunter, um sich Meghans kleiner, zierlicher Gestalt anzupassen. Ihr schneeweißes Haar, das sie zu einem Bob geschnitten trug, bildete einen krassen Kontrast zu Meghans vollem braunen Pferdeschwanz, der ihr bis über die Schulterblätter reichte. Sie lösten sich kurz aus der Umarmung, lächelten einander an und umarmten sich dann lachend noch einmal. Wenn Diane sich nicht täuschte, schimmerten Tränen in den braunen Augen ihrer Mutter und ihrer Tochter, und sie musste die Zähne zusammenbeißen, um den Anflug von Eifersucht niederzuzwingen.

Meghan verlagerte ein wenig das Gewicht und stützte sich wieder auf ihre Krücken. „Danke für die Fahrt mit der Limousine. Das war ja eine Überraschung! Ich habe mich wie ein Promi gefühlt, und ganz besonders habe ich mich über die Schachtel Pfefferminzkonfekt gefreut. Ein paar habe ich noch für uns übrig gelassen. Die können wir uns ja heute Abend bei einem guten Film im Fernsehen teilen.“

Hazel lachte leise. „Aufs Fernsehprogramm sind wir zum Glück nicht mehr angewiesen. Da läuft inzwischen doch nur noch Müll. Ich habe so einen DVD-Player und einen ganzen Stoß DVDs gekauft. Du darfst eine aussuchen.“

„Super!“ Meghan schaute über ihre Schulter nach hinten zu Diane und sagte: „Hey Mama, könntest du vielleicht mein Gepäck hereinholen? Im Moment ist ja leider kein gut aussehender Cowboy zur Hand, der das übernehmen könnte.“ Sie kicherte und wandte sich dann sofort wieder deren Großmutter zu. „Du hättest den Kerl sehen sollen, der im Flugzeug hinter mir saß, Großmama – wie direkt aus einem Western. Mindestens ein Meter neunzig groß und …“

Diane räusperte sich. „Kann bitte jemand die Tür im Auge behalten und mir wieder aufmachen, wenn ich mit den Koffern zurückkomme?“

Ihre Mutter runzelte die Stirn. „Ich habe dir doch beigebracht, Leute nicht zu unterbrechen, wenn sie sich unterhalten, Margaret Diane. Das ist unhöflich.“

Mutter hatte ihr vieles beigebracht, unter anderem auch das, aber mittlerweile war sie 47 und damit eindeutig aus dem Alter heraus, gemaßregelt zu werden, ganz besonders, wenn es auch noch in Anwesenheit ihres eigenen erwachsenen Kindes geschah. Mit fest zusammengepressten Lippen ging sie zur Tür und verkniff sich eine Erwiderung, die zweifellos als Respektlosigkeit ausgelegt werden würde. Und Respektlosigkeit fiel nach Mutters Maßstab ebenfalls unter die Rubrik schlechtes Benehmen.

Draußen flimmerte die Hitze auf dem Asphalt, und weil sie Sandalen mit dünnen Ledersohlen trug, brannten ihr sofort die Füße. Sie ging rasch zu den Koffern und packte den Griff des größeren Gepäckstücks. Heiß! Sie schluckte eine Verwünschung hinunter und riss ihre Hand zurück. Wieso hatte sie nicht daran gedacht, Topflappen mitzunehmen? In Nevada zu leben war, als wohnte man in einem Backofen. Sie wickelte einen Zipfel ihrer fuchsiafarbenen Tunika um den Koffergriff und versuchte es noch einmal. Immer noch nicht perfekt, aber schon besser.

Sie stellte den Koffer erst einmal auf der Terrasse ab und hastete leise grummelnd zurück, um die anderen Gepäckstücke zu holen. Drei Koffer? Meghan musste ihre gesamte Garderobe mitgebracht haben. Hatte sie vergessen, dass es Waschmaschinen gab? Und wieso benutzte sie eigentlich immer noch diese schäbigen, abgenutzten alten Dinger? Die Nachbarn hatten wahrscheinlich gedacht, Mutter hätte sie für den Sperrmüll rausgestellt.

Ihre Mutter hielt jetzt die Eingangstür auf und Diane brachte alles ins Haus. Sie strich sich den dichten Pony aus der Stirn und zog eine Grimasse, als ihre Hand hinterher schweißnass war. „Also ehrlich, hast du noch nie etwas von Reisen mit leichtem Gepäck gehört?“, fragte sie ihre Tochter und deutete dabei mit beiden Händen auf den Gepäckberg. „Das hier ist ja geradezu lächerlich. Ich bin prima mit einem Koffer ausgekommen.“

Ihre Mutter schüttelte darüber nur den Kopf, hakte sich demonstrativ bei Meghan ein und bildete so zusammen mit ihr eine vereinigte Front. Dabei legte sie ihre Schläfe an Meghans Scheitel und sagte: „Ignoriere sie einfach. Seit sie heute Vormittag angekommen ist, macht sie nichts als Theater. Und außerdem hat sie gerade geflunkert. Wenn man die Hundeboxen mitrechnet, hatte sie nämlich fünf Gepäckstücke dabei.“ Sie spitzte die Lippen und fuhr fort: „Sie weiß genau, was ich von Haustieren halte, und trotzdem hat sie ihre gesamte Hundemeute mitgebracht.“

„Ach, wer macht denn hier Theater?“, fragte Diane, ging zum Sofa hinüber und ließ sich auf das mittlere Polster sinken. Sie klatschte sich mit der einen Hand leicht aufs Knie, woraufhin die Dackel alle schwanzwedelnd und mit hängenden Zungen angerannt kamen, aufs Sofa sprangen und sich bei ihr niederließen. Einer auf jeder Seite und zwei auf ihrem Schoß.

Ihre Mutter schloss kurz die Augen, atmete hörbar durch und trat von Meghan weg, wobei die weiten Beine ihrer etwas über knielangen Hose um ihre gebräunten Waden schwangen. „Setz dich doch, Liebes. Ich habe einen Krug mit Eistee im Kühlschrank. Ich hole uns rasch Gläser.“

„Das mache ich schon“, widersprach Meghan.

„Nein, nein, bleib du mal sitzen. Ich habe doch seit Ewigkeiten nicht die Gelegenheit gehabt, dich ein bisschen zu verwöhnen“, sagte ihr Großmama und gab Meghan einen kleinen Stups in Richtung des Sofas. „Ich bin gleich wieder zurück mit dem Eistee und einer Kleinigkeit zu knabbern. Ich hoffe, du magst immer noch Haferflockenkekse.“

„Mit Karamellstückchen statt Rosinen?“

„Ja, natürlich!“

Meghan lachte. „Dann nehme ich ein halbes Dutzend.“

Hazel lächelte und ging in die Küche. Sobald sie verschwunden war, beugte sich Meghan zu Diane vor und fragte flüsternd: „Wieso hast du mir nicht gesagt, dass du auch kommen würdest? Und wieso hast du die Hunde mitgebracht? Normalerweise bringst du sie doch in der Hundepension unter, wenn du verreist.“

Diane streichelte Gingers seidige Ohren. „Du schlägst dich gleich wieder auf ihre Seite, was?“ Dabei offenbarte ihr Tonfall mehr Ärger, als sie eigentlich hatte preisgeben wollen.

Meghan seufzte. „Wieso redest du gleich wieder von Seiten? Sie ist deine Mutter. Kannst du nicht einfach mit ihr auskommen?“

Diane richtete den Blick jetzt auf den breiten Durchgang, der in die Küche mit Essplatz führte. Das Geräusch von Eis, das in Gläser gefüllt wurde, und das Öffnen und Schließen von Schubladen war bis ins Wohnzimmer zu hören. Eigentlich heitere Geräusche, Willkommen-zu-Hause-Geräusche, aber die hatten erst eingesetzt, als Meghan angekommen war.

„Dazu gehören immer zwei“, sagte Diane zu Meghans Bemerkung nur.

„Aber einer muss den Anfang machen“, entgegnete Meghan, hob die eine Krücke ein wenig an und berührte damit Dianes Knie. „Wenn du es wirklich wolltest, könntest du so mit ihr umgehen, dass es nicht immer wieder Streit gäbe.“

Einer der Dackel beschnupperte die Gummikappe der Krücke, aber Diane zog den Hund noch näher an sich heran. „Nimm das Ding lieber herunter, wenn du nicht willst, dass er es zerkaut. Und gib nicht mir die Schuld daran, dass meine Mutter so exzentrisch ist. Sie war schon immer …“

In dem Moment kam ihre Mutter mit einem Tablett in den Händen um die Ecke. „So, jetzt kann es losgehen. Eistee für Meghan und mich, ungesüßter Tee für Margaret Diane und genügend Kekse, dass wir alle – sogar die Hunde – ein paar davon bekommen können. Ich habe allerdings nicht die Absicht, mit den Kötern zu teilen, und ich rechne auch nicht damit, dass meine Tochter davon essen wird.“ Sie zog ihre immer noch dunklen Augenbrauen in Meghans Richtung hoch und bemerkte: „Sie macht sich viel zu viele Sorgen um ihre Figur, um auch nur eine leere Kalorie zu sich zu nehmen.“

Diane warf Meghan einen Blick zu, von dem sie hoffte, dass er vermittelte: Siehst du? Sie hackt auch auf mir herum.

Meghan lächelte, wenn auch ein wenig angestrengt, und entgegnete: „Aber du musst auch zugeben, dass Mama fantastisch aussieht, Großmama – viel besser als viele Frauen, die nur halb so alt sind wie sie. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie oft wir schon gefragt worden sind, ob wir Schwestern sind.“ Diane hätte am liebsten vor Freude in die Luft geboxt, denn Meghan hatte sie verteidigt – doch das tat sie nicht, weil sie ihre kleinen Gefährten nicht erschrecken wollte, und so lächelte sie nur selbstzufrieden.

Ihre Mutter stellte das Tablett auf den Couchtisch und nahm sich ein Glas Eistee. „Ja, meine Margaret Diane war immer eine Schönheit. Schon als Kind.“ Sie stellte das Glas hin und schaute Diane mit ihren braunen Augen intensiv an. „Ein schönes Kind ist ein Segen“, sagte sie. Doch dann verzerrte ein schmerzlicher Ausdruck ihr Gesicht und sie fuhr fort: „Und eine Last.“

Mitte Juli 1943 Cumpton, Arkansas

Hazel Mae

Hazel saß mit Maggies Puppe im Arm in der Nähe des Brombeergebüschs im Gras. Durch den Wald schallten Dutzende von Stimmen, die Maggies Namen riefen.

„Ich wette, die Zigeuner haben sie mitgenommen. Das ist doch schon vorgekommen  – sogar zweimal hier im County –, erinnert ihr euch nicht? Der kleine Junge, noch ein Baby, damals vor drei Jahren drüben bei Beaty, und ein kleines Mädchen im selben Alter wie Maggie Blackwell ist in Gravette verschwunden. Sie holen immer die Hübschen.“ Die unheilvolle Bemerkung wurde von der anderen Seite des Brombeergebüschs zu ihr herübergetragen, wo eine Gruppe von Frauen zusammenstand, die Mama ihre Hilfe anbieten wollten. Hazel fröstelte, obwohl die Luft auch jetzt am Abend noch heiß und feucht war.

„Sag doch sowas nicht, Nora. Oder willst du, dass die Mama der Kleinen es hört?“, fragte ihre Nachbarin Mrs Crudgington die Waisenhausdirektorin in scharfem Ton.

Doch Mrs Burton schnaubte nur leise und erklärte: „Sie ist beim Pfarrer und seiner Frau bei deren Wagen an der Straße. Sie können uns also ganz sicher nicht hören.“

„Trotzdem … es gab keine Beweise dafür, dass die Zigeuner etwas mit dem Verschwinden der beiden Kinder zu tun hatten.“ Und eine andere Frau sagte: „In diesen Wäldern hier können schlimme Sachen passieren.“

Hazel kamen die Tränen, aber sie blinzelte sie weg. So viele schlimme Sachen konnten passieren … zum Beispiel, dass eine Schlange, die hinter Babykaninchen her war, eine große Schwester dazu brachte, ihre kleine Schwester aus den Augen zu lassen.

„Aber hat Simon Krunk nicht erzählt, dass er erst vor zwei Tagen eine ganze Wagenladung von Zigeunern aus der Stadt verscheucht hat? Wer sagt denn, dass sie nicht irgendwo im Wald ihr Lager aufgeschlagen haben?“, bemerkte Mrs Burton in besserwisserischem Ton. „Es kann doch sein, dass sie die Mädchen gesehen haben, als sie die Straße entlangkamen, und dann haben sie auf eine Gelegenheit gewartet, um sich die Kleine zu schnappen. Es weiß doch jeder, wie schlau und gerissen diese Leute sind. Die Ältere hätte bestimmt gar nicht gemerkt, wenn sich jemand im Gebüsch versteckt hätte.“

„Aber wenn es Zigeuner waren, hätten sie doch beide Mädchen mitgenommen“, erklärte Mrs Crudginton daraufhin, klang aber nicht besonders überzeugt.

„Hazel Mae haben sie bestimmt nicht gewollt, weil sie schon so groß ist, aber die kleine Maggie …“

Mehr wollte Hazel nicht hören. Sie sprang auf und entfernte sich von dem Gebüsch, nur weg von dem Gerede der Frauen. Sie wollte zu Mama, aber auf halbem Weg zur Straße blieb sie stehen. Sie sah, dass der Pfarrer Mama beiseitegenommen hatte, um zu beten, und dabei wollte sie nicht stören. Also ging sie dort im Gras auf die Knie und senkte den Kopf.

Sie sagte Gott, wie leid es ihr täte, dass sie Maggie allein gelassen hatte, und bat ihn, den Männern doch zu helfen, sie zu finden. Die Suchtrupps hatten inzwischen einen von Maggies Schuhen am Ufer des Purcell’s Creek gefunden und Hazel hatte immer noch das Haarband in ihrer Tasche. Sie zuckte richtig zusammen, als ihr wieder einfiel, dass sie das Haarband in Schulterhöhe an dem Ast gefunden hatte. Wenn Maggie dort einfach nur entlanggegangen war, dann hätte das Band nicht so hoch hängen können. Jemand musste sie getragen haben.

Mrs Burton hatte bestimmt recht. Ihre niedliche blonde, blauäugige kleine Schwester war von Zigeunern mitgenommen worden. Sie würde Maggie nie wiedersehen. Hazel verbarg ihr Gesicht in den lockigen Haaren der Puppe und drückte die Puppe so fest an sich, wie sie jetzt gern ihre kleine Schwester an sich gedrückt hätte.

Gegenwart Kendrickson, Nevada

Diane

Diane nahm ihrer Mutter das mit einer Zitronenscheibe dekorierte Glas aus der Hand und musste richtig fest zupacken, weil es beschlagen und deshalb rutschig war. „Wie kann denn ein hübsches Kind eine Last sein?“, fragte sie.

Ihre Mutter wandte sich ab und gab Meghan ein Glas Eistee. „Du würdest dich wundern“, sagte sie.

„Ich nehme an, du denkst dabei an diese Geschichte, als du mich damals aus dem Fußballstadium der Junior Highschool gezerrt hast, nur weil ein Junge aus der Oberstufe stehen geblieben war, um mit mir zu flirten.“ Damals wäre Diane vor Scham am liebsten im Boden versunken, und auch jetzt noch, nach all den Jahren, brannte die Scham dieser Demütigung. „Auf dem gesamten Heimweg hat sie mir dann einen Vortrag darüber gehalten, wie gefährlich es ist, mit Fremden zu sprechen“, erklärte sie Meghan und trank einen Schluck von ihrem kalten Tee, um ihren Ärger etwas abzukühlen. „Mutter hatte schon immer einen Hang zu Überreaktionen.“

Meghan nahm einen Keks vom Teller und biss hinein.

Ihre Großmutter saß in ihrem Sessel und balancierte ihr Eisteeglas auf einem Knie. „Ich finde nicht, dass es eine Überreaktion ist, wenn man sein Kind vor einer potenziell gefährlichen Situation schützen will.“

„Potenziell gefährlich? Das ist nicht dein Ernst, oder?“ Diane lachte, weil sie einfach nicht anders konnte. Du liebe Güte, sie war damals ein Mädchen von dreizehn Jahren gewesen, das die Aufmerksamkeit eines gut aussehenden Jungen genossen hatte. Und es war nicht mehr passiert, als dass sie am Rande der Tribüne und in aller Öffentlichkeit ein paar Worte miteinander gewechselt hatten.

Sie schob Ginger und Miney von ihrem Schoß und stellte ihr Glas zurück auf das Tablett. „Als Meghan dreizehn war, habe ich sie allein zu Fuß zur Schule gehen lassen und ihr erlaubt, mit ihren Freundinnen ins Kino zu gehen … ohne Begleitung Erwachsener. Hast du jemals das Gefühl gehabt, in Gefahr zu sein, Meghan?“

Die biss noch einmal von dem Keks ab, und ihr Blick ging zwischen Diane und ihrer Großmutter hin und her.

Diane schüttelte den Kopf. „Gut, dann sag eben nichts. Aber eines sage ich dir, Mutter: Ich habe sie zu einem unabhängigen, selbstständigen Kind erzogen, aus dem eine ausgeglichene, verantwortungsbewusste Erwachsene geworden ist. Und das habe ich geschafft, ohne ständig über ihr zu kreisen wie ein … Helikopter.“ Ein seltsames Lächeln umspielte jetzt den einen Mundwinkel ihrer Mutter.

Diane runzelte die Stirn. „Was soll denn das jetzt wieder bedeuten?“

„Was?“

„Dieses Lächeln.“

„Ich lächle nicht.“

Diane schnaubte nur leise und widersprach. „Doch, tust du wohl.“

Ihre Mutter trank einen Schluck Tee und sagte dann: „Also gut, ich lächle. Ich will dich ja gar nicht provozieren, Margaret Diane, aber ich finde deine letzte Bemerkung ziemlich amüsant.“

„Amüsant?“ Sie spürte, wie Zorn in ihr aufstieg, und das merkten anscheinend sogar die Hunde, denn sie begannen zu wühlen und stupsten sie mit ihren langen Nasen an. Sie tätschelte die Tiere beruhigend und schaute dabei ihre Mutter finster an. „Und warum?“

Ihre Mutter stellte das Teeglas wieder ab und legte ihre Hände auf die Sessellehnen wie eine Königin auf ihrem Thron. „Im Moment bist du diejenige, die wie ein Helikopter über uns kreist, um einen Keil zwischen Meghan und mich zu treiben“, sagte sie mit trauriger Miene. Dann fuhr sie fort: „Ich vermute, dass genau das deine Absicht war, als du unangekündigt und unerwartet zur selben Zeit wie Meghan gekommen bist. Habe ich recht?“

Kapitel 4

Hazel

Als sie an dem Morgen die Tür geöffnet hatte und ihre Tochter auf der Terrasse stand, hatte Hazels Herz vor Freude einen Satz gemacht. Sie hatte die Arme ausgebreitet, um Margaret Diane an sich zu drücken, aber die war einfach an ihr vorbei ins Haus gerauscht und hatte eine Hundetransportbox auf dem Teppich abgestellt. Hinter dem Drahtgitter konnte Hazel Knopfaugen und eine lange, spitze Schnauze ausmachen und sie schauderte. Statt ihre Tochter freundlich zu begrüßen, fragte sie barsch: „Du hast einen Hund mitgebracht?“

„Nein, ich habe mehrere Hunde mitgebracht“, korrigierte Diane sie.

Und das hatte sie in der Tat, vier Stück insgesamt, obwohl sie wusste, dass Hazel Tiere nicht ausstehen konnte, und zwar weder im Haus noch im Garten. Aber Diane war schon immer eine Rebellin gewesen – trotz aller Bemühungen von Hazel, sie zu zähmen. Noch ein Punkt, an dem sie versagt hatte. Hazels Blick fiel auf die versteinerte Miene ihrer Tochter, und sie sagte sanft und freundlich, aber auch sehr müde: „Mal ehrlich. Bist du gekommen, um zu verhindern, dass ich ein bisschen ungestörte Zeit mit Meghan habe?“

„Ich bin doch schon immer eher ein Störfaktor in deinem Leben gewesen, Mutter, nicht wahr?“

Die scharfen Worte ihrer Tochter versetzten Hazel einen Stich, zum Teil, weil sie so gallig klangen, aber auch, weil sie einen Funken Wahrheit enthielten. Hazel seufzte. „Egal, was du glaubst, ich habe dich immer geliebt.“

Margaret Diane schnaubte nur – kein sehr damenhaftes Geräusch.

„Und du hast meine Frage nicht beantwortet“, sagte Hazel.

„Tut mir leid“, sagte Diane abwesend, während sie den beerenfarbenen Nagellack auf ihren mandelförmigen Nägeln inspizierte. „Was war noch mal gleich die Frage?“

Diese Frechheit bewirkte, dass Hazel endgültig der Geduldsfaden riss. Sie schlug auf die Armlehne des Sessels, und zwar so heftig, dass sie die Erschütterung bis hinauf zum Ellbogen spürte. „Margaret Diane, es gibt Momente, da …“

Doch da ließ Meghan den letzten Bissen ihres Kekses zurück auf den Teller fallen und wedelte mit den Armen wie ein Schiedsrichter. „Jetzt hört schon auf! Ich bin noch keine halbe Stunde hier und fühle mich schon jetzt wie ein Strick zwischen zwei Pferden, die in entgegengesetzte Richtung laufen.“

Hazel ließ den Kopf hängen. Wie hatte sie sich nur zu einem so kindischen Wortwechsel hinreißen lassen können? Dadurch erreichte sie gar nichts, nur dass die Kluft zwischen ihr und ihrem einzigen Kind noch tiefer wurde. Herr, vergib mir.

Vielleicht sollte sie auch Margaret Diane um Vergebung bitten, aber Stolz – und Angst vor Zurückweisung – sorgten dafür, dass sie es doch nicht tat.

Sie strich Meghan übers Knie und sagte: „Tut mir leid, Liebes. Du hast ja recht. Dieses Gezänk muss wirklich aufhören.“

„Ich würde es nicht als Gezänk bezeichnen“, sagte Meghan und warf erst ihrer Großmutter und dann ihrer Mutter einen finsteren Blick zu, „sondern eher als Krieg. Einen Krieg, bei dem es nur Verlierer gibt. Unter anderem auch mich.“

Zum ersten Mal war im Blick von Margaret Dianes braunen Augen Bedauern zu erkennen, als sie sich abwandte und mit langsamen gleichmäßigen Bewegungen die Hunde streichelte.

Meghan ließ sich nach hinten in die Sofapolster fallen, so als wäre sie zu müde, weiter aufrecht zu sitzen. „Ich meine … also wirklich, Mama, hättest du Großmama denn nicht sagen können, weshalb du hier bist? Ich habe jedenfalls nicht mit dir gerechnet. Als ich dich vorgestern angerufen habe, um dir die Flugdaten durchzugeben, da hast du zwar gesagt, du seist unterwegs, aber du hast mit keinem Wort erwähnt, dass du nach Nevada wolltest. Warum hast du mir denn nichts davon gesagt?“