Like Storms We Collide - Der Geschmack von Sommerregen - Julie Leuze - E-Book
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Like Storms We Collide - Der Geschmack von Sommerregen E-Book

Julie Leuze

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Beschreibung

Die Farbe der Hoffnung … Der berührende Young-Romance-Roman »Like Storms We Collide« von Julie Leuze jetzt als eBook bei dotbooks. Schon immer hat Sophie sich anders gefühlt – schließlich nimmt niemand sonst Gefühle als leuchtende Farben wahr. So explodiert Sophies ganze Welt plötzlich in Himmelblau mit goldenen Funken, als sie Mattis kennenlernt, der neu in die Nachbarschaft gezogen ist. Doch fühlt er dasselbe für sie? Und wie könnte sie ihm jemals erklären, was ihr Geheimnis ist? Schließlich ist das Thema in Sophies eigener Familie ein Tabu. Doch dann findet sie die alten Tagebücher ihrer Großmutter, die sie nie kennenlernen durfte, und beginnt zu begreifen, dass Anne ebenfalls in einer Welt der Farben lebte … wofür sie schließlich den härtesten Preis zahlen musste. Wird Sophie es dennoch wagen, für sich selbst einzustehen – und haben ihre tiefen Gefühle für Mattis eine Chance? Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Young-Adult-Roman »Like Storms We Collide« von Julie Leuze ist bereits unter dem Titel »Der Geschmack von Sommerregen« erschienen und als bester Liebesroman mit dem DELIA-Preis ausgezeichnet worden. Fans von Colleen Hoover und Nikola Hotel werden begeistert sein. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 317

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Über dieses Buch:

Schon immer hat Sophie sich anders gefühlt – schließlich nimmt niemand sonst Gefühle als leuchtende Farben wahr. So explodiert Sophies ganze Welt plötzlich in Himmelblau mit goldenen Funken, als sie Mattis kennenlernt, der neu in die Nachbarschaft gezogen ist. Doch fühlt er dasselbe für sie? Und wie könnte sie ihm jemals erklären, was ihr Geheimnis ist? Schließlich ist das Thema in Sophies eigener Familie ein Tabu. Doch dann findet sie die alten Tagebücher ihrer Großmutter, die sie nie kennenlernen durfte, und beginnt zu begreifen, dass Anne ebenfalls in einer Welt der Farben lebte … wofür sie schließlich den härtesten Preis zahlen musste. Wird Sophie es dennoch wagen, für sich selbst einzustehen – und haben ihre tiefen Gefühle für Mattis eine Chance?

Über die Autorin:

Julie Leuze, geboren 1974, studierte Politikwissenschaften und Neuere Geschichte in Konstanz und Tübingen, bevor sie sich dem Journalismus zuwandte. Mittlerweile widmet sie sich ganz dem Schreiben von Romanen für Erwachsene, Young Adults und Kinder. Ihr Roman »Der Geschmack von Sommerregen« wurde 2014 als bester deutschsprachiger Liebesroman durch den Delia-Preis ausgezeichnet. Julie Leuze lebt mit ihrer Familie in Stuttgart.

Mehr zur Autorin: www.julie-leuze.com

Bei dotbooks veröffentlichte Julie Leuze auch ihren historischen Liebesroman »Regency Dance – Einladung zum Ball« sowie ihre Young-Romance-Romane »Dreams like the Ocean – Herzmuschelsommer«, »Only the Stars between Us – Das Glück an meinen Fingerspitzen« und »Like Waves We Dance – Sternschnuppenträume«.

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eBook-Neuausgabe März 2024

Dieses Buch erschien bereits 2018 unter dem Titel »Der Geschmack von Sommerregen« bei 26|books.

Copyright © der Originalausgabe 2018 26|books, Bert-Brecht-Weg 13, 71549 Auenwald

Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Covergestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (mm)

ISBN 978-3-98690-931-4

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Julie Leuze

Like Storms We Collide –Der Geschmack von Sommerregen

Roman

dotbooks.

Kapitel 1

Der Neue schwappt himmelblau über mich hinweg, mit Spuren von Schwarz und glitzernden Funken aus tiefem, geheimnisvollem Gold. Ich blinzele verwirrt. Diese Farbkombination hatte ich noch nie auf meinem inneren Monitor, und es gelingt mir nicht, sie einzuordnen.

»Gott, ist der süß!«, flüstert Lena neben mir entzückt.

»Hammer«, murmelt Vivian von schräg hinten.

Verstohlen mustere ich den Jungen, der mir die goldblauen Wellen beschert hat: Er hat schulterlanges, schwarzbraunes Haar. Dunkle, leicht schräg stehende Augen. Lippen, die man nur als sinnlich bezeichnen kann. Groß ist er und schlank, unter seinem Shirt erahnt man die Muskeln. Zugegeben, »hammer« trifft sein Aussehen ziemlich genau. Ich schlucke, in mein Himmelblau mischen sich Tinte und aufgeregte, hellrote Funken.

Lässig geht er durch die Stuhlreihen nach hinten, wobei er die Blicke der anderen gar nicht wahrzunehmen scheint. Flüchtig schaue ich mich um: Die Jungs der Klasse wirken neugierig, die Mädchen hingerissen. Von seinem Gesicht, seinem Gang, den coolen Klamotten, die er trägt. Man sieht dem Neuen an, dass er aus der Großstadt kommt. Solche Shirts und Jeans bekommt man nicht in Walding, und Chucks wie die seinen sind Herrn Roser, dem Besitzer unseres einzigen Schuhladens, schon im letzten Herbst ausgegangen.

Er schlendert an mir vorbei, ohne mich zu beachten, und setzt sich auf den einzigen freien Platz, neben Klassenstreber Fabian. Mein Herz klopft, die hellroten Funken stieben, und ich ärgere mich. Warum bringt dieser Typ mich so aus der Fassung? Er hat mich keines Blickes gewürdigt!

Wieso auch, denke ich und kaue am Ende meines Bleistifts. Jungs wie er bemerken Mädchen wie mich grundsätzlich nicht. Ich bin nur Sophie, die Kleine mit den zu dichten Augenbrauen und dem Hang zum Irrsinn. Über Ersteres lacht die halbe Klasse. Über Letzteres nicht, weil niemand etwas von dem Farben-Chaos in meinem Inneren ahnt.

Und das soll auch so bleiben.

»Hey, Sophie!«, zischt Lena. »Wolltest du dir das nicht abgewöhnen? Runter mit dem Stift!«

Ertappt lasse ich den Bleistift sinken. Ich sehe aus wie eine verängstigte Zehnjährige, wenn ich so verloren auf dem Holz herumknabbere, nicht wie die Sechzehnjährige, die ich bin. Außerdem geht meine schlechte Angewohnheit langsam ins Geld: Alle paar Tage muss ich die peinlich zerkauten Dinger austauschen.

»Danke, Lena«, flüstere ich. »Was täte ich nur ohne dich?«

»Einen Bleistift-Großhandel ausrauben?«, schlägt Lena vor.

Sie lacht leise, streicht sich eine blonde Locke hinters Ohr und sieht dabei aus wie ein herzensguter, etwas zu mollig geratener Engel. Ich schaue in ihre blauen Augen, sehe die Zuneigung darin. Sofort fühle ich mich besser. Seit ich denken kann, ist Lena meine beste Freundin, und ich kann mir nicht vorstellen, dass sich das jemals ändert. Nicht, solange sie nur meine Fassade kennt.

»Was gibt es denn so Interessantes zu bereden, junge Damen?«, ertönt die miesepetrige Stimme von Herrn Müfflingen. Junge Damen! So nennt unser Bio-Lehrer seine Schülerinnen wahrscheinlich schon, seit er vor geschätzten hundertfünfzig Jahren an diesem Gymnasium angefangen hat. »Lena, Sophie, lasst uns doch bitte an eurer Unterhaltung teilhaben, sofern sie den Biologie-Unterricht betrifft. Wenn nicht, wovon ich wohl ausgehen muss, darf ich doch sehr um Ruhe bitten!«

Wir schauen ihn ergeben schweigend an. Seine Augenlider zucken, wie immer, wenn er sich ärgert – und Herr Müfflingen ärgert sich oft. Nicht nur über Lena und mich.

Er dreht sich wieder zur Tafel um und kritzelt etwas darauf. Dann schaut er noch einmal über die Schulter zu seiner missratenen Klasse. »Ach ja, euer neuer Mitschüler heißt Mattis Bending. So, und jetzt zurück zur Genetik.«

Mattis Bending, denke ich. Mattis. Gefällt mir.

Eine weitere glitzernde, himmelblaue Welle baut sich in mir auf, bevor sie sich an den Rändern meines Monitors bricht und langsam, ganz langsam verblasst. Seufzend beuge ich mich über mein Blatt, um mich Chromosomen und Zellkernen zu widmen.

Als wir die Hauptstraße entlang nach Hause gehen, ist es zum ersten Mal in diesem Jahr warm genug fürs Freibad. Seit zwei Tagen hat es geöffnet, und Lena fragt mich, ob wir die Bade-Saison heute Nachmittag einläuten wollen.

»Du kennst meinen neuen Bikini noch gar nicht«, sagt sie. »Ist zwar wieder mal in Elefantengröße, aber mir gefällt er trotzdem.«

Ihr Blick bleibt an dem H&M-Plakat hängen, das die Bushaltestelle neben der Post verschönert. Eine sonnengebräunte Schönheit ohne Bauch, aber mit Körbchengröße Y schaut verführerisch zu uns herab. Ihr Bikini besteht aus drei winzigen Fetzen Stoff mit Leopardenmuster.

»So scharf sehe ich natürlich nicht aus«, sagt Lena ernüchtert. Sie wirft ihre blonden Locken zurück und stapft hoch erhobenen Hauptes an dem Plakat vorbei. Beinahe trotzig sieht sie aus, und ich weiß, sie denkt an die fünf Extrakilo, die sie seit Monaten loszuwerden versucht. Bislang vergeblich, was unter anderem an der deftigen Küche ihrer Mutter liegen dürfte. Eine Diät, bei der jede Woche Schweinebraten, Kraut und Knödel auf dem Plan stehen, gibt es nun mal nicht.

Ich nehme ihre Hand und drücke sie. »Ach komm, vergiss dein Gewicht. Leon ist trotzdem hin und weg von dir, oder?«

»Glaubst du wirklich?« Lenas Gesicht hellt sich auf. »Vielleicht sollte ich mal mit ihm ins Kino gehen. Du weißt schon, Küsse im Dunkeln und so … Auch wenn ich zugeben muss, dass Leon nicht ganz so gut aussieht wie der Neue, dieser Mattis.«

»Hm«, mache ich unverbindlich. Keine Ahnung, warum, aber ich will nicht über Mattis reden. Vielleicht, weil ich sein Blau nicht einordnen kann. Normalerweise gehen Gefühl und Farbe bei mir Hand in Hand, das eine erklärt das andere. Dass es diesmal nicht so ist, verwirrt mich.

Die Rosskastanien vor der Zwiebelturmkirche stehen in voller Blüte, zwischen maigrünen Blättern strecken sich weiße und rosarote Kerzen in den schäfchenbewölkten Himmel. Das Ganze sieht so bayerisch aus, dass zwei asiatische Touristen mit umgehängten Kameras stehen bleiben und anfangen, wie wild zu knipsen. Lena lacht und verdreht die Augen.

Ich hingegen nehme mir vor, genau das heute Nachmittag ebenfalls zu tun: mit der Kamera loszuziehen. Ich werde nicht ins Freibad gehen, sondern alles fotografieren, was mir vor die Linse kommt und nicht gerade ein Mülleimer ist. Denn wenn ich fotografiere, bin ich ganz auf den Augenblick konzentriert. Dann schaffe ich es, alles um mich herum zu vergessen.

Sogar coole Neue aus München, blaue Glitzerwellen und Geheimnisse, die ich schon ein Leben lang mit mir herumschleppe.

Kapitel 2

Meine Mutter schaut durchs Küchenfenster, als ich das Gartentor öffne und die zwei Meter bis zur Haustür gehe. Noch bevor ich den Schlüssel ins Schloss stecken kann, macht sie mir auf.

»Essen ist gleich fertig«, sagt sie und lächelt. »Ich habe auf der Terrasse gedeckt. Wasch dir schon mal die Hände, ja?«

Ihre Fürsorge nervt mich, gleichzeitig bin ich irgendwie gerührt. Sie behandelt mich immer noch wie ein Kind. Ich zwinge mich, ihr Lächeln zu erwidern, und werfe meinen Rucksack in den Flur.

»Ich habe gehört, ihr habt einen Neuen?«, ruft sie, nun wieder aus der Küche.

Ich folge ihr.

»Da war das Buschtelefon aber schnell«, sage ich betont lässig, während ich denke: Warum will alle Welt mit mir über Mattis reden?

»Christa ist nicht umsonst im Elternbeirat. Alles, was am Gymnasium vor sich geht, weiß sie als Erste.« Mama zwinkert mir zu und rührt die Tomatensoße um, dann gießt sie die Nudeln ab.

Christa Landegger ist Lenas Mutter, Mamas Freundin und unsere Nachbarin. Das Haus der Landeggers grenzt direkt an unseres, zwischen den Gärten steht nicht einmal ein Zaun. Lediglich eine Doppelreihe hoher, schwarzer Tannen trennt die Grundstücke unserer Familien voneinander ab. Früher, als Lena und ich noch im Kindergarten waren, haben wir unter diesen Tannen »im Wald verirrte Waisenkinder« gespielt. Später gestanden wir uns, in wen wir verliebt waren, noch später, wen wir geküsst hatten. Und als ich nach einer grässlichen Stunde in Noah Brunners Zimmer keine Jungfrau mehr war, erzählte ich Lena tränenüberströmt in unserem Tannenversteck auch dies.

»Und?«, reißt Mama mich aus meinen Gedanken und greift nach der Sauciere. »Wie ist er so, der Neue?«

»Blau«, erwidere ich abwesend.

Sofort beiße ich mir auf die Zunge, doch es ist bereits zu spät. Meine Mutter erstarrt, nur die Sauciere in ihrer Hand zittert.

»Blau«, wiederholt sie und klingt dabei so vorwurfsvoll, dass mein Trotz erwacht.

»Ja, Mama.« Ich schaue ihr in die Augen. »Himmelblau.«

Abrupt dreht sie sich zur Spüle, stützt sich mit den Händen auf und schaut durchs Fenster in den Wald, der dicht und dunkel unsere Straße säumt. Sie atmet ein paarmal tief durch.

Dann schaut sie mich an. »Du weißt, dass du dir diese Farben in deinem Inneren nur einbildest. Du darfst sie nicht beachten. Das weißt du doch, oder? Sophie? Sollen dich die Leute für verrückt halten?«

Ich presse die Lippen aufeinander, winde mich unter ihrem Blick. Ich weiß, sie will mich davor bewahren, dass ich wie meine Oma ende. Die ich nie kennengelernt habe. Oma Anne, der Schandfleck. Das große Tabu unserer Familie.

Stumm schaut meine Mutter mich an, wartet auf meine Antwort, und ich schäme mich, weil ich es nicht fertigbringe, sie zu beruhigen. Die Scham wächst an, auf meinem Monitor flammt ein überwältigendes, stacheliges Pink auf. Einbildung, hämmere ich mir ein, dieses Pink ist nur Einbildung, du kannst es ignorieren, dann verschwindet es wieder.

Nur dass diese Strategie noch kein einziges Mal funktioniert hat.

Mama kommt einen Schritt auf mich zu, ergreift meine Hand. »Sophie«, sagte sie beinahe flehentlich, »du darfst diesen … Dingen keine Beachtung schenken. Wenn du dich hineinsteigerst, wird es nur schlimmer.«

Schlimmer?

Plötzlich habe ich Angst.

»Werde ich verrückt, Mama? Bin ich verrückt?« Meine Stimme klingt rau, in mir toben stumpfes Oliv und durchsichtige Schlieren, die meinen Monitor aussehen lassen wie verschmutztes Glas.

Sie zieht mich zu sich heran, umfängt mich mit ihren warmen, weichen Armen, und ich kuschele mich an sie wie früher.

»Nein«, flüstert sie. »Nein, Sophie. Du musst nur immer daran denken, dass Einbildungen nicht die Wirklichkeit sind.«

Ich habe das Gefühl, an ihren Worten zu ersticken. Denn ich bilde mir meine Farben nicht ein, genauso wenig, wie ich mir Mamas Stimme einbilde oder ihren leichten Duft nach Lavendel. Mein innerer Monitor gehört zu mir wie meine Geschmacksknospen, meine Sehnerven und mein Tastsinn. Aber wenn ich das so fest glaube – bin ich dann nicht doch verrückt? Sehe ich Farben, wie andere Irre körperlose Stimmen hören? Werde ich morgen den Kontakt zur Realität verlieren, um übermorgen meiner Familie mit dem Fleischermesser aufzulauern?

Mein Nacken kribbelt, ich ringe nach Luft. Die Angst vor dem, was da möglicherweise in mir schlummert, verdichtet sich zu einem widerlichen, zähen Grau, bis mein innerer Monitor wie mit Kaugummi überzogen ist. Ich reiße mich von Mama los und renne aus der Küche, ignoriere die offene Tür zur Terrasse, wo sie fürs Mittagessen gedeckt hat. Ich hetze hoch in mein Zimmer, und erst als die Tür mit einem Knall hinter mir zufällt und ich mich aufs Bett werfe, kann ich allmählich wieder atmen.

Ich liege auf dem Rücken und starre an die Zimmerdecke.

Und frage mich zum tausendsten Mal, warum ich nicht einfach normal sein kann.

Zwanzig Minuten später habe ich mich beruhigt und schleiche die Treppe runter, um mich zu meiner Mutter auf die Terrasse zu setzen.

»Tut mir leid«, nuschele ich und schiebe mich auf meinen Stuhl.

Sie lächelt, einen Rest Besorgnis in den Augen. »Schon in Ordnung. Geht’s dir besser, mein Spatz?«

»Klar«, lüge ich und fange an, meine kalten Nudeln zu essen. »War ein bisschen anstrengend heute in der Schule. Wahrscheinlich war ich deshalb so durch den Wind.«

»Aber du hattest doch nur sechs Stunden«, sagt sie, ein halbherziger Versuch, uns beide auf dem schmalen Grat der Wahrheit zu halten.

Ich zucke mit den Schultern und schiebe mir so viele Nudeln in den Mund, dass ich unmöglich antworten kann.

»Na ja«, gibt Mama sich die Antwort selbst, »vielleicht brauchst du einfach mal eine Pause. Die elfte Klasse ist anstrengend, was? Ihr habt aber auch wirklich viel zu lernen dieses Jahr, bei uns damals war das lockerer. Bald sind Pfingstferien, da ruhst du dich schön aus!«

Pfingstferien – allein das Wort erfüllt mich mit freudigem Zitronengelb und entspanntem, cremigem Weiß, während Mama arglos weiter plappert. Wenn sie wüsste, was da schon wieder in mir abgeht, würde sie ausflippen.

Ich unterdrücke den Drang, ehrlich zu sein, und sage bloß: »Nach den Hausaufgaben gehe ich raus, fotografieren.«

»Für deine AG?«

»Auch.«

Mama nickt, lächelt. Seit ich in der Foto-AG bei Frau Schöller bin, wird mein einsames Hobby von meinen Eltern nicht nur akzeptiert, sondern sogar gefördert. Frau Schöller hat mir schon nach den ersten zwei Wochen ein außergewöhnliches Talent bescheinigt, hat vom künstlerischen Ausdruck meiner Fotos und von meinem Blick für Details geschwärmt. Daraufhin habe ich zu Weihnachten eine Digitalkamera geschenkt bekommen.

Der Sturm ist vorbei, in der Atmosphäre unserer Familie herrscht, passend zum Maiwetter, wieder Sonnenschein. So, wie meine Mutter es gern hat. Ich esse meine Nudeln auf, und Mama zieht sich einen zweiten Stuhl heran, um die Beine darauf zu legen und sich nach den Mühen ihres Hausfrauen-Vormittags zu entspannen. Flüchtig registriere ich, dass sie weiße Socken zu Trekkingsandalen trägt, zu so etwas ist auch nur meine Mutter imstande, mit ihrem völligen Mangel an Eitelkeit. Ich betrachte sie, wie sie da sitzt, das Gesicht mit den geschlossenen Augen der Sonne zugewandt. Das helle Mittagslicht bringt jede einzelne ihrer Falten erbarmungslos zur Geltung, fängt sich in ihrem ergrauenden Haar, und mir schießt durch den Kopf, dass sie ziemlich alt aussieht für ihre fünfundvierzig Jahre. Der Gedanke versetzt mir einen Stich. Früher fand ich meine Mutter einfach nur schön.

Als ich aufstehe und die Teller abräume, öffnet sie ein Auge.

»Bevor du in dein Zimmer gehst, Sophie … Papa erzählen wir lieber nichts von dem, was du vorhin gesagt hast, ja? Wir wollen ihn nicht unnötig beunruhigen. Es ist ja vorbei.«

Wenn du wüsstest,denke ich, doch ich nicke. Für heute hatte ich genug Stress wegen dieses verdammten Himmelblaus. Wenn Mama glauben will, dass es vorbei ist, dann soll sie das ruhig glauben.

Auf eine Lüge mehr oder weniger kommt es auch nicht mehr an.

Kapitel 3

Das Wetter bleibt warm und schön, und am Sonntag gehen Lena und ich endlich ins Freibad. Als wir an der Kasse stehen, sehen wir Vivian, die aus ihrem weißen Mini steigt und in bauchfreiem Top, Hotpants und High-Heels auf uns zustöckelt.

»Gott sei Dank hat sie das Auto«, lästere ich. »Auf den Schuhen hätte sie die fünfhundert Meter von ihrem Haus bis hierher niemals geschafft.«

»Genau das richtige Outfit, um am Dorfrand schwimmen zu gehen«, ätzt Lena.

Wir neigen eigentlich nicht dazu, schlecht über andere zu reden. Aber keine Regel ohne Ausnahme – bei Oberzicke Vivian und ihrer Freundin Bernice können wir nicht anders.

Leon aus der 11 b, dem Lena erlaubt hat, uns zu begleiten, lacht. Er sieht süß aus mit seinen Grübchen, den blitzenden grünen Augen und dem wuscheligen Haar. Ich kann verstehen, dass Lena auf ihn steht, und hoffe nur, dass er es ernst mit ihr meint. Den ganzen Weg hierher haben die beiden jedenfalls geflirtet, was das Zeug hält.

»Mir gefällt dein Outfit besser als Vivians«, sagt Leon und legt mutig seinen Arm um Lenas Schultern.

»Ach ja?« Lena blickt an ihrem T-Shirt und dem knielangen Rock hinunter, dann schaut sie Leon in die Augen und zieht dabei eine Braue hoch. Es soll spöttisch aussehen, aber ich kenne sie gut genug, um zu wissen, wie sie sich in Wirklichkeit fühlt: verdammt unsicher angesichts Vivians Top-Figur, ihrer langen schwarzen Haare und der Tatsache, dass sie mit ihren achtzehn Jahren viel fraulicher und verführerischer wirkt als wir. »Es gibt also tatsächlich Jungs, die auf Modell Kuschelbär abfahren statt auf sexy Vamps wie Vivian?«

»Offensichtlich. Einer davon steht vor dir. Aber hey, als Kuschelbär würde ich dich trotzdem nicht bezeichnen, dafür bist du viel zu hübsch.«

Leon schaut auf Lenas Mund, während er das sagt, und ihm ist deutlich anzusehen, dass er keine Lust hat, sich mit Vamps und Kuschelbären zu beschäftigen. Er hat Lust, Lena zu küssen, und zwar sofort.

Und er tut es.

Ich wende mich ab, verkneife mir ein breites Lächeln. Wie es scheint, braucht Lena nicht mit Leon ins dunkle Kino zu gehen, um ihn sich zu angeln. Er hängt bereits fest an ihrem Haken.

»Hallo.« Vivian hat uns erreicht, schenkt uns einen herablassenden Blick und schaut sich dann suchend um. »Habt ihr Bernice irgendwo gesehen?«

Bernice ist Vivians hellblondes Gegenstück und besetzt in unserer Klasse die Position der Oberzicke Nr. zwei.

»Börny?« Leon schüttelt den Kopf. »Nein. Wahrscheinlich steht sie noch daheim vor dem Spiegel und schminkt sich für ihren großen Auftritt im Nichtschwimmerbecken.«

»Sehr witzig.« Vivian funkelt ihn an. »Und nenn sie nicht Börny, ich hasse das. Sie heißt Börnieß.«

Leon grinst nur.

Vivians Blick gleitet über Leon und Lena. Erst jetzt scheint sie zu registrieren, dass er Lena im Arm hält. »Seit wann seid ihr beiden denn zusammen?«

»Seit wann geht ausgerechnet dich das was an?«, schnappt Lena zurück. Bei Vivian wird meine engelsgleiche Freundin regelmäßig zum Teufelchen.

Vivian verzieht ihren hübschen Schmollmund zu einem Lächeln. »Leon und Lena. Klingt irgendwie albern.«

In gespieltem Entsetzen schaut Lena zu Leon hoch. »Oh mein Gott, sie hat recht. Leon und Lena, das geht ja gar nicht. Meinst du, wir sollten gleich wieder Schluss machen?«

»Kindsköpfe.« Vivian verdreht die Augen. »Aber was will man erwarten. Ihr benehmt euch eurem zarten Alter entsprechend.«

»Also, ich an deiner Stelle wäre nicht stolz darauf, mit bald neunzehn noch in der elften Klasse zu sein«, kontert Lena bissig.

Vivians Blick unter den langen Wimpern wird frostig. Ohne ein weiteres Wort dreht sie sich um und geht zu ihrem Mini zurück. Sie lehnt sich dekorativ an die Motorhaube und wartet ohne uns Kindsköpfe auf Börny.

»Das hat gesessen«, sagt Leon.

»Es war gemein von mir«, entgegnet Lena reumütig. »Aber ich kann Vivian einfach nicht ausstehen.«

»Und mich?«, fragt Leon, woraufhin Lena kichert und ihm durch die wuscheligen Haare streicht.

»Dich schon«, sagt sie und zieht sein Gesicht zu sich herunter.

Der nächste Kuss dauert sehr, sehr lange.

Ich fange an, mich überflüssig zu fühlen. Zwischen Lena und Leon ist nicht nur das Eis gebrochen. Nein, sie befinden sich in einer tropischen, blauen Lagune mit Lizenz zum hemmungslosen Knutschen.

»Hallo?«, melde ich mich vorsichtig zu Wort. »Eure Verliebtheit in Ehren, aber sind wir nicht zum Schwimmen gekommen?«

Lena löst sich von Leon, ihre Wangen sind rot. Sie räuspert sich, ist sichtlich durcheinander. Leon muss verdammt gut küssen.

»Klar«, sagt Lena, als sie wieder fähig ist zu sprechen. »Dann, äh, lasst uns mal reingehen.«

Als ich allein meine Bahnen ziehe – Spaß im Wasser haben Lena und Leon heute eher ohne mich –, kann ich nicht anders, als mich nach ihm umzusehen.

Nach dem Neuen.

Mattis.

Aber so sehr ich mich auch bemühe, ich entdecke ihn nirgends. Dabei hat sich ganz Walding im Freibad versammelt, den brechend vollen Becken nach zu urteilen. Komisch eigentlich, denke ich müßig und drehe am Beckenrand um, schwimme die nächste Bahn, wühle mich im Wasser durch fröhliche Kinder und genervte, schimpfende Mütter. Hier ist es so voll, und im Waldinger Weiher schwimmt niemand. Vielleicht, weil er nicht gechlort ist. Wer zum Weiher geht, setzt sich höchstens in den Biergarten. Oder ist ein Tourist.

Ich hieve mich aus dem Becken, laufe tropfend zu meinem Handtuch. Als ich, das Kinn auf den flachen Händen aufgestützt, auf dem Bauch liege und die Sonne meine noch blasse Haut trocknet, lasse ich meine Augen unablässig über die Menge schweifen. Ohne Erfolg. Irgendwann gebe ich auf, greife nach meinem iPod und versenke mich in Linkin Park. Mattis ist nicht da. Na und?

Das kann mir völlig egal sein.

Die Musik lässt meinen Geist davondriften, und ich schließe die Augen. Denke doch wieder an Mattis, dessen Lippen so unverschämt schön geschwungen sind. Dessen dunkler Blick mich total durcheinanderbringt. Mattis, der immer sofort nach der Schule verschwindet, der nie bei uns anderen stehen bleibt, der noch kein einziges Wort mit mir gesprochen hat.

Umwerfend attraktiv – und absolut unnahbar.

Chester Bennington auf dem iPod singt etwas Wütendes über »flames« und »clouds«, doch als ich wegdämmere, sehe ich weder Flammen noch Wolken. Sondern blaue Wellen, in deren Gischt sich glänzendes, funkelndes Gold mischt.

Und immer noch habe ich keinen blassen Schimmer, was das für mich bedeutet.

Kapitel 4

Mattis taucht auch am nächsten Wochenende nicht im Schwimmbad auf.

Er kommt nicht auf die Party im Jugendhaus.

Er glänzt durch Abwesenheit, wenn die anderen Jungs nach der Schule Basketball spielen.

Er ist nie dabei, wenn wir uns im Café Lamm an der Hauptstraße treffen, am Brunnen vor der Kirche sitzen und Touristen begaffen, mit dem Bus ins Nachbardorf fahren, um ins Kino zu gehen. Mattis scheint niemals Chips an der Tankstelle einzukaufen, um nächtelange PC-Orgien zu veranstalten, und keiner von uns sieht ihn je im Irish Pub. Er trinkt in der Schule nicht einmal Red Bull, weder das normale wie Lena und ich noch das stylish silberne wie Börny oder das zuckerfreie wie Vivian. Er tut nichts von dem, was man in Walding aus Mangel an Aufregenderem eben so tut.

Was ist eigentlich los mit dem Kerl?

In den Pausen beobachte ich ihn verstohlen. Stets ist Mattis von einem Grüppchen Fans umringt, männlichen wie weiblichen, und er lächelt und plaudert und ist freundlich zu allen. Aber wenn die Schule aus ist, macht er sich auf den Heimweg, ohne sich je irgendwo dazuzustellen. Braucht er keine Freunde? Was macht er an den Wochenenden? Trauert er seinem Leben in München so sehr nach?

Ich werde nicht schlau aus ihm, und jeden Tag nehme ich mir etwa fünfzig Mal vor, keinen Gedanken mehr an ihn zu verschwenden. Ich möchte ihn in seiner selbstgewählten, ultracoolen Isolation versauern lassen, mich in Alex verlieben, der schon seit der Fünften auf mich steht, und alles vergessen, was mit blauen Wellen und schimmerndem Gold zu tun hat.

Nur dass mir Mattis’ Mund nicht aus dem Kopf geht, und sein Lächeln noch viel weniger. Gestern hat es zum ersten Mal mir gegolten. Und jetzt sitze ich auf meinem Platz, schaue zu, wie unser Mathelehrer vor der Tafel hin und her wandert und kann an nichts anderes denken als an dieses Lächeln.

Fabian, der mit mir in der Foto-AG ist, hatte mir vor ein paar Tagen eine Einführung in Photoshop geliehen. Gestern vor Erdkunde gab ich ihm das Buch zurück und schaute danach ganz zufällig und betont gleichgültig zu seinem Sitznachbarn.

Wow.

Mattis’ Blick ruhte so nachdenklich, tief und dunkel auf mir, seine Wimpern waren so schwarz und dicht, sein Aftershave stieg mir so kühl und herb in die Nase, dass mein innerer Monitor in einem wahren Farb-Feuerwerk explodierte und mich völlig benommen zurückließ. Dahin war meine ganze schöne Lässigkeit, ich konnte nur dastehen und ihn anstarren wie ein Mondkalb.

Da zog er einen Mundwinkel hoch und lächelte.

Na ja, es war ein halbes Lächeln, aber es war so was von sexy. Und ich lächelte zurück. Mit einem ganzen Lächeln, das viel zu strahlend ausfiel und viel zu viel verriet.

Ich kaue auf meinem Bleistift und schaue versonnen auf die Tafel, ohne die mit Kreide geschriebenen Gleichungssysteme darauf auch nur wahrzunehmen, geschweige denn, sie zu verstehen. In meinem Bauch kribbelt es, rot und angenehm.

»So, x hätten wir. Sophie, kannst du uns bitte die Gleichung nach y auflösen?«

Ich schrecke aus meinen Tagträumen von halben und ganzen Lächeln hoch und begegne dem Blick von Herrn Kreuzbach, der ungeduldig auf meine Antwort wartet. Mist. In Mathe muss ich echt um jeden Punkt bangen, obwohl ich in den anderen Fächern ganz gut bin. Aber Gleichungssysteme, Wurzeln und Polynomdivision wollen einfach nicht in meinen Kopf.

Weshalb ich eigentlich aufpassen müsste, statt verliebt vor mich hinzuschmachten.

Verliebt?, schießt es mir durch den Kopf. Hab ich das gerade echt gedacht?

Verdammt noch mal. Ich habe mich verliebt!

Aber nicht in Alex, bei dem ich Chancen hätte, und der mit seinen Fischaugen, der pickeligen Stirn und den freundlichen Augen ein netter, solider Trostpreis wäre.

Sondern in Mattis, den Hauptgewinn.

Mattis, über den so ziemlich alle Mädchen der Klasse tuscheln, und für den Vivian sich Tag für Tag in ihre heißesten Klamotten zwängt, damit er endlich auf ihre Reize aufmerksam wird. Mattis Bending aus München, der uns doofe Dörfler völlig links liegen lässt. Wahrscheinlich hasst er seine Eltern dafür, dass sie ihn hierher verschleppt haben, in die Einöde, in die er nicht gehört.

»Sophie? Wird’s bald?« Herr Kreuzbach wippt auf seinen Gesundheitslatschen vor und zurück, offensichtlich kann er sich nicht dazu durchringen, mir einfach null Punkte in Mitarbeit zu geben.

Ich schüttele entschuldigend den Kopf. Herr Kreuzbach seufzt und wendet sich anderen, fähigeren Schülern zu. Und ich atme tief durch, versuche der tobenden Wellen, des sprühenden Goldes und des Funkenfeuers in meinem Inneren Herr zu werden, während ich mich im Stillen verfluche, weil ich so dämlich bin.

Ich greife nach meinem Matheordner, reiße ein Stück vom obersten Blatt ab und kritzele mit zitternden Fingern darauf: Lena, glaubst du an Liebe auf den ersten Blick?

Dann schiebe ich ihr den Zettel rüber.

Ihre Augen werden groß.

Wer ist es???, kritzelt sie zurück.

Ich schlucke, aber jetzt habe ich angefangen und kann nicht mehr zurück.

M.B.

Ich halte die Luft an. Wird sie mich auslachen? Bemitleiden? Versuchen, es mir auszureden? Und was von alldem wäre das Schlimmste für mich?

Lenas Stift verharrt über dem Zettel. Dann nimmt ihr Gesicht einen entschlossenen Ausdruck an, sie schreibt, und ich lese: Okay, es wird Zeit, dass wir uns um dein Styling kümmern. Heute Nachmittag wird aus Sophie mit den buschigen Augenbrauen Emma Watson, die Unwiderstehliche. Um halb fünf bei mir?

Ich lächele. Das süße, cremige Milchkaffeebraun, das sich in mir ausbreitet, erkenne ich sofort: Dankbarkeit für diese Freundin, die mein Fels in der Brandung ist.

Ich komme!, schreibe ich und fühle mich so ermutigt, dass ich sogar einen Blick über die Schulter riskiere, geradewegs in Mattis’ schöne, braune Augen hinein.

Er lächelt mich an.

Und diesmal sind beide Mundwinkel daran beteiligt.

Kapitel 5

Ausgerüstet mit Pinzette, einer kleinen Tube Spezialgel, einem Augenbrauenstift und einer Tasse mit Eiswürfeln sitzen wir in Lenas Zimmer.

»Ich habe mich im Internet informiert«, sagt Lena mit Kennermiene. »Brauen wie deine sollten gar nicht groß verändert, sondern nur an den richtigen Stellen in Form gezupft werden.«

»Aha«, gebe ich zweifelnd zurück, während ich mich frage, ob das Zupfen wohl sehr wehtut. »Und welche sind die richtigen Stellen?«

Lena greift nach dem Augenbrauenstift und hält ihn mir senkrecht an die Nasenflügel, erst rechts, dann links.

»Alle Härchen zwischen Stift und Nasenwurzel müssen weg«, sagt sie bestimmt.

Ich nicke unbehaglich. Lena befiehlt mir, die Augen zu schließen, und spannt meine Haut mit zwei Fingern. Zack, rupft sie das erste Härchen aus. Ich zucke zusammen, ein fieses Senfgelb blitzt auf meinem inneren Monitor auf.

»Weh tut es nur am Anfang«, tröstet Lena mich. »Wenn du das regelmäßig machst, gewöhnt sich deine Haut daran. Hab ich jedenfalls gelesen.«

Zack. Zack. Zack. Zack. Lena wirkt nicht so, als sei sie bald fertig, doch ich habe bereits mehr als genug. Die Farbe potenziert den Schmerz, macht unerträglich, was ansonsten ganz gut auszuhalten wäre. Glaube ich zumindest, denn Emotionen ohne Farben kenne ich ja nicht.

»Stopp, Lena.« Ich öffne die Augen, hebe abwehrend die Hände. »Den Rest bändigen wir meinetwegen mit diesem komischen Gel. Anmalen darfst du mich auch. Aber hör auf, mich zu quälen, das ist …« – so widerlich gelb, will ich sagen, schlucke es aber im letzten Moment herunter – »… total unangenehm.«

Lena lässt brav die Pinzette sinken, und ich schäme mich, weil sie mich für schrecklich wehleidig halten muss. Ich greife nach dem Handspiegel und betrachte das Ergebnis der Quälerei. Die Lücke zwischen meinen Augenbrauen ist ein bisschen größer geworden, dafür aber knallrot.

»Du musst es mit Eis kühlen, steht auf gofeminin«, sagt Lena und reicht mir die Tasse. »Dann ist die Rötung in ein paar Stunden weg.«

Ich verziehe das Gesicht. »Und was sag ich meinen Eltern beim Abendessen, warum ich mir das angetan habe?«

Noch nie habe ich mich etwas Schmerzhaftem unterzogen, um besser auszusehen. Meine Mutter wird sofort vermuten, dass ein Junge dahinter steckt, und auf ihre neugierigen Fragen habe ich so wenig Lust wie auf Eiterpickel.

»Sag ihnen doch, du wolltest deine Tapferkeit trainieren.« Lena kichert. »Damit du bei dem XXL-Tattoo, das du dir nächste Woche stechen lassen wirst, nicht in Tränen ausbrichst.«

Ich muss lachen. Zwar habe ich keineswegs vor, mir ein Tattoo stechen zu lassen, weder ein großes noch ein kleines. Aber die Vorstellung, wie meinem konservativen Vater am Abendbrottisch vor Schreck die Gabel aus der Hand fällt, ist so komisch, dass es das fast wert wäre.

Während ich mir den Eiswürfel auf die Haut drücke und Lena sich mit Bürstchen, Gel und Brauenstift an mir zu schaffen macht, fragt sie neugierig: »Und? Wie lange bist du schon in Mattis verknallt?«

Der abrupte Themenwechsel überrumpelt mich, und ich antworte nicht sofort. Verknallt, das trifft es überhaupt nicht.

Aber welches Wort trifft es dann?

Wie soll ich Lena klarmachen, dass ich mich bei Mattis so verwirrend anders fühle? Dass ich ihn nur anschauen muss, nur in seiner Nähe stehen, nur an seinen Mund denken, um von Farben und Empfindungen überrollt zu werden? Die Wellen, das Glitzern, diese blaugoldene Überflutung mit dem sanften Hauch von neugierigem Schwarz – das alles darf ich schließlich nicht erwähnen.

Also beschränke ich mich auf ein verlegenes: »Hab’s dir doch in der Schule geschrieben.«

»Das mit der Liebe auf den ersten Blick.« Lena lächelt. »Das ist so süß, Sophie. Aber ehrlich gesagt, ich kann es gar nicht nachvollziehen. Bei mir kommt die Verliebtheit immer so nach und nach, wie bei Leon. Jetzt ist sie da, aber es hat ganz schön lange gedauert, das weißt du ja. Ich dachte immer, den berühmten Blitzschlag der Liebe gibt’s nur im Film.«

Tja, das dachte ich bis vor Kurzem auch. Seufzend sage ich: »Im Film kriegen sie sich aber zum Schluss, und das ist der Unterschied zur Realität. Ich werde Mattis niemals kriegen, egal was du mit meinen Augenbrauen anstellst.«

»Schau dich doch erst mal an, du Unke!« Lena lässt von mir ab und nimmt mir den tropfenden Eiswürfel aus der Hand.

Ich gehorche, blicke in den Spiegel – und bin tatsächlich überrascht. Ein zartes Zitronengelb breitet sich in mir aus, und ich wage es zögernd, mich zu freuen. Okay, von Sophie Kirschner bis zu Emma Watson ist es immer noch ein sehr, sehr weiter Weg. Aber für meine Verhältnisse, das muss ich zugeben, sehe ich gar nicht schlecht aus.

Wie durch ein Wunder ist die Rötung bereits verschwunden. Meine Augenbrauen sind so dicht wie zuvor – ich habe Lena das Zupfen ja verboten -, doch jetzt wirken sie gleichmäßig und gerade. Dunkler als sonst, verleihen sie meinen weichen Gesichtszügen einen ungewohnten Ausdruck von Stärke.

Und das gefällt mir.

Im Spiegel trifft sich Lenas Blick mit meinem. »Zufrieden?«, fragt sie hoffnungsvoll.

Ich lächele sie an. »Danke, Lena. Du hast was gut bei mir.«

Lena strahlt. »Prima. Dann müssen wir dich nur noch von deiner Grundschulfrisur befreien!«

Mit einem raschen Griff zieht sie mir das Gummi aus dem Haar, das ich wie üblich zu einem praktischen Pferdeschwanz zusammengebunden habe. Mausbraune, stumpfe Strähnen fallen mir störrisch auf die Schultern.

Lenas Enthusiasmus erhält einen deutlichen Dämpfer. »Sag mal, nimmst du eigentlich nie eine Glanz-Spülung oder so?«

Ich schüttele den Kopf. »Ob meine Haare glänzen oder nicht, sieht man bei einem Pferdeschwanz doch eh nicht.«

Wenn ich ehrlich bin, ist das aber keineswegs der Grund. Die Wahrheit ist, dass ich auf meinem inneren Monitor so viele leuchtende, glitzernde, schimmernde, flauschige und pastellene Farben sehe, dass mir das genügt. Die Wirklichkeit ist sowieso blass dagegen. Warum also sollte ich mich um glänzendes Haar oder schöne Stoffe kümmern?

Mein Blick im Handspiegel fliegt zum Ansatz des Spaghettiträger-Kleides, das ich anhabe – und das sogar hübsch sein könnte, wenn es nicht so verwaschen wäre. Vielleicht, denke ich, wäre es an der Zeit, etwas mehr im Außen zu leben statt im Innen. Vielleicht sollte ich den Monitor entschlossen ignorieren, so wie meine Eltern es mir ständig predigen.

Doch sofort zieht sich bei dieser Vorstellung alles in mir zusammen, in einer schmutzigen, panischen Mischung aus Braun, Oliv und Staubgrau. Und mir wird klar, dass man mir ebenso gut vorschlagen könnte, ich solle mir ein Ohr abschneiden.

Lenas Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. »Lass uns ins Bad gehen, Sophie. Meine Mutter hat tausend Spülungen und Kuren rumstehen, da bedienen wir uns jetzt. Und einen schönen Lippenstift finden wir bestimmt auch noch für dich. Wäre doch gelacht, wenn wir’s nicht schaffen würden, dass Mattis bei deinem Anblick die Augen aus dem Kopf fallen!«

»Die Hoffnung stirbt zuletzt, was?«, witzele ich, um zu verbergen, dass ich ihren Optimismus ganz und gar nicht teile. Aus einem Mauerblümchen ist nun mal kein Schwan zu machen, nicht mal mit den Segnungen der chemischen Industrie. Trotzdem folge ich Lena ins Bad, wo ich wieder einmal staune, wie anders es dort aussieht als bei uns.

Zum Beispiel in der Dusche. In unserer Dusche stehen: ein Shampoo für empfindliches Haar, ein Unisex-Duschgel, eine Waschcreme fürs Gesicht und – als Zugeständnis an meine unreine jugendliche Haut – ein Peeling.

In der Dusche der Landeggers stehen: bonbonfarbene und männlich sportive Tuben, Flaschen und Spender der verschiedensten Marken, Sorten und Duftrichtungen, unüberschaubar an der Zahl, jeden Zentimeter der diversen Ablagen bedeckend. Uff.

»Ich weiß ja, dass deine Mutter Geschäftsführerin im Drogeriemarkt ist«, sage ich kopfschüttelnd, »aber euer Bad haut mich jedes Mal wieder um. Hey, für Vivian und Bernice wäre das hier das reinste Paradies!«

Lena lacht. »Für so ziemlich jede aus unserer Klasse, oder? Aber heute geht es nur um dich. Also, womit fangen wir an?«

Zwei Stunden später bin ich wieder zu Hause, stehe in meinem Zimmer vor dem großen Spiegel und frage mich, ob Mattis wohl auffallen wird, dass ich mich verändert habe.

Denn das habe ich.

Meine Haare schimmern – sattbraun und seidig umschmeicheln sie mein Gesicht. Das Rot auf meinen Lippen führt mir vor Augen, dass sie erstaunlich voll sind. Mein Mund bildet nun einen schönen, weiblichen Gegensatz zu den dunklen Brauen. Das Beste aber ist dieser Ausdruck von Stärke und Charakter in meinem Gesicht, der sich auch nach zwanzig Minuten In-den-Spiegel-Starrens nicht verflüchtigt hat.

Unwillkürlich frage ich mich, ob dieser Ausdruck nur Fassade ist, wie die Röte meines Mundes oder die in Form gegelten Brauen. Bin ich stark, irgendwo da drinnen, an einem Ort, den ich nur noch nicht entdeckt habe?

Oder mache ich mir etwas vor, wenn ich das glaube, genau wie ich mir etwas vormache, wenn ich mir Chancen bei Mattis Bending ausrechne? Für Vivian interessiert Mattis sich schließlich auch nicht, und die stylt sich um Einiges gekonnter als ich.

»Sophie, Abendessen ist fertig!«, höre ich meine Mutter rufen.

Ich reiße mich von meinem fremden Spiegelbild und den unbeantworteten Fragen los. Atme ein paarmal tief durch, gebe mir Zeit, zurück in die Rolle zu schlüpfen, die meine Eltern mir zugedacht haben. Sie passt mir wie eine zweite Haut.