Like Waves We Dance - Sternschnuppenträume - Julie Leuze - E-Book
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Like Waves We Dance - Sternschnuppenträume E-Book

Julie Leuze

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Beschreibung

Über ihr der weite blaue Himmel der Nordsee, vor ihr das stürmische Meer …Wenige Wochen ist es her, seitdem Sveas Leben komplett auf den Kopf gestellt wurde – und ihr Zuhause kein sicherer Ort mehr ist. Niemand darf davon erfahren, doch ein Geheimnis ist schwer zu bewahren auf der kleinen Insel und so wird jeder Tag in der Schule und bei ihrer Arbeit in der Seehundstation zum Balanceakt. Bei einer Strandparty vertraut sie sich ausgerechnet dem Mädchenschwarm Nick an, der ihr plötzlich eine verletzliche Seite an sich zeigt. Am nächsten Tag tut Nick jedoch so, als hätte es die magische Nacht am Strand nie gegeben. Bald steht Svea vor einer unmöglichen Entscheidung: Ihr Traum von einem Meeresbiologiestudium zieht sie fort von hier – aber ihr Herz scheint noch immer an der Insel festzuhalten … Der emotional mitreißende Young-Adult-Roman ist bereits unter dem Titel »Sternschnuppenträume« erschienen und wird Fans von Stella Tack und Lilly Lucas begeistern!

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Seitenzahl: 341

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Über dieses Buch:

Über ihr der weite blaue Himmel der Nordsee, vor ihr das stürmische Meer …Wenige Wochen ist es her, seitdem Sveas Leben komplett auf den Kopf gestellt wurde – und ihr Zuhause kein sicherer Ort mehr ist. Niemand darf davon erfahren, doch ein Geheimnis ist schwer zu bewahren auf der kleinen Insel und so wird jeder Tag in der Schule und bei ihrer Arbeit in der Seehundstation zum Balanceakt. Bei einer Strandparty vertraut sie sich ausgerechnet dem Mädchenschwarm Nick an, der ihr plötzlich eine verletzliche Seite an sich zeigt. Am nächsten Tag tut Nick jedoch so, als hätte es die magische Nacht am Strand nie gegeben. Bald steht Svea vor einer unmöglichen Entscheidung: Ihr Traum von einem Meeresbiologiestudium zieht sie fort von hier – aber ihr Herz scheint noch immer an der Insel festzuhalten …

Über die Autorin:

Julie Leuze, geboren 1974, studierte Politikwissenschaften und Neuere Geschichte in Konstanz und Tübingen, bevor sie sich dem Journalismus zuwandte. Mittlerweile widmet sie sich ganz dem Schreiben von Romanen für Erwachsene, Young Adults und Kinder. Ihr Roman »Der Geschmack von Sommerregen« wurde 2014 als bester deutschsprachiger Liebesroman durch den Delia-Preis ausgezeichnet. Julie Leuze lebt mit ihrer Familie in Stuttgart.

Mehr zur Autorin: www.julie-leuze.com

Bei dotbooks veröffentlichte Julie Leuze auch ihren historischen Liebesroman »Regency Dance – Einladung zum Ball« sowie ihre Young-Romance-Romane »Dreams like the Ocean – Herzmuschelsommer«, »Only the Stars between Us – Das Glück an meinen Fingerspitzen« und »Like Storms We Collide – Der Geschmack von Sommerregen«.

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eBook-Neuausgabe August 2024

Dieses Buch erschien bereits 2018 unter dem Titel »Sternschnuppenträume« bei 26|books.

Copyright © der Originalausgabe 2018 26|books, Bert-Brecht-Weg 13, 71549 Auenwald

Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Covergestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-98952-229-9

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

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Julie Leuze

Like Waves We Dance –Sternschnuppenträume

Roman

dotbooks.

Für Tanzi

durch dick und dünn

»Arbeite, als bräuchtest du kein Geld;

liebe, als wärst du nie verletzt worden;

tanze, als würde niemand zuschauen.«

Satchel Paige, US-amerikanischer Baseballspieler (1906-1982)

Kapitel 1Svea

Wenn es eines gibt, das Seehunde absolut von uns Menschen unterscheidet, dann dies: Verlassene Jungtiere vergessen ihre Mütter innerhalb von Tagen.

Spricht das nun für oder gegen sie?

Ich grübele ein paar Sekunden über diese Frage nach und merke, wie schon wieder die Bitterkeit in mir aufsteigt. Bitterkeit ist das Gefühl, das ich in den letzten beiden Wochen mit Abstand am öftesten gespürt habe, und langsam nervt es mich.

Also beiße ich die Zähne zusammen und befehle mir, an etwas anderes zu denken. Schließlich hatte ich mir fest vorgenommen, meine Probleme nicht mit in die Seehundstation zu nehmen. Zu Hause, in der Schule, am Strand: Überall auf der Insel lauern sie, überallhin verfolgen sie mich, aber hier, zwischen meinen Schützlingen, will ich sie nicht haben.

Ich dulde sie einfach nicht!

Das jedenfalls habe ich am Tag null für mich beschlossen, und hey, ich kann es mir doch nicht erlauben, schon nach zwei Wochen zu scheitern! Ich meine, woran soll ich mich denn festhalten, wenn nicht an meinen eigenen Beschlüssen? Alles andere ist ja weggebrochen.

Ich atme tief durch. Schaue durch das große Fenster der Futterküche über das Stationsgelände, auf dem sich in zehn kleinen Bassins und zwei großen Becken über hundert Heuler tummeln. Die Seehundstation der Nordsee-Insel, auf der ich wohne, ist mein sicherer Hafen, denn anders als zu Hause hat sich hier nichts verändert, nicht in den letzten Tagen, nicht in den letzten Jahren. Alles ist wie immer, und alles hat einen Sinn: Wir setzen unsere ganze Kraft dafür ein, Heulern zu helfen. Ihr Gefängnis auf Zeit ist zugleich ihre Rettung, denn in freier Wildbahn würden die verlassenen Tiere es niemals schaffen, ohne ihre Mütter zurechtzukommen. Leicht ist das nämlich nicht.

Wer wüsste das besser als ich?

Draußen fangen die Seehundbabys an, nach ihrem Fisch zu jammern, und ich wische mein Selbstmitleid beiseite. Du liebe Güte, ich bin nicht hier, um Trübsal zu blasen, sondern um mich nützlich zu machen! Also schnappe ich mir einen der schweren Heringseimer und rufe über die Schulter: »Torben, kommst du? Da draußen wartet eine ziemlich hungrige Meute auf uns.«

Keine Minute später taucht Torben im Türrahmen auf. Er streicht sich über den Vollbart, der genauso signalrot leuchtet wie sein Schopf, und brummt: »Jo, lass uns anfangen, Svea. Rieke kommt auch gleich. Showtime, Kinder!«

Ich verkneife mir ein Lächeln. Zwei der vier täglichen Fütterungen werden unter den neugierigen Augen der Besucher durchgeführt, und es ist kein Geheimnis, dass Torben die »Showtime« liebt. Die Besucher wiederum lieben Torben: Mit seinen fünfzig Jahren ist er der dienstälteste Tierpfleger der Station, und keiner füttert unsere Heuler so hingebungsvoll wie er.

Torben ist das Herz der Station, das Urgestein, auf dem alles aufgebaut ist. Wenn ich die mühsame, unentgeltliche Arbeit hier so gerne auf mich nehme, dann hat das nicht nur etwas mit den Seehunden zu tun, sondern auch mit Torben.

Jetzt stößt er die Tür der Futterküche auf, und wir marschieren mit unseren Heringseimern nach draußen, woraufhin das Geheul der kleinen Seehunde herzzerreißende Ausmaße annimmt.

»Die kleinen Spinner!«, grummelt Torben, doch seine Augen leuchten. Er stapft zu den älteren Heulern in einem der beiden großen Becken, und ich steige in die erste der zehn Betonbuchten, in denen unsere Neuzugänge untergebracht sind. Augenblicklich robben die Seehundbabys Kitty und Kali auf mich zu. Mensch ist gleich Futter, diese Gleichung kapieren alle Heuler sofort. Was sie allerdings nicht daran hindert, einen in den Finger zu beißen, wenn der Fischeimer leer ist, wie eine schlecht verheilte Wunde an meinem Ringfinger beweist. Es war das Erste, was ich hier gelernt habe, als ich vor zwei Jahren angefangen habe auszuhelfen: Egal, wie süß und knuddelig sie aussehen, Seehunde sind keine Haustiere. Sie sind wild und sollen es auch bleiben, denn nur so können wir sie, nachdem wir sie zwei bis drei Monate lang aufgepäppelt haben, mit gutem Gewissen zurück in die Freiheit entlassen.

Wie wird es mir gehen, in zwei bis drei Monaten?, flüstert eine furchtsame Stimme in meinem Kopf. Ob ich mich daran gewöhnt haben werde, dass sie weg ist? Nicht einfach im Urlaub oder bei einem anderen Mann, sondern wirklich weg?

Nicht daran denken! Einfach nicht daran denken.

Ich knie mich in meinen grünen Gummihosen zu den fiependen Heulern und nehme den ersten Fisch aus dem Eimer. Seehunde zu füttern ist fürsorglich und tröstlich, und obwohl ich weiß, dass ich für Kitty und Kali nichts als ein sich bewegender Futterspender bin, rührt es mich doch, wie die beiden nun mit ihren runden, schwarzen Augen zu mir aufblicken. Ich muss lachen. Als Gott das Kindchenschema erfunden hat, waren Seehundbabys ganz bestimmt sein Meisterstück!

Kali drängelt Kitty entschlossen ab, und schwupps, ist der Riesenhering in ihrem kleinen Maul verschwunden. Ohne zu kauen, schlingt sie ihn hinunter und verlangt nach dem nächsten, indem sie mir auffordernd ihre Flosse aufs Knie legt.

»Warum gewöhnt man sich eigentlich nie daran, wie süß die sind?«, höre ich eine atemlose Stimme neben mir.

Ich schaue zu meiner besten Freundin hoch und grinse. »Hallo, Rieke. Die Frage ist doch eher: Warum gewöhnt man sich eigentlich nie daran, dass du immer zu spät dran bist?«

»Tut mir leid, aber ich konnte meinen Haargummi nicht finden. Und die Haare in den Heringseimer hängen – nee, bei aller Liebe, das geht gar nicht.«

Rieke steigt hastig in die Bucht neben meiner, hockt sich hin und fängt an, zwei Heuler gleichzeitig zu füttern, um ihre Verspätung wiedergutzumachen. Dabei schafft sie es, ohne Punkt und Komma zu reden.

»Ich weiß ja, dass die Station auf Seehund-Patenschaften angewiesen ist, um sich zu finanzieren«, plappert sie, »aber manche Paten sind doch echt grenzwertig, oder? Wusstest du, dass Kittys Patin es fertigbringt, jedes Mal ›Hello Kitty‹ durch die Glasscheibe zu brüllen, wenn sie das arme Tier besucht?«

Wir schauen uns in die Augen, Heringe in den Händen, Heulerflossen auf den Schenkeln, und prusten los. Und obwohl mein Leben zurzeit alles andere als lustig ist, fühlt es sich richtig gut an, mal wieder mit Rieke zu lachen.

Zumindest für ein paar Sekunden.

Bis mir durch den Kopf schießt, dass ich lache, während meine Mutter vielleicht gerade zusammengeschlagen wird.

Oder sich anblaffen lassen muss.

Oder Hunger hat, zwischendurch aber nichts zu essen bekommt.

Oder was immer man eben zu ertragen hat, wenn man neu in der Hölle ist und auf der untersten Stufe der Hierarchieleiter steht.

Mein Lachen bricht ab, meine Stimmung kippt. Vor meinem inneren Auge sehe ich meine Mutter, hilflos, gequält, und das imaginierte Bild brennt sich in meine Seele. Doch ich will nicht daran denken, will mir das nicht ausmalen, nicht schon wieder! Es reicht, dass ich jede Nacht von ihr träume. Ich will das nicht in meinem Tag haben! Ich will das nicht. Ich will das nicht. Ichwilldasnichtichwilldasnichtichwilldas …

»Svea, alles in Ordnung?«, fragt Rieke besorgt.

Ihre Stimme lässt die Wortschleife in meinem Kopf zerstieben, das Bild verblassen, und ich plumpse zurück auf den Betonboden der Seehundstation, schaue verwirrt in Riekes Augen. Die eben noch fröhliche Miene meiner Freundin ist ernst, und ich frage mich unwillkürlich, ob sie Gedanken lesen kann. Aber wahrscheinlich braucht sie das gar nicht – um ein Mädchen, das eben noch albern gelacht hat und zehn Sekunden später verzweifelt Löcher in die Luft starrt, würde sich wohl jeder Sorgen machen.

Okay. Zeit, es zuzugeben: Seit Mama weg ist, bin ich seltsam geworden. Ich merke selbst, dass ich eigenbrötlerisch wirke, verschlossen, verstört. Zudem leide ich unter extremen Stimmungsschwankungen.

Gar nicht gut. Bis vor ein paar Wochen war das noch anders, ich war ausgeglichen und meistens gut gelaunt. Jetzt aber bin ich schlimmer als eine von Hormonen überflutete Schwangere.

Das muss ich unbedingt in den Griff bekommen, und zwar schnell. Denn es darf ja niemand etwas ahnen von der Veränderung in meinem Leben. Und verdammt, sage ich mir zähneknirschend, ich werde es in den Griff bekommen! Schwanger bin ich schließlich nicht, und so habe ich auch keinen legitimen Grund, mich dem Auf und Ab meiner Gefühle hinzugeben. Genau genommen ist das Problem, das dieses Auf und Ab verursacht, ja noch nicht einmal mein eigenes! Sondern das meiner Mutter. Ich selbst kriege nur die schmutzigen Ausläufer ab.

Ich straffe die Schultern. »Geht schon wieder«, sage ich zu Rieke und versuche mich an einem Lächeln. »Ich habe nur gerade … daran gedacht.«

Rieke greift zu mir herüber und legt mitfühlend die Hand auf meinen Arm. Sie sagt nichts, aber das muss sie auch gar nicht. Es reicht, dass ich mich vor ihr nicht verstellen muss. Rieke ist nämlich nicht nur meine beste Freundin, sie ist auch die Einzige, der ich es erzählt habe. Alles.

Obwohl mein Vater mich umbringen würde, wenn er davon wüsste.

Obwohl ich mich dafür gehasst habe, mein Versprechen durch meine stockende Beichte gebrochen zu haben.

Denn natürlich wäre es sicherer, so viel sicherer, wenn ich niemanden in mein neues Schneckenhaus hereinlassen würde. Niemanden, ohne Ausnahme, auch Rieke nicht.

Doch offensichtlich bin ich unfähig, den Mund zu halten, und zu haltlos, um meine Probleme mit mir selbst auszumachen.

Wir schweigen und stopfen glänzende Fischleiber in die Seehundmäulchen, und ich denke, wie seltsam das ist: Ich verachte mich zwar für meine Schwäche, doch wenn ich Rieke so anschaue, dann fühle ich keine Reue und keine Scham, dass ich mich ihr anvertraut habe, sondern Dankbarkeit. Weil sie es weiß – und mich trotzdem nicht als asozial abstempelt.

Mein Hals wird eng, die nächste Stimmungsschwankung bahnt sich an. Würde eine gute Fee mir je anbieten, schießt es mir durch den Kopf, eine Schwester für mich herbeizuzaubern, dann würde ich mir eine wünschen, die genauso ist wie Rieke, genauso chaotisch, genauso verständnisvoll und genauso hübsch, mit Sommersprossen auf der Nase, strahlend blauen Augen und langem, rotblondem Haar.

Rieke spürt meinen sentimentalen Blick und lächelt mir zu, bevor sie den Heringseimer packt und in die nächste Betonbucht steigt. Dass ich diese beste aller Freundinnen zu Anfang nicht einmal mochte, kann ich heute überhaupt nicht mehr verstehen.

Und doch war es so: Als wir zusammen aufs Gymnasium kamen, fanden wir uns einfach nur doof, sie mich zu still und ich sie zu überdreht. Es hat volle fünf Jahre gedauert, bis wir uns gefunden haben, denn als ich fünfzehn war und Rieke sechzehn, haben wir aus reinem Zufall beide angefangen, ehrenamtlich in der Seehundstation zu arbeiten. Beim Füttern, Beckenschrubben und Betüddeln der Heuler sind wir uns dann zwangsweise nähergekommen. Haben erkannt, wie gut wir uns ergänzen – und dass wir beide von unserer Freundschaft profitieren: Wenn ich mich zu sehr vor der Welt zurückziehe, zerrt Rieke mich zurück ins Leben, und wenn Rieke es mit ihrer Experimentierfreude übertreibt, erinnere ich sie an die Existenz gesunder Grenzen. Eine Win-Win-Beziehung, sozusagen.

»Kali platzt noch, wenn sie die Einzige ist, die du heute fütterst«, bricht Rieke in mein sinnendes Schweigen ein. »Dafür verhungert dann die arme Hello Kitty, und das Ergebnis ist, dass beide tot sind. Was würde Hello Kittys Patin wohl dazu sagen?«

Ich zucke zusammen, schubse Kali rasch beiseite und gebe den nächsten Fisch Kitty, denn eine Heulermörderin möchte ich nun wirklich nicht sein. Reumütig nehme ich mir vor, mich in Zukunft besser auf meine Arbeit zu konzentrieren, mehr im Hier und Jetzt zu leben. Mich ständig in irgendwelchen Gedankenwelten zu verlieren, das ist nicht gesund – weder für mich noch für die Seehunde.

»Ab mit euch, ihr beiden«, sage ich und lasse meine Schützlinge zurück ins Wasser gleiten.

Einen Moment lang schaue ich ihnen noch zu, wie sie planschen und spielen. Und obwohl das sehr niedlich aussieht, finde ich es auch ein bisschen traurig. Ich meine, da toben sie herum und haben keine Ahnung, dass ihnen eigentlich etwas fehlt! Dass sie in Freiheit, im Meer sein sollten, bei ihren Müttern. Dass ihnen ein Leben bevorsteht, auf das sie nur äußerst unzureichend vorbereitet sind. Vermissen sie denn gar nichts? Spüren sie nicht, dass sie allein sind auf der Welt, dass letztlich jeder von uns allein ist? Ahnen sie nicht, dass sie es vielleicht nicht schaffen werden, zu überleben?

Ach, verdammt! Ich schüttele den Kopf, wünsche meine Melancholie zum Teufel und steige in die nächste Betonbucht. Es sind schließlich noch mehr Tierkinder hungrig, und von meiner verflixten Grübelei werden sie nicht satt. Also recke ich das Kinn, verbiete mir das Denken und setze stattdessen meinen jüngsten Vorsatz in die Tat um: verteile den restlichen Fisch, bringe den leeren Eimer zurück in die Futterküche und schnappe mir danach den Schlauch, um die dreckigen Betonböden abzuspritzen.

Und befinde mich zwischen Seehundkacke und Fischgeruch absolut im Hier und Jetzt.

Kapitel 2Nick

Ich habe eine super Kitesurf-Session hinter mir, und das Adrenalin kreist noch in meinem Blut, als ich mit dem Bus vom Nordstrand nach Hause fahre. Der Fahrer hat mich beim Einsteigen zwar schief angeguckt, aber es blieb ihm nichts übrig, als mich so mitzunehmen, wie ich bin – sandig, salzverkrustet und mit meinem Fahrradanhänger im Schlepptau, auf dem ich mein gesamtes Equipment verstaut habe, einschließlich des nassen Neoprenanzugs. Ich kenne diesen miesepetrigen Busfahrer schon, er wird nie ein Surfer-Freund werden, aber was soll’s? Mein Rad hat einen Platten, und laufen kann ich den langen Weg nach Hause mit dem schweren Anhänger schließlich nicht.

Christian neben mir fragt: »Kommst du heute Abend auch, Nick? Keine Angst, Astrid wird nicht da sein. Marina hat mir erzählt, die hat Stress mit ihren Eltern und muss zu Hause bleiben.«

Christian grinst. Er ist nicht gesurft, hat aber trotzdem gute Laune, weil er sich die Zeit am Strand damit vertrieben hat, hübschen Mädchen in Bikinis nachzuschauen.

Dass Astrid nicht kommen darf, weiß ich schon, aber ich sage es Christian nicht. Schließlich habe ich erst vor ein paar Tagen mit Astrid Schluss gemacht – wieder mal -, und ich muss Christian ja nicht auf die Nase binden, dass sie meinen Entschluss nicht so ernst nimmt, wie ich das gerne hätte. Sie sucht weiterhin meine Nähe, ruft mich ständig an, und so hat sie mir auch von dem jüngsten großen Krach im Hause Riemer erzählt. Mein Mitleid hat sich allerdings in Grenzen gehalten: So heftig Astrid sich mit ihren Eltern streitet, so reuevoll vertragen sie sich auch wieder, meist schon ein, zwei Tage später. Astrid muss nur Papas kleines Mädchen rauskehren, und schwupp, ist alles wieder gut.

Ich zucke mit den Schultern. »Astrid kann kommen oder wegbleiben, das geht mich nichts mehr an. Treffen wir uns vor der Party bei dir?«

»Jep. Vorglühen?« Christians Grinsen wird noch breiter.

»Keine Chance, mir ist noch schlecht von gestern.« Ich verziehe das Gesicht. »Aber mein Vater kommt heute früher aus der Praxis, und ich habe keine Lust, mir seine Vorhaltungen über meinen verlotterten Lebensstil anzuhören. Bringt nicht gerade gute Laune.«

»Was dein Alter immer hat! Als ob du an der Spritze hängen oder täglich Straßenkämpfe ausfechten würdest.« Christian schüttelt den Kopf. »Das bisschen Alkohol ab und zu … Dein Vater gehört echt in ein anderes Jahrhundert, Nick!«

Ja, und am besten gleich noch auf einen anderen Kontinent.

»Wie auch immer«, sage ich leichthin. »Ich könnte so in zwei Stunden bei dir sein.«

»In zwei Stunden?! Wofür brauchst du denn so lang?« Christian wartet meine Antwort gar nicht erst ab. »Verstehe, du willst deine heiße Strubbelfrisur perfektionieren. Ey, lass es bleiben, Nick. Für dich würden die Mädels sogar die Beine breitmachen, wenn du drei Tage lang nicht geduscht hättest.«

Unwillig schaue ich in sein feixendes Gesicht. Christian ist mein bester Kumpel, aber ich kann es nicht ausstehen, wenn er mit seinen anzüglichen Sprüchen anfängt. Denn für die Wirbel, die dafür verantwortlich sind, dass mein blondes Haar ständig irgendwie zerzaust aussieht, kann ich nichts, und was mein nicht ganz so monogames Sexleben betrifft … hm, das geht Christian schlicht und ergreifend nichts an.

Also boxe ich ihm mit der Faust gegen die Schulter. »Ach, halt die Klappe, Mann.«

Christian lacht. »Also kein Tête-à-tête mit einer Dose Haarspray? Na ja, auch wenn du dich nicht für die Mädels stylst, ein bisschen Spaß willst du heute Nacht schon haben, gib’s zu. Wen hast du denn im Visier? Birgit? Die ist ziemlich scharf auf dich, sagt Marina.«

Ich seufze. Seit Christian mit Marina zusammen ist, erfährt er alles über die Geheimnisse ihrer Freundinnen. Sie erzählt es ihm unter dem Siegel strengster Vertraulichkeit, und er erzählt es mir ebenso streng vertraulich weiter.

»Eigentlich müsste ich dich dafür hassen«, plappert Christian unverdrossen weiter, als ich meinem Seufzer keine lüsterne Bemerkung über die scharfe Birgit folgen lasse. »Ich meine, warum ist zur Abwechslung nicht mal eine heiß auf mich?«

»Du hast doch Marina, also beschwer dich nicht. Und ich will nichts von ihren Freundinnen. Ist die Tatsache, dass ich mich erst vor ein paar Tagen von Astrid getrennt habe, bereits durch dein Siebgehirn gerutscht?«

»Nö. Aber ihr habt euch schon oft getrennt, und das war noch nie ein Grund für dich, lange den Enthaltsamen zu spielen«, stichelt Christian.

Ich bin versucht, ihm noch einmal gegen den Arm zu boxen, aber dann lasse ich es bleiben. Weil ich zugeben muss, dass Christian recht hat: Ich habe in der Tat nichts anbrennen lassen in den letzten Jahren, hübsche Mädchen gibt es schließlich viele. Allerdings bin ich dann doch immer wieder auf Astrid zurückgekommen, vielleicht, weil sie so unkompliziert ist. Und klar, attraktiv ist sie auch.

Aber Astrid ist Vergangenheit.

Ich wende mich ab und schaue aus dem Busfenster. Welchem Mädchen ich heute Nacht meine Aufmerksamkeit schenke, wird sich schon zeigen. Hat ja keinen Sinn, sich vorher darüber den Kopf zu zerbrechen, und eigentlich ist es auch nicht wichtig. Wichtig ist nur, dass ich, bei wem auch immer, nicht die Kontrolle verliere … und dass ich lange genug wegbleibe, um beim Heimkommen weder meinem Vater noch meiner Mutter in die Arme zu laufen. Ach, fuck. Was gäbe ich darum, dieses letzte Schuljahr bereits hinter mir zu haben und ausziehen zu können.

»Träumst du, Alter?«

Ich fahre zusammen, merke erst jetzt, dass ich blind aus dem Fenster gestarrt habe.

Christian steht schon an der Tür. »Wach auf, wir müssen raus.«

Der Bus hält, und ich springe auf. In letzter Sekunde stolpere ich mit meinem schweren Anhänger nach draußen.

Ein Jahr noch, denke ich und blinzele in die Abendsonne, ein Jahr.

Dann bin ich für immer weg von dieser Insel.

Kapitel 3Svea

Als wir mit dem Putzen und Aufräumen fertig sind, liegt die Station in rosagraue Dämmerung gehüllt. Die letzten Besucher sind fort, bis auf das leise Plätschern des Wassers und das Geschrei der Möwen herrscht nun Stille. Torben widmet sich dem Schriftkram im Büro, der Tierarzt ist gekommen und wieder gegangen, und die Praktikanten haben sich in ihre Zimmer zurückgezogen. Alle freuen sich auf ihren Feierabend.

Alle bis auf Jörn.

»He, ihr zwei Hübschen, warum habt ihr es denn so eilig?«, ruft er und kommt Rieke und mir hinterhergejoggt, als wir untergehakt in Richtung Ausgang schlendern.

Wir drehen uns um, Rieke schlagartig genervt, ich mit einem gezwungenen Lächeln. Jörn hatte heute Dienst im Info-Bereich, darum haben wir ihn den ganzen Tag über nicht gesehen. Allzu traurig hat uns das nicht gestimmt.

»He, Jörn«, sage ich dennoch freundlich, um Riekes abweisende Miene wettzumachen. »Noch nicht am Strand? Dort steigt doch heute die Ferienabschlussparty.«

»Ja, aber das ist eine Schülerparty«, sagt Jörn und grinst unverschämt. »Ich bin FÖJ-ler, schon vergessen? Mit euch grünem Gemüse habe ich schon lange nichts mehr gemein.«

Ich verdrehe die Augen. »Nur weil du ein freiwilliges ökologisches Jahr machst, heißt das nicht, dass du automatisch mit den großen Jungs spielen darfst, weißt du? Dazu gehört schon ein bisschen mehr.«

Jörn lacht. »Ach, und was?«

»Seelische Reife zum Beispiel«, sage ich hochmütig und klinge dabei fast wie Frau Schneider, meine Klassenlehrerin.

»Keine Sorge, seelische Reife besitze ich.« Jörn zwinkert mir zu. »Ich bin schon lange in der aufregenden Welt der Erwachsenen angekommen. Im Gegensatz zu dir, meine kleine Unschuld.«

Mein Hochmut verabschiedet sich, und eine Schrecksekunde lang verschlägt es mir die Sprache. Bilder zucken durch meine Erinnerung, von einem keuchenden Jörn und von mir selbst, enttäuscht und abgestoßen, als ich höre, was er gerne mit mir machen würde.

Doch dann schießt mir zornige Röte ins Gesicht. Wir hatten ausgemacht, dass wir es begraben und vergessen wollen, und das bedeutet, dass wir nicht darüber sprechen. Warum also, verflixt noch mal, hält Jörn nicht seine Klappe?!

Gerade will ich bissig sagen, dass ich unter seelischer Reife etwas anderes verstehe als ausgerechnet das, worauf Jörn anspielt, als Rieke sich einmischt.

»Damit wäre dieses Gespräch beendet«, schnappt sie. »Tschüss, Jörn. Leute wie du bleiben der Party heute Abend schön fern, kapiert?«

Ich lasse mich bereitwillig von Rieke zum Ausgang ziehen, denn mal ehrlich, nach so einer Indiskretion hat Jörn es nicht besser verdient, als stehengelassen und von Rieke angegiftet zu werden.

»Mensch, Rieke, sei doch mal ein bisschen entspannter«, ruft Jörn ihr hinterher. »Ich versteh gar nicht, was du gegen mich hast. Magst du keine Männer?«

»Doch«, knurrt sie, ohne sich umzudrehen. »Aber nicht solche wie dich. Ich steh nicht auf Perverse!«

»Jetzt sei bloß still«, raune ich ihr erschrocken zu. »Er braucht ja nicht zu wissen, dass ich dir alles erzählt habe!«

»Warum nicht? Vielleicht schämt er sich dann wenigstens dafür. Die aufregende Welt der Erwachsenen, pah!«

Grimmig zieht Rieke mich durch den Ausgang nach draußen, während ich einen unbehaglichen Blick zurückwerfe. Jörn steht mit gerunzelter Stirn da, und ich kenne ihn gut genug, um zu ahnen, was er sich gerade fragt: Erstens, wie viel Rieke über ihn weiß – und zweitens, ob seine freche Anspielung nicht ein ziemliches Eigentor war.

Als ich endlich mit dem Fahrrad auf dem Weg zum Oststrand bin, ist die Nacht bereits hereingebrochen. Ich bin spät dran, bestimmt sind alle anderen schon am Feiern, aber mein Vater war nicht daheim, also musste ich mir selbst etwas kochen. Und da ich darin ziemlich ungeübt bin, hat das eine Weile gedauert (vor allem das Putzen des völlig verkohlten Topfbodens).

Die Nachtluft fühlt sich warm und samtig an. Passend zu den hochsommerlichen Temperaturen trage ich das kurze, cremeweiße Kleid und keinen Helm. Immerhin ein Vorteil, wenn man quasi elternlos geworden ist: Niemand überredet einen dazu, hässliche Fahrradhelme aufzuziehen. Papa war ja noch bei der Arbeit, als ich gegangen bin, und Mama … Überflüssig, dazu etwas zu sagen.

Aber die sehnsüchtige Stimme in meinem Kopf flüstert es doch: Ihr war meine Sicherheit wichtig, auch wenn es mich genervt hat. Sie hat auf so etwas geachtet. Aber Mama ist ja fort.

Eigentlich wäre es gar nicht so schlimm, dass ich meine Mutter nicht mehr sehe. Ich bin sowieso kaum zu Hause, und nach dem Abi nächstes Jahr werde ich bestimmt ausziehen. Aber dass ich meine Mutter nicht sehen darf, selbst wenn ich es wollte, und vor allem, dass ich fast verrückt werde vor Sorge um sie – das macht mir zu schaffen.

Und deshalb fehlt sie mir, obwohl die Zeit ohne sie gerade erst begonnen hat.

Gleichzeitig bin ich wütend auf meine Mutter, so sehr, dass es sich beinah anfühlt wie Hass. Liebe und Hass im Doppelpack: Dass es das gibt, hätte ich früher nicht für möglich gehalten. Früher? Vor wenigen Wochen. Als ich noch nicht ahnte, dass meine heile Welt so ruckzuck in sich zusammenfallen würde. Wie dumm ich war! Wie naiv. Wie vertrauensvoll.

Aber verdammt, meine Mutter hat es nicht verdient, dass ich mir den Kopf über sie zerbreche! Sie hat sich das alles schließlich selbst eingebrockt.

Meine Wut schickt sich an, alle anderen Gefühle zu überdecken, und das ist gut so, denn Wut ist besser als Sorge und Hilflosigkeit. Also erlaube ich mir, mich ein paar Pedaltritte lang ungehemmt hineinzusteigern: in den Zorn über das, was meine Mutter mir, Papa und sich selbst angetan hat. Den Zorn über ihre kurzsichtige Weigerung, an die Folgen zu denken.

Doch dann, meinen blöden Gefühlsschwankungen sei Dank, schlägt der Zorn in Fassungslosigkeit um, in bittere Enttäuschung, in Sehnsucht. Und von dort, das weiß ich aus Erfahrung, ist es leider nur ein kurzer Weg, bis ich erneut bei Sorge und Trauer landen werde.

Und deshalb muss ich mich jetzt schnellstens auf andere Gedanken bringen.

Verkrampft durchforste ich meinen Verstand nach etwas, das mich ablenken könnte, während ich den sandigen Dünenweg entlang zum Strand radele. Meine Gedanken landen bei … hm, bei … bei … na gut, dann eben wieder bei Jörn. Mich mit Jörn zu beschäftigen ist okay, denn Jörn ist ein kleines Problem, und kleine Probleme lenken hervorragend von großen Problemen ab.

Also stürze ich mich kopfüber in die Welt der Nichtigkeiten. Frage mich, ob Jörn der letzten rauschenden Party des Sommers wirklich fernbleiben wird, wie Rieke es von ihm verlangt hat. Denn ehrlich, ich habe da so meine Zweifel. Egal was er sagt, Jörn feiert genauso gerne Partys wie wir »grünes Gemüse«, und in einer Nacht wie dieser wäre es fast schon eine Sünde, nicht am Strand zu sein: Die ganze Insel stöhnt unter der ungewohnten Hitze, und das muss man schließlich ausnutzen – nicht nur Jörn übrigens, sondern auch Rieke und ich. Denn am Montag wird für uns die zwölfte Klasse anfangen, und das bedeutet, dass wir ein extrem lernintensives Schuljahr vor uns haben. Da ist es nix mehr mit wilden Partys, jedenfalls nicht, bis wir das Abi in der Tasche haben. Weshalb Rieke es heute noch mal so richtig krachen lassen will, und ich in ihrem Schlepptau ebenfalls.

Jörn kann das Ende der Schulferien natürlich egal sein. Er hat sein Abi ja schon hinter sich, ist angekommen in der Welt der Erwachsenen, wie er so schön sagt. Jetzt auf dem Rad, mit ein bisschen Abstand zu seinem unverschämten Blick, kann ich fast nicht mehr glauben, dass er mit seiner Bemerkung vorhin tatsächlich auf unsere missglückte Beziehung angespielt hat. Vielleicht war das alles ganz harmlos gemeint! Denn Jörn ist eigentlich ein netter Kerl, freundlich und relaxt, und selbst Rieke gibt zu, dass er toll aussieht mit seinen schwarzen Locken und den blauen Augen.

Ich denke zurück an den Frühling, als ich Jörn gerade in der Seehundstation kennengelernt hatte.

Gott, was war ich in ihn verknallt! Und glücklich, so glücklich, als wir ein Paar wurden. Ein paar Wochen lang dachte ich tatsächlich, dass ich diesmal das große Los gezogen hätte.

Tja, mit der Seligkeit war es dann ziemlich schnell vorbei. Nämlich exakt in der Nacht, in der ich gemerkt habe, dass Jörn unter erfülltem Sex etwas grundlegend anderes versteht als ich. Und auch wenn ich mich nicht für prüde halte, so habe ich doch meine Grenzen – und die sind wesentlich enger gesteckt als Jörns.

Ich trete heftiger in die Pedale. Gerne erinnere ich mich nicht an jene Nacht, obgleich ich standhaft versuche, Jörns Vorschlag als interessante Erfahrung zu verbuchen. Ich meine, wie könnte ich sonst mit Jörn befreundet bleiben?! Es ist doch so: Dass Jörn sexuelle Wünsche hat, die ich ganz und gar nicht teile, gibt mir nicht das Recht, mich moralisch über ihn zu stellen.

Das zumindest rede ich mir ein.

Rieke ist da weniger politisch korrekt. Sie war schlicht und einfach empört, als ich ihr erzählt habe, aus welchem Grund ich mit Jörn Schluss gemacht hatte. »So ist der drauf?«, hat sie gekreischt. »Und das habt ihr gemacht?«

»Nein, haben wir nicht«, versuchte ich sie zu beruhigen. »Darum ist es ja aus zwischen uns! Weil ich mir nicht vorstellen könnte, so etwas zu tun.«

»Aber er wollte es?«

»Ja.«

»Igitt, Svea! Igitt, igitt, igitt!«

Rieke hat sich gar nicht wieder eingekriegt, und das hat mich denn doch gewundert. Ich meine, immerhin wollte Jörn mich nicht auspeitschen, er hat mein striktes »Nein« mit Fassung getragen und auch verstanden, dass ich nach jener Nacht nicht mehr seine Freundin sein wollte. Eine Weile war ich noch sauer und beschämt, und Jörn erschien mir zerknirscht, aber wir haben es beide ganz gut überlebt.

Tja, und jetzt? Ist zwischen Jörn und mir alles im grünen Bereich. Wir hassen uns nicht, es gibt nichts, was wir uns gegenseitig vorzuwerfen hätten, und wir können ohne Bauchgrimmen miteinander reden. Das ist das Wichtigste, schließlich laufen wir uns in der Seehundstation ständig über den Weg. Schon deshalb müssen wir uns weiterhin verstehen.

Denn ich brauche die Station.

Ich kann es mir nicht leisten, meinen sicheren Hafen zu verlieren. Allein schon der Gedanke, dass es so kommen könnte, beschert mir Schnappatmung. Irgendetwas muss doch Bestand haben, verflucht!

Und damit wäre ich statt bei kleinen Problemen wieder beim großen angelangt. Jörn in meinem Kopf verblasst, und wie ein Raubtier springt mich an, was wirklich wichtig ist: mein vereinsamtes Zuhause, mein Vater mit seiner Vogel-Strauß-Politik, meine unerreichbare Mutter – und das bodenlose Loch, in das meine Familie stürzen würde, wenn die Leute davon Wind bekämen. Ein Loch aus Arbeitslosigkeit, Hartz 4 und sozialer Ausgrenzung.

Wie hat mein Vater es letztens genannt?

Sippenhaft.

Panik will in mir aufwallen, doch ich radele wie der Teufel dagegen an. Verfluche meine herumspringenden Gedanken, die sich nicht auf Kurs halten lassen wollen, verfluche meine Gefühlsschwankungen, verfluche meine Eltern und die furchtbare Zeit, die vor mir liegt.

Bis durch die samtige Dunkelheit Musikfetzen zu mir herüberwehen. Ich keuche vor Anstrengung und Frustration, halte mich verbissen an der Musik fest, klammere mich an die Normalität, die sie verheißt. Menschen, Vergessen, Fröhlichkeit, all das wartet auf mich, nur noch ein paar Sandhügel entfernt! Ich kann der Panik Paroli bieten, natürlich kann ich das. Alles ist gut, kaum jemand weiß etwas, und so werde ich mein gewohntes Leben einfach weiterleben.

O ja, das werde ich! Das werde ich.

Mein heftig klopfendes Herz beruhigt sich, die Panik ebbt zögernd ab. Ich bleibe erschöpft zurück, wie ein angestochener Luftballon, der leer und schrumpelig auf dem Fahrrad klebt. Die letzten Meter bringe ich hinter mich, ohne zu fühlen oder zu denken, was nicht der schlechteste Zustand ist, und als ich endlich den Oststrand erreicht habe, steige ich vom Rad und lasse es achtlos in den Sand fallen. Ich will zu meinen Freunden, und zwar schnell. Bevor die Angst mich erneut überfallen kann.

Auf einem Weg aus verwitterten Holzplanken laufe ich durch die mit Strandhafer und knorrigen, silbrigen Sanddornbüschen bewachsenen Dünen. Der Oststrand ist wild und unbewacht, anders als an den Stränden im Norden und Westen gibt es hier weder Cafés noch Strandkörbe, nur weißen Sand und endlosen Himmel, kreischende Möwen, Muschelschalen und Tang. Und natürlich, alles andere beherrschend, das tiefe, bleigraue Meer.

Wellenrauschen und die harten, schnellen Beats der Surfermusik begrüßen mich. Die Flammen mehrerer Lagerfeuer lodern hoch in den Abendhimmel, zwei Mädchen aus meiner Klasse winken mit ihren Bierflaschen zu mir rüber, und eigentlich sollte sich spätestens jetzt, wo es laut und fröhlich ist, die gewohnte Feierlaune bei mir einstellen.

Tut sie aber nicht.

Stattdessen fühle ich mich plötzlich fehl am Platz, als wäre ich die Einzige hier, die mit uncoolen Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Und das macht mir wieder bewusst, dass ich diese Schwierigkeiten unbedingt geheim halten muss. Also stapfe ich extra lässig durch den abendkühlen Sand und versuche, zumindest so zu wirken, als hätte ich Spaß, während ich hier Hallo sage und dort ein Lächeln verschenke, eigentlich aber bloß zu Rieke will, denn mit Rieke geht es mir immer gut. Sobald ich sie gefunden habe, wird das hier eine tolle Nacht, mit Funkenflug und Samthimmel und einem angenehmen Rauschlevel. Ganz sicher.

Doch wohin ich meinen Blick in der Dunkelheit auch schweifen lasse, ich entdecke meine Freundin nicht. Ob sie noch gar nicht da ist?

Komisch, wie viel Halt sie mir gibt, schießt es mir durch den Kopf, während ich angestrengt umherschaue. Unsere Verbundenheit erscheint mir mit einem Mal bedenklich. Ich fühle mich abhängig, frage mich, ob ein gewisser Abstand nicht gesünder für mich wäre. Schließlich kann sich Vertrauen als trügerisch erweisen und emotionale Sicherheit als brüchig, selbst bei den Menschen, die einem am Nächsten stehen. Habe ich das nicht gerade erst erfahren?

Auf der sicheren Seite ist man nur, wenn man sich an nichts und niemanden bindet.

Denn wenn man allein ist, kann man auch niemanden verlieren.

Sind Rieke und ich also zu viel zusammen?

Über die Antwort muss ich nicht lange nachdenken. Ich meine, wann sind wir schon mal getrennt? In der Schule sind Rieke und ich Banknachbarinnen, in der Seehundstation lassen wir uns in die gleichen Schichten einteilen. Wir mögen es beide, nachmittags am Strand den waghalsigen Kitesurfern zuzuschauen, und oft gehen wir danach zusammen in die Wellenbar. An ihrem achtzehnten Geburtstag – sie ist fast ein Jahr älter als ich – hat Rieke es sogar vorgezogen, mit mir zu feiern statt mit ihrem Freund! Obwohl die beiden seit Ewigkeiten zusammen sind, denn Timon ist Riekes unangefochtener Mr Right. Und ich muss zugeben, er verdient diesen Ehrentitel: dunkles Haar, graue Augen, liebendes Herz, verständnisvolle Seele. Timon will Psychologe werden, und ich bin sicher, er wird der beste Seelenklempner aller Zeiten.

Rieke und Timon sind sich unerschütterlich treu, und es würde mich nicht wundern, wenn sie sich schon vor Jahren auf die Namen ihrer zukünftigen Kinder geeinigt hätten. Irre, oder? Während ich selbst nicht sicher bin, ob ich auch nur an die große Liebe glaube, lebt Rieke sie mir tagtäglich vor! Das finde ich manchmal total süß (vor allem dann, wenn ich selbst gerade verliebt bin) und manchmal total frustrierend (wenn sich ein weiterer Traumprinz an meiner Seite als Frosch entpuppt hat). Rieke ihrerseits ist ständig bestrebt, mich zu verkuppeln, damit auch ich endlich im siebten Himmel lande – vorzugsweise mit einem netten, einfühlsamen, intelligenten Kerl mit Waschbrettbauch. Nur schade, dass diese Kombination ziemlich selten ist.

Langsam gehe ich ans Wasser, schnappe mir ein Bier aus einem der Kästen, die halb im Sand eingegraben in den Wellen kühlen, nehme einen tiefen Schluck und setze meine Suche fort. Hauke aus meiner Klasse will mich in ein Gespräch verwickeln, Annette und Ilka kommen hinzu, aber nach ein paar Minuten Small Talk lasse ich die drei stehen und suche weiter nach Rieke. Gesunder Abstand hin oder her, ich muss nicht gerade heute damit anfangen, ein Leben in heroischer Einsamkeit zu führen. Das reicht auch morgen noch, oder übermorgen.

Irgendwann halt, wenn ich mich etwas stabiler fühle.

Und gerade, als ich denke, dass dieser Zustand möglicherweise noch in verdammt weiter Ferne liegt, entdecke ich sie: Inmitten eines Pulks von lachenden Jungs und Mädchen steht Rieke an einem der Lagerfeuer.

Ihre Hände gestikulieren wild in der Luft, und ihr Mund ist unaufhörlich in Bewegung. Sie erzählt, schauspielert und gibt irgendeine Szene zum Besten, die alle um sie herum zum Kreischen bringt. Trotz meiner düsteren Stimmung stiehlt sich ein Lächeln auf mein Gesicht. Rieke, die Stimmungskanone.

»Svea!«, schreit sie, als sie mich entdeckt.

Sie läuft mir entgegen und umarmt mich, so fest, als hätten wir uns seit Wochen nicht gesehen und uns nicht erst vor drei Stunden getrennt.

»He, langsam«, grinse ich und mache mich von ihr los.

Sie umarmt mich sofort wieder, drückt mir sogar einen Kuss auf die Wange. Sie küsst mich?! So anhänglich ist Rieke sonst nicht, und außerdem riecht sie wie ein Bierfass. Ist sie etwa betrunken, jetzt schon? Sie kann doch kaum länger hier sein als ich!

»Die Nacht ist noch jung, Rieke. Solltest du nicht einen Gang zurückschalten?« Ich zwinkere ihr zu, um meinen mahnenden Worten die Schärfe zu nehmen und nicht zum zweiten Mal an diesem Tag zu klingen wie Frau Schneider.

»Och komm, sei keine Spaßbremse.« Rieke lächelt strahlend. »Das hier ist unsere letzte Strandparty für dieses Jahr! Unsere aller-, allerletzte Schülerparty! Nächstes Jahr sind wir grau und erwachsen.«

»Du bist erwachsen«, erinnere ich sie.

»Jaaa, aber nicht grau, und noch nicht mit der Schule fertig, also gilt das nicht so richtig«, beharrt Rieke. »Komm mit ans Feuer, wir haben gerade echt Spaß.«

Urplötzlich senkt sie die Stimme und raunt mir beschwörend zu: »Außerdem sind ziemlich viele gutaussehende Jungs da. Wie wäre es, wenn wir uns endlich mal wieder nach einem Freund für dich umschauen?«

Ich seufze. »Klar. Das ist ja genau das, was ich im Moment gebrauchen kann.«

Doch die Ironie meiner Worte geht vollkommen an Rieke vorbei.

»Eben!«, sagt sie eifrig. »Also komm, schmeiß dich ins Getümmel, vielleicht in die Nähe von … äh … Robert?«

»Robert? Ganz sicher nicht.«

»Erik?«

»Rieke, jetzt mach mal einen Punkt.«

»Sebastian?«

»Rieke, du …«

»Marius?«

»Rieke!!!«

»Okay, dann eben … Nick? Oh ja, der wäre was für dich! Er ist mit Abstand der heißeste Junge, den ich kenne.« Nach einer kleinen, verträumten Pause räuspert sie sich und fügt pflichtschuldigst hinzu: »Abgesehen von Timon, natürlich.«

Ich schüttele bloß den Kopf. Robert, Erik, Sebastian und Marius waren ja schon schlechte Vorschläge, aber Nick Pietersen wäre wirklich der Allerletzte, mit dem ich mich von Rieke verkuppeln lassen würde. Er geht in unsere Parallelklasse – unser vorsintflutliches Insel-Gymnasium hält hartnäckig am Klassensystem für die Oberstufe fest –, und das Einzige, was für ihn spricht, ist sein Aussehen. Denn in diesem Punkt hat Rieke recht: Nick ist heiß. Vom dunkelblonden Schopf bis zu den braungebrannten Zehen.

Aber leider weiß der Kerl das auch, und entsprechend arrogant benimmt er sich. In schönster Regelmäßigkeit betrügt er seine Freundin und macht nicht einmal ein Geheimnis daraus. Oh ja, der wäre was für mich. Haha.

»Du weißt genau«, sage ich abfällig, »dass ich von Typen wie Nick nichts will.«

Rieke wischt meine Worte mit einer ausholenden Handbewegung beiseite.

»Natürlich willst du was von Nick«, sagt sie im Brustton der Überzeugung. »Was spricht denn gegen ihn? Er hat unglaublich schöne Augen, und außerdem ist er der beste Kitesurfer der ganzen Schule.« Rieke wirft einen Blick über die Schulter zum Feuer. »Übrigens stand er gerade noch dahinten. Komisch, jetzt ist er weg. Was meinst du, wollen wir ihn suchen gehen?«

Ihn suchen gehen? Meint sie das ernst?

Meine Stimmungsschwankungen fordern ihr Recht ein, und ich fange an, mich heftig über meine Freundin zu ärgern. So sehr ich mich auf sie gefreut hatte, so sehr geht es mir jetzt gegen den Strich, dass sie in dieser sorglosen Was-kostet-die-Welt-Stimmung ist. Vor allem, weil ich selbst meilenweit davon entfernt bin.