Like words on our skin - Mehwish Sohail - E-Book

Like words on our skin E-Book

Mehwish Sohail

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Beschreibung

"Hast du keine Angst?", fragt er.

Davor, dass du wieder verschwinden wirst? Oder davor, was es mit mir machen wird, dich wieder reinzulassen?

"Ein bisschen", flüstere ich. "Du?"

"Sehr viel sogar."


Vor mehr als einem Jahr hat Ibrahim jeglichen Kontakt zu Sadia abgebrochen - einfach so, ohne Erklärung. Aus endlosen Gesprächen, nachts, im Büchercafé, zwischen Regalen voller Bücher, wurde schmerzhafte Funkstille, und Sadia fragt sich noch heute, was sie falsch gemacht hat. Als Ibrahim nun auf einer Party plötzlich wieder vor ihr steht, genauso vernichtend schön wie damals, weiß sie, dass sie sich einfach umdrehen und ihr Herz vor einer neuen Enttäuschung schützen sollte. Doch Ibrahim ist Ibrahim, und Sadia ist Sadia. Wenn die beiden zusammen sind, ergibt die Welt plötzlich ein wenig mehr Sinn. Und auch wenn Sadias Kopf ganz deutlich Nein sagt, kann sie sich einfach nicht von Ibrahim fernhalten ...


"Ibrahims und Sadias Geschichte ist alles, was dem Herzen guttut, gleichzeitig voller Schmerz. Ein so hingebungsvolles literarisches Meisterwerk, das nicht nur für Hunger im Magen sorgt, sondern auch in der Seele." BASMASBOOKS


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Seitenzahl: 668

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Leser:innenhinweis

Widmung

Playlist

Desi Playlist

Prolog

1. Teil: Die Liebesgeschichte

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

Interludium

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

2. Teil: Vergebung

Erste Woche

Zweite Woche

Dritte Woche

Vierte Woche

Fünfte Woche

Sechste Woche

Achte Woche

Zehnte Woche

Einundzwanzigste Woche

Siebenunddreißigste Woche

3. Teil: Heimkehr

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

Nachwort

Ein weiteres Nachwort

Danksagung

Die Autorin

Die Romane von Mehwish Sohail bei LYX

Impressum

Mehwish Sohail

Like words on our skin

Roman

Zu diesem Buch

Vor mehr als einem Jahr hat Ibrahim den Kontakt zu Sadia abgebrochen – einfach so, ohne Erklärung. Aus endlosen Gesprächen in einem Büchercafé, zwischen Regalen voller Bücher und während kalter Regennächte, wurde schmerzhafte Funkstille, und Sadia fragt sich noch heute, was sie falsch gemacht hat. Als Ibrahim nun auf einer Party plötzlich wieder vor ihr steht, genauso vernichtend schön wie damals, weiß sie, dass sie sich einfach umdrehen und ihr Herz vor einer neuen Enttäuschung schützen sollte. Doch Ibrahim ist Ibrahim, und Sadia ist Sadia. Wenn die beiden zusammen sind, werden die Nächte erneut zu einem Geheimnis zwischen ihnen und die Tage weniger erdrückend. Tage, an denen Sadia eine gut integrierte Tochter spielt, die Jus studiert, obwohl sie am liebsten nur in der Küche neue Rezepte ausprobieren will. Tage, an denen Ibrahim immer stärker das Gefühl hat, dass es in diesem Leben keinen Platz für ihn gibt – weder in seiner Heimatstadt Wien, noch in seiner eigenen Familie, von der er sich immer mehr entfernt hat. Aber wenn die beiden zusammen sind, ergibt die Welt plötzlich wieder etwas mehr Sinn. Und auch wenn Sadias Kopf ganz deutlich Nein sagt, kann sie sich einfach nicht von Ibrahim fernhalten …

Liebe Leser:innen,

bitte beachtet, dass Like words on our skin Elemente enthält, die potenziell triggern können. Diese sind:

Leistungsdruck, Depression, Panikattacken, Suizidgedanken, Suizidversuch

Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.

Eure Mehwish und euer LYX-Verlag

Für die Kinder mit den Karussellköpfen, die Kinder ohne Mutter- und Vatersprachen.

Für meine Geschwister: Ayeshah, Umar, Asmah und Ali

Playlist

Where is my Mind? – Pixies

Baby, I love you – Aretha Franklin

This is your Life – The Dust Brothers, Tyler Durden

Pass the Dutchie – Musical Youth

DOUR – IZRAA

Bad Boy – Red Velvet

EARFQUAKE – Tyler, the Creator

So High – Doja Cat

Stan Instrumental – Eminem

Lost Cause – Billie Eilish

Haunted – Laura Les

We could have been so good together Remix – Yusei

Running Up That Hill – Kate Bush

Mirror – Kendrick Lamar

Pruna – Flughand

Interlude_dream, Reality – Agust D

I Will Survive – Gloria Gaynor

After the Storm – Kali Uchis, Tyler, the Creator, Bootsy Collins

Out of Time – The Weeknd

Good Days – SZA

Die Hard – Kendrick Lamar

Electric – Alina Baraz, Khalid

Can’t Love You Anymore – IU, OHHYUK

Desi Playlist

Ok Jaanu Title Track – »Ok Jaanu«

Kun Faya Kun – »Rockstar«

Akh Lad Jaave – Loveyatri

Heeriye – Jasleen Royal, Arijit Singh, Dulquer Salmaan

Sunn Raha Hai Female Version – »Aashiqui 2«

Bulleya – »Ae Dil Hai Mushkil«

Pasoori – Shae Gill, Ali Sethi

For Aisha – »The Sky is Pink«

Tu Jaane Na – »Ajab Prem Ki Ghazab Kahani«

Sad Girls Luv Jiya Jale Cover and Remix – SANJ

Kali Kali Zulfon Ke Cover – Madhur Sharma, Swapnil Tare

Enna Sona – »Ok Jaanu«

Prolog

Sadia

Es gibt diese Tradition bei uns, bei der die erste Mahlzeit, die ein frisch vermähltes Ehepaar zu sich nimmt, von einem gemeinsamen Teller gegessen wird. Der erste Bissen wird von der Hand des jeweils anderen genommen, und ich fand schon immer, dass das viel intimer ist als ein Kuss. Dieser Moment, wenn die Finger des einen die Lippen des anderen berühren. Wie sie sich dabei in die Augen sehen. Wie der gleiche Geschmack sich in ihren Mündern ausbreitet: Ein Geschmack, benetzt von der Haut der Person, der man damit verspricht, ab sofort nicht nur das Essen miteinander zu teilen – sondern ein ganzes Leben.

Meine Eltern haben diese Tradition von ihrer Hochzeit mit in ihre Ehe genommen. Auch nach fünfundzwanzig Jahren haben sie nicht aufgehört, von einem einzigen Teller zu essen. Bei jeder Mahlzeit, die sie zusammen einnehmen können, stellt meine Mutter den Teller auf eine Ecke unseres Esstisches, dort, wo ein besserer Zugang für beide gewährt ist. Dann setzt sie sich an einer und mein Vater an der anderen Seite hin, dicht um diese Ecke gedrängt. Der Anblick ihrer zueinander gebeugten Köpfe über einem dampfenden Mahl hat sich tief in mein Gedächtnis gegraben.

Je älter ich werde, desto mehr fallen mir auch die kleinen Gesten auf, die sie in diesen Momenten miteinander teilen. Wie selbstverständlich sich mein Vater das meiste vom Fleisch herauspickt, weil meine Mutter die würzige Soße bevorzugt. Wie sie wiederum das besonders scharfe Gemüse für sich zur Seite schiebt, weil er es lieber milder mag. Wie sie darauf achten, dass ihre jeweiligen Gläser immer voll sind, damit sie nicht zu trinken vergessen. Diese verstohlenen Blicke, die gemurmelten Unbefangenheiten, eine so einfache und doch jeder Einsamkeit trotzende Nähe. All diese Kleinigkeiten, die am Ende das große Ganze bilden.

Ich werde auch nie den Sommer vergessen, in dem meine Mutter rapide abgenommen hat. Damals konnte mein Vater aufgrund seiner Arbeit nicht wie üblich den Urlaub in Pakistan mit uns verbringen. Meine Mutter passte die Portionen auf ihrem Teller zwar nur mehr einer Person an, aß dennoch lediglich die Hälfte davon. Den Rest schob sie ordentlich auf die andere Seite, als erwarte sie, dass Papa jeden Moment hungrig von der Arbeit käme. Nachts, wenn wir uns schlafen legten und ich so tat, als wäre ich schon lange weggedöst, fragte sie ihn flüsternd am Telefon, was er heute gekocht habe, ob er ordentlich gegessen habe.

»Ja, habe ich. Und du?«

Sie antworte mit derselben Sicherheit: »Ja, ich bin satt.«

Und doch, da bin ich mir sicher, wussten sie beide, dass sie logen. Aber sich mit Worten einzugestehen, dass sie sich nach dem jeweils anderen sehnten, war noch nie ihre Art gewesen. Stattdessen ließen sie die Hälfte ihrer Teller voll, wenn der andere fehlte.

Wenn mich jemand fragen würde, worauf meine Leidenschaft für das Kochen beruht, dann kommt mir all das in den Sinn. Diese geteilten Teller meiner Eltern und ihre leise Zuneigung. Meine Antwort wäre:

Kochen ist meine Leidenschaft, weil ich mich nach der Liebe sehne.

1. Teil

Die Liebesgeschichte

1. Kapitel

Ibrahim

Man muss wohl erst sterben, um wiedergeboren zu werden, das ist der Scheiß mit zweiten Chancen.

»Abi, steh auf.«

Erst wenn du ganz unten ankommst, wirklich ganz, ganz unten, dann kann dir die Erleuchtung kommen. Sie kann sich in allem manifestieren. Gott, die Religion. Oder eine neue Sucht, ein Kult. Vielleicht Therapie, du denkst dir: Fuck, so geht’s nicht weiter, ich muss jetzt die Bremse ziehen. Und dann ist die Bremse halt, Hilfe anzunehmen.

Aber du musst erst ein Zeichen vom Universum bekommen, um das überhaupt zu checken.

»Ibrahim.«

Die Sache ist, je nachdem, wie tief du bereit bist zu gehen, kann dieses Zeichen alles Mögliche sein. Eine Tür, die sich durch einen Windstoß schließt, zum Beispiel. Ein Brunnen, aus dem plötzlich Wasser fließt, wenn man’s biblisch sehen will. Oder eine Telefonnummer, die du verloren geglaubt hast und die du zum perfekten Zeitpunkt wiederfindest. Du wählst die Nummer, panisch, weil du weißt, sonst war’s das jetzt, und dein ehemaliger bester Freund, deine Ex, die du immer noch liebst, deine Familie, irgendjemand, an den du dich klammern willst, hebt ab. Das Erste, was du sagst, ist: He, ich will nicht mehr, hab nur mehr Leere in mir, keine Hoffnung mehr. Und dann: Kannst du mich retten? Sie antworten mit irgendwas Belanglosem, etwas, das dir nicht weiterhilft. Nur du kannst dich retten, und so ein Mist. Aber Hauptsache, sie sind da. Sie sind da. Ich bin für dich da. Rede mit mir, bleib dran, ich bin da.

Aber stell dir vor, ihr Handyakku wäre leer, wenn du sie brauchst. Stell dir vor, das Wasser, das aus dem Brunnen fließt, ist voller Dreck. Stell dir vor, die Tür, die sich schließt, sperrt dich von deinem eigenen Leben aus. Was ist schon ein Wunder in dieser Welt? Und wann ist ein Wunder pure Verzweiflung?

»Ibrahim, ich mein das ernst. Wach auf.«

Ich bin ein zu großer Zyniker, um an Scheißwunder zu glauben.

»Abi!«

Jemand stößt mit dem Fuß gegen mein Bein. Ich seufze. Mein Augenlid pocht, mein Schädel pocht, mein Bauch schmerzt. Und für einen kurzen Augenblick steht jemand über mir, der da nicht stehen sollte. Nicht stehen könnte.

Bist du’s?, denke ich mir. Bist du hier, um mir ein Zeichen zu geben? Diese Lippen, diese Augen, dieser sture Blick. Es ist über ein Jahr her, seit wir uns zuletzt gesehen haben, aber Erinnerungen an sie bleiben vorherrschend. Eigentlich beeindruckend, wenn man darüber nachdenkt. An einem Tag vergeht keine Sekunde, in der man nicht miteinander redet, am nächsten herrscht Funkstille. Manchmal ist Abstand die beste Lösung, hat sie mir einmal geschrieben. Manchmal braucht man neue Wege, um zueinanderzufinden. Das war nicht auf uns bezogen, sondern auf ein Buch, das sie zu dieser Zeit gelesen hat, Gayle Forman, nur ein einziger Tag oder Jahr, kein Plan. Und?, denke ich mir jetzt trotzdem. Hast du wieder zu mir gefunden, Sadia? Gibst du mir noch einen Tag, ein Jahr, ein Leben? Bist du da, bist du da, bist du da?

Sie ist nicht da. Aber irgendjemand ist da.

»Steh sofort auf«, wiederholt die viel zu vertraut klingende Stimme. Der Nebel klärt sich, die Realität setzt ein. Hinter der Wolke aus Tagträumen macht sich die Gestalt meiner Schwester erkennbar.

Maya kniet sich vor mir hin. In ihren Augen ein Kampf aus zwei Gefühlen: Sorge und Wut.

Die Wut siegt letztendlich, als ich zur Begrüßung die Hand hebe und sie schief anlächle. »Hi.« Endlos müde, aber endlich im Jetzt angekommen.

Seelenruhig richtet sich meine Schwester wieder auf und verschränkt die Arme. Wie sie so vor mir aufragt, streng dreinblickend, erinnert sie mich an die Justitia.

»Alter«, ertönt plötzlich eine zweite Stimme im Raum. »Du siehst aus wie Scheiße. Der ganze Laden sieht aus wie Scheiße.«

»Du bist scheiße«, bringe ich reflexartig hervor. Dann hebe ich den Kopf, um nachzusehen, wer gesprochen hat. Es ist Aslan, ein Freund von mir.

Mit Betonung auf dem unbestimmten Artikel. Früher hätte es meinbester Freund geheißen, aber das liegt mehrere Leben hinter uns. Neun Monate Zivildienst des Horrors, ein verschanzter Schulabschluss und zwei Jahre des Stagnierens, um genauer zu sein. Ich blinzle seine müde wirkende Gestalt in Jogginghosen und wirren Haaren an, dann lasse ich meinen Blick durch den Rest des Raums gleiten, um die Lage abzuchecken.

Wir sind in der Wohnung von einem dieser Typen, mit denen ich gestern Nacht durch die Gegend gefahren bin, Marc oder Matt, kein Plan. Ein Sozialbau, klein und eng, mit Mobiliar, das nicht zusammenpasst, und kunstvoll angerichteten Spinnennetzen in den Ecken. Überquellende Aschenbecher, ominöse Flecken an der Wand und tote Pflanzen am Fenster.

Maya stößt mit ihrem Schuh noch mal gegen mein Bein.

Zur Antwort halte ich ihr meinen Mittelfinger hoch. »Hilf mir«, sage ich.

Sie nimmt den Finger und verdreht ihn, bis ich vor Schmerz aufschreie. Fluchend reiße ich meine Hand aus ihrem Griff und presse meinen Arm gegen den Bauch.

»Hearst. Stirbst du jetzt?«, fragt Aslan.

»Nein«, sage ich. »Mir geht’s super, danke der Nachfrage.«

Meine Schwester tippt ungeduldig mit ihrer Schuhspitze auf dem Boden herum.

Ich appelliere erneut an ihren Helfersinn und halte meine Hand hoch. Diesmal nicht nur den Mittelfinger, wohlgemerkt. »Hilfst du mir?«

Wenn Blicke töten könnten, läge ich jetzt wahrscheinlich in meinem Grab. Aber nichtsdestotrotz ergreift sie meinen Arm und hilft mir auf. Zumindest in eine aufrechte Sitzposition, denn zum Aufstehen ist es zu früh. Es ist für alles zu früh, zum Denken, zum Reden, zum Existieren. Immer viel zu früh.

»Ich war in drei verschiedenen Wohnungen, um dich zu suchen«, beginnt Maya. »Und ganz ehrlich, Abi, diese Leute, mit denen du abhängst, das ist einfach nur erbärmlich.«

»Hey!«, ruft Aslan dazwischen.

»Warum ist dein Handy ausgeschaltet?«, fährt sie unbeirrt fort.

Daraufhin muss ich erst mal gähnen. Es ist keine Absicht, sondern kommt unerwartet über mich. Ein besonders gutes Argument ist es trotzdem nicht.

Maya macht eine ruckartige Bewegung. Instinktiv halte ich meine Arme vor mir hoch. »Nicht schlagen!«, rufe ich.

Aber sie hat sich nur von mir gewandt und wirft jetzt die Hände in die Luft. »Ehrlich jetzt!«, faucht sie. »Weißt du, dass ich die ganze Woche über für dich im Laden einspringen musste?« Kopfschüttelnd stampft sie auf die Haustür zu. »Wirklich, Abi. Manchmal frag ich mich echt, warum wir uns das noch geben.«

Der Aufprall der hinter ihr zufallenden Tür hallt schmerzhaft gegen die Innenwände meines Hirns. Ich blinzle gegen den Schmerz an und reibe mir über meine müden Augen.

Als ich wieder aufsehe, steht Aslan vor mir. Er streckt seine Hand aus. »Komm.«

»Was machst du überhaupt hier?«, frage ich. Es muss drei Monate her sein, seit ich zuletzt mit ihm geschrieben habe, noch länger, seit wir uns gesehen haben. Er sieht unverändert aus. Das gleiche Milchbubengesicht, die gleichen grünbraunen Augen, das gleiche Beinahlächeln, das nie sein Gesicht verlässt. Und trotzdem ist er mir heute ein Fremder.

»Deine Schwester ist plötzlich bei uns aufgetaucht«, erklärt er. »Sie wollte wissen, ob ich eine Ahnung hätte, wo du bist. Dachte mir dann, dass ich ihr gleich beim Suchen helfen kann …«

»Du dachtest dir also, du könntest ihr beim Suchen helfen …«, wiederhole ich langsam und betrachte stirnrunzelnd seinen immer noch ausgestreckten Arm.

»Bin halt ein Korrekter.«

Ich haue seine Hand zur Seite und rapple mich selbst unter Ächzen und Stöhnen auf. Langsam dämmert mir, woher die Schmerzen in meinem Körper kommen, und mein düsterer Blick gleitet zu dem umgekippten Couchtisch, der keine so unbeachtliche Rolle dabei gespielt hat. Bilder von Fäusten und einem immer näher kommenden Boden schießen mir vor die Augen. Ich blinzle sie fort und drehe den Nacken hin und her, bis es knackt.

Bevor ich Maya aus dieser Bruchbude folge, klopfe ich meine Jeans ab, um zu prüfen, ob meine Geldtasche noch vorhanden ist. Die Tasche ist noch da, aber Geld keins mehr. Scheiß Marc/Matt und seine Freunde. Mein Handy liegt in der Lederjacke, die Aslan vom Boden klaubt und mir reicht. »Das ist deine, oder?«

Ich nehme sie brummend entgegen, schüttle sie aus und schlüpfe rein. In ihren Taschen liegt auch noch ein Ersatzschlüssel vom Asialaden meiner Eltern, den ich fast vergessen hätte und sicherheitshalber in die Schutzhülle meines halb kaputten Handys stecke. Aslan beobachtet mich mit Geduldsmiene. Wortlos schubse ich ihn mit der Schulter leicht zur Seite, was ihn nur zum Schnauben bringt, und wir verlassen diese Bruchbude gemeinsam.

Mayas Auto, das früher Tariqs Auto war, steht nicht weit von der Wohnung entfernt in einer vollgeparkten kleinen Gasse neben einer türkischen Bäckerei. Als ich mich auf dem Beifahrersitz niederlasse, ist das Pochen in meinem Kopf so intensiv, dass ich die Stimmen um mich herum einen Moment lang nur dumpf höre. Meine Schwester startet das Auto und etwas Kaltes, Schweres landet auf meinem Schoß. Stirnrunzelnd blicke ich auf die Wasserflasche hinunter, die Maya ohne jeglichen Kommentar auf mich geworfen hat.

»Danke«, bringe ich mit raspelnder Stimme raus.

»Sag mal, Maya«, erklingt Aslans gedämpft klingende Stimme vom Hintersitz. »Wie sieht’s aus, hast du eigentlich schon einen Freund?«

Ich spüre ihr Augenverdrehen mehr, als dass ich es sehe.

»Maya«, sage ich. »Du brauchst den nicht nach Hause zu fahren, kannst ihn gleich hier an der nächsten Haltestelle absetzen. Er kommt selbst klar.«

»Hey, urgemein! Ich hab geholfen, dich zu suchen!«

»Maya, lass ihn aussteigen.«

Sie ignoriert uns beide und fährt an der nächsten Haltestelle einfach vorbei. Als ich was sagen will, wirft sie mir einen eisigen Blick zu, der mich sofort zum Schweigen bringt.

Keine Ahnung, warum sie so angepisst ist. Ich habe sie nicht gezwungen zu kommen. Ich zwinge sie nie, zu kommen, und trotzdem steht sie jedes Mal mit enttäuschten Blicken vor mir und erwartet ein Wunder. Genervt lehne ich mich wieder zurück und betrachte die vorbeifahrende Stadt.

Wir fahren durch belebte Straßen an koreanischen Supermärkten, indischen Restaurants und italienischen Eissalons vorbei. An Synagogen, Moscheen, Kirchen, Stadtparks und Wolkenkratzern immer der Donau entlang, die hier und da in ihrer ergrauten Pracht unter den Brücken aufblitzt.

Halten Sie einen Moment inne, fordert uns ein riesiges Werbeplakat neben der Straße auf. Und holen Sie einen tiefen Atemzug.

»Einen tiefen Atemzug für meinen Arsch«, murmelt Aslan und ich schnaube zustimmend.

Im zweiundzwanzigsten Bezirk in der Nähe des Donauzentrums erreichen wir endlich Aslans WG. Er steigt vor einem weißen Häuserblock aus und klopft an mein Fenster. Widerwillig kurble ich die Scheibe runter und starre ihn abwartend an.

Er stützt die Arme am Autodach ab. »Du hast dich echt lang nicht mehr blicken lassen, weißt du?«

»Heul doch.«

»Komm schon, Ibo.«

Auf Türkisch bedeutet Abi großer Bruder, daran hat er sich nie gewöhnen können und mir von Anfang an seinen eigenen Spitznamen verpasst. Wenn er mir Nachrichten schreibt, muss ich nicht auf die Nummer achten, um ihn zu erkennen. Sag mal, Ibo, wie es dir geht, fragt er neuerdings öfter nach. Und sei ehrlich. An guten Tagen antworte ich mit GIFs aus Cartoonserien oder Graffitibildern mit möchtegernphilosophischen Zitaten. Dann frage ich auch nach ihm, nach seiner Familie, aber nie nach seinem Studium, seinen neuen Freunden. An schlechten Tagen antworte ich gar nicht.

Meistens sind die Tage nicht gut.

Meistens sind sie sogar beschissen, und ich glaube, heute könnte so ein Tag werden, wenn wir noch länger hier rumstehen müssen.

»Meld dich einfach mal wieder, okay? Oder komm mal vorbei, wenn du Lust hast.«

Klar. Zu einem Kaffeekränzchen, oder wie? Ich bring dann auch Kekse mit, ja? »Wir müssen jetzt los«, sage ich, seinem Blick ausweichend.

Aslan seufzt. »Okay. Kommt gut nach Hause.« Er klopft gegen das Auto und weicht vom Fenster zurück. »War schön, dich wiederzusehen, Maya.«

»Danke für deine Hilfe«, verabschiedet sich meine Schwester und wir fahren endlich los.

Ich werfe Maya einen Seitenblick zu, um herauszulesen, was sie von diesem kurzen Gespräch zwischen mir und Aslan hält, kann aber ihre Miene nicht deuten. Da sind nur Augenringe, zusammengepresste Lippen und zu einem Knoten gebundene Haare.

Ich versuche, es ihr nachzumachen und sie zu ignorieren. Aber es funktioniert nicht. Ihre Anwesenheit ist wie ein unangenehmes Kribbeln auf der Haut, ich kratze an ihr rum, aber sie weicht nicht zurück.

»Hey«, sage ich, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen, und rutsche auf meinem Sitz hin und her.

Keine Antwort. Mayas Blick ist auf die Straße fokussiert, was nicht unbedingt mit mir zu tun haben muss. Sie hat erst vor Kurzem ihren Führerschein bekommen, seitdem fährt sie nur in Notfällen und dann auch nur kurze Strecken. Für die Fahrt bis nach Hause braucht sie deutlich länger, als es normalerweise der Fall wäre, und ich muss mich davon abhalten, ihre Zurückhaltung zu kommentieren. Aber eine längere Strecke bedeutet längeres Schweigen, und das bedeutet immer kälter werdendes Eis im Auto.

Mein Bauch und mein Kopf und alles tut immer noch weh, als ich noch mal »Hey« sage.

Mayas Umklammerung des Lenkrads wird fester. Sie presst ihre Lippen eng zusammen und runzelt die Stirn. Antwortet immer noch nicht.

»Maya.«

Die Stadt um uns herum versinkt im Boden. Zumindest sieht es so aus, je weiter man sich vom Zentrum entfernt. Die Häuser werden kleiner, unbedeutender, die Abstände zwischen den Haltestellen größer. Immer mehr Grün, natürliches Grün, taucht auf, immer weniger Werbung und Menschen. Über uns sind die Wolken grau. Der Himmel erbebt kurz, als ein Donnern ertönt. Maya seufzt. Leise und kaum merklich, eine unbewusste Reaktion auf das nahende Unwetter. Ich presse meine Hand gegen die Stirn, auf die pochende Stelle. Was drückt mehr? Der Schmerz oder ihre Stille? Ich hasse Stille.

Am Rande der Stadt, fast schon außerhalb Wiens, gibt es ein Weizenfeld. Neben diesem Weizenfeld steht ein lachsfarbenes Haus. Und auf diesem lachsfarbenen Haus sitzt zu jeder Jahreszeit ein Weihnachtsmann auf dem Dach. Direkt davor, unter seinem eindringlichen Grinsen, parkt Maya endlich das Auto.

Keiner von uns beiden steigt aus. Draußen beginnt es zu schütten.

Zwei Tatsachen: Maya steigt nicht aus, weil sie müde ist, immer viel zu müde. Und ich steige nicht aus, weil ich keine Lust habe, mit dem angeschlagenen Gesicht meinen Eltern gegenüberzutreten.

»Abi«, sagt sie und diesmal ist ihre Stimme ein Schaben gegen meine Haut, ich kratze an meinem Arm, an meinem Hals.

»Wenn du tagelang, teilweise wochenlang einfach abtauchst, ohne jemandem Bescheid zu geben, was genau glaubst du, was wir uns dann denken?« Sie gibt mir keine Chance zu antworten. »Wir denken uns, dass dir was passiert ist. Wir machen uns Sorgen. Wir sitzen nicht entspannt rum und leben einfach ganz normal weiter, wir warten auf dich. Und dieses Warten kann echt anstrengend sein, verstehst du?«

Ich presse meine Zähne so fest zusammen, dass es in meinem Kiefer knackt. Ich will das nicht hören. Ich will nicht länger in dem Auto sitzen. Ich will mein Handy rausholen und Sadias alte Nachrichten lesen, bis die Unruhe vergeht. Aber mein Akku ist leer und meine Schwester angepisst auf mich. Unter ihrem Tadel bin ich einfach nur ein beschissenes Kind.

Maya macht die Fahrertür auf. »Wir haben grad Mitarbeitermangel und ich werde es nicht schaffen, noch mal für dich einzuspringen. Also bitte – bitte komm die Woche, okay?« Sie steigt aus. »Und Baba ist nicht zu Hause, also bleib nicht hier sitzen.«

Meine Damen und Herren: Maya Sadeem. Die einzige Person, die meine Gedanken lesen kann. Nur meine Gefühle nicht. Ich blicke ihr durch den Regenschleier hinterher, wie sie durch das Gartentor auf die Haustür zugeht und ins Haus verschwindet.

Erst als ich sicher bin, dass sie sich in ihr Zimmer eingesperrt hat, öffne ich selbst die Wagentür und gehe ins Haus.

Von außen wirkt das lachsfarbene Haus ruhig und gemütlich, aber innen herrscht reinstes Chaos, eine Versinnbildlichung unserer Familiensituation. Seit unser ältester Bruder Tariq weggezogen ist, geht unsere Familie durch so etwas wie eine Midlife-Crisis. Das ist zwei Jahre her, aber Änderungen brauchen immer etwas, um bei uns anzukommen. Immer noch beharren meine Eltern darauf, dass alles beim Alten geblieben ist, gleichzeitig machen sie spontane Aktionen, wie die Wände neu zu streichen oder die Küche umzubauen. Das Wohnzimmer, das an die Küche anschließt, liegt brach, aber heute sind ausnahmsweise keine Typen hier, die gegen die Wände und Böden hämmern, drillen, klopfen. Im oberen Stockwerk, in dem sich unsere Zimmer befinden, stapeln sich Kisten voll mit Zeug von unten, für die meine Eltern keinen besseren Aufbewahrungsort gefunden haben. Ich schlänge mich zwischen den Boxen durch und halte vor Mayas Tür inne. Durch einen Spalt dringt dumpf Musik raus, Pop, harte Bässe, aggressive Frauenstimmen. Einen flüchtigen Moment lang überlege ich, anzuklopfen und mich zu entschuldigen. Nur einen flüchtigen, hauchdünnen Moment lang, dann gehe ich weiter. Weil ich weiß, dass eine Entschuldigung nichts mehr als eine Zeitverschwendung ist, wenn darauf keine Taten folgen. Und ich kenne mich mittlerweile besser, um von einem »Nie wieder« zu sprechen.

Neben Mayas Zimmer liegt das Bad, aus dem ebenfalls Geräusche dringen.

»Nein, du hörst mir zu!«, schimpft eine leise, gehetzt klingende Stimme. Es braucht ein paar Sekunden, um sie zu erkennen: Arwa, Tariqs Freundin. Die hat auch einen Freifahrtschein in unser Haus.

Sofort entferne ich mich und steuere mein eigenes Zimmer an. Die Liste der Personen, die ich zurzeit meide, ist lang, aber Arwa steht ganz hoch oben drauf. Seit sie selbst in Therapie ist und sich besser fühlt, hat sie ein Helfersyndrom in sich entdeckt und mischt sich ständig in die Angelegenheiten anderer ein. Heute habe ich maximal keinen Bock, ihre Fragen zu beantworten.

Es ist aber mein »Glück«, dass just in dem Moment, in dem ich mein Zimmer erreiche, die Badezimmertür aufgeht.

»Abi?«

Tief, tief durchatmen. War ja klar. Mit straffen Schultern und einer unbeeindruckten Miene blicke ich über die Schulter hinweg zu dem Farbfleck, der dort im Türrahmen steht. Pastell-Pullover, Hände voller blauer Spuren und Haare, die ihr im Chaos das Gesicht umrahmen. Arwas Wangen sind rot gefärbt und ihre Augen glühen, die Gefühle scheinen zu brodeln. Es kommt so selten vor, dass ich sie wütend erlebe, dass ich sie einen Moment lang nur fasziniert anstarren kann.

Dann blinzelt sie und der Ärger ist wie fortgewischt. Stattdessen erscheint etwas tausendmal Schlimmeres in ihrem hübschen Gesicht: Mitgefühl.

»Was ist mit deiner Wange passiert?« Ihr Blick gleitet über mein geschlagenes Gesicht zu meiner Kleidung. Ob sie mich in Ruhe lassen würde, wenn ich einfach in mein Zimmer abhaue, ohne etwas zu sagen?

»Ist alles okay bei dir?« Sie kommt näher. Ihre Augen sind groß und braun, sie sehen immer leicht geschwollen aus. Immer viel zu nett und verständnisvoll. Schau mich nicht so an, denke ich mir. Schau mich gar nicht an.

Manchmal weiß ich nicht, was ich schlimmer finde: wenn Menschen mich ignorieren, oder wenn Menschen mich wirklich sehen wollen.

»Alles bestens«, murre ich. Dann gebe ich meinem inneren Feigling nach und öffne die Tür, um schnell ins Zimmer zu schlüpfen und hinter mir abzuschließen.

»Abi?«, höre ich sie gleich darauf vom Gang. Ich lehne meinen Kopf zurück und stöhne. Hau ab. Hau ab, hau ab, hau ab.

»Ich will dich gar nicht nerven …«

Dann tu’s nicht? »Aber ich wollt dir nur sagen, wenn du mal reden magst und jemanden brauchst …«

Ich bin kurz davor, manisch aufzulachen. Wenn du ein Wunder suchst …

»Wenn du mit jemandem reden magst, der halt nicht Teil deiner Familie ist … also, wahrscheinlich hast du dafür auch deine Freunde, aber ich mein nur, falls du jemanden doch brauchst, dann kannst du dich bei mir melden, okay? Ich würde es niemandem sagen, wirklich. Es ist nur, ich weiß, wie es ist, Sachen nicht auszusprechen und –«

»Ist dir langweilig oder so?«, rufe ich durch die Tür, bevor ihr Monolog noch eine Stunde andauert. »Oder was glaubst du, ein paar Stunden Therapie hinter dir und jetzt bist du selbst Therapeutin?«

Ich fühle mich wie Dreck, als ich das sage, aber ich fühle mich auch wie Dreck, wenn ich es nur denke. Was macht es am Ende schon für einen Unterschied?

»Das Angebot steht auf jeden Fall«, höre ich sie kaum merklich sagen.

Dann ihre leiser werdenden Schritte, eine andere Tür geht auf, Popmusik dringt herüber und es wird ruhig im Haus.

Plötzlich ist es wieder viel zu still. Meine Brust fühlt sich eng an, meine Finger zittern. Ich trete über die Papierknäuel, Kleiderhaufen und Bücherstapel am Boden hinweg zu meinem Bett, um das Fenster aufzureißen.

Ich weiß nicht, wie ich das den Leuten um mich herum verklickern soll, aber ich will nicht, dass man auf mich wartet. Dass man irgendwas von mir erwartet, und auch nicht, dass man mit all diesen Anschuldigungen oder Hilfsangeboten aufwartet. Ich will einfach, dass man mich in Ruhe lässt, gute Tage oder nicht. Ich will, dass ich verschwinden kann, ohne dass man mich jedes Mal wieder findet. Ich will, dass man aufhört mich zu fragen, wie es mir geht, weil es offensichtlich ist, wie es mir geht, und auch offensichtlich ist, dass es nicht besser wird.

Das Ding mit dem Hilfe-Annehmen ist nämlich: Es endet nicht bei einer Geste. Ein Wunder ist ein Wunder ist ein Wunder und demnach so unwahrscheinlich wie Regenschauer in der Wüste. Wenn eine Hand angenommen wird, folgt die nächste und die nächste und ich glaube, Menschen, die andere Menschen lieben, wissen einfach nicht, wann sie aufhören sollen. Menschen wie Maya oder Arwa, sogar Aslan sind zu aufopferungsbereit für ihr eigenes Wohl. Am Ende des Tages schaden sie sich selbst am meisten. Am Ende des Tages infiziert man sie nur mit dem eigenen Gift. Am Ende des Tages schauen sie dich tief enttäuscht an und fragen sich: »Warum habe ich mir das überhaupt angetan?«

Und dann bist du derjenige, der wieder schuld ist, immer an allem schuld ist, weil du gewagt hast, ihnen Hoffnung zu geben. Wozu die Mühe? Wozu die Enttäuschung? Wozu den Schaden anrichten?

Ich stecke mein Handy an ein Akkuladekabel und ziehe dann eine zerquetsche Zigarettenschachtel zwischen einem Bücherstapel am Nachttisch hervor. Mit einer Tschick im Mund, die ich mithilfe eines Feuerzeugs, das ich den Typen gestern abgeluchst habe, anzünde, lasse ich mich auf der Fensterbank über dem Bett nieder. Der Regen ist zu einem Nieseln verkommen, nur mehr vereinzelte Tropfen fallen auf mein Gesicht. Ich nehme einen tiefen Zug und blase den Rauch nach draußen.

Sehe wieder Sadias Gesicht vor Augen, weil Themen wie Wunder und Rettung und Enttäuschung immer zu ihr führen. Weil alles immer zu ihr führt.

Sadia und ich haben uns auch an einem Regentag kennengelernt. Vor genau zwei Jahren in einem Raum voller Geschichten.

Sie hat in einem Büchercafé gegenüber dem Pflegeheim gearbeitet, in dem ich meinen Zivildienst gemacht habe. Es regnete seit drei Tagen und drei Nächten, sodass sich das Wasser auf den Straßen sammelte und kaum jemand rauskam. Ich war der letzte Gast, der im Laden übrig war, und lag mit dem Oberkörper auf einem der Tische, um die Ecken fest umklammert zu halten. Weil es sich anfühlte, als wären wir auf einem Schiff mitten im stürmischen Meer.

Ich war aber der Einzige, der schwankte. Ich bin immer der Einzige, der schwankt.

Es war fast Mitternacht, Novembernacht, Geburtstagsnacht. Fünf Minuten bevor ich zwanzig wurde. Während ich durch das Schaufenster den Weltuntergang beobachtete, zählte ich meine bisherigen Misserfolge zusammen. Eins, vierte Klasse wiederholt, zwei, es nicht aufs Gymnasium geschafft, drei, Matura verbockt. Für Misserfolge gilt die Formel hoch eins, hoch zwei, hoch drei, ihre Bedeutung muss immer vermehrt werden, habe ich von meinem Vater gelernt. Man kann was leisten und bleibt ein Mensch oder man leistet nichts oder nicht genug und wird zum Fehler. Ich bin ein Fehler. Damals war ich ein fast zwanzigjähriger Fehler. Hoch eins, hoch zwei, hoch drei.

Jemand tippte mir auf die Schulter. Langsam, sehr langsam drehte ich den Kopf zur anderen Seite und blickte einer gespenstisch weißen Schürze entgegen. Sie gehörte zu einer jungen Frau mit einer schwarz umrahmten Brille und Mehlspuren an den Wangen. Eine Erscheinung. Oder Erleuchtung, vielleicht beides in diesem bestimmten Moment.

»Wir schließen bald«, waren Sadias erste Worte an mich.

»In vier Minuten«, waren meine.

Neun Monate später schrieb ich ihr meine letzten Worte, bevor ich sie blockierte: Es tut mir leid.

Es tut mir immer leid. Aber ich ertrag’s nicht, die Menschen um mich herum weiter zu vergiften. Hoch eins, hoch zwei, hoch drei.

2. Kapitel

Sadia

Es war keine Absicht.

Die Sache mit dem Salz, meine ich. Ob ich es ahnen hätte können? Natürlich. Aber ich war abgelenkt, habe nicht aufgepasst. Sogar die Besten unter den Besten verwechseln von Zeit zu Zeit das Salz mit dem Zucker. Solche Missgeschicke passieren nun mal. Viel wichtiger ist doch, dass niemand verletzt wurde. Dann haben unsere Gäste eben einen Schluck gesalzene Chai getrunken, alles halb so wild. Ein bisschen Wasser nachspülen, ein Laddu essen, schon ist der ekelhafte Geschmack fort.

Und die Sache mit den Fotos. Auch das war ein reines Versehen. Ich habe nur einen Witz weitererzählen wollen, während ich die Gläser mit dem Mangosaft ausschenkte. Dass mein Gesagtes so unanständig sein könnte, sodass Hamid beim Hören das Glas auf seine Kleidung ausschütten würde, konnte ich ja nicht vorausahnen. Ich weiß schließlich nicht, wo die Befindlichkeiten anderer Menschen liegen. Der Fleck hat sich schwer aus seinem teuren, teuren – wie er mehrmals betonte – Hemd rauswaschen lassen, an Fotos war nicht mehr zu denken.

Und die Situation mit dem Chili? Auch das wird sich wie eine Ausrede anhören, aber ohne Witz, ich hab es einfach vergessen. Ich war so aufgewühlt wegen allem, was bisher geschehen war, dass ich nicht aufgepasst habe. Ehrenwort.

Das Problem mit dem Chili ist, dass der Behälter, in dem wir es aufbewahren, defekt ist. Wenn man versucht, das Gewürz durch die Löcher rauszustreuen, fliegt der Deckel ab und der ganze Inhalt rutscht heraus. Obwohl ich mein Bestes gegeben habe, so viel wie möglich vom roten Pulver wieder rauszulöffeln, war das Unheil längst angerichtet. Ich habe gehofft, dass es geschmacklich trotzdem keinen Unterschied machen würde, aber nun ja. Und ob Absicht oder nicht, das ist hier nicht die Frage. Die Frage lautet eigentlich: Bereue ich es?

Während ich eine Hand auf meinen Mund lege, um ein Lachen zu unterdrücken, kann ich in Gedanken darauf nur eine Antwort geben: Nein. Nein, ich bereue es nicht.

Hamids Wangen sind knallrot, sein Gesicht tränenüberströmt. Während er Wasser runterschluckt, als gäbe es kein Morgen, schlägt ihm meine Mutter gegen den Rücken, woraufhin er sich verschluckt und zu husten beginnt.

»Wasser hilft nicht, wir brauchen Milch!«, ruft Shaqufta Aunty, die in keinem besseren Zustand ist. Ihre Stimme ist viel zu hoch und Schweißperlen zeichnen sich auf ihrer Stirn ab.

Mein Vater starrt perplex auf unsere Gäste, sein eigenes Essen weit von sich geschoben. Meine Mutter muss seinen Namen mehrmals rufen, damit er endlich aufschreckt und eiligst in die Küche rennt.

Ich begegne dem Blick meines Bruders, Fawad. Sofort schauen wir wieder weg, aus Angst, das Lachen nicht länger unterdrücken zu können.

Mein Vater kommt zurück und sieht mich mit zusammengekniffenen Augen an, als ahne er, was in meinem Kopf vor sich geht. Doch die Ausrufe nach der Milch werden immer lauter, für Tadel bleibt ihm keine Zeit. »Ich hab auch Zucker dabei!«, ruft er stattdessen.

Die Szene gleicht wahrlich einem Renaissancegemälde.

Da ist erst mal Hamid in der Mitte, frische Milchspuren auf dem Kinn. Auf seinem Hemd prangt ein getrockneter Saftfleck, durch den Halskragen dringt seine dichte Brustbehaarung hervor und die teure, teure Armbanduhr an seinem Handgelenk blitzt im Schein der unnötig schicken Deckenlampe. Neben Hamid steht seine Mutter in brandneuer pakistanischer Kleidung und schwerem Goldschmuck gekleidet. Meine eigene Mutter versucht gerade, einen Löffel Zucker in den Mund unseres Gasts zu stecken, während diese sich mit ihrer Hand Luft auf die ausgestreckte Zunge fächert. Am anderen Ende des Tisches befinden sich unsere Väter. Mein Papa füllt immer mehr Gläser mit Milch, kann dem Durst der Allgemeinheit aber trotzdem nicht nachkommen. Schließlich reißt Hamids Vater die ganze Packung aus seiner Hand und bedient sich direkt aus dieser.

Vor ihnen, im Zentrum des Geschehens, steht ein warmes, beinahe unangerührtes Festmahl auf einer geblümten Tischdecke ausgebreitet. In Zitronen und Knoblauch gebratenes Huhn, Aloo Meethi, Samose, Raaita, Salat, Safranreis und Naan. Der Verbrecher unter ihnen: das Palak Gosht mit dem unnatürlich hohen Chilizusatz.

Gott sei Dank beharrte Fawad vorhin darauf, auf die ersten Bissen der Gäste zu warten, ehe wir selbst mit dem Essen loslegten. So ist unsere eigene Familie vom Chilidebakel unberührt geblieben. Was für ein Zufall. Oder etwa nicht?

Okay, folgende Situation. Seit einigen Monaten bekommt meine Mutter langsam, aber sicher Panik über meine Zukunft. Eigentlich hat sie schon letztes Jahr damit angefangen, Hinweise zu droppen, aber so wirklich losgelegt hat die Geschichte erst diesen Sommer. Eines Tages lag ich auf meinem Bett und habe nichts ahnend Helen Hoangs Kiss-Quotient-Reihe durchgesuchtet, als die Tür zu meinem Zimmer aufgerissen wurde. Meine gesamte Familie hat dieses dubiose Talent, mich in den unpassendsten Momenten zu erwischen. Beweisstück A: Ich war gerade in eine Szene vertieft, in der Michael, die männliche Hauptfigur, Stella, der weiblichen, das Küssen beibringt, als meine Mutter plötzlich vor mir stand. Hektisch schlug ich das Buch zu und warf es im hohen Bogen gegen die gegenüberliegende Wand, wo es an dem Bücherregal abprallte und neben der Gestaltwandlerreihe, die ich als Nächstes angehen wollte, liegen blieb.

»Sadia, wir müssen reden«, sagte meine Mutter, ohne etwas zu merken. Sie setzte sich zu mir und schob ihr Handy vor mein Gesicht. Dort auf dem Bildschirm leuchtete mir das Foto eines jungen Mannes entgegen. Ehe ich genauer hingucken konnte, hatte sie zu einem anderen Bild weitergescrollt.

»Worüber?«, fragte ich. Das Scrollen hörte nicht auf und ich fasste nach ihrer Hand, um sie aufzuhalten.

»Über deine Hochzeit.«

Ich ließ sie wieder los. Angesichts der Tatsache, dass ich so Single wie ein letztes Stück Pringle in der Dose war – und bin –, war ich dementsprechend verwirrt über ihre Worte. Ich bat höflich um Auskunft. »Wann und wo genau findet die denn statt? Kriege ich eine Einladung?«

»Hath, das ist keine Zeit zum Witze machen! Sadia, wir müssen dir jemanden suchen!« Aufgebracht legte sie das Handy weg und sah mich anklagend an. »Ich habe jeden unserer Bekannten durchgenommen und kein Einziger von den Jungen, die infrage kämen, kann mit dir mithalten.« Einen Moment lang war ich ziemlich geschmeichelt, dann fuhr sie fort: »Und der Einzige, der mir in Ordnung scheint, sieht viel zu gut aus für dich.« Ihr Blick wurde düster. »Schau dir doch mal deine Nase an. Ihr würdet als Paar nicht zusammenpassen.«

Ich liebe meine Mutter. Sie hat diese trockene Art, die komischsten Sachen zu sagen, und bemerkt dabei ihr Genie nicht einmal. Gott sei Dank habe ich diese Seite von ihr geerbt und zögerte nicht eine Sekunde mit meiner Antwort: »Wir haben die gleiche Nase, Mama.«

Sie ignorierte mich und widmete sich wieder ihrem Handy.

Seufzend lehnte ich mich in meinen Kissenhaufen zurück und ließ sie weiter Panik schieben. Die Kissen mit den Disneyfiguren drauf sind ein Restbestand meiner Kindheit, gemeinsam mit den ganzen Stofftieren im Bett. Auch die Blumentapete an der Wand und der weiße Schminktisch mit dem knallig pinken Claire’s-Schmuck gehört in meine Reliktesammlung. Ich würde gerne behaupten, dass ich nostalgisch veranlagt bin, aber Tatsache ist, dass ich einfach Schwierigkeiten damit habe, Entscheidungen zu treffen. Einmal habe ich versucht, die Wände neu zu streichen, aber nach einem Breakdown im Baumarkt, weil ich mich zwischen Elfenbein und Creme nicht entscheiden konnte, habe ich dieses Unterfangen schnell wieder aufgegeben. Meine jetzige Devise lautet: Lieber am Komfort festhalten, als Existenzkrisen durchlaufen. Und bis auf gelegentliche Aussetzer funktioniert das auch ganz gut.

»Es ist eine Katastrophe«, sagte meine Mutter und betrachtete melancholisch das High-School-Musical-Poster mit den Breaking-Free-Lyrics an meinem Kleiderschrank. »Wir hätten mehr Kontakte knüpfen sollen.«

Mit dem Konzept von arrangierten Ehen hatte ich noch nie ein Problem. Ich bin damit aufgewachsen, und es ergibt für mich genauso viel Sinn wie die sogenannte »Liebesheirat«. Solange ich genug Zeit habe, den Typen, den meine Eltern auswählen, kennenzulernen, vertraue ich auf ihr Bauchgefühl. Es ist wie Tinder, nur dass sie das Swipen für mich übernehmen. Und dass es nicht nur um One-Night-Stands geht. Gott bewahre, wenn meine Eltern dafür zuständig wären.

Aber ich bin erst zweiundzwanzig und beginne demnächst mit dem dritten Abschnitt meines Jusstudiums. Ich dachte, bis ich den Abschluss habe, würde man mich mit diesem Thema verschonen.

Außerdem sollte Fawad, da er der Ältere ist, die Ehre gebühren, als Erster zu heiraten. Eine Freundin hat er auch schon – sie erinnert mich zwar immer daran, mehr Sport zu betreiben, wenn sie vorbeikommt, aber heutzutage ist wohl alles besser, als Single zu sein.

»Darum geht es doch gar nicht! Bei Fawad kennen wir die Familie schon seit Jahren, da haben wir Zuversicht und können uns das Warten leisten. Aber bei dir haben wir nicht einmal eine Auswahl! Verstehst du das nicht? Wenn wir erst jetzt mit der Suche anfangen, kann das noch lange dauern, bis wir jemanden finden, der geeignet ist, um ihn besser kennenlernen zu wollen. Und dann überhaupt die ›Kennenlernphase‹, die du unbedingt willst. Bis alles feststeht und jeder sich sicher ist, könnten Jahre vergehen, Sadia«, echauffierte sich meine Mutter, nachdem ich ihr all meine Bedenken vorgelegt hatte.

»Ich glaube trotzdem, wir können noch ein bisschen warten.«

»Wie lange genau warten?«

Eine Woche habe ich durchgehalten. Aber so stur ich auch bin, geerbt habe ich diese Eigenschaft immer noch von meiner Mutter, und weil ich irgendwann keine Lust mehr darauf hatte, mit Bildern von wildfremden Typen und Hochzeitskleidern zugespamt zu werden, ging ich zu ihr und stellte ihr ein Ultimatum.

»Ich gebe dir die Erlaubnis, drei Typen für mich zu suchen.« Ich hielt drei Finger in die Höhe, damit sie sich die Zahl gut einprägte. »Aber nur, solange ich studiere. Damit hast du in etwa zwei Jahre Zeit. Innerhalb dieses Zeitrahmens darfst du drei Optionen für mich aussuchen, ihre Familien zum Essen einladen, was auch immer, und ich werde mich darauf einlassen, sie kennenzulernen. Wenn sie alle ein Reinfall sind, dann musst du mich mit diesem Hochzeitsgelaber so lange in Ruhe lassen, bis ich selbst wieder das Thema aufgreife. Wenn nicht …« Ich zuckte mit den Schultern. »Dann mal sehen.«

Sie war sichtlich unzufrieden mit dem Vorschlag. »Wo sind wir hier? Beim Bachelor?«

»Du hast angefangen. Außerdem kannst du so besser aussortieren, und ich muss mich nicht die ganze Zeit mit dem Thema rumplagen.« Ich lächelte sie zuckersüß an. »Win-win-Situation.«

Sie musste einsehen, dass das ein guter Kompromiss war, und so begann die Suche nach meinem Ehemann. Das klingt tatsächlich, als wäre mein Leben eine Reality-Show, aber wenigstens bleibt es dadurch unterhaltsam.

Nach dieser Pilotfolge ging es also direkt in die Handlung, und wir lernten den ersten Kandidaten, Hamid, kennen. Seine Familie wurde uns von Bekannten von Bekannten von Bekannten weitergeleitet. Da gibt es diese wohlhabende, gesittete Familie, deren Sohn Medizin studiert. Ein, zwei, drei Anrufe später, und schon hatten wir ein Abendessen geplant. Bereits in den ersten zehn Minuten entpuppten sich die Rahels, jene Gäste, die nun an unserem Tisch um ihr Leben röchelten, als ein absoluter Reinfall. Es handelte sich bei ihnen um eine Akademikerfamilie mit einem Hoheitskomplex und einer Neigung dazu, anderen Leuten ungefragt die Preise ihrer Besitztümer mitzuteilen.

Ihr größter Makel war allerdings, dass sie gern Ratschläge erteilten, und zwar zu allem und jedem.

Hättetihrdochnurfrüherdarangedacht,dannhättetihrjetzteineigenesRestaurant!HättetihrschondamalsdieStaatsbürgerschaftbeantragt,dawarendienochnichtsostrengmitallem!IstdieseWohnungnichteinbisschenzukleinfürsovieleLeute?Habtihrgarnichtsangelegt?WiesiehtesmitGrundstückeninPakistanaus,auchnichts?UndwiegraudeineHaarejetztschonsind,Fatimah!

Ich ertrage einiges, aber zuhören zu müssen, wie sich meine Eltern für ihre bloße Existenz verteidigen müssen, lässt etwas bei mir überkochen. Meine Eltern selbst sind von der Sorte Kill-Them-With-Kindness und würden eher sterben, ehe sie jemanden aus ihrem Haus schmeißen, ohne Essen serviert zu haben. Ich musste mich den ganzen Abend über echt zusammenreißen, um nichts Falsches zu sagen. Kann man es mir also wirklich verdenken, dass ich nicht vollständig bei der Sache war?

»Das kaufe ich dir nicht ab!«, ruft meine Mutter eine halbe Stunde später, nachdem unsere Gäste längst einen Abgang gemacht haben. Seltsamerweise haben sie auf das Dessert vehement verzichtet.

»Ich sag es dir doch!« Ich folge meiner Mutter, die gerade den Tisch abräumt, vom Essbereich in die Küche und wieder zurück. »Ich wollt das echt nicht!«

»Jaja, ich weiß schon. Wird das jetzt immer so sein? Wirst du auch die anderen Treffen sabotieren? Wenn du das alles gar nicht machen willst, dann sag es doch einfach!«

Ich werfe die Hände in die Luft. »Ach komm schon, Mama. Ich meine das ernst, ich wollte es wirklich versuchen. Und mal ehrlich, so unverdient war das doch gar nicht.«

Sie bleibt abrupt stehen und dreht sich mit gehobenem Holzlöffel um. »Aha! Also war es doch Absicht!«

»Nein, war’s nicht!«

Sie stampft davon. Hilfe suchend blicke ich zu meinem Vater, der die Gästeteller zurück in den Schrank stellt. Er sieht mich mit einer Mischung aus Argwohn und Amüsement an. »Das hättest du wirklich nicht machen sollen, Sadia. Vor allem das Chili …«

»Aber Papa!«

»Ja, Sadia«, mischt sich Fawad ein, der die ganze Zeit über auf dem Sofa gesessen und einen Apfel gegessen hat. »So was ist unter aller Sau.«

»Was Sau?«, fragt mein Vater, verwirrt über das deutsche Sprichwort. »Was meinst du mit Sau?«

»Unter aller Sau. Under every pig«, erklärt Fawad auf Englisch. Das macht er immer, wenn ihm die Urdu-Übersetzungen nicht einfallen. Als würden unsere Eltern ihn dadurch besser verstehen.

»Was?«, fragt Papa nur noch verwirrter.

Ich überlasse es den beiden, sich mit der Übersetzung des Wortes Sau auseinanderzusetzen. In der Küche transportiert meine Mutter gerade die Reste des Essens von den Töpfen in Tupperdosen. Ich stelle mich neben sie und warte darauf, dass sie etwas sagt.

»Du bist jetzt in einem Alter, wo wir ein paar Kontakte knüpfen müssen«, beginnt sie tatsächlich. »Du weißt, wir zwingen dich zu gar nichts. Wenn du nicht wolltest, hättest du das sagen sollen.«

»Ich weiß. Ich wollt es aber wirklich probieren.«

Mit zusammengepressten Lippen drückt sie die Deckel der Boxen zu und stapelt sie aufeinander.

»Mama?«

Sie wendet sich dem nächsten Topf zu.

»Mama?«, wiederhole ich lang gezogen und stütze mein Kinn auf ihre Schulter.

»Was?« Sie kratzt etwas zu aggressiv an einem Topfboden rum.

»Das war wirklich keine Absicht.«

Einen Moment lang sagt sie gar nichts, schaut nur finster drein. Lange hält ihr Frust aber nie, und bereits einige Sekunden später glätten sich ihre Gesichtszüge. »Okay«, sagt sie missmutig. »Ich glaub dir.«

Ich grinse breit und drücke ihr einen Kuss auf die Wange.

Sie scheucht mich von sich und reicht mir die Tupperdosen, damit ich sie in den Kühlschrank stellen kann. »Ist jetzt auch egal. Das war wirklich keine gute Partie. Und wir haben ja noch zwei Versuche, also passt das schon.«

Das klingt beinahe wie eine Drohung. Trotzdem lächle ich zustimmend. »Jap. Zwei Versuche noch.«

Mein Vater steckt den Kopf in die Küche. »Lästern wir jetzt über die Leute oder streitet ihr immer noch?«

Augenblicklich blähen sich die Nasenflügel meiner Mutter wieder auf.

»Amar!«, ruft sie und hält den Holzlöffel warnend in die Höhe. »Was du vorhin zu Rahel gesagt hast, wie du ständig mit ihm diskutieren musstest, also wirklich … so behandelt man doch keine Gäste!«

»Was soll ich mit dem Palak Gosht machen?«, frage ich, vielleicht ein wenig zu gut gelaunt. Aber sie ist längst meinem verschreckten Vater hinterher ins Wohnzimmer verschwunden und schimpft jetzt meinen Bruder wegen seiner sarkastischen Kommentare aus.

Kopfschüttelnd betrachte ich den Topf voll Grünzeug und Fleisch vor mir. Ich rühre durch die breiartige Konsistenz und inspiziere sie genauer. Weghauen kommt nicht infrage, das wäre die reinste Verschwendung. Und überhaupt: Wie scharf kann es schon sein? Vielleicht sind Hamid und seine Eltern einfach nur absolute Waschlappen.

Ich hole einen kleinen Löffel aus der Besteckschublade hervor und dippe ihn in das Essen, um eine Kostprobe zu machen. Kurz bevor das Zeug meine Lippen berührt, reißt mir jemand den Löffel aus der Hand und wirft ihn ins Waschbecken. Es scheppert in dem dort liegenden Geschirr und ich starre verdattert auf meinen Bruder, der wie aus dem Nichts neben mir aufgetaucht ist.

Ein schelmischer Ausdruck liegt auf Fawads Gesicht. »Tu’s lieber nicht.«

Ich kneife die Augen zusammen. »Was hast du gemacht?«

Er zuckt mit den Schultern. »Bisschen nachgeholfen.«

»Was hast du gemacht?«

»Weißt du noch, diese Chilisoße, die ich aus dem Internet bestellt habe? Die aus diesem YouTube-Channel, wo Promis Chickenwings essen?«

Meine Augen weiten sich. »Nicht dein Ernst.«

»Doch. Und es waren nur ein paar Tropfen.«

Kein Wunder, dass Hamid und seine Eltern so fertig waren. Ein Tropfen von der Soße hat mir für einen Tag den Geschmack im Mund ruiniert. Dabei habe ich noch eine hohe Chilitoleranz. Ich weiß nicht, ob ich hysterisch auflachen oder Fawad dafür tadeln soll, so ein krasses Risiko eingegangen zu sein.

»Aber als Mama mir vorhin die Schuld gegeben hat, hast du nichts gesagt!« Ich haue ihm mit der Faust gegen seinen Arm, was bei seiner Muskelmasse genau gar nichts bringt. Also haue ich sicherheitshalber noch zwei weitere Male. Er schaut grinsend auf mich herunter, vollkommen unbeeindruckt. Ein Bär in Menschenform, so sieht er aus, mit dem Bart und seinen breiten Schultern.

»Sei froh. Sonst wärst du vielleicht mit ’nem Typen verlobt, der drinnen Sonnenbrillen trägt. Siebenhundert-Euro-Sonnenbrillen.«

»Extra aus Dubai importiert«, füge ich hinzu und kann doch nicht anders, als sein Lächeln zu erwidern. »Trotzdem. Was mache ich jetzt mit dem ganzen Essen?«

Fawad zuckt mit den Schultern und geht rückwärts wieder aus der Küche raus. »Keine Ahnung. Du bist die Köchin.« Er wackelt mit seinen Fingern. »Sprich deine Zaubersprüche, was weiß ich.«

Für den Moment beschließe ich, mich erst mal umzuziehen.

In der schicken pakistanischen Kleidung, die ich trage, kann ich nicht klar denken. Auch nicht mit meinen offenen Haaren, die ich als Allererstes zu einem Zopf zusammenbinde, um mich dann auf den Hocker vor meinem Schminktisch in meinem Zimmer niederzulassen.

Vorsichtig schiebe ich die vielen gläsernen Reifen an meinem Arm über mein Handgelenk und lege sie in die Halterungen an meinem Schmuckständer. Schimmernde Rottöne, passend zu den Mustern auf meiner braunroten Salwar Kameez. Meine Ohrringe aus echtem Gold, ein Geschenk meiner Großeltern, lege ich zurück in die dazugehörige Schatulle, ebenso die Halskette. Dann stehe ich auf, um meine Kleidung durch eine alte Pyjamahose und ein weißes Shirt zu ersetzen, die bereits ordentlich zusammengefaltet auf meinem Schreibtisch liegen. Nachdem ich mir mein Make-up abgewischt habe, verbinde ich meine Kopfhörer mit meinem Handy und schalte mein momentanes Hörbuch ein.

»Zeig mir all die Dinge, die ich noch nicht kenne.«

Im ersten Moment kann ich nicht einordnen, worum es geht. Dann redet die Hauptfigur über einen inneren Leoparden und ich weiß wieder, wo ich mich gedanklich in den letzten Tagen eingenistet habe: in den Naturschutzgebieten Kaliforniens. Gemeinsam mit einer naiven weiblichen Figur und einem überaus männlichen Gestaltwandler. Ich spule trotzdem ein paar Minuten zurück, um wieder in die Szene reinzukommen, und als ich eine Stelle finde, an die ich mich noch erinnere – die beiden können sich im echten Leben nicht ausstehen, träumen aber zusammen sehr explizit voneinander –, erhöhe ich die Geschwindigkeit von Stufe 1,5 auf 2 und lasse dem Geschehen freien Lauf.

Zurück in der Küche sind nur mehr ich und das Essen. Meine Eltern haben beschlossen, den Tag früh für beendet zu erklären, und die Lichter im ganzen Haus sind ausgeschaltet. Nur das flirrende LED-Licht von der Leiste unter den Kommoden beleuchtet den Raum. Ganz leise dringen aus dem Zimmer meines Bruders Geräusche aus einem Film, sonst ist es still. Ich schließe die Tür zur Küche, um meinerseits keinen Lärm zu verursachen, und fühle mich dabei immer ein bisschen wie vom Rest der Welt abgespalten.

»Ich habe Angst«, flüstert die Frau im Buch. »So sehr, dass du dich von ihr kontrollieren lässt?«, fragt der Leopardentyp.

Ich drehe den Herd unter dem Topf mit dem Palak Ghosht auf. Dann füge ich Milch, Zitronensaft und ein kleinen Löffel Tahini hinzu. Je mehr das Essen sich aufzuwärmen beginnt, desto mehr mische ich hinein. Nach etwas Überlegung beschließe ich, dass Kartoffeln die beste Lösung für ein absolutes Desaster sind, und lege deswegen eine Handvoll ungeschält in warmes Wasser, um sie weich zu kochen.

Während es in den Töpfen anfängt zu blubbern, wird auch den Figuren im Buch wärmer.

Mir fällt es schwer, ruhig zu bleiben und zu warten. Also beginne ich die Küche aufzuräumen. Ich stelle die Dosen und Flaschen, die meine Mutter alle kreuz und quer rumliegen lässt, an ihren rechtmäßigen Ort, fülle die Geschirrspülmaschine auf und verstaue das restliche Essen in den Kühlschrank. Aber auch nachdem alle Oberflächen gereinigt sind und die Küche blitzt, sind die Kartoffeln noch nicht fertig gekocht.

Und das Paar hat seinen Höhepunkt noch nicht erreicht.

Ich lehne mich gegen die Wand neben dem Kühlschrank und beobachte die blaue Flamme am Herd. Irgendwie bin ich mittlerweile total abgestumpft, was Sexszenen betrifft. Ich glaube, ich habe einfach viel zu früh viel zu viel konsumiert. Aber was mich nach all den Jahren noch immer mitreißt, sind die Momente danach oder davor. Die Zärtlichkeiten, die Gedanken und Gefühle, die aufkommen, wenn man sich bewusst wird, wie verletzlich man sich gerade gemacht hat und wie geschützt man sich trotzdem mit der anderen Person fühlt. Das kriegt mich jedes Mal.

Leider endet die Szene ziemlich direkt nach dem Höhepunkt – weil die Figuren ja nur träumen und gleich darauf aufwachen. Ich stoppe das Hörbuch und ziehe die Kopfhörer raus.

Plötzlich ist es unendlich still. Die Flamme flüstert kaum merklich, das Wasser auf dem Herd kocht, aber mittlerweile hört man aus den Zimmern meiner Familie keine Geräusche mehr. Da sind nur noch ich und meine Gedanken. Und vielleicht ist das ein Problem, denn es gibt einen guten Grund, dass ich im letzten Jahr nur mithilfe eines Hörbuchs im Ohr einschlafen konnte. Ich bin mir nämlich zurzeit nicht meine liebste Gesellschaft. Allein zu sein ruft immer die unnötigsten Fragen hervor, wie zum Beispiel: Werde ich für immer allein sein? Oder: Ist es überhaupt wichtig, ob ich jemanden finde?

Und am schlimmsten: Wie würde eigentlich Ibrahim auf den heutigen Abend reagieren?

Ich habe von Anfang an geahnt, dass diese ganze Sache mit Hamid nichts werden würde, aber es war keine Lüge, dass ich mir zumindest etwas erhofft habe. Ein kleines bisschen Anziehung, nur ein Funke Chemie vielleicht. Aber vergeblich. Alles, woran ich denken konnte, während er mir gegenübersaß, waren die Unterschiede zwischen ihm und Ibrahim. Und wenn das keine Red Flag meinerseits ist, dann weiß ich auch nicht.

Es ist mittlerweile über ein Jahr her, seit er einfach so aus meinem Leben verschwunden ist. Wir haben uns nur neun Monate davor gekannt, offiziell hatten wir nie eine Bezeichnung für das, was wir hatten, haben uns nicht mal richtig umarmt, und trotzdem. Trotzdem hat sein Ghosting sich angefühlt, als hätte er mir einen Pfeil durch die Brust geschossen.

Ich wusste davor nicht, dass eine einfache Nachricht auf deinem Handy das eigene Herz so zerfetzen kann. Es tut mir leid. Aber was tat ihm leid? Dass es ihm so leichtfiel, mich aus seinem Leben zu streichen? Dass er so feige war und mir nicht einmal die Chance gegeben hat, Fragen zu stellen? Dass er mir Hoffnung gemacht hat? Hoffnung worauf genau? Was hast du dir gedacht, was passieren wird, Sadia?

Ich schüttle den Kopf und erinnere mich daran, noch mal die Kartoffeln zu prüfen. Sie brauchen noch immer ein bisschen, also erhöhe ich die Flamme und dann lehne ich mich erneut zurück.

Diese neun Monate mit ihm fühlen sich im Nachhinein fast wie ein Fiebertraum an. Das Büchercafé, die vielen Regentage, die Mitternächte. An dem Tag, an dem wir uns kennenlernten, war er direkt von einer Schicht im Pflegeheim gekommen und trug noch seine Arbeitskleidung.

Er wirkte viel zu jung, seine Haltung viel zu alt. Seine Augen viel zu wild. Es war wie so oft Mitternacht und ich musste abschließen, also bat ich ihn zu gehen. Er ließ sich Zeit mit dem Einpacken und Aufstehen. Da lag nur ein Haufen Bücher vor ihm, alles zwischen Hafez und Paul Celan. Ein Poet, dachte ich mir, ein Melancholiker. Dann stand er vor mir und starrte mich an. Die Lichter im Café waren zum größten Teil ausgeschaltet, aber über uns leuchtete noch eine Lampe. Sie beschien nur gewisse Dinge an uns. Meine rechte Wange, seine linke Hand. Meinen festen Zopf, seinen Buzzcut. Meine Skepsis, seine Überraschung.

Er hielt den Träger seines Rucksacks über einer Schulter und ich konnte an seinem Handgelenk ein Tattoo entdecken: einen Hut. Oder auch eine Schlange, die einen Elefanten verschluckt hat. Aus seinem Arbeitshemd lugte ein Goldtaler hervor, später erzählte er mir von dieser Dame aus dem Pflegeheim, die ihm immer Schokolade in die Taschen steckte, weil er sie manchmal zu einem zusätzlichen Spaziergang mitnahm, wenn niemand hinsah.

Hamid mit seinen teuren, teuren Uhren und teuren, teuren Hemden hatte von Anfang keine Chance gehabt.

Seufzend schüttle ich den Kopf und stecke wieder meine Kopfhörer in die Ohren. Das ist das Gute an fiktiven Liebesgeschichten. Man weiß immer, dass es am Ende ein Happy End geben wird. Nicht, dass ich unser kurzlebiges Miteinander als Liebesgeschichte bezeichnen würde, aber irgendetwas war es auf jeden Fall. Diesen Monat wären es genau zwei Jahre seit unserem ersten Aufeinandertreffen.

Während ein neues Kapitel angekündigt wird, nehme ich die Kartoffeln vom Herd. Die Betonung liegt auf »wären«, und ich zwinge mich dazu, die Erinnerungen ganz weit von mir zu schieben.

3. Kapitel

Sadia

»Deutsch ist hässlich. Hässlich und unflexibel und absolut unpraktisch. So herrisch und unpoetisch, dass man nur spucken kann, wenn man in dieser Sprache redet.«

Am nächsten Tag habe ich Lateinunterricht. Normalerweise hätte ich den Kurs schon längst absolvieren müssen, habe es aber von mir geschoben. Jetzt, wo ich mit dem letzten Abschnitt meines Studiums begonnen habe, wird es Zeit, diese Lücke im Zeugnis zu füllen. Und um es nett auszudrücken: Es ist eine Erfahrung. Keine gute, keine miese, aber eine Erfahrung.

Das liegt am Dozenten, der mit sehr interessanten Sichtweisen aufwartet, die selten etwas mit Latein oder Rechtswissenschaften zu tun haben. Heute zieht er über die deutsche Sprache her und uns gleich mit sich runter.

Ich unterdrücke ein Gähnen und blicke mich im Saal um. Auch die anderen Studierenden sind entweder abgelenkt, eingeschlafen oder schlichtweg verwirrt oder fasziniert von seinem Monolog, den er seit einer halben Stunde hält. Zwei Monate erst, seit das neue Semester begonnen hat, aber es sind die Hälfte aller Sitzplätze leer. In den ersten Stunden gab es noch ein paar Meldungen, aber mittlerweile haben weder ich noch irgendwer anderes Interesse daran, dem Typen da vorne Paroli zu bieten.

Der einzige Grund, warum ich noch in Präsenz erscheine, sitzt neben mir und malt mit ihrem Einhornkugelschreiber Spiralen in ihr Heft. Direkt bei der ersten Einheit habe ich Amanat kennengelernt. Sie ist in ihrem ersten Semester und ergreift jede Chance, um Freundschaften zu knüpfen. So sind wir an unserem ersten Tag hier direkt ins Gespräch gekommen und haben uns sofort verstanden. Normalerweise lasse ich mich nicht so einfach auf neue Menschen ein, aber bei ihr hatte ich von Anfang an ein gutes Gefühl. Keine Ahnung, woran das lag. An ihrer meist schwarz-weißen Kleidung und dem dunklen Augen-Make-up? Oder den immer glitzernden Fingernägeln und ihrem pinken Rucksack? Wahrscheinlich diese Mischung aus Gothic Princess und Barbie.

Heute trägt sie ein langes schwarzes Kleid mit Ballonärmeln und ein dazu passendes Kopftuch. Ihre Fingernägel sind mit Wolken bepinselt und ein Starbucks-Frappuccino steht vor ihr auf dem Tisch. Vor mir auch, weil sie es sich zur Gewohnheit gemacht hat, uns beiden einen mitzubringen, wofür sie auch immer zu spät in den Unterricht kommt.

»Knochen, Brücken, drücken, Rücken, diese Cks und auch die TTs. Schmetterling, schnattern, Schlitten, stottern. Tack, Tack, Tack, wie das klingt, hört ihr das? Als würde ein Traktor – ein Traktor! – vorbeirasen«, ruft der Dozent von unten. Ein junger Mann in der Reihe vor uns schüttelt daraufhin den Kopf und packt seine Sachen zusammen.

»Oh«, sagt Amanat plötzlich und schaut von ihrem offenen Heft auf. Sie hat gerade eine misslungene Katze in ihr Heft gekritzelt. Aus irgendeinem Grund sieht sie schwanger aus und ihr Kopf wirkt eine Nummer zu groß für ihren Körper. »By the way, wie war diese Familie, die euch besucht hat?«

Ich blinzle sie verwirrt an.»Hab ich dir doch geschrieben.«

»Ja, aber ich brauch deinen Gesichtsausdruck, um es mir so richtig vorstellen zu können.«

Schnaubend lehne ich mich auf meine Arme. »Es war so unnötig«, erzähle ich. »Die ganze Familie war unnötig.«

»Mehr Details, bitte?«

Tack, Tack, Tack. Unser Dozent gibt immer noch Traktorenlaute von sich.

Ich erzähle ihr noch mal die Geschichte, von dem Moment, als unsere Gäste zur Tür hereinkamen, protzend und grinsend, bis sie unser Haus eilig wieder verließen, dann aber winselnd und mit eingezogenem Schwanz. Es hat insgesamt keine Stunde gebraucht, um sie zu verjagen.

Amanat beugt sich auch vor. Sie riecht nach einem fruchtigen Shampoo und hat sich falsche, sehr, sehr kleine Muttermale dort aufgemalt, wo sie Pickel hat. Ein Trick, den ich mir zu merken gedenke. »Wenn meine Mutter jetzt schon damit käme, mich zu verheiraten, würde ich ausrasten.«

»Du bist ja auch jünger.«

»Meine Schwester ist fast so alt wie du und bei der kannst du es auch vergessen. Weißt du nicht, wenn sie einmal anfangen, hören sie nicht mehr auf!«

Doch. Ich weiß. Ich hab’s bei anderen Auntys und ihren Töchtern gesehen. Aber so ist meine Mutter nicht. Glaube ich.

»Ich und meine Mama haben einen Deal. Sie hört schon auf, wenn ich es ihr sage.«