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Wenn Menschen zu lebenden Bomben werden
Als die CIA einen wichtigen BND-Informanten angreift und dessen Familie gefangen setzt, schickt der BND seinen besten Mann, Karl Müller, zu einem hochbrisanten Solo in den Jemen. Müllers Freundin und Kollegin Svenja Takamoto ist zeitgleich einer ganz neuen terroristischen Bedrohung auf der Spur. Ein reicher Ölhändler aus Hamburg zieht als Lockvogel durchs Land: Er schart desillusionierte junge Deutsche um sich, lädt sie ein nach Mallorca – doch von dort geht es plötzlich weiter nach Karatschi. Könnte das Ziel der Gruppe ein Terrorcamp sein? Svenja verfolgt die mutmaßlichen Terroristen in spe unter größten Gefahren bis ins pakistanische Stammesgebiet. Wo der Bruderdienst aus den USA natürlich auch schon wieder verdeckt operiert . . .
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Seitenzahl: 443
Das Buch
Als die CIA einen wichtigen BND-Informanten angreift und dessen Familie gefangen setzt, schickt der BND Karl Müller zu einem hochbrisanten Solo in den Jemen. Müllers Freundin und Kollegin Svenja Takamoto ist zeitgleich einer terroristischen Bedrohung in Deutschland auf der Spur. Kilt Brown, ein reicher Ölhändler aus Hamburg, lockt ziellose junge Leute an und nimmt sie unter seine Fittiche. Er lädt sie ein auf einen Trip nach Mallorca – aber dann geht es plötzlich weiter nach Karatschi. Der BND mutmaßt, dass sie in Pakistan zu Terroristen ausgebildet werden sollen. Aber wie kann man sie aufhalten? Svenja und ihr Kollege Thomas Dehner observieren die Verdächtigen unter Lebensgefahr. Als sie ins pakistanische Stammesgebiet aufbrechen, stößt Karl Müller dazu. Aber auch der Bruderdienst aus den USA operiert vor Ort und kocht sein ganz eigenes Süppchen …
Der Autor
Jacques Berndorf – Pseudonym des Journalisten Michael Preute – lebt seit 1984 in der Eifel. Er arbeitete viele Jahre als Journalist, u. a. für den Spiegel und den Stern, bevor er sich ganz dem Krimischreiben widmete. Seine »Eifel«-Krimis mit dem Ermittler Siggi Baumeister wurden sämtlich zu Bestsellern und haben Kultstatus erlangt. 2003 erhielt Michael Preute den »Ehrenglauser« für seine Verdienste um die deutschsprachige Kriminalliteratur. Er ist der erste Außenstehende, dem der BND zu Recherchezwecken die Tore öffnete. In seiner BND-Reihe sind bereits bei Heyne erschienen: Ein guter Mann, Bruderdienst, Der Meisterschüler und Die Grenzgängerin.
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Jacques Berndorf
LOCKVOGEL
Roman
Copyright © 2015 by Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House
Umschlaggestaltung / Artwork: Eisele Grafik·Design, München,unter Verwendung eines Fotos von Ivo Berg / Moment open / Gettyimages
Redaktion: Anja Freckmann
Satz: Schaber Datentechnik, Wels
ISBN 978-3-641-18460-5
www.heyne.de
Für meine Frau Geli.
Für Esther Bentz, für Klaus-Christoph Bentz.
»The Streets were dark with something more than night.«
RAYMOND CHANDLER »Trouble is my business«
1. KAPITEL
Sowinski bellte ins Telefon: »Wie verfahren wir mit Quelle Jemen?« Er war wütend.
»Ich bringe ihn gleich zum Flieger Berlin – Paris«, antwortete Thomas Dehner flach und gelassen. »Er steigt gegen Mittag um auf eine Verbindung nach Tel Aviv. Dort wartet er zwei Tage im Hotel. Als Tourist. Er lässt sich von einem Taxi aus ein paar Sehenswürdigkeiten zeigen, trödelt herum. Das Taxi fährt einer unserer Leute, aber Quelle Jemen weiß das nicht, und er will das auch gar nicht wissen. Dann fliegt er heim nach Sanaa. Ganz einfach.« Plötzlich unsicher setzte er hinzu: »Aber das ist doch mit Ihnen besprochen worden.«
»Was halten Sie von meiner Vermutung, dass der Mann auf einer Fahndungsliste der NSA steht?«
Dehner lachte leise. »Ich denke, dass uns das gleichgültig sein sollte. Sie stehen todsicher auch auf ein paar Listen, und ich auch. Wer soll das noch ernst nehmen? Quelle Jemen hat erstklassige Papiere als Mitglied des diplomatischen Korps, mehr geht nicht, mehr braucht er nicht.«
»Okay. Kommen Sie rein, wenn das erledigt ist.«
Sowinski, der sich als Beschützer aller Außenagenten im BND sah, stellte das Telefon beiseite. Er sagte an seinen Kollegen Esser gewandt, der zwei Räume weiter residierte: »Ich frage mich, was wir machen, wenn unsere ganze wunderschöne Spionageeinrichtung eines Tages auf der Fahndungsliste der NSA landet und alle die Cowboys von der CIA mit ihren großen Revolvern in der Tür stehen?«
»Das kann ich dir genau sagen. Wir winseln um unser Leben«, antwortete Esser, Spezialist für die gesamte Wissenschaft und für alle Hintergründe der Politik. »Aber sag mal, warum bist du eigentlich so angespannt?«
»Das weiß ich nicht.«
»Du lügst«, sagte Esser schnell und streng.
»Meine Frau und ich haben morgen fünfundzwanzigsten Hochzeitstag.« Das kam wie ein Hauch, als traue Sowinski sich kaum, die Worte auszusprechen.
»Richtig, du hast ja schon vor Monaten ein paar Urlaubstage eingereicht«, sagte Esser. »Und planst was ganz Schönes für euch beide, oder?«
»Ich habe zwei Leute in Afrika, einen auf Mallorca, drei müssen in einen Einsatz. Ich weiß nicht, wie ich da freimachen soll.«
»Weiß unser Chef davon?«
»Nein. Und du solltest ihm das auch nicht sagen.«
»Du spinnst ja, Sowinski!«
*
»Wieso spinnt er?«, fragte Krause in das Mikrofon vier Türen weiter.
»Sowinski hat vor Monaten freie Tage für seine Silberhochzeit beantragt«, bestimmte Esser streng. »Keine Diskussion. Der Mann muss sich ab morgen dringend um sein Privatleben kümmern.«
»Okay«, bestätigte Krause. »Wie geht es Müller eigentlich?«
»Nicht so glänzend. Der Therapeut sagt, er trägt ein Gebirge an Schuldgefühlen mit sich herum. Panikattacken.«
»Immer noch die Frau und das Kind?«, fragte Krause.
»Immer noch«, bestätigte Esser.
*
Karl Müller schwitzte. Es war früher Morgen, und er saß auf einem hölzernen Schemel mitten in einem völlig kahlen, weißen Raum und fühlte sich elend. Er sagte wütend: »Ich werde jede Nacht wach von diesem Scheißbild.«
»Schildern Sie das Scheißbild«, forderte der Therapeut energisch.
»Ich will das nicht mehr«, nuschelte Müller.
Müller mochte diesen Therapeuten nicht. Der Mann hatte eine eigenartige Technik entwickelt. Er saß ebenfalls auf einem Holzschemel drei Meter von Müller entfernt. War er mit Müllers Antworten und Schilderungen zufrieden, rutschte er mitsamt dem Schemel fünfzig Zentimeter auf Müller zu. Gefiel ihm nicht, was Müller sagte, so entfernte er sich schrittweise und saß am Ende sechs Meter entfernt. Nach Müllers Ansicht war das kindisch und naiv. Außerdem hatte der Mann eindeutig eine Macke: Er rauchte niemals, hatte aber ständig einen Zigarillo zwischen den Zähnen, was seine Sprache undeutlich machte.
»Sie benehmen sich wie ein störrisches Kind!«, stellte der Therapeut fest. »Mein Job ist es, Ihnen zu helfen. Wenn Sie sich verweigern, passiert nichts. Können Sie überhaupt noch schlafen?«
»Nein«, sagte Müller abwehrend. »Manchmal tagsüber ein, zwei Stunden. Nur bei Tageslicht, im Dunkeln gar nicht. Das wissen Sie doch längst, wieso fragen Sie?«
»Ich bin daran interessiert, dass es Ihnen gut geht. Folgen Sie mir. Wie war das in diesem Zelt? Wo war das? Was passierte da?«
»Also, die Dinger kullerten«, sagte Müller undeutlich. Er hielt die Augen geschlossen, den Kopf gesenkt.
»Sie sagen, die Dinger kullerten. Welche Dinger, bitte? Und wo? Und warum? Und wie kamen Sie dorthin? Reden Sie mit mir. Stellen Sie sich vor, Sie arbeiten für mich. Ich muss Ihre Arbeit begründen, mein Controller will das wissen.«
Müllers Sprache veränderte sich, seine Stimme nahm einen eintönigen Klang an. »Somalia, äußerste Nordküste, am Golf von Aden. Heimat der Piraten von heute. Es besteht der Verdacht, dass dort eine neue Schmuggellinie für Opiumpaste aus Afghanistan über Pakistan auf Land treffen soll. Ich war zu Gast bei einem Sippenältesten. Der Mann verfügt über sehr viel Macht und wird den Schmuggel wahrscheinlich dulden und selbst einsteigen. Geldoptimierung nennen wir das. Sie nannten den alten Mann Lucky Joseph. Ich hatte einen Termin bei ihm.« Müller hielt inne und bewegte sich unruhig auf seinem Stuhl. »Er war ein sehr alter Mann, keine Haare mehr, kaum noch Zähne.«
»Welchen Beruf hatten Sie?«
»Geschäftsmann. Ich wollte mich finanziell an der europäischen Linie des Schmuggels beteiligen.«
»Dann erschien diese Frau?«
»Ja. Sie war ganz plötzlich aufgetaucht, sie trug ein Kind auf der Hüfte. Der alte Mann erklärte mir, die Sippe habe großen Kummer des Kindes wegen gehabt. Es habe tagelang mit hohem Fieber gelegen, und man musste bereits mit seinem Tod rechnen. Nun sei das Fieber verschwunden. Ein Wunder. Es war das Kind eines seiner Söhne.«
»Sie haben mehrfach betont, diese junge Frau sei sehr schön gewesen.«
»Ja, war sie. Hochgewachsen, schlank, sehr weiblich, vielleicht sechzehn Jahre alt, vielleicht jünger. Sie trug das Kind auf der rechten Hüfte, und sie lächelte ganz breit vor Glück.«
»Was geschah dann?«
»Dann rollten die Granaten. Es war so abartig, es war so totenstill.« Müller saß jetzt leicht gekrümmt auf dem Stuhl und sah senkrecht zwischen seinen Beinen hindurch auf den Boden.
»Die Granaten rollten, sagten Sie. Wie das?«
»Es waren Eierhandgranaten, sie kamen rechts und links von dem alten Mann unter der Zeltplane herangerollt. Zwei von rechts, zwei von links. Es war ein Anschlag auf den alten Lucky Joseph.«
»Wie weit waren Sie entfernt?«
»Ungefähr sieben Meter.«
»Und Sie konnten nichts tun?«
»Nichts«, sagte Müller dumpf.
»Also haben Sie ungeheures Glück gehabt?«
»Ja, das ist richtig. Der alte Mann, die junge Frau und das Kind starben. Und zwei Männer, die rechts von mir auf Kissen saßen. Es war wie im Schlachthaus.«
»Es war ein Anschlag auf Lucky Joseph, sagen Sie. Sie hatten also damit nichts zu tun.«
»Nein. Aber ich ziehe Unheil an.«
»Und dieses Kind landete tot in Ihren Armen?«
»Das ist richtig.« Müllers Stimme klang jetzt wie die eines Bilanzbuchhalters, knochentrocken.
»Bleiben Sie bei dem Bild. Sie sitzen in einem Zelt auf einem Kissen auf einem Teppich. Das Kind liegt in Ihren Armen …«
»Liegt nicht einfach in meinen Armen!«, zischte Müller heftig. »Es ist zerfleischt. Vollkommen zerfleischt. Das sagte ich schon. Und dazu lag plötzlich eine halbe abgerissene Hand von der Frau auf meinem rechten Knie.«
»Was fühlen Sie?«
»Sinnlosigkeit. Nichts. Trauer. Zum Kotzen. Manchmal. Schrecklich.«
»Sie haben also alles in allem einen Scheißberuf«, sagte der Therapeut.
»Das ist so.« Müller nickte erschöpft. Er trug ein graues T-Shirt, das große, dunkle Schweißflecken zeigte. Sein Haar und sein Gesicht waren schweißnass. Er war totenblass, er wirkte zerstört.
»Wir machen für heute Schluss«, murmelte der Therapeut. »Wenn es eng werden sollte, bin ich jederzeit erreichbar. Versuchen Sie, ganz normal durch den Tag zu kommen.«
»Das ist doch wohl ein schlechter Witz«, erklärte Müller mit heftigen, abgehackten Handbewegungen. »Ich will arbeiten.«
»Das bespreche ich mit Ihrem Vorgesetzten.«
*
Krause sagte in das Mikrofon, das ihn mit seinem Vorzimmer verband: »Ich möchte mit Svenja sprechen, Gillian.«
»Ich kümmere mich darum. Der Therapeut von Müller will mit Ihnen sprechen. Fünf Minuten. Wann?«
»Nach Svenja. Wo ist sie?«
»Moment, ich frage.« Nach einer kurzen Pause: »Goldhändchen sagt, sie ist in ihrem Hotel auf Mallorca und wartet auf eine Verbindung mit uns.«
»Dann her damit.« Krause zupfte an seiner Krawatte, wartete auf das Knacken in der Leitung, schloss die Augen und begann satt und zufrieden wie ein altgedienter Landpfarrer: »Guten Tag, junge Frau. Ich nehme an, Sie sind erfolgreich gewesen.«
»Einigermaßen«, antwortete Svenja Takamoto. »Ich kann hier nichts mehr tun, die Objekte sind verschwunden.«
»Wissen wir, wohin?«
»Ungefähr. Sehr schlechte Destination.«
»Oha! Würden Sie Ihre Reise als gelungen bezeichnen?«
»Ja.«
»Hat sie auch mit der Ratte zu tun?«
»Ja.«
»Dann kommen Sie heim«, sagte Krause.
»Ich nehme die nächste Maschine.« Dann leicht schrill: »Halt! Nicht auflegen, bitte! Wie geht es meinem Müller?«
»Ich denke, wir haben das im Griff«, sagte Krause. »Er wird wieder. Und jetzt kommen Sie heim.«
Dann fragte er Esser über die Standleitung: »Wie sieht es mit Dehner aus? Ist Quelle Jemen abgeschöpft?«
»Der Mann hat wie immer gutes Material gebracht, und er ist einigermaßen sicher, was die Fakten über Al Kaida im Jemen betrifft. Dehner setzt ihn im Moment gerade in den Flieger nach Hause.«
*
»Haben Sie irgendetwas für Ihre Memsahib gefunden?«, fragte Thomas Dehner Quelle Jemen. »Irgendetwas, was ihr Spaß machen würde?« Er nahm die Reisetasche und stellte sie auf die Rückbank seines Wagens.
»Ja, ich war gestern noch bei Zara, meine Frau wird entzückt sein. Ein sanftes Grau scheint gefragt.« Quelle Jemen lachte.
»Wenn Sie mir die Quittung geben, ist Zara eine Spende.«
»Weißhäute komische Sitten, komische Waldbewohner, komische Sprache, komische Welt, keine Ahnung von wütenden Elefanten und Skorpionen unter Sand.«
Sie lachten miteinander, das Leben war für Sekunden sehr heiter.
Quelle Jemen war das, was sie im Dienst einen schönen Schwarzen nannten. Der Mann war sehr groß, etwa eins neunzig, und hatte ein edles, schmal geschnittenes Gesicht mit hellbraunen Augen. Er war zweiundvierzig Jahre alt, sehr schlank. Seine Hände waren klein und äußerst gepflegt, fast feminin. Die meisten Menschen, die ihm begegneten, dachten: Er ist wohl ein Lehrer.
Das stimmte. Quelle Jemen mühte sich ab, Denkweisen europäischer Philosophie aufzuarbeiten und sie seinen Studenten häppchenweise nahezubringen. Trotz aller Begeisterung durfte er nicht einmal von seinem Fach schwärmen, weil zu viele Neider ihn ständig zu kontrollieren versuchten und ihn bei jeder Gelegenheit anschwärzten. Er war umgeben von politisch Blinden und Einäugigen, die sein Fach ganz unverhohlen hassten. Sie waren neidisch auf seinen in England erworbenen Doktortitel, sie hassten alles, was ihm ein Lächeln entlockte. Er wusste, dass jeder Student, der seine Kurse besuchte, von extremistischen Muslimen heimlich fotografiert wurde, und das machte ihn schier verrückt. Sein Vaterland tat alles, um seine Liebe nicht zur Kenntnis zu nehmen.
Quelle Jemen war überdies ein Naturtalent. Er berichtete über das ausufernde Terrornetzwerk Al Kaida im Jemen, er war jemand, der jeden Tag mit reicher Ausbeute nach Hause kam, nur weil er auf dem Markt eingekauft oder sein Auto aufgetankt hatte. Er hatte sich selbst einmal als die tauglichste aller tratschenden Hausfrauen im Jemen bezeichnet.
Er war dem Dienst seit sechs Jahren verbunden, er war sehr aufmerksam. Und er war eine sehr preiswerte Quelle. Anfangs hatte er kein Geld haben wollen, dann hatte er dem Dienst erlaubt, bescheidene Beträge auf ein Konto in der Schweiz zu überweisen, wobei er skurrilerweise weder den Namen der Bank noch die Nummer seines Kontos kannte. Offiziell war er zurzeit bei einem Fachkongress in Singapur, nicht in Berlin, und es stand außer Zweifel, dass man ihm eine erstklassige falsche Spur gelegt hatte. Er wusste, dass bald die Zeit kommen würde, mitsamt seiner Familie auf ewig und über Nacht aus seiner Heimat zu verschwinden. Das machte ihn zuweilen nervös, weil nicht festzulegen war, wann dieser Zeitpunkt gekommen sein würde. Diese Ungewissheit machte ihn melancholisch, sie ließ ihn sagen: »Es wird so kommen, dass ich im letzten Augenblick eine leichtsinnige Stunde zu spät dran bin.«
»Ich habe etwas für Ihre Söhne«, sagte Dehner. »Eine große Packung Legosteine mit allen Schikanen. Genauso groß wie Ihre Reisetasche. Der Zoll ist bezahlt.«
»Sie sind ein Weihnachtsmann«, erwiderte Quelle Jemen erfreut. »Aber ich gehe jede Wette ein, dass unser Zoll die Herrlichkeit kassiert. Die mögen mich nicht.«
»Das müssen wir riskieren«, lächelte Dehner. Er steuerte einen Parkplatz an, der für sogenannte Sonderfahrzeuge reserviert war, und sagte: »In aller Ruhe, bitte. Sie sind ein Diplomat, da gibt es Extratüren.«
Dehner ging mit der Großpackung Legosteine voraus, öffnete eine graue, nicht gekennzeichnete Tür. »Dort drüben der nächste Ausgang«, sagte er, ohne sich nach seinem Begleiter umzusehen. »Wir sind angekündigt. Bei Ihnen alles klar?«
»Alles klar«, bestätigte Quelle Jemen. »Ich hoffe, meine Bemühungen haben Ihnen ein wenig geholfen.« Er schloss die Tür hinter sich.
»Allererste Sahne«, stellte Dehner fest. »Ihnen eine gute Zeit.« Er stellte das Spielzeug auf eine kurze hüfthohe Theke. Der Raum war menschenleer. Dann setzte er hinzu: »Falls es in Sanaa eng werden sollte, rufen Sie uns.« Er ging zur nächsten Tür und klopfte kräftig.
Die Tür ging augenblicklich auf, und ein großes, rundes, rotes Gesicht mit einem gewaltigen Schnauzer erklärte freundlich: »Hereinspaziert, die Herren!«
Der Beamte ließ die Tür weit aufschwingen, Dehner ging voran und murmelte: »Ich mache die Vorhut.« Quelle Jemen war unmittelbar hinter ihm. In der Linken hielt er seine Reisetasche und in der Rechten seine Papiere.
Sobald sie die Tür passiert hatten, tauchten links von ihnen plötzlich zwei Männer auf.
Einer von ihnen, der erste, sagte hastig und scharf: »Just a moment!« und hielt Quelle Jemen an der Schulter fest. Er fragte: »Sie sind Stephen Alabi, nicht wahr?«
Quelle Jemen antwortete dummerweise leise und höflich: »Das ist richtig.«
Der Mann zeigte etwas in seiner rechten Handfläche, eine glänzende Metallmarke. »Secret Service! Sie sind festgenommen!«
In diesem Augenblick ließ Dehner den Karton mit den Legosteinen fallen, drehte sich, duckte sich tief in die Hocke und schnellte dann hoch auf den Secret-Service-Mann zu. Es war eine einzige, gleitende Bewegung. Er traf ihn mit beiden Fäusten mitten im Gesicht. Der Mann blutete sofort heftig und fiel ohne einen Laut um.
Dehner ging übergangslos den zweiten Mann an, der etwas größer war als der erste. Er kam mit beiden Füßen voran in den Unterleib des Mannes geflogen, der kreischend hoch schrie und sich grotesk weit vorbeugte, ehe er auf sein Gesicht fiel und nicht einmal mehr seine Arme nach vorn brachte.
»Red!«, keuchte Dehner schwer atmend. »Red!«
Quelle Jemen griff fahrig nach seiner Reisetasche, drehte sich um und rannte an Dehner und den beiden Secret-Service-Männern vorbei aus dem Raum nach draußen. Er würde sich so verhalten, als ginge es um sein Leben. Er würde den BND um Asyl bitten.
»Mein lieber Mann!«, sagte der vom Zoll mit dem Schnauzer andächtig.
»Mach die Tür zu!«, keuchte Dehner.
Der erste Mann rappelte sich zittrig auf, kam mühsam auf die Beine, schwankte und fragte nuschelnd: »Was soll das? Bist du bescheuert, Mann?« Er klang, als käme er aus Texas, er dehnte die Worte wie heißen Käse.
»Es ist mein Mann, und du hältst den Mund!«, bemerkte Dehner im besten Slang. Er hielt sich an der Theke fest, er hatte für Sekunden nicht genügend Luft.
Der Mann, der auf dem Gesicht lag, hob den Kopf und stöhnte.
Der erste Mann stand auf, setzte sich in Bewegung und wollte an Dehner vorbei zu seinem Kumpel gehen.
Dehner erlaubte das nicht und hielt ihn am rechten Arm fest. »Ich will dich hier nicht mehr sehen, klar?«, sagte er betont lässig. »Verschwinde von hier so schnell du kannst, kleine Mohnblüte.«
Das war, wie Dehner unlängst gehört hatte, in ihrem Gewerbe das Schlimmste, was man einem Secret-Service-Mann in seiner Muttersprache sagen konnte. Es gab auch noch die Variante »zarte Kirschblüte«.
Folgerichtig griff der Mann sofort und sehr wütend an. Er war ein Haudrauf-Typ mit viel Kraft und herausragender Kondition, was Dehner sehr entgegenkam.
Überliefert ist an dieser Stelle ein Kommentar Krauses: »Das muss man mal in aller Ruhe genießen dürfen: Unser Mann ist einen Kopf kleiner und fünfzehn Kilo leichter als die beiden Agenten aus den Staaten. Und er macht sie einfach platt.«
Dehner jedenfalls tanzte ein paar harte Schläge des Gegners aus, ließ sich urplötzlich neben der Theke senkrecht zu Boden sinken und schoss dann mit geballter Kraft nach oben. Er traf den Mann mit dem Kopf am Kinn und mit beiden Füßen im Schritt. Der schrie im höchsten Diskant und fiel gegen die Theke, dann auf den Boden und blieb bewegungslos liegen.
Der zweite Gegner hatte sich etwas erholt und ging Dehner mit einem gewaltigen Schrei an. Er brüllte und versuchte eine Dublette gegen den Kopf von Dehner. Der tauchte wieder ab und säbelte mit seinem rechten Bein einen Kreis dicht über den Steinplatten. Der Mann fiel in einen doppelten Handkantenschlag Dehners und lag dann still.
»So was aber auch!«, krächzte Dehner. Dann blickte er zur Decke, deutete auf die Überwachungskamera und fragte: »Was ist damit?«
»Da mach dir man keine Sorgen, Männeken«, murmelte der mit dem Schnauzer. »Die ist sowieso kaputt.«
»Das ist sehr schön und praktisch«, sagte Dehner. »Dann bin ich mal weg. Ich nehme die Papiere, die Blechmarken und Waffen mit. Und ruft einen Notarzt.«
Er filzte die auf dem Boden Liegenden, steckte Papiere, Medaillen und zwei Neun-Millimeter-Glock 19 ein, hob die Hand zu einem Gruß und trat durch die Tür an die frische Luft. Er schwankte leicht, und er konnte bei den ersten Schritten nicht klar sehen. Er war immer noch voll Wut.
*
»Wir haben hier in Berlin ein Red!«, sagte Esser ohne besondere Betonung in das Mikrofon. »Quelle Jemen ist bei mir aufgelaufen. Krise beim Abflug. Die US-Brüder haben versucht, ihn zu kassieren. Schwere Schlägerei mit Thomas Dehner. Der ist auf dem Weg hierher.«
»Ich glaube, ich habe jetzt aber endgültig die Nase voll«, äußerte Krause schnell und scheinbar so heiter, als säße er in einer Talkshow. »Die Beteiligten sehen sich in einer halben Stunde im Konferenzraum. Quelle Jemen sofort in eine sichere Bleibe. Streng bewachte Isolierung. Alles geht über meinen Schreibtisch.«
Eine halbe Stunde später fand das Treffen statt. Krause, Esser und Dehner saßen in einer bequemen Sitzecke im Schatten einiger wild wuchernder, glänzender Grünpflanzen, die einmal in der Woche feucht abgewischt wurden. Gillian servierte Kaffee und Puddingteilchen. Ein Protokoll würde es niemals geben, niemand von ihnen würde über Ergebnisse sprechen.
»Wir müssen noch auf Goldhändchen warten«, murmelte Esser. »Er sucht die Ehefrau von Quelle Jemen.«
»Nicht auch das noch«, sagte Krause angewidert. »Gut. Dann hören wir uns an, was Sie zu sagen haben, junger Mann. Mit anderen Worten: War die Schlägerei vermeidbar?«
»War sie, und war sie nicht«, antwortete Dehner verbissen. Er starrte vor sich hin auf die Tischplatte. »Ich war der Schutzbeauftragte unserer Quelle Jemen. Hätte ich nicht sofort körperlich reagiert, wäre Quelle Jemen jetzt spurlos verschwunden. Wir würden nicht darüber informiert, wohin sie ihn gebracht hätten. Und niemand würde uns sagen, weshalb sie ihn verschwinden ließen.«
»Doch, doch«, widersprach Esser lächelnd. »Aber alles wäre gelogen.«
»Hätte es denn Sinn ergeben, mit den beiden Amerikanern zu sprechen?«, fragte Krause sanft beharrlich weiter.
»Das glaube ich nicht. Ich habe es gar nicht erst versucht.« Dehner begriff, dass er in eine Verteidigungsposition rutschte, in die er nicht geraten wollte. »Wir haben Protokolle eingesehen. Es läuft immer auf die gleiche Weise ab. Ein Passagier durchläuft auf irgendeinem Flughafen in Europa problemlos die Prozedur bis zum Boarding, nichts deutet auf ein Hindernis hin. Dann sind plötzlich ein paar US-Amerikaner da, zeigen ihre Secret-Service-Marken vor und nehmen den Passagier fest. Der Zoll, die Polizei, Leute der dortigen Sicherheitsunternehmen stehen daneben und lassen sie einfach gewähren. Es wird nur geflüstert: Wegen Terrorismus! Dabei ist das zunächst einmal blanker Blödsinn, macht aber Eindruck. Seit Jahren bekommen wir zu hören: Es gibt schon lange vereinbarte, stille Rituale, rührt nicht dran, es geht auch um unsere Sicherheit. Ich sage: Das ist reiner Blödsinn, das ist Hysterie, das sind Schleppnetzfänger der NSA. Sie können es, also tun sie es.« Er schnaufte heftig. »Ich würde morgen wieder genauso agieren.«
Krause deutete matt in Dehners Richtung. »Sie sollten die Wunde an Ihrer rechten Hand ordnungsgemäß behandeln lassen, junger Mann«, sagte er. »Das da sieht übel aus.«
»Da ist nur ein bisschen was aufgeplatzt«, erläuterte Dehner unwillig. »Mein Sparringspartner hatte zu harte Knochen.« Bei diesen Worten grinste er unvermittelt. »Es kommt hinzu, dass Quelle Jemen wirklich gut ist, dass er seit Jahren erstklassiges Material liefert«, fuhr er fort. »Wir können nicht riskieren, dass eine solche Quelle einfach klammheimlich und ohne Not irgendwohin verschwindet.«
Eine Weile herrschte Schweigen, dann nickte Krause und wiederholte nachdenklich: »Klammheimlich und ohne Not irgendwohin. Das ist richtig.«
Esser schaltete sich ein. »Da sind wir doch dankbar«, sagte er klirrend zynisch. »Unter unseren Politikern und hohen Beamten sind gottlob immer eine Menge Arschkriecher, die vorsichtshalber und ängstlich in Washington anfragen: Papa, dürfen wir das auch? Es ist mir egal, ob ein derartig illegales Verfahren mit der Bundesregierung anno Tobak auf irgendeiner hohen und beharrlich schweigenden Ebene abgesprochen worden ist. Die Quelle wird zerstört, das Umfeld dieser Quelle auch.«
Auftritt Goldhändchen. Er kam in höchster Eile in den Raum geschossen, um dann jäh stehen zu bleiben, als habe er sich selbst verloren. Dann sah er alle etwas wirr an. Er hatte ein zerquältes Gesicht, ganz grau, beherrscht von seinen grauen, großen Augen. Er wirkte maßlos arrogant, trug ein weißseidenes langärmeliges Hemd mit kleinem Stehkragen, dazu ein kobaltblaues Halstuch, eine weiße Leinenhose sowie Sneakers in einem leuchtenden Rot. Und er hatte seine bis zum Kragen reichenden Haare rabenschwarz gefärbt. Er sagte manieriert: »Ich habe keine guten Nachrichten, ihr Lieben. Ich fürchte, wir sind zu spät gekommen.«
Er sank malerisch in einen Sessel und schloss die Augen so erleichtert, als sei er aus einem bösen Traum in diese Welt gefallen. Das kannten sie, so war er gelegentlich. Aber zum Glück endete der Zustand nach ein paar Sekunden.
»Was, bitte, heißt das genau?«, fragte Krause schnell.
»Ich wollte die Ehefrau von Quelle Jemen in Sanaa warnen, ich kam aber zu spät«, antwortete Goldhändchen. »Als ich begriff, dass sie versucht haben, Dehner hier in Berlin am Flughafen abzuzocken, bin ich sofort auf den Alarmruf von Quelle Jemen in Sanaa gegangen. Wir haben für diesen Fall in Sanaa ein herkömmliches Telefon installiert, das sich stumm mit einem roten Licht meldet. Aber es war schon zu spät. Eine weibliche Stimme meldete sich mit dem knappen Wort ›Polizei‹. Sie wirkte irgendwie kalt. Ich erklärte, ich sei der Onkel von Frau Alabi, ich sprach arabisch. Das ist so ausgemacht, das steht im Drehbuch. Ich verlangte Frau Alabi. Die Frau am anderen Ende antwortete Merkwürdiges: Die gebe es nicht mehr unter dieser Nummer, die Familie sei zurzeit nicht erreichbar. Ich fragte nach den Kindern, nach Harry und Joshua, und sie antwortete, diese seien vorübergehend bei Verwandten untergebracht. Ich fragte dann nach dem Vater Stephen Alabi, und bekam die Antwort, der sei bis auf Weiteres dienstlich unterwegs und telefonisch nicht erreichbar.«
Wenn Goldhändchen ein zerquältes Gesicht hatte, war nicht auszumachen, wie alt er sein mochte. Er wirkte so abgekämpft, als sei er Ende sechzig, war aber erst in seinen Fünfzigern. Er litt zuweilen mit den Menschen, mit denen er beruflich zu tun hatte, wenngleich sie nur ein Haufen Pixel auf seinen riesigen Bildschirmen waren. »Das ist der Künstler in mir«, pflegte er zu sagen.
Seine Stimme war zittrig, als er zum Ende kam. »Mit einfachen Worten: Es war eine genau getimte, synchronisierte Aktion unserer amerikanischen Brüder. Sie wollten Stephen Alabi hier in Berlin abgreifen und zeitgleich seine Ehefrau mit den Kindern in Sanaa im Jemen. Und ich finde es widerlich, dass es ihnen gelungen ist, zumindest teilweise.«
»Sie haben also zwei Söhne«, bemerkte Krause. »Wie alt?«
»Harry ist vier, Joshua sechs«, antwortete Esser. »Die Ehefrau ist achtunddreißig Jahre alt und die blondeste Jemenitin, die je auf Erden wandelte. Alter Londoner Juristenadel.«
Eine Weile herrschte Schweigen, dann murmelte Krause: »Das hört sich richtig übel an.«
2. KAPITEL
Unsere Präsidenten fliegen über das große Wasser und kommen mit nichts als einem sparsamen Lächeln zurück, dachte Krause resigniert. Irgendein Regierungssprecher erklärt: Die Kanzlerin ist der Meinung, das geht unter Freunden gar nicht! Und ich muss schon froh sein, wenn mein Verbindungsmann in Washington, der gute alte Gregor, mich überhaupt anhört. Wer unter unseren Leuten ist schon so dusselig und hofft allen Ernstes auf ein No-Spy-Abkommen? Sie tun mit uns, was sie wollen, sie haben lange Übung darin. Das macht mich krank.
»Gillian«, sagte er, »wir rufen Gregor in den Staaten an. Langley, Virginia, wenn ich mich recht erinnere. Ich möchte, dass wir aufzeichnen und Goldhändchen hinzunehmen, desgleichen Esser und Sowinski. Außerdem Müller. Geht das? Jetzt und schnell?«
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