Lookalikes - Thomas Meinecke - E-Book

Lookalikes E-Book

Thomas Meinecke

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Beschreibung

Die poshe Düsseldorfer Königsallee ist ihr bevorzugtes Revier, dort flanieren sie auf und ab: Josephine Baker, Serge Gainsbourg, Marlon Brando, Elvis Presley, Justin Timberlake, Shakira (und wie sie alle heißen). Sie alle sind Lookalikes, haben sich bei einschlägigen Agenturen registrieren lassen und sind damit beschäftigt, ihre Ähnlichkeit mit den berühmten Namensträgern produktiv zu machen. Sie lesen Bücher (auch über ihre Idole), sehen sich Spielfilme an (wie gingen die Regisseure der Nouvelle Vague mit den Körpern der Frauen um?), haben Affären miteinander (zum Beispiel Josephine Baker und Justin Timberlake) und kommunizieren vorzugsweise elektronisch mit Hilfe sozialer Netzwerke (deren Jargon sich diesem Roman einschreibt). Dabei dreht sich alles um die Frage, inwiefern Männer und Frauen doch immer nur »Gattungswesen« sind? Thomas Meinecke, mit allen postmodernen theoretischen Wassern gewaschener Literatur-Discjockey und Zitatraubritter, bekommt in seinem neuen Roman die Rechnung präsentiert: Der Text verschlingt seinen Autor und spuckt ihn als Romanfigur wieder aus – und mitten hinein ins verspielte und gleichzeitig todernst gemeinte Treiben der Lookalikes und ihrer Role Models.

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Seitenzahl: 476

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Thomas Meinecke

Lookalikes

Roman

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2011

© Suhrkamp Verlag Berlin 2011

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

eISBN 978-3-518-75570-9

www.suhrkamp.de

What do you think I’d see

If I could walk away from me?

The Velvet Underground, Candy Says

Josephine Baker is listening to the wind

Lauscht auf den Wind auf ihrem winzigen Küchenbalkon, lauscht in die Nacht hinein und wundert sich, wie es so still werden kann in der Großstadt. (Josephine Baker is listening to the still of the night.)

Vereinzelte Motorengeräusche dringen dann aber doch (durch frisch gefallenen Schnee gedämpft) von der nur wenige Häuserblöcke entfernten Königsallee herüber, der Prachtstraße der Stadt, ihrer weltbekannten Flaniermeile, auch für Josephine, die sich, sobald es das Wetter zuläßt, zu allen Jahreszeiten mit Vorliebe auf dem breiten Trottoir der Königsallee (im Volksmund Kö genannt) langsam, auf bedachte Weise beschwingt, auf und ab zu bewegen pflegt, wie fast sämtliche anderen Anwesenden auch (von den Bettlern einmal abgesehen, die ja stundenlang mit einem Starbucks-Pappbecher in der ausgestreckten Hand unter dem Sturz eines Hauseingangs verharren oder, wie auf Tableaus, schier ewig in der kataleptischen Verkrümmung Gekreuzigter überdauern können), und nach zwei, drei Stunden gern in neuer Aufmachung zurückkehrt, das jungenhaft kurze Haar zu Hause eben frisch lackiert, die Locke spiralförmig auf der Stirn fixiert, da haben manche schon gedacht und auch lautstark geäußert, sie, Josephine Baker, sei Grace Jones, die aber doch einen sehr anderen Stil pflegte und viel später gelebt hat (und ja auch immer noch lebt). Sicher hatten Grace Jones und der sie öffentlich inszenierende Jean-Paul Goude auch Bakers Erscheinung im Sinn gehabt, doch logisch zu ganz anderen Zeiten, da liegt ja ein halbes Jahrhundert dazwischen: Jazz Age, Disco Era, der Unterschied müßte doch zu erkennen sein. Bestimmt ließen sich Unterschiede finden, hatte Serge eingewandt, aber gehe es hier letzten Endes nicht um das Gattungswesen Frau?

Serge Gainsbourg blättert die erste Brigitte ohne Models durch

und hört sich dabei Serge Gainsbourgs 1974 in London produzierte Langspielplatte Rock Around the Bunker an, Songs wie Nazi Rock, Tata Teutonne, Eva, Smoke Gets in Your Eyes (das Eva Braun Adolf Hitler vorgesungen und ihn damit verrückt gemacht haben soll), Yellow Star oder SS in Uruguay. Serge, in seinen besten Jahren (deutlich prä-1974), zeigt sich abermals irritiert über Serge Gainsbourg, der 1928 unter dem Namen Lucien Ginsburg als Sohn russisch-jüdischer Immigranten in Paris geboren wurde und heute wie der sinistre Samuel Beckett, die laszive Maria Montez, wie (unter einer gemeinsamen Platte) Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre, auch der große Charles Baudelaire, auf dem Cimetière de Montparnasse liegt, in einem beinahe zwanzig Jahre nach seinem Versterben noch immer von einem Blumenmeer umbrandeten Grab (siehe auch sein von Fans großflächig mit floralen Graffiti besprühtes, von seiner und Jane Birkins Tochter Charlotte betreutes Anwesen in Saint-Germain-de-Prés).

Die Ginsburgs wohnten in einfachen Stadtvierteln. Lucien erhielt von seinem Vater eine klassische Klavierausbildung, entwickelte aber auch ein praktisches Interesse an Bildender Kunst. Seine Schulkameraden nannten ihn während der Grundschulzeit Ginette, weil er schüchtern war und aussah wie ein Mädchen. In dem Spielfilm Je t’aime moi non plus von 1976 setzte sich der ältere Gainsbourg angeblich ausgiebig mit der Geschlechterthematik auseinander. Ließe sich das auch bereits über die gleichnamige, explizit freizügige Schallplatte sagen, die er 1969 mit Jane Birkin eingespielt hatte (und zuvor bereits mit Brigitte Bardot, die sie aber, in Rücksicht auf ihren deutschen Ehemann, den Industriellen und Playboy Gunter Sachs, für die Veröffentlichung sperrte)? Setzt sich ein Sexualakt, hat Serge Josephine einmal im Starbucks an der Kö gefragt, zumal ein im Tonstudio akustisch konstruierter (respektive rekonstruierter), mit der Geschlechterthematik auseinander? Klar, tut er, befand Josephine. Gainsbourgs letztgeborener Sohn Lucien, genannt Lulu, kam 1986 auf die Welt. Seine Mutter ist die französische, deutsch- und chinesischstämmige Sängerin Bambou, die eigentlich, als Enkelin des Wehrmachtsgenerals Friedrich Paulus, der die Kapitulation vor Stalingrad unterzeichnete, Caroline von Paulus heißt (was auf der Stelle online überprüft werden muß).

An den Führer. Zum Jahrestage Ihrer Machtübernahme grüßt die 6. Armee ihren Führer. Noch weht die Hakenkreuzfahne über Stalingrad. Unser Kampf möge den lebenden und kommenden Generationen ein Beispiel dafür sein, auch in der hoffnungslosesten Lage nie zu kapitulieren, dann wird Deutschland siegen. Heil, mein Führer. Paulus, Generaloberst.

Während der deutschen Besatzung war die Familie Ginsburg aufs Land gezogen. Auch dort wurde Lucien gezwungen, den Judenstern zu tragen. Rock Around the Bunker hört sich leider ein bißchen nach der Rocky Horror Show an, denkt Serge, aber vielleicht sollte ich dieses Konzeptalbum im Zusammenhang mit Mel Brooks’ The Producers sehen, verfilmt als To Be or Not to Be, mit dem 1983 nachgereichten Club Hit Hitler Rap im an die elegante afrikanisch-amerikanische Gruppe Chic angelehnten, astreinen Disco-Arrangement, in dem die Mädchen lasziv seufzen Do it, Adolf, do it, und Hitler wie aus der Pistole geschossen im aufgekratzten Sprechgesang erwidert: Well, hi there people, you know me, I used to run a little joint called Germany, I was number one, the people’s choice, and everybody listened to my mighty voice.

My name is Adolf, I’m on the mike, I’m gonna hit you with the story of the New Third Reich: Well, it all began down in Munich town, and pretty soon the word started getting around, so I said to Martin Bormann, I said: Hey Marty, why don’t we throw a little Nazi party? So we had an election, well, kinda sorta, and before you knew it, hello New Order. To all the little mothers in the fatherland I said: Achtung Baby, I got me a plan. They said: What you got, Adolf? What you gonna do? I said: How about this one? World War Two.

Marlon Brando findet eine alte Zeitung und kauft sich ein neues Glas Nutella

Gemma Arterton, 23, Bond-Girl, hat sich angeblich in das Double des Geheimagenten 007 verliebt. Wie die britische Zeitung Sun berichtet, nahm die Schauspielerin bereits einen Heiratsantrag ihres italienischen Freundes an, der im letzten Bond-Film Ein Quantum Trost das Körperdouble des Hauptdarstellers Daniel Craig spielte. Arterton und der Italiener haben sich bei den Dreharbeiten kennengelernt und sind sofort voneinander begeistert gewesen. Gemeinsam mit Freunden und ihren Familien haben sie nun ihre Verlobung in einem Londoner Restaurant gefeiert. Arterton habe einen Diamantring getragen und über das ganze Gesicht gestrahlt, hieß es. Photo: Getty Images.

Marlon Brando (der frühe Marlon Brando) und Elvis Presley (der spätere Elvis Presley) lassen sich am Alexanderplatz Crêpes mit Haselnußcreme bestreichen (während an Marlon Brandos Handgelenk, in einer durchsichtigen Plastiktüte, ein noch ungeöffnetes Glas Nutella baumelt). Marlon zieht ein Leporello des Berghain Lab.oratory aus seiner Jackentasche und läßt es einem Fächer gleich in seiner Handfläche aufgehen: Naked Sunday (every first Sunday), Athletes (dress code sportswear and sneakers), Gummi (rubber outfit only), Yellow Facts (piss without dress code), Fausthouse (anal deep throat), Beard (full, three-day, or moustache), Stink (armpits, body odour, smell the men), Sewer System (total darkness, search the meat). Marlon und Elvis geraten über die Lektüre dieses Schriftstücks in eine gewisse Verlegenheit; sie haben voreinander noch nie über ihre sexuellen Vorlieben gesprochen und möchten es auch jetzt nicht tun. Also läßt Marlon das Papierstück (mit einem gespielten Schulterzucken) in den Abfalleimer des Crêpe-Stands gleiten. (Elvis sei erst einmal im Berghain gewesen, an einem Abend, der ausschließlich klassischer Konzertmusik vorbehalten war.)

Elvis erzählt Marlon von chaotischen Dreharbeiten für einen Münchner Privatsender, bei denen er den früheren Elvis kennengelernt, sich mit ihm aber überhaupt nicht verstanden habe. Der seinen Tonus allerdings Stripperinnen abgeschaut habe, da die Bewegungen des jungen Elvis (nehmen wir nur sein kreisendes Becken) in der New York Times 1955 mit denen von Burlesque-Tänzerinnen verglichen wurden. Vor allem seine politischen Ansichten seien echt komplett unmöglich gewesen. Marlon ist dem späteren Marlon Brando Zeit seines Lebens nicht begegnet, war aber vor gar nicht langer Zeit für ein Photo Shooting mit einem extrem nervösen James Dean in Nordrhein-Westfalen engagiert worden. (Beide seien heute bei Royal Wedding unter Vertrag. Als er noch nicht unter dem Namen Marlon Brando lief, sei er eines der besten Pferde im Stall von Mitte Models gewesen, sagt Marlon, Royal Wedding, im alten Westen gelegen, sei eine spezialisierte Abspaltung von Mitte Models.)

Marlon und Elvis bemitleiden die zahllosen fliegenden Würstchenverkäufer mit ihren umgeschnallten Grillgestellen und noch schwereren Gasflaschen auf dem Rücken. Sie bewundern eine elegant vorüberschreitende Frau in ihren Dreißigern (die sie an überhaupt niemanden erinnert). In der S-Bahn zur Jannowitzbrücke berichtet Elvis von seiner bevorstehenden Anstellung als Kameramann bei einem kürzlich am Stadtrand (schon Brandenburg) gegründeten Home Shopping TV-Sender. Er genieße mittlerweile einen guten Ruf in der Branche, sagt Elvis (der zu früheren Zeiten regelmäßig auch für Fernsehspiele, auch vor der Kamera, verpflichtet wurde); niemand sei so präzise im Zoomen auf anmutige Handrücken und fragile Ohrläppchen wie er.

Greta Garbo blättert in Hubert Fichtes Paraleipomena, Lil’s Book (Die Geschichte der Empfindlichkeit)

Lil Picard: Der Gerald Malanga hat mir am besten gefallen. Der war der jüngste, blond und klein. Das war der Freund vom Warhol. Zu dieser Zeit. Das wußte ich aber nicht. Malanga war 19 Jahre alt und ging noch aufs Wagner College und hat noch studiert. Das war in Staten Island. Und ist der Sohn von einer Schneiderin oder so was. Italiener, blond, homosexuell. Und da haben wir uns getroffen. Hat er erst eine Pelzjacke getragen. Da hab ich gesagt: Ach, Sie tragen eine Pelzjacke. Das ist aber nett. Ich hab noch nie einen Mann gesehen in einer Pelzjacke, eine Damenjacke. Da hat er gesagt: Die hat mir Warhol geschenkt zu Weihnachten. Warhol? Ja, ich arbeite für Warhol. Wir machen momentan Brillo Boxes, und er zahlt mir 1 Dollar 75 die Stunde, ist das nicht gemein? Da hab ich gesagt, ja, viel ist das nicht. Der ist jetzt so geizig, der Warhol. Das ist bekannt. Die Jacke hat 25 Dollar gekostet, hat er mir auch noch erzählt. Und dann haben wir Kaffee getrunken, und er hat mir von seinem Leben erzählt.

Josephine Baker erkennt Josephine Baker auf dem Umschlag von Ishmael Reeds Mumbo Jumbo

Ishmael Reed notierte 1976 in Remembering Josephine Baker (New York Times Book Review): I saw her a year before she died. She was greeting people at the Rainbow Sign in Berkeley, California. Ntozake Shange, a poet and playwright, coaxed me into the receiving line because I was shy. And when it came my turn I presented her with a copy of the novel on whose cover I used and old photo of her to represent two sides of the Voudoun goddess Erzulie. And she flashed that famous smile and squinted those famous eyes and she said: Do you know the young man who wrote this book? I was so awestruck, I said, Yes, ma’am, I knows him. Ohne sich aber zu offenbaren. Serge: Ist ja auch eine afrikanisch-amerikanische Errungenschaft, von sich selbst in der dritten Person zu reden.

Michelle Wallace schreibt, Reed’s determination to see feminism as a historical error (für den weiße Frauen verantwortlich zeichneten) reduces his black feminist characters to hand puppets mouthing his insane views. In Reckless Eyeballing, Tremonisha Smarts’ opinions about Josephine Baker are particularly revealing. (Baker, a potent symbol for Reed, is also on the cover of Mumbo Jumbo, in double images to evoke the two sides of the Haitian Voudoun goddess Erzulie.) Here Smarts explains why Hitler slept with a picture of Baker over his bed the night of his Austrian campaign: He fantasizes about sleeping with the demon princess, the wild temptress Lilith, Erzulie, the flapper who brought jazz dance to the Folies Bergère. Sie soll ja, als Frau, denkt sich Serge, anfangs tatsächlich etwas für Mussolini übrig gehabt haben. (So wie später für Juan Perón.) Andererseits reiste sie in die UdSSR und wurde in den USA, wo sie sich weigerte, vor segregiertem Publikum aufzutreten, kommunistischer Umtriebe bezichtigt.

Serge kennt eine von Ishmael Reed kolportierte Anekdote, nach der Josephine Baker in ihrem ehemaligen, mittlerweile durch die Nazis konfiszierten Domizil von Hermann Göring empfangen wird (wenn empfangen der richtige Ausdruck ist: Josephine Baker hatte ja, mit Zaubertinte auf Notenpapier, Geheimnisse der deutschen Besatzer an den französischen Widerstand verraten). Göring, sehr angetan von Bakers grüner Onyx-Badewanne, schnupft während des Abendessens Kokain, konsumiert wohl auch ein bißchen Heroin, zieht seine Pistole und zwingt Josephine Baker, einen vergifteten Fisch zu verspeisen. Die kann durch einen Wäscheschacht entfliehen, wird aber erst einmal todkrank und meldet ihrer Freundin Mistinguett, sie solle doch bitte die Bühne für sie warmhalten, bis sie wiederkäme. Schließlich zieht sie, mit höchsten Orden der gedemütigten République Française dekoriert, an der Seite des Generals de Gaulle in das am 25. August 1944 durch die alliierten Streitkräfte befreite Paris ein.

Barbara Vinken hat Thomas Meinecke eine Nachricht geschickt

Daß das Begehren nicht natürlich behavioristisch funktioniert, kann man am besten am Fetisch sehen. Denn der Fetisch erregt, aber er ist beliebig gewählt. Das bizarrste Beispiel für einen Fetisch, das ich kenne, ist die Windschutzscheibe eines Traktors: Ein Junge, der auf dem Land wohnte, wurde dadurch erregt. Daran kann man sehen, daß das Begehren konstruiert und nicht automatisch auf Primärreize oder sekundäre Geschlechtsmerkmale reagiert. Die Frage ist, wieso diese Reize doch relativ weit und normativ verbreitet sind. Daß das so ist, heißt nicht, daß das Begehren beliebig konstruiert werden kann oder daß man es nach eigenem Gutdünken verändern könnte. Sondern man erliegt dieser Konstruktion, derer man nicht Herr ist; insofern unterliegt oder erliegt man dem Begehren.

Manchmal auch als solchem. Es gibt ja den Fall, ins Verliebtsein verliebt zu sein. Sich zum Begehren zu entschließen, geht ja wahrscheinlich doch nicht. Das Objekt des Begehrens ist doch vorformuliert oder eingeführt.

Im Begriff des Begehrens schwingt das Erleiden mit. Es stößt einem zu; deswegen wird es oft als Krankheit beschrieben, von der man aber doch nicht geheilt werden möchte, in die man insofern verliebt ist. Es ist wohl ein romantisches Mißverständnis, wenn man glaubt, daß die Liebe an einem bestimmten Individuum hängt. Eher hängt sie, weiß Freud, und nicht nur bei den Neurotikern, an einer Dynamik. Die schönste Beschreibung einer solchen Situation, die kleinkindliche triadische Dynamiken immer wieder fast zwanghaft und resistent gegen alle Erfahrung inszeniert, ist die Geschichte über einen besonderen Typus der Objektwahl beim Manne; dieser Mann verliebt sich weniger in eine bestimmte Frau; er sucht immer wieder die gleiche und natürlich ambivalente Dynamik. So daß das Begehren die Wiederholung einer konfliktuellen Konstellation wäre, die man früh erlebt.

Ein anderes Beispiel für diese antiromantische These ist ein ähnlicher Fall für Frauen. Dort beschreibt Freud, daß sexuelle Erfüllung und sexuelles Verbot für die Frau (wir sind hier im 19. Jahrhundert in Wien) so eng verknüpft sind, daß die Erfüllung später an den Ehebruch, heißt ans Verbot, gebunden bleibt.

Bei Barthes habe ich in Fragments d’un discours amoureux gelesen, daß im Tierreich der Auslöser der sexuellen Mechanik eine Form, ein farbiger Fetisch ist. Das grenzt er gegen das menschliche Begehren ab, wobei ich mich frage, was eigentlich los ist, wenn man eine andere Person über die Entfernung von hundert oder fünfzig Metern, und dabei sogar von hinten, attraktiv finden kann. Das ist ja doch allem, was man theoretisch erlernt hat, entgegengesetzt, aber ich erlebe es. Das ist ein situatives Element und erinnert an die berühmte Vorüberschreitende bei Baudelaire, den Mann in der Menge bei Poe. Das schreibt ja auch Barthes, interessanterweise: daß liebende Männer wartende Männer und also effeminiert sind, wo Objekt und Subjekt durcheinandergeraten.

Barthes versucht einen Diskurs des Pathos, nämlich des Liebesleidens, gegen die Mechanik des Behaviorismus zu setzen: Eros, wenn man so will, gegen Sex. Deshalb nimmt er keinen Auslöserreiz an, der unmittelbar eins zu eins funktioniert, wie das der Behaviorismus postuliert. Das pornographische Phantasma nimmt nun, zur Beruhigung aller (sex is just nature, Natur, die einem, wie es bei Woyzeck so schön heißt, einfach kommt), eben dieses behavioristische Szenario des Reiz-Reaktions-Schemas an. Barthes, wie du sagst, setzt dagegen das die passio erleidende Subjekt; deshalb auch Werther als eine der wichtigsten seiner Quellen; in einer eigenartigen Parodie Christi ist die Liebeskrankheit des Werther ja ein Leiden zum Tode.

Hier mal eine Stelle von Roland Barthes:

Ich begegne in meinem Leben Millionen von Leibern; von diesen Millionen kann ich nur einige Hundert begehren; von diesen Hunderten aber liebe ich nur einen. Der Andere, dem meine Liebe gilt, bezeichnet mir diese Besonderheit meines Verlangens. Diese Wahl, die so streng ist, daß nur der Eine, Einzige übrig bleibt, macht, sagt man, den Unterschied der analytischen und der liebenden Übertragung aus; die eine ist universal, die andere spezifisch. Es hat vieler Zufälle, vieler überraschender Koinzidenzen bedurft (und wahrscheinlich vielen Suchens), bis ich das Bild finde, das, unter tausend anderen, meinem Verlangen entspricht. Da liegt ein tiefes Rätsel verborgen, für das ich den Schlüssel niemals auffinden werde: Warum begehre ich gerade ihn? Warum begehre ich ihn unablässig, sehnend? Begehre ich ihn als Ganzes (eine Silhouette, eine Form, ein Gesichtsausdruck)? Oder nur einen Teil dieses Körpers? Und was ist in diesem Falle dazu ausersehen, an diesem geliebten Körper für mich zum Fetisch zu werden? Welcher vielleicht unglaublich kleine Teil, welche unwesentliche Eigenschaft? Die Kuppe eines Fingernagels, ein etwas abgeschrägter Zahn, eine Haarsträhne, eine bestimmte Art, beim Reden, beim Rauchen, die Finger zu spreizen? Von allen diesen Falten des Körpers gelüstet es mich zu sagen, daß sie anbetungswürdig sind. Anbetungswürdig soll heißen: das ist meine Begierde, soweit sie je einzelne Begierde ist: Das ist es. Genau das ist es (was ich liebe). Dennoch, je deutlicher ich die Besonderheit meiner Begierde erlebe, um so weniger kann ich sie benennen; der Präzision der Zielscheibe entspricht ein zitterndes Schwanken des Namens; das Eigentümliche der Begierde kann nur die Uneigentlichkeit der Aussage hervorbringen. Von diesem sprachlichen Mißlingen bleibt lediglich eine Spur erhalten: das Wort anbetungswürdig. Anbetungswürdig ist die flüchtige Spur einer Müdigkeit, einer Müdigkeit der Sprache. Von Wort zu Wort mühe ich mich ab, von meinem Bild das Gleiche anders zu sagen, das Eigentümliche meiner Begierde uneigentlicher: eine Reise, an deren Ende meine letzte Philosophie nur darauf hinauslaufen kann, die Tautologie anzuerkennen und zu praktizieren. Anbetungswürdig ist, was anbetungswürdig ist.

Dieses tautologische Moment finde ich interessant, und es schlägt sich wahrscheinlich auch in Liebeskorrespondenzen nieder, die nichts anderes aussagen können als: Ich liebe Dich.

Das Ende der Sprache, von dem Barthes hier spricht, ist eine Sprache, die nur noch tut und nichts mehr bezeichnet; deshalb wird die Sprache der Liebe bei Barthes als reines Performativ beschrieben. Was Barthes versucht, ist eine Absetzung eines erhabenen Diskurses der Liebe von einem Diskurs des Sexus, der nach bestimmten Reizen viele Körper begehrt. Liebe ist bei Barthes an diese vollkommene Exklusivität des Einzigen gebunden, der alle andern ausschließt. Unsere Präferenz ist gerade keine der Vollkommenheit (er war schön wie ein junger Gott), sondern eine der Unvollkommenheit, der abgeschrägte Zahn, oder, um es mit Benjamin zu sagen, die Laufmasche (Tomboy, erste Seite). Es ist die Unvollkommenheit des Anderen, die Lücke, die Unzulänglichkeit, an der sich die Liebe kristallisiert. Es ist ein Diskurs der Entleerung des Subjektes an jemanden Anderen, der wesentlich in der Sprache liegt.

Deswegen ist es reizvoll, über dieses Thema zu schreiben, was dann so wie ein Tanz der Sprache ist, der die Sache nicht be-, sondern in unendlichen Annäherungen nur umschreiben kann. Deswegen braucht das Begehren eine Bühne, auf der ein tautologisches Gespinst ausgebreitet ist. Alles, was im klassischen Sinn Handlung ist, wird hier zum kinky Beiwerk: Lotte, Brot schneidend.

Josephine Baker ist jetzt mit Justin Timberlake befreundet

An seinem heutigen Geburtstag hat Justin einige seltene Langspielplatten der 1950er Jahre aus seinem Regal gezogen, Gesprochenes Wort vor großen Orchestern, und er fällt immer wieder, vor Josephine, die seine zum Sofa umgebaute Bettstatt belegt hat, auf und ab stolzierend, in den von einem ältlich sonoren, mitunter schluchzenden Bariton vorgetragenen Text des (definitiv liebeskranken) Dichters Walter Benton ein, deklamiert feierliche Sätze, wie: Your body makes eyes at me. (Das ist wie bei Magritte, den von ihm gepinselten glotzenden Brüsten, findet Josephine, Surréalisme.) Benton: I took your body like a glass of sweet milk. I memorize you walking as if to music, your breasts nod Yes each step. Und Justin Timberlake tänzelt jetzt tatsächlich auch nach Vernon Dukes Musik durch sein kleines Appartement. Er hat seine Zelte Ende Dezember in Berlin abgebrochen, wird aber noch in der Kartei von Mitte Models geführt, die Kö (okay, sie liegt einige Straßenzüge weiter im Westen) sei jetzt wieder sein erster Wohnsitz; bei Starbucks habe er lediglich kurzfristigen Gelderwerbs halber angeheuert. Seine frisch angetraute Ehefrau Karin (legendäre amphibische Hochzeitsfeier im Spreewald) sei noch bis Ende 2012 in Yale beschäftigt; er verbringe lediglich zweimal im Jahr (in der Regel während der Semesterferien) Zeit mit ihr. Was eigentlich sehr schade sei. Kann ich mir vorstellen, sagt Josephine, die, wenngleich allseits begehrt und tagtäglich drangsaliert, solo, mit niemandem liiert ist.

Justin hat niemanden außer Josephine Baker eingeladen. Und jetzt soll sie, die sich halb erhoben und ein bißchen über sein Gehabe lustig gemacht hat, einmal ganz ruhig sein und zuhören:

Were I Pygmalion or God / I would make you exactly as you are in all dimensions / From your warm hair to your intimate toes / would you be wholly in your own image / I would change nothing, add or take away / The same full red flower would model for your mouth / And from the same seashore would I bring the small translucent ear shapes of your ears / Oh the lovely throat that I could duplicate; the tender arms / I would shape your breasts the shape of the hungry little faces they are now / and tip them with the same quick mouths / I could not make your eyes deeper than they are / nor softer to look into / nor could I turn your hips, your thighs / your loins in a sweeter curve. Ganz schön überzuckert klingt dieses Album namens This is My Beloved, ganz schön nach old Hollywood after dark, denn auf der Leinwand war ja selbst das Zurschaustellen von Bauchnabeln unterbunden, sagt Justin Timberlake, der heute vor vierundzwanzig Jahren im Hunsrück zur Welt kam (dem von unterirdischen amerikanischen Raketenabschußrampen ausgehöhlten Mittelgebirge), und legt als nächstes (Josephine, die den ganzen Tag in der Galeria Kaufhof, Königsallee 1, exklusive Kosmetika verkauft hat, sind derweil die Augen zugefallen) Phil Moores Fantasy for Girl and Orchestra auf, dessen trauriger Monolog von einer jungen Frauenstimme (in der Rolle einer von ihrem Liebhaber verlassenen Frau) vorgetragen wird.

Josephine, die Justin aus einem Jazz-Dance Studio in der Altstadt kennt, die ihn an Baudelaires Schwarze Venus erinnert (und deren Vater in Ramstein, abgesehen von seiner delikaten Tätigkeit als Jet-Pilot, ein gefragter fretless Jazz-Funk-Bassist ist), hat ihrem Gastgeber die 1957er Originalpressung eines Albums namens American Jazzmen Play André Hodeir’s Essais mitgebracht (auf Savoy Records, im weltweiten Netz ersteigert), das außer Solisten wie dem Trompeter Donald Byrd oder dem erstaunlichen Altsaxophonisten Hal McKusick, was die Präsenz der menschlichen Stimme anbelangt, lediglich sporadische nonverbale Obligato-Bögen von Annie Ross zu bieten hat. Macht absolut gar nichts, ist Justins Bemerkung gewesen, es sei ja eine verbreitete Unsitte der heutigen Jazz-Rezeption, immer nur Vocals, vor allem von Sängerinnen, hören zu wollen. (Des Franzosen André Hodeirs Essais sollten ganz ohne Worte auskommen; er hatte bereits ein umfangreiches Buch über die Ästhetik des Jazz geschrieben.)

Serge Gainsbourg wurde von Erdmute Wagenbach angestupst

und öffnet sein Facebook-Postfach, um nachzufragen, ob sie ein konkretes Anliegen habe (oder lediglich zurückgestupst werden wolle). Doch Erdmute langweilt sich an diesem grauen Nachmittag einfach nur, sie hat nicht nur Serge, sondern beinahe ihren gesamten Freundeskreis angestupst. Serge schlägt ihr vor, sich die neue Brigitte vom Kiosk zu holen, das erste Heft ohne professionelle Models. Erdmute antwortet binnen weniger Minuten: Weshalb liest Du eigentlich Brigitte? Nicht, daß ich das schlecht finde, Serge, aber Du scheinst mir da auf interessante Weise fixiert zu sein. Fixiert auf die Welt der Frauen. Was ist es?

Und Serge antwortet, eine Brigitte habe er sich gestern zum ersten Mal in seinem Leben gekauft; es sei nun aber doch das Heft ohne Models, und sollte das nicht von allgemeinem Interesse sein? Er schreibt: Vielleicht markierst Du ja mit der Bemerkung, ich sei auf interessante Weise auf die Welt der Frauen fixiert, meine politische Prägung durch feministische Theorie (in der ich, wie meine Eltern einst bei der Linken, universelles Potential realisiere). Abgesehen davon: Die Welt der Männer, ziemlich öde.

Brigitte: Herr Michalsky, was war Ihr erster Gedanke, als Sie von unserer Entscheidung erfuhren, in Zukunft ohne Models zu arbeiten? Michael Michalsky: Cleverer PR-Gag, dachte ich. Brigitte tauchte danach ja tagelang in allen möglichen Medien auf. Brigitte: Nicht nur das. Mehr als zehntausend Leserinnen haben uns geschrieben. Über die Begeisterung haben wir uns natürlich gefreut. Deshalb reden wir hier mal mit jemandem, der nicht begeistert ist. Serge Gainsbourg: Während Wolfgang Joop ja voll begeistert ist und davon schwärmt, daß endlich echte Frauen mit Herzschlag und Hüftschwung gecastet würden. Auch Mütter mit noch Milch in den Brüsten. (Serge und Erdmute, in unterschiedlichen Städten, chatten jetzt über die vor Serge aufgeschlagene Brigitte.) Erdmute: Kann natürlich unvermittelt pornographisch rüberkommen, das sogenannte Natürliche. Serge: Du sagst es. (Was hat das sogenannte Natürliche in der Mode überhaupt zu suchen?) Und doch ist mir das Vorhaben der Brigitte erst mal sympathisch. Erdmute: Weil Du ein Dummkopf bist.

Michalsky: Als Designer und jemand, der schon sehr lange in der Textilindustrie arbeitet (ich war früher bei Levi’s und dann bei adidas), habe ich mich gefragt, wie man das realisieren möchte. Es gibt weltweit standardisierte Größen für Muster, bei Frauen ist das S, manchmal sogar XS. Gainsbourg: Also wurden sie bislang von vierzehnjährigen Mädchen vorgeführt, die wie erwachsene Frauen geschminkt waren. Ist das nicht auch pornographisch? Michalsky: Gleichzeitig haben alle Magazine, also auch Brigitte, einen langen Vorlauf, die Photoproduktionen werden Monate vor dem eigentlichen Erscheinungstermin gemacht, zu einem Zeitpunkt, an dem die Kollektionen noch gar nicht produziert sind, sondern es nur die Musterteile in kleinen Größen gibt. Ich frage mich, wie man das logistisch bewerkstelligen will. Brigitte kann ja nicht in den Laden gehen und sich das Teil in Größe 42 holen, dort hängt ja noch Herbstware. Brigitte: Manchmal passen die Sachen, manchmal nicht, das war bei Modeproduktionen schon immer so. Mittlerweile gibt es aber die ersten Firmen, Aigner zum Beispiel, die für uns Musterteile in größeren Größen anfertigen wollen.

Michalsky: Ich finde es ja grundsätzlich gut, daß Sie etwas Neues ausprobieren wollen. Es wird ganz bestimmt Leute geben, die das cool finden. Doch es geht um weit mehr, um professionelle Arbeitsweise nämlich. Und unter diesem Aspekt finde ich es nicht gut, wenn Brigitte einen ganzen Berufszweig aussperrt. Nur weil es einige Models gibt, die magersüchtig sind. Brigitte: Gazellen, Giraffen, Amazonen, so haben Sie mal die Idealtypen genannt, die Sie für Ihre Schauen casten. Michalsky: Und sind das nicht drei sehr schöne, positive Begriffe? Wagenbach: Ich hoffe doch, ich habe auch Beine wie eine Gazelle. Gainsbourg: Könntest Du auf der Stelle dein Telephon nehmen, ein Photo von ihnen machen und es mir anhängen? Es ist ja eine Ewigkeit her, daß ich Deine Beine zuletzt sah. Wagenbach: Die Beine kommen. Gainsbourg: Du machst mir Beine. Wagenbach: Du machst mir Augen. Erdmute Wagenbach ist offline.

Josephine Baker blättert in Henry Louis Gates, Jr.: The Signifying Monkey. A Theory of African-American Literary Criticism

Gates’ Überlegungen über Exu, den Totengott des Candomblé, Wächter der Wegkreuze, Meister des Stils (und des Stiels), den phallischen Gott der Schöpfung und der Fruchtbarkeit, finsterer Herrscher über die flüchtige Barriere, welche die göttliche Welt von der irdischen trennt.

Sie läßt das Buch in ihren Schoß sinken und erinnert sich an ihren ersten Tempelbesuch, gemeinsam mit ihren Verwandten. Auch an Justins unkontrolliertes Lachen, als er der Erektion Exus zum ersten Mal ansichtig wurde: Ein Gott mit Ständer, geil. (Josephines hölzerne Exu-Figur ist ein Geschenk ihrer bahianischen Patentante Maria.)

Scholars have studied these figures of Exu, and each has found one or two characteristics of this mutable figure upon which to dwell, true to the nature of the trickster. A partial list of these qualities might include individuality, satire, parody, irony, magic, indeterminacy, open-endedness, ambiguity, sexuality, chance, uncertainty, disruption and reconciliation, betrayal and loyalty, closure and disclosure, encasement and rupture. But it is a mistake to focus on one of these qualities as predominant. Exu possesses all of these characteristics, plus a plethora of others which, taken together, only begin to present an idea of the complexity of this classic figure of mediation and of the unity of opposed forces.

Nicht weder-noch, auch nicht zwischen, nicht wirklich beides vereint, notiert Josephine. Handelt es sich nicht vielmehr um das dynamische Verhältnis vermeintlich entgegengesetzter Kräfte? (Wonach Exu nicht als der Vermittler, sondern als das vermittelnde Etwas, die Vermittlung selbst, erscheint.)

Demzufolge hat Exu kein Geschlecht, beziehungsweise (auf eine nicht-binäre Art) deren zwei (in einem). Seine ständige Erektion soll uns nicht weismachen, daß wir es mit einer männlichen Gestalt zu tun haben. (Josephines Mutter hat zu Hause eine Exu-Figur stehen, die ihre Brüste in den Händen wiegt.)

Gates macht das auch an Ishmael Reeds Mumbo Jumbo fest: Already we are in the realm of doubles, but not the binary realm; rather, we are in the realm of doubled doubles. (Doubled doubles are central to Yoruba mythology, and to Exu.)

It is the critique of dualism through the play of doubles which Reed employs in his text, simultaneously as thematic devices and as underlying structural principles; Reed underscores the play of doubles by a narrative strategy of double voices and double plot lines.

Mumbo Jumbo is the great black intertext, replete with intratexts referring to one another within the text of Mumbo Jumbo and also referring outside themselves to all those other named texts, as well as those texts unnamed but invoked through concealed reference, repetition, and reversal.

Erdmute Wagenbach (via Twitter): Kann mir vielleicht mal einer erklären, warum sich Drag Queens neuerdings bevorzugt männliche Pseudonamen geben

Justin Timberlake hängt seine Film Stills auf und stört sich ein bißchen an der fetthaltigen Abluft einer großgastronomischen Friteuse, die durch das gekippte Fenster in die neue Wohnung strömt

Von links oben nach rechts unten: David Bowie als Andy Warhol in Basquiat (1996) und Cate Blanchett als Bob Dylan in I’m Not There (2007), Walter Matthau als Albert Einstein in I.Q. (1994) und Katja Flint als Marlene Dietrich in Marlene (2000), Benicio Del Toro als Ernesto Che Guevara in Che: Part Two (2008) und Salma Hayek als Frida Kahlo in Frida (2002), Philip Seymour Hoffman als Truman Capote in Capote (2005) und Heike Makatsch als Hildegard Knef in Hilde (2009), Sebastian Koch als Andreas Baader in Todesspiel (1997) und Martina Gedeck als Ulrike Meinhof in Der Baader Meinhof Komplex (2008), Val Kilmer als Jim Morrison in The Doors (1991) und Johanna Wokalek als Gudrun Ensslin in Der Baader Meinhof Komplex (2008), Charlie Chaplin als Adenoid Hynkel a.k.a. Adolf Hitler sowie als namenloser jüdischer Friseur gleichen Aussehens in The Great Dictator (1940).

Aus den Lautsprechern seines schneeweißen Notebooks, im programmierten constant replay: I’m Every Woman von Whitney Houston, die sich auf dem Cover der entsprechenden Single in einem ärmellosen, mit Leopardenmuster bedruckten Top zeigte (respektive zeigen ließ); Tiere repräsentieren ja immer sogleich die Kreatur, die gesamte Gattung. Frauen aber auch, hat sich Justin (Stecknadeln für seine Stills zwischen den Lippen) schon öfter überlegt: Leoparden- und Tigermuster auf Stoffen verleihen Frauen etwas Allgemeines. Schreckliche Vorstellung, daß womöglich auch das hehre Amouröse dieser Gesetzmäßigkeit unterliegen könnte. Es kann doch nicht angehen, daß es die Gattung ist, die mich tagtäglich ständig und unweigerlich dazu bewegt, meinen Blick auf zarte Fesseln, gekurvte Hüften und schlanke Hälse zu heften, denkt Justin Timberlake und schließt jetzt doch sein Fenster (durch dessen Spalt soeben das einschlägig ansprechende Geräusch hoher Absätze gedrungen ist).

Und zieht Friedrich Schlegels Lucinde (eins der künstlichsten Kunstwerkchen, die man hat) aus einem großen (seinem einzigen) Umzugskarton und schlägt (nach kurzem Blättern in diesem seiner Frau Karin gehörenden Reclam-Büchlein) die Seite 111 auf, wo geschrieben steht: Da liebt der Mann in der Frau nur die Gattung, die Frau im Mann nur den Grad seiner natürlichen Qualitäten und seiner bürgerlichen Existenz, und beyde in den Kindern nur ihr Machwerk und ihr Eigenthum.

Und schlägt die Seite 197 auf, wo steht: Durch das, was seine Freundin ihm offenbart hatte, ward es dem Jünglinge klar, daß nur ein Weib recht unglücklich seyn kann und recht glücklich, und daß die Frauen allein, die mitten im Schoß der menschlichen Gesellschaft Naturmenschen geblieben sind, den kindlichen Sinn haben, mit dem man die Gunst und die Gabe der Götter annehmen muß.

Julius fand in Lucindens Armen seine Jugend wieder. Die üppige Ausbildung ihres schönen Wuchses war für die Wuth seiner Liebe und seiner Sinne reizender, wie der frische Reiz der Brüste und der Spiegel eines jungfräulichen Leibes. Die hinreißende Kraft und Wärme ihrer Umschließung war mehr als mädchenhaft; sie hatte einen Anhauch von Begeisterung und Tiefe, den nur eine Mutter haben kann. Wenn er sie im Zauberschein einer milden Dämmerung hingegossen sah, konnte er nicht aufhören, die schwellenden Umrisse schmeichelnd zu berühren und durch die zarte Hülle der ebnen Haut die warmen Ströme des feinsten Lebens zu fühlen.

Kurze Zeit später sitzt Justin vor seinem Notebook und läßt Josephine Bakers ersten Spielfilm, La Sirène des tropiques, über den Bildschirm laufen. Bereits in diesem beachtlichen Werk (einem Stummfilm, der sowohl auf den Antillen als in der europäischen Großstadt spielt) war sie (drei Jahre vor der in der gängigen Geschichte des Films Hedy Lamarr in dem Spielfilm Ekstase zugeschriebenen offiziell ersten weiblichen Nacktszene) in mehreren Szenen mit offensiv entblößten Brüsten zu sehen, zunächst in den Tropen (vor kaufmännischen Kolonialherren), später an Bord (auf der transatlantischen Überfahrt). Undenkbar, daß auch die anderen vorgeführten jungen Frauen, insbesondere die Tanzmädchen, Josephine Bakers Kolleginnen weißer Hautfarbe aus dem Pariser Folies Bergère, off-stage oben ohne gewesen wären. Aber gar kein Skandal, offensichtlich, denkt Justin, daß Josephine hier jetzt, 1927 (allerdings in Europa), oben herum überhaupt nichts anhat, respektive nur ihre (nach Jacques Lacan) abnehmbaren Brüste anhat. (Josephine nackt: Busen. Josephine im Kleid: kein Busen.) Ist das denn wirklich ein historischer Akt sexueller Befreiung, den Justin augenblicklich auf seinem Display verfolgt? (Französinnen besaßen damals kein Wahlrecht.) Oder, im fatalen Gegenteil, der gern als paradiesisch überhöhte Zustand, in dem Josephine Baker, der Kreatur, noch nicht einmal die Menschenwürde zuerkannt worden war? Quälender Gedanke: Konnten die Macher dieses Films, darunter (wenngleich nicht maßgeblich beteiligt) ein sehr junger Luis Buñuel, in Josephine Baker, der Tochter einer afroamerikanischen Waschfrau und eines jüdischen Schlagzeugers, ein Tier gesehen haben? (Tiere haben ja auch nichts an. Andererseits sind sie nicht eigentlich nackt, sie besitzen ein Fell, rundum; sie sind im Pelz.)

Auch Julius war männlich schön, aber die Männlichkeit seiner Gestalt offenbarte sich nicht in der hervorgedrängten Kraft der Muskeln. Vielmehr waren die Umrisse sanft, die Glieder voll und rund, doch war nirgends ein Überfluß. In hellem Licht bildete die Oberfläche überall breite Massen, und der glatte Körper schien dicht und fest wie Marmor, und in den Kämpfen der Liebe entwickelte sich mit einemmale der ganze Reichthum seiner kräftigen Bildung.

Rudolph Valentino is off to the Mercedes-Benz Fashion Week

und hat sich in dem wenig frequentierten Speisewagen auf der Höhe Lutherstadt Wittenberg ein Stück Marmorkuchen bestellt. Einer der vorbeiziehenden Kirchtürme mutet dem Reisenden architektonisch überladen, geradezu manieriert an. Ansonsten offenbart die Stadt, von der eine der größten Erschütterungen unserer Zivilisation ausging, eine eher trostlose Silhouette. Rudolph kann sich nicht vorstellen, daß es im heutigen Wittenberg Katholiken gibt. (Rudolph Valentino: Katholik.) Die Fingernägel der Bedienung sind nachlässig lackiert (und erinnern darin an die jetzt häufig zu sehenden lackierten Nägel von Männern). Die Tageszeitung ist auch heute wieder voller Berichte über die unlängst in einem schweren Erdbeben untergegangene Stadt Port-au-Prince. Die Staaten Senegal und Kongo bieten den die Katastrophe überlebt habenden Nachfahren der vormaligen Sklavenkaste an, jetzt endlich nach Afrika heimzukehren. Rudolph in Gedanken an die Ghetto Biennale, die vor wenigen Wochen in Port-au-Prince abgehalten worden ist. An seinen Partner Gregor, der (eigentlich Professor für Volkskunde) daran als Projektleiter (mit künstlerisch-anthropologischer Bezugnahme auf den haitianischen Voudoun-Kult) teilgenommen hat und einige Tage vor den fatalen Erdstößen zu einer Hochzeit heterosexueller Freunde ins benachbarte Santo Domingo weitergereist ist. (Wir sind zu 95 Prozent katholisch, haben die Leute Gregor erklärt, und zu 100 Prozent Voudoun.)

Hubert Fichte überlegte: Vielleicht ist die haitianische Gesellschaft gar nicht so tolerant, daß sogar die Voudoun-Priester homosexuell sein dürfen; vielleicht ist diese Gesellschaft so intolerant, daß nur die Voudoun-Priester homosexuell sein dürfen. (Gregor: Ob das nicht lange Zeit, Jahrhunderte, auch für die römisch-katholische Kirche gegolten haben könnte?)

Weiter hinten in der Süddeutschen: Wie die bildschöne Megha Mittal (in Aschheim bei München) die erste Escada-Modenschau als neue Eigentümerin der Firma besucht, selbst in ein aktuelles Escada-Kleid gewandet (wenngleich es in einem anderen Farbton, nämlich Amethyst, gehalten ist als die demnächst lieferbaren roten Modelle), sich von den anwesenden Mannequins allenfalls in der Körpergröße unterscheidend (sie sei um einen Kopf kleiner als diese), zur Rechten des erkennbar nervösen Escada-Chefs Bruno Sälzer, zur Linken ihres anmutigen Gatten, des dreizehnfachen Milliardärs Aditya Mittal. Megha Mittal wirkt etwas teilnahmslos. Sie habe sich aus dem Produktionsprozeß der neuen, was das Zielpublikum betrifft, nach unten erweiterten Linie des (noch vor kurzem insolventen) Modeunternehmens herausgehalten, sagt sie zurückhaltend, um dann allerdings hinter der Bühne doch klare Anweisungen zu geben. Das Lächeln verschwindet aus ihrem Gesicht, notierte der Gesellschaftsreporter Philipp Crone, sie wirbelt plötzlich mit den Armen, zeigt an ihre Hüfte, dreht sich, deutet auf Bilder, zeichnet Figuren in die Luft und spricht dazu mit ernstem Blick. Sie analysiert akribisch, was ihr soeben vorgeführt wurde.

Als Rudolph auf seinen Sitz im Großraumwagen zurückkehrt, hat eine arktisch anmutende junge Frau den Platz neben seinem eingenommen. Sie grüßt freundlich, läßt Rudolph erneut am Fenster Platz nehmen, nimmt dann die Lektüre ihres kyrillisch gesetzten Romans wieder auf. Ein eigentümlicher, beißender Geruch dringt Rudolph Valentino (der schon seines Berufs wegen Ästhet ist) in die Nase. Kein Wunder: Die junge Frau neben ihm kaut während ihrer Lektüre auf einem getrockneten (geplätteten) Fisch herum. Ihre langen Fingernägel sind, von sorgfältig weiß abgesetzten Spitzen abgesehen, in der kühlen Farbe des Gletschereises lackiert, mit winzigen ornamentalen Applikationen darauf. Das kräftige asiatische Haar ist in Lila gehalten (wie bei Manga-Figuren, auch Supermarktkassiererinnen).

Thomas Meinecke liest Hubert Fichte: Xango. Die afroamerikanischen Religionen. Bahia. Haiti. Trinidad

Umschlagtext: Etwa seit die Rolling Stones 1968 an einer Candomblé-Zeremonie in Rio teilnahmen, überschwemmt die okkulte Welle auch die Industrienationen. Flüchtlinge und Emigranten aus Kuba, Haiti, Brasilien brachten Candomblé, Santería, Voudoun nach London, Paris, Miami, Caracas.

Klappentext: Religion wird hier nicht aufgefaßt als eine atavistische Funktion in einer säkularisierten Umwelt; Synkretismus wird verstanden als psychodramatische, ästhetische Gegenbewegung innerhalb der Elendsviertel eines Kontinents, als eine Gegenbewegung, die der Pop Art, dem Surrealismus, dem Straßentheater, der Psychoanalyse verwandt ist und diese alle existentiell und formal übertrifft. Hubert Fichtes Texte versuchen eine Verbindung herzustellen zwischen Poetik und Ethnologie. Damit folgen sie einer Folgerung von Lévi-Strauss, daß eigentlich die Dichter über anthropologische Zusammenhänge berichten sollen.

Notizbuch: Es geht um Erstaunen und Entsetzen, zum Ausdruck gebracht vermittels eines offensiv oberflächlichen, auf wissenschaftliche Systematik verzichtenden und lyrisch beseelten, wie ein Tonkopf (beziehungsweise dessen Nadel) empfindlichen Abtastsystems (der Autorfunktion Hubert Fichte), mit dem das Bourgeoise (auch der Faschismus) überwunden werden könnte.

Der Spiegel, 1972 (Hubert Fichte im vorgeschriebenen, hier womöglich angetäuschten, vielleicht auch hineinredigierten Spiegel-Jargon): Der Candomblé hat unter mehr oder weniger bourgeoisen Linksintellektuellen einen nicht unerheblichen Anhang. Sie versuchen eine oppositionelle Haltung in diese Religionsgemeinschaft hineinzuinterpretieren. Doch mir scheint, die Unterdrücker Brasiliens haben längst erkannt, daß sie keine besseren Verbündeten haben als die Priesterschaft der afrobrasilianischen Mischkulte, die nicht nur jeden Funken kritischen Bewußtseins löscht, sondern menschliches Bewußtsein überhaupt zu brechen imstande ist.

Zeit-Magazin, 1972 (Fichte differenziert): Verdummung, Bewußtseinszerstörung, Abhängigkeit, neuerliche Versklavung der ehemaligen Sklaven untereinander, so bietet es sich dar, wenn man durch unsere bourgeoise Brille des Marxismus blickt. Nimmt man als Zwicker Sade, Artaud, Genet, Burroughs, das Living Theatre, Mühl, Nitsch und Lil Picard zu Hilfe, so erkennt man eine mögliche subkonsziente Wirksamkeit. Es gelang auch den Ärmsten in Südamerika lange vor Pop, eine bis ins Blutige gehende Popkultur von Altären, Opferzimmern, Opfertischen, Götternischen, Kultbäumen und Heiligenschiffen zu verwirklichen. Eine ästhetische Traumsicherheit, das sich geschmacklich und soziologisch Widersprechende zu einer neuen Dimension des Schönen zu verbinden.

(Stimmt, damals gaben sich ja selbst die Showmaster der Samstagabend-Fernsehunterhaltung als Marxisten.)

Zeit-Magazin: Homosexuelle beider Geschlechter finden im Candomblé nun nicht, wie Interessierte verbreiten mögen, ein Tummelfeld, aber sie werden weniger verachtet als anderswo und erfahren eine gewisse gesellschaftliche Selbstverständlichkeit, die bei der großen sexuellen Ambivalenz des brasilianischen Volkes sehr wohl eine gesellschaftliche Funktion erfüllt.

Sofort auf der ersten Seite des ersten Kapitels von Xango (Bahia de Todos os Santos) der Vergleich der beiden Hafenstädte Salvador da Bahia und Hamburg in punkto Geschlechtskrankheiten: Auch soll nicht Bahia an der Spitze der Statistik über Geschlechtskrankheiten stehen. Dort steht die Freie und Hansestadt Hamburg (in deren Mitte des 19. Jahrhunderts begründetem, ursprünglich auf Geschlechtskrankheiten spezialisiertem Krankenhaus Sankt Georg Thomas Meinecke 1955 zur Welt kam). Xango erschien 1976, spielt aber in den frühen 1970er Jahren. Notizbuch: Seit der AIDS-Krise in den 1980er Jahren wird eigentlich nicht mehr sovon Geschlechtskrankheiten (als ambivalentes Indiz für eine permissive, sexuell ausschweifende Gesellschaft) gesprochen.

Platten, frisch ausgepackt im Flughafenbus

Funny Face, Original Sound Track Recording, Paramount Pictures / Verve Records, 1957. Audrey Hepburn singt George Gershwins How Long Has This Been Going On? Orchester unter der Leitung des ab 1937 in Hollywood (zunächst für die Warner Brothers) wirkenden Komponisten, Orchestrators, Arrangeurs und Dirigenten Adolph Deutsch. Was ja, fand Serge, eigentlich nur ein jüdischer Name sein konnte. Deutsch, in England geboren, war bereits als Jugendlicher mit seinen Eltern in die USA ausgewandert. Offenbar gar nicht mal deutsch, dieser Adolph Deutsch, hatte der Besitzer des engen Schallplattenantiquariats nahe des Panthéon gemeint und ergänzt, Audrey Hepburn, in Belgien als Tochter eines Briten und einer Niederländerin geboren, in den Niederlanden aufgewachsen, sei während der deutschen Okkupation von ihrer Mutter vorsichtshalber in Edda van Heemstra umbenannt worden (was nach Richard Wagners Rheingold klang). Serge hat eine ganze Reihe Frauen gekannt, die von sich behaupteten, andauernd mit Audrey Hepburn (und zwar affirmativ) verglichen zu werden. Merkwürdig, daß jede dieser Frauen, für sich genommen, sehr unterschiedlich aussah. Nicht einmal große Augen mußten sie haben, nicht einmal einen kleinen Busen. (Billy Wilder hatte ja über Audrey Hepburn gesagt: Das Mädchen wird den Busen noch völlig aus der Mode bringen.) Bei einer (Suzette) waren es die Knochen der Kinnpartie gewesen, bei einer anderen (Concordia) die Augenbrauen, sehr oft lediglich der Lidstrich und einmal der Hals (welcher anmutig aus einem U-Boot-Ausschnitt ragte). Unglaublich elaboriert die Kostüme, die Hubert de Givenchy (dem sie als Muse und Modell diente) Audrey Hepburn in den Pariser Settings dieses Films auf den Leib geschneidert hatte. Borniert die amerikanische Verballhornung Jean-Paul Sartres, die Parodien auf den europäischen Existentialismus: aggressive Chansonetten in Herrenhosen und hysterische Tänzer in Cocteauschen (bis Genetschen), nautischen Ringelhemden (Boot-Ausschnitt) inbegriffen. Verdächtig ist Serge auch das Liebespaar: Der welke Fred Astaire gegen die aufblühende Audrey Hepburn.

De Sade, Original Motion Picture Soundtrack, American International Pictures / Tower Records, 1969. Music performed by the Billy Strange Orchestra and the Berlin Symphony. Billy Strange dirigierte, und Billy Strange war auch der Komponist. Ist es die junge Wienerin Senta Berger (zahlreichen auf der Hülle enthaltenen Set-Photos zufolge spielte sie, in diversen Betten zumindest, die weibliche Hauptrolle), die wir hier auf diversen Musikstücken ekstatisch stöhnen hören? Der Schallplattenantiquar hatte keine Ahnung gehabt. Senta Berger sei eher im deutschen und italienischen Sprachraum bekannt, ein bißchen auch im angloamerikanischen, in Frankreich hingegen so gut wie gar nicht. Genüßlich hatte er einzelne Tracks des Albums sehr laut in seinem kleinen Geschäft laufen lassen: De Sade Decides. Nocturnal Permission. Rose Derriere. Bacchanalia. Einige Passanten hatten daraufhin ihren Weg unterbrochen und ihre Nasen gegen sein Schaufenster gedrückt. Ein Jahr nach dem Erscheinen von De Sade spielte Senta Berger die weibliche Hauptrolle in der italienischen Kinoproduktion Als die Frauen noch Schwänze hatten. (Soundtrack: Ennio Morricone.) Senta Berger trug da wirklich ein unbehaartes Schwänzchen in der Verlängerung ihres Steißbeins.

Nach unserer Beschäftigung mit Lacans Seminar X zur Angst möchten wir diese Lektüre fortsetzen, die Frage der Kastration wieder aufnehmen, auch den Ambozeptor, und dann den Weg über Mund und Auge zur Stimme finden

Marcella, 21, Model

Ich trage einen Pulli von H&M, den ich geschenkt bekommen habe. Meine Strickjacke gehört meiner Oma, genauso wie die Spitzenstrumpfhose. Meine Ketten sind vom Flohmarkt, die Schuhe auch, und meine Wollstrümpfe sind für drei Euro vom Weihnachtsmarkt. jetzt.de: Wann hast du angefangen, eine Art Stil zu entwickeln? Marcella: Mit 16, als ich anfing zu modeln. So direkt mit den Kollektionen der Designer konfrontiert, begann ich plötzlich, mich bewußter, selbstbewußter anzuziehen. jetzt.de: Was zeichnet deinen Stil aus und worauf achtest du besonders bei der Auswahl deiner Klamotten? Marcella: Stilbruch ist mir wichtig, weil ich gerne von allem etwas habe: feminine Schnitte mit dreckigen Boots oder etwas Glitzerndes mit einem derben Lederteil, zum Beispiel. jetzt.de: Was bedeutet die Berlin Fashion Week für dich? Marcella: Viel Streß. Ich muß zu tausend Castings und Shows und dabei dauernd wach, fit und schön sein.

Jake, 21, Musiker

Meine Schuhe sind vintage, 50 Euro. Die Hose ist eigentlich eine Mavi-Frauenjeans, die ich selbst zerschnitten habe. Mein Sakko ist aus Hamburg, ich habe es mir für 700 Euro bei Herr von Eden anfertigen lassen. Das rote Tuch in der Brusttasche ist ein alter Küchenlappen von meiner Mutter. Mein Pelzmantel gehörte einmal meiner Oma. jetzt.de: Was bedeutet dir die Fashion Week? Jake: Langeweile, leider. jetzt.de: Wie sieht deine Trendprognose für die Zukunft aus? Jake: Haare, Federn, Pelz.

Josephine freut sich auf die Mittagspause

Gemeinsam mit ihrer Kollegin Shakira (aus der Uhrenabteilung), die nur während der Semesterferien in der Galeria arbeitet, erwartet sie Hilmar Mock, der mit Shakiras bester Freundin Mercedes verheiratet ist und, ebenfalls an der Königsallee, Höhe Heine-Gymnasium, in einer aufstrebenden Anwaltskanzlei angestellt ist. Sie beobachten eine Person, die sich einen Flakon ck one eau de parfum aushändigen läßt, und können nicht entscheiden, ob es sich um eine Kundin oder einen Kunden handelt. Nicht der Ansatz eines Busens zu erkennen, loser, weiter Strickpulli (womöglich sogar gehäkelt), auf einer Seite wie zufällig von der Schulter gerutscht, knallenge Jeans (Shakira korrigiert: Leggings oder Strumpfhosen; die Jeans seien lediglich aufgedruckt), hohe Stiefel mit mittleren Absätzen. Ist ja auch egal, meint Shakira, ck one sei ohnedies unisex. Die entblößten Schultern einer Frau galten ja bis in die jüngste Vergangenheit in bestimmten Zusammenhängen als obszön, sagt Greta, man denke nur an die Diskussionen um das ärmellose Kleid Michelle Obamas, der Gattin des frisch inaugurierten US-Präsidenten. Vielleicht, weil sie zugleich die erste afroamerikanische First Lady der USA war, mutmaßt Shakira. Dann verrät die Stimme der auffälligen Erscheinung an der Kasse ihr biologisch männliches Geschlecht. Er sieht ein bißchen aus wie das momentan hochgehandelte Topmodel Martin Cohn, finden Shakira und Josephine. Der allerdings auch transparente Strumpfhosen trägt, selbst auf dem Boulevard, privat, nicht nur auf dem Catwalk (und neuerdings stark an die historische Twiggy erinnert). Josephine erzählt, in der Gästetoilette des Elternhauses ihres ersten Freundes habe ein Werbeplakat der Firma Elbeo aus den 1970er Jahren gehangen: Strumpfhosen für Männer? Warum nicht. Mit einem lasziv auf einen Flokati-Teppich hingegossenen Mann in gerippter brauner Wollstrumpfhose, vor sich, impromptu, einen Plattenspieler, auf dem sich eine Langspielplatte dreht, sowie einen leeren, heißt geleerten, Cognacschwenker, zu seiner Linken eine Frau, die sich kichernd eine Hand vor den Mund hält. Beide haben Kopfhörer aufgesetzt.

Shakira findet Josephine Baker in ihrem Schlauchkleid overdressed, findet eigentlich alle Mädchen in der Kosmetikabteilung tagtäglich overdressed. Josephine läuft aber auch nach Feierabend gern so herum. Sie glaubt, daß Claudia Schiffers Eltern vor zehn Minuten nicht einmal besonders teure Parfums bei ihr getestet haben. (Aber sie ist sich nicht ganz sicher.) Da erscheint Hilmar, er hat ein mit warmem Leberkäse belegtes Brötchen in der Hand, macht hastige Kaubewegungen sowie Anstalten, beiden Frauen Küsse auf die Wangen zu drücken. Vorsicht, frisch gestrichen, sagt Shakira und wendet sich ab. (Shakira ist auch Hilmars Trauzeugin.) Josephine zückt vorsichtshalber ihren kleinen Schminkspiegel, nachdem Hilmar sie geküßt hat, und pudert sich ungeniert nach. (Zuvor hatten sich beide Frauen darauf geeinigt, Hilmar attraktiv zu finden. Er ist die Zierde ihrer Mittagspause.) Dann machen sich alle drei, ohne sich etwas überzuziehen, quer über die Allee, den Kanal, in Richtung Starbucks davon, wo sie im ersten Stock (vor sich gigantische Becher mit Cappuccino) Platz nehmen und Josephine von ihrer turbulenten Zeit bei Luxembourg Lookalikes erzählt, von gewissen Elvis Presley Drag Kings aus Maastricht, aus deren pittoreskem Kreis sie mit einem sogar, wissentlich, wie sie betont, im Bett gewesen sei. (Auch der historisch verbürgte Elvis Presley hatte sich mit Vorliebe Penisimitate in die Unterhose gehängt.) Hilmar kann eine Anekdote über die Rockabilly-Künstlerin Janis Martin alias The Female Elvis beitragen, die habe ganz phantastisch in ihren Blue Jeans ausgesehen, langbeinig, breitbeinig dastehend, Gitarre logisch irgendwie zwischen den Beinen. (Elvis hatte sie sich ja gern auch auf den Rücken geschoben: Was hatte das denn zu bedeuten?) Ließe sich überhaupt behaupten, Janis Martin sei the female Elvis, wenn Elvis Presley bereits the feminine Elvis war?

Auf dem Rückweg rekapituliert Shakira diverse Auftritte Mae Wests als Mae West in dem Spielfilm Myra Breckinridge. Mae West war ja bis ins hohe Alter ausgesprochen sexy, findet Hilmar, der diesen Film unlängst mit Shakira, nachmittags, in einem Programmkino angesehen hat. Miss West erlernte ihr Handwerk nicht zuletzt von Female Impersonators, ergänzt Josephine. Klar. Irgendwie kommt man dann noch auf Cyrano de Bergeracs riesige Nase zu sprechen. Hilmar hatte Cyrano de Bergerac zunächst rein phonetisch mit Jean-Charles de Castelbajac verwechselt, dessen neue Linie, sagt Josephine (die ein ausgesprochener Fan dieses Couturiers ist) von der Muppet Show beeinflußt sein soll, was man sich gar nicht so recht vorstellen kann. (Oder will.)

Auf der Straße wünscht sich Hilmar von Josephine, daß sie das Lied Haiti aus dem Spielfilm Zou Zou (Josephine Bakers erstem Tonfilm) für ihn singt, aber Josephine befindet sich gerade nicht in der entsprechenden Stimmung. (Ich müßte dazu in einem kunstvoll geschmiedeten Käfig auf einer Schaukel sitzen, sagt sie, nichts weiter als einige Federn, weiß, Flaum, auf meine Brüste geheftet.) Eine winterliche Sonne ist durch das Gewölk gebrochen, und Shakira und Josephine entschließen sich, Hilmar noch zu seiner Kanzlei zurückzubegleiten, die sie alle drei durchgefroren erreichen (und mit erigierten Brustwarzen, worüber sie sich, wenngleich unübersehbar, nicht zu reden getrauen). Wieder an ihrem Counter, nimmt Josephine Baker das Eau de Parfum No. 2 von Jean-Charles de Castelbajac aus dem Regal und besprüht Shakiras Handgelenke mit dem Tester.

Franz Blei über Greta Garbo in einer Broschüre des Kindt & Bucher Verlags, Gießen, 1930

Der erste und stärkste Eindruck von dieser schwedischen Frau ist, daß sie einem Volke und einer Rasse angehört, die bis heute weit mehr von ländlich-bäuerlichen als von städtischen oder gar großstädtischen Lebensformen bestimmt wird. Stärker wird immer ihre Natur zu uns sprechen als ihre Kunst, deutlicher und unmittelbarer ihr Gesicht als ihre Maske.

Auf einen Leib, wohlgestaltet und biegsam wie der Stiel einer Pflanze, ist als deren Blüte dieses überaus schön gerundete Köpfchen aufgesetzt (ich gebrauche dieses Diminutiv, denn dieses Haupt ist kleiner, als der Leib vermuten läßt; wie bei der frühen griechischen Plastik). Das vollendete und zierliche Rund dieses Hauptes will, so scheint es, ausdrücken, daß es wie die Blüte alles aus dem formschönen Wachstum seines Leibes zieht und dessen Offenbarung, dessen Auge, dessen Bekrönung ist. Dieser Kopf kann nichts Wesentliches gegen das Diktat seines Leibes durchsetzen. Das nie auszuratende und zu deutende Mysterium des Leibes, davon ist dieses Haupt das Zeichen.

Weiß wie die Tuberose ist das Oval dieses von Wind und Welle blonden Haares umspielten Gesichtes. Aus dem sich wie aus einem Traume erwachend Augen aufschlagen, noch beglückt von den Gesichten einer anderen Welt, die sich anders als durch den zarten Schleier dieses Blickes nicht sichtbar macht. Da fällt dieser Blick auf ein Geliebtes und ist nun ganz hingegebenes Entzücken an dieser unserer Wirklichkeit. Träumen, Erwachen, Erkennen und Vergehen spielt dieses Augenpaar aus dem dunkelumrandeten, wie Stahl schimmernden Blau seiner Sterne (spielt es als Abbild innerer Vorgänge). Aber immer hat beim Gesehenwerden dieser Augen auch schon der Mund teilgenommen und ihnen sekundiert. Dieser überaus deutlich im Schwung seiner Linien und im Schwelgerischen seiner Plastik gezeichnete und geformte Mund, dessen Lippen sich so keusch wie bei einem Kinde berühren und dessen Lippen sich so spröde zögernd öffnen zum Kusse, wie bei der schamhaftesten Frau, die aber dann alles in diesem Kusse gibt und sich in die Liebe stürzt, verbundenen Blickes wie in ein Schicksal. Also wie es sich gehört.

Und Greta Garbos Blick fällt auf den Körper der schlafenden Britney Spears

João S. Trevisan: Perverts in Paradise, 1986

João Trevisan: I don’t fully understand the relationship between Maria Aparecida and Mário Miranda. What is it like?

Maria Aparecida: Well, the saint I adore is the Lady of the Apparition (translator’s note: a Brazilian manifestation of the Virgin Mary), my orixum. I dedicate two Fridays in July for Oxum, who is our Lady of Carmo, and I celebrate 2 February in homage to Our Lady of the Apparition. Everyone just calls me Maria Aparecida. No one’s ever going to turn their back on me.

Jomard Muniz de Britto: People don’t turn their back on you because you’re very brave. There’s a story that one Carnival you were passing the barracks dressed as a Bahian woman and someone made a joke. You fought with the whole battalion.

João Trevisan: How did you become a babalorixá?

Maria Aparecida: My mother used to go to Mr. Apolinário Gomes da Moto’s house. I was very young and went to watch a few ceremonies. There was food, I liked it. When I was twelve I began to receive the saint; not in the temple, only at séances. It was Oxum who came down crying.

João Trevisan: There’s a story that you were Oxum but wanted to become Xangô. How does the story go?

Maria Aparecida: I was Oxum’s child, I had Oxum in my head, then they said: No, so that he doesn’t become a sissy, get that female saint out of his head and put Xangô who’s a male saint, a real man. But they couldn’t. If you’re destined, no one can.

Roberto Motta: So it was in your adolescence that you defined yourself as gay?

Maria Aparecida: I began playing with dolls, sewing, playing at cooking. I had a doll with me so I could say I had a baby. Then the boys said: To have a baby you have to do this. So I did.

Roberto Motta: But it is said that you’ve been married more than once and have many children.

Maria Aparecida: Listen, professor, I’m going to tell you that I have only one son. God gave me this son and I’m giving him what I didn’t have. He’s already in the third scientific grade. I hope that he graduates. Seeing him graduate, it wouldn’t matter if God called me tomorrow. He’s the greatest pleasure I have in life.

Jomard Muniz de Britto: There are stories that you have other children.

Maria Aparecida: You know, professor, that I was a healthy boy and the fact that I was a transvestite has nothing to do with anything else. Women found me attractive, because I was a priest, I sang well, I could dance, I’ve always been friendly.

João Trevisan: Do you think there’s an orixá who protects gays?

Maria Aparecida: Ah, I’ll tell you the saint who is dedicated to protecting gays: Oxumaré. Today everyone here is doing Oxumaré. When this saint talks in a man’s head he becomes gay: six months a woman, six months a man. So for six months he’s in love with men, goes and looks for men wherever they might be. And for six months he doesn’t care about men, he can even get a woman or a girl-friend. Now, when Oxumaré falls on a woman’s head, she becomes a lesbian, right? She doesn’t like men, starts to like women and sometimes gets money from a man to keep a woman. This Oxumaré is the protector of gays.

João Trevisan: Which saint does he correspond to in the Catholic Church?

Maria Aparecida: Our Lady of the Apparition.

João Trevisan: Tell me something, Mário; do you know many gay priests?

Maria Aparecida: Most are gay.

Antônio Cadengue: Mário, why have you never joined the opposition? You say that you always support the government.

Maria Aparecida: Ah, even if I was starving I’d stay with the government. Because I understand nothing about politics, nothing at all. When you hear the dance, you dance what the orchestra plays.

Shakira ist jetzt ein Fan von Jean-Charles de Castelbajac

Aus Hilmar und Mercedes Mocks Bibliothek, den von Lothar Klünner 1964 für den Henssel Verlag gesammelten und übertragenen 20 Blasons auf den weiblichen Körper, Clément Marot: Das schöne Brüstchen (Frankreich, 16. Jahrhundert)

O Brüstchen, weiß wie Ei und Kreide, / O pralles Brüstchen, blank wie Seide, / O Brüstchen, das der Rose Pracht / Und alle Schönheit schamrot macht, / O Brüstchen fest: Nur Brüstchen? Nein, / Ein Kügelchen von Elfenbein, / Auf dessen Mitte, sanft gespitzt, / Ein Kirschlein, eine Beere sitzt, / Die niemand schmeckte, niemand sah, / Und trotzdem, wett’ ich, ist sie da. / Ja, solch ein rotes Spitzchen trägt / Das Brüstchen, das sich nie bewegt, / Weder beim Kommen oder Gehen, / Nicht mal beim Springen, Tanzen, Drehen. / O linkes Brüstchen, zart und fein, / Fern deinem rechten Schwesterlein, / O Brüstchen, du bezeugst der Welt, / Wie’s um den ganzen Leib bestellt, / Wenn man dich sieht, zuckt ein Gelüst / In jede Hand, die männlich ist, / Dich zu betasten, dich zu greifen. / Doch sollt’ man’s besser sich verkneifen, / Dem nachzugehen, streng genommen, / Weil sonst noch andre Wünsche kommen. / O