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Lotti Latrous. Ein besonderer Name - und eine ganz besondere Frau. Lotti Latrous ist eine Schweizerin, die durch die Arbeit ihres Mannes von Jeddah über Nigeria und Kairo nach Abidjan kam. Sie ist eine Frau, die dem Elend von Aids überschwemmten Afrika nicht länger zusehen wollte und die aus Wut auf die Ungerechtigkeit in der Welt zu handeln beschloss. Gabriella Baumann-von Arx hat Lotti Latrous besucht, sie begleitet und sich ihre Lebensgeschichte erzählen lassen. Entstanden ist nicht bloss das Porträt einer faszinierenden Persönlichkeit, sondern auch jenes von Noëlle, die ihren Sohn Emanuel im Gefängnis gebären musste. Jenes von Aïcha, die sich, um zu überleben, schon mit dreizehn prostituierte. Vom Vollwaisen Mohamed, der noch Hoffnung hat, wieder gesund zu werden. Von Adelaide, der Breimutter, und von Monsieur Konaté, der Nacht für Nacht vierzig todkranke Aidspatienten betreut und - wie so viele andere in Afrika auch - Analphabet ist. "Lotti, La Blanche" beschreibt das Leben einer Frau, die der Hoffnungslosigkeit im gebeutelten Schwarzafrika jeden Tag aufs Neue die Stirn bietet und dabei ihren Humor nicht verloren hat.
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Seitenzahl: 267
Alle Rechte vorbehalten, einschliesslich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.
© Wörterseh, Lachen
Wörterseh-Bestseller als Taschenbuch 1. Auflage 2020
Die Originalausgabe erschien 2003 als Hardcover mit Schutzumschlag im Werd-Verlag, Zürich
Lektorat: Katharina Rengel Korrektorat: Heike Burkard Umschlag und Gestaltung: Buch & Grafik, Barbara Willi-Halter Foto Cover: Lotti Latrous mit der kleinen Lotti, die ihr zu Ehren den gleichen Namen trägt Satz und Umbruch: Manuel Süss Karte: Edith Huwiler Herstellung: Rolf Schöner
ISBN 978-3-85932-461-9 (Originalausgabe Werd-Verlag, vergriffen) ISBN 978-3-03763-523-0 (E-Book) ISBN 978-3-03763-781-4 (ePDF)
www.woerterseh.ch
Für Aziz, Selim, Sonia und Sarah, die verzichten, damit andere bekommen.
Über das Buch
Über die Autorin
«Il faut faire un effort»
E-Mails
Und erstens kommt es anders …
Tagebuch einer Begegnung
Freitag, 13. Juni 2003
Samstag, 14. Juni 2003
Sonntag, 15. Juni 2003
Montag, 16. Juni 2003
Dienstag, 17. Juni 2003
Mittwoch, 18. Juni 2003
Donnerstag, 19. Juni 2003
Freitag, 20. Juni 2003
Samstag, 21. Juni 2003
Nachwort
Bildteil
In Schwarzafrika leben 70 Prozent aller weltweit an Aids Infizierten, alle acht Sekunden stirbt ein Mensch an der Krankheit. Die Schweizerin Lotti Latrous wollte diesem Elend nicht tatenlos zusehen und beschloss zu handeln. In den Slums von Abidjan – einer Grossstadt an der Elfenbeinküste – eröffnete sie eine Ambulanz, später kam ein Aids-Hospiz hinzu. «Lotti, La Blanche» beschreibt das Leben einer Frau, die der Hoffnungslosigkeit jeden Tag die Stirn bietet und dabei ihre Erfüllung gefunden hat.
© Wörterseh
Gabriella Baumann-von Arx, geb. 1961 in Erlinsbach/SO, ging es in ihren journalistischen Texten immer um Menschen und deren Geschichten. Bald war ihr die Länge eines Zeitungsartikels zu kurz für all die Facetten, die sie in ihre Texte einarbeiten wollte, und so begann sie, Bücher zu schreiben. Bücher über aussergewöhnliche Menschen. Ihr erfolgreichstes Buch «Lotti, La Blanche» kam 2003 im Werd-Verlag heraus, da dieser keinen Nachfolgeband wollte, gründete Gabriella Baumann-von Arx ein Jahr später den Wörterseh-Verlag. Schon bald fand sie keine Zeit mehr zum Selberschreiben und konzentrierte sich ausschliesslich aufs Verlegen. Eines aber ist geblieben: Es sind Menschen und deren Geschichten, die die Verlegerin interessieren. Gabriella Baumann-von Arx ist verheiratet und wohnt in Lachen und in Vals.
Als Gabriella Baumann-von Arx mit der Bitte an mich herantrat, ein Buch über mich schreiben zu dürfen, war ich im ersten Moment davon überzeugt, dass dies nie zu Stande käme. Wir hatten in der Elfenbeinküste Krieg, und ich hatte damals weder Lust noch Musse, auch nur einen Gedanken an ein solches Projekt zu verschwenden.
Heute bin ich froh, dass es anders kam. Nicht nur, weil die nochmalige Auseinandersetzung mit meiner Geschichte mich darin bestärkt hat, das Richtige zu tun. Sondern auch, weil ich hier und jetzt die Gelegenheit erhalte, den Menschen Danke zu sagen, die mir meine Arbeit erst ermöglichen. Das sind, neben vielen uns wohlgesinnten Spendern, meine Freunde, meine Geschwister, meine Mutter. Das sind unsere Kinder Selim, Sonia und Sarah. Das ist mein verständnisvoller Mann Aziz. Dank der grenzenlosen Liebe meiner Familie kann ich helfen, trösten, pflegen, ermutigen; kann ich Hoffnung und Zuversicht geben und – am Schluss, wenn nichts anderes mehr bleibt – meine Kranken auf ihrem letzten Weg begleiten.
Lotti Latrous
Aziz – Lottis Mann
Selim – Lottis Sohn (1979)
Sonia – Lottis Tochter (1981)
Sarah – Lottis Jüngste (1989)
Dr. Germain Gnode, Arzt; Adelaide, Breimutter; Monsieur Konaté, Nachtwache; M. Koné, Nachtwache; YaYa, Pfleger; Felix, Pfleger; Monique, Krankenschwester; Josiane, Pflegerin; Hortense, Köchin; Solange, Kindermädchen; Ouattara, Nachtwächter; Emmanuel, Sprechstundenorganisator.
Arlette, 28, Mutter von Osé, 3, und Hermas, acht Monate; Maryam, 24, Mutter von Yusuf, 8; Noëlle, 29, Mutter von Emanuel, 20 Monate; Chantal, 21, Mutter von Christ, 4; Assita, 38, Mutter von Bouba, 12; Mohamed, siebzehn Monate, Vollwaise; Aïcha, 19; Lea, 37; Therese, 37; Jeannette, 27; Jean-Marie, 31; Monsieur Jean, 34; Alphons, 42; Felix, der blinde Nigerianer, 60.
Das Centre Espoir öffnete am 1. Februar 1999 sein oranges Tor. Bis Ende August 2004 wurden gut 150 000 Konsultationen gemacht.
Centre Espoir d’Eux feierte seine Eröffnung am 2. September 2002, innerhalb von zwei Jahren wurden 680 Patienten behandelt. 360 von ihnen starben.
Lotti Latrous hat mit diesen beiden Zentren 25 Arbeitsplätze geschaffen.
Die Elfenbeinküste (Côte d’Ivoire), mit Yamoussoukro, der Hauptstadt, und Abidjan, der Wirtschaftsmetropole.
Von: Gabriella Baumann-von Arx
Datum: 5. November 2002
An: Lotti Latrous
Betreff: Eine Anfrage.
Liebe Frau Latrous
In der Sendung «Sternstunde Philosophie» des Schweizer Fernsehens habe ich zufällig einen Beitrag über Sie gesehen und ein paar Tage später – wieder zufällig – einen Bericht gelesen, der Sie porträtierte. Und zwar in der Zeitung der Migros, im «Brückenbauer». Ihre Arbeit in den Elendsvierteln von Abidjan, der Wirtschaftsmetropole der Elfenbeinküste in Westafrika, beeindruckt mich. Die Tatsache, dass Sie es aus eigener Initiative geschafft haben, erst ein Ambulatorium und kürzlich auch noch ein Sterbespital zu eröffnen, imponiert mir. Sie haben dafür ein Leben fernab von Ihrer Familie gewählt, und trotzdem ist Ihre Familie nicht daran zerbrochen. Ich bin fasziniert – ich möchte ein Buch über Sie schreiben.
Ich bin Journalistin und Autorin, verheiratet, Mutter von zwei Teenagern und ehemalige Arztgehilfin. Ich würde in Ihrem Spital beim Anblick von eiternden Wunden also nicht gleich aus den Socken kippen.
Es würde mich freuen, bald etwas von Ihnen zu hören.
Mit freundlichen Grüssen
Gabriella Baumann-von Arx
Von: Lotti Latrous
Datum: 6. November 2002
An: Gabriella Baumann-von Arx
Betreff: Eine Antwort.
Liebe Gabriella
Herzlichen Dank für Ihr Angebot, ich muss Ihnen aber sagen, dass ich vorhabe, selbst ein Buch zu schreiben. Vor sechs Jahren nämlich begann ich hier in Abidjan im Sterbekrankenhaus von Mutter Teresa zu arbeiten. Ich war damals eine privilegierte Frau, die über den Schmerz und das Leiden der Menschen im Krankenhaus in arge Schuldgefühle verfiel. Um meine Erlebnisse verarbeiten zu können, begann ich, alles aufs Papier zu kotzen. (Verzeihen Sie diesen harten Ausdruck, aber es gibt keinen passenderen dafür.)
Während der folgenden Jahre, in denen ich ein eigenes Ambulatorium eröffnete, schrieb ich immer wieder. Obwohl meine Muttersprache Schweizerdeutsch ist, schreibe ich auf Französisch, da mir diese Sprache inzwischen leichter fällt.
Doch seit ich nun auch noch das Sterbespital eröffnet habe, komme ich kaum mehr zum Schreiben.
Nun zu Ihrer Anfrage: Da ich momentan selbst keine Zeit finde zu schreiben, freut sie mich, sie irritiert mich aber auch, weil ich nicht weiss, ob jemand anders als ich selbst dieses Buch schreiben kann.
Wenn ich mein Tagebuch lese, merke ich, dass die Worte direkt aus meinem Herzen kommen und für mich wertvoller sind als alles Gold der Erde. Sie sind mein ganzes Leben. Sind Schmerz und Leid, Liebe und Hoffnung.
Nun lasse ich Sie überlegen, liebe Gabriella, was da weiter zu machen wäre.
Ganz herzlich, Lotti Latrous
Von: Gabriella Baumann-von Arx
Datum: 7. November 2002
An: Lotti Latrous
Betreff: Du?
Liebe Lotti
Danke für die prompte Antwort, sie ist so persönlich, dass ich mir erlaube, dir das Du anzubieten. Ich hoffe und setze voraus, du bist damit einverstanden.
Aus deiner E-Mail sehe ich, dass du das Buch selbst schreiben könntest. Also, warum lass ich jetzt nicht einfach los und nehme deine Zeilen als Absage?
Ganz einfach: Du interessierst mich inzwischen noch mehr. Ich brenne darauf, dich und deine Arbeit kennen zu lernen, weil ich glaube, dass die Welt viel von dir erfahren sollte und – vor allem – viel lernen könnte.
Ich möchte dich besuchen, möchte dich am Tag bei deiner Arbeit begleiten, nächtelang mit dir zusammensitzen, dich reden lassen, dir zuhören, mehr von dir erfahren, dich und deine Umwelt ganz direkt erleben. Und dann nach Hause gehen und schreiben. Auch aus dem Herzen heraus, aber – mit einer professionellen Distanz.
Wenn du es selbst angehen willst, kann ich gut damit leben. Hauptsache, es passiert etwas in dieser Richtung, denn in deiner Geschichte, da bin ich mir sicher, liegt ein riesiges Potenzial.
Ich freue mich, wieder von dir zu hören.
Gabriella
Von: Lotti Latrous
Datum: 10. November 2002
An: Gabriella Baumann-von Arx
Betreff: du!
liebe gabriella
hab dank für deine zeilen. ich werde dir in kleinschrift antworten, denn nur schon auf deutsch schreiben zu müssen, ist für mich in der zwischenzeit sehr anstrengend geworden.
ich spüre, dass du mich stärker einschätzt, als ich es tatsächlich bin, ich gehe oft durch endlose, dunkle tunnels, habe hunderte von fragen und finde keine antworten darauf. abgesehen davon weiss ich nicht, ob ich es verkraften könnte, das, was ich bereits geschrieben habe, noch einmal zu erzählen. ich habe keine ahnung, ob ich fähig wäre, alles ein zweites mal zu durchleben und zu durchleiden. allein beim gedanken daran überwältigen mich die gefühle, weil einiges nach wie vor schmerzt. hinzu kommt, dass ich vieles auch gar nicht mehr so wiedergeben kann wie einst, da ich – um mich selbst zu schützen – in der zwischenzeit härter geworden bin.
du musst wissen, dass ich oft unter starken schuldgefühlen meiner familie gegenüber leide, die ohne mich leben muss. es geht mittlerweile zwar besser, aber es schmerzt immer noch. oft liege ich nachts auf meiner matratze und weine. aus wut, aus frustration, manchmal auch aus einsamkeit, denn ich habe keine echten freunde, die meine wahl, hier zu bleiben, wirklich verstehen, geschweige denn akzeptieren.
die wenigsten haben eine ahnung, was mir der tägliche umgang mit dem tod bedeutet, können verstehen, dass nicht ich den kranken und sterbenden helfe, sondern sie mir. die menschen, die ich pflege, bringen mich dem leben näher, schenken mir inneren frieden und glück.
so, liebe gabriella, nun liegt es an dir, zu «hirnen», was zu machen ist.
lotti
Von: Gabriella Baumann-von Arx
Datum: 11. November 2002
An: Lotti Latrous
Betreff: Eine Anregung.
Liebe Lotti
Du schreibst, du fragtest dich, ob du es verkraften könntest, alles noch einmal hervorzuholen und zu erzählen. Eine Antwort darauf kann ich dir nicht geben, nur eine Anregung: Vielleicht hilft es dir, wenn du alles noch einmal ausgräbst, abermals darüber redest und der Welt sagen kannst, was du warum, weshalb und wieso entschieden hast.
Du schreibst, die meisten Menschen könnten deine Entscheidung, deine Familie zu verlassen, nach wie vor nicht akzeptieren und verständen nicht, was der tägliche Umgang mit todkranken Menschen dir bringt. Sagen wir es ihnen doch!
Du schreibst, du seiest in der Zwischenzeit härter geworden. Kein Nachteil, liebe Lotti, sondern ein Vorteil, denn heute kannst du mit mehr Abstand über alles reden, das macht deine Geschichte erträglicher.
Du schreibst, es sei an mir zu «hirnen», was zu machen sei. Ich muss nicht «hirnen», ich weiss es: einen Versuch wagen. Uns sehen. Herausfinden, ob die Chemie stimmt.
Ich werfe dir den Ball zurück.
Gabriella
Von: Lotti Latrous
Datum: 15. November 2002
An: Gabriella Baumann-von Arx
Betreff: ein entscheid.
liebe gabriella
so, nach einigen schlaflosen nächten bin ich einverstanden. versuchen wir den versuch! (falls du immer noch möchtest.) jetzt liegt der ball wieder bei dir. ich warte auf das weitere.
lotti
Von: Gabriella Baumann-von Arx
Datum: 16. November 2002
An: Lotti Latrous
Betreff: Wann?
Liebe Lotti
sei versichert – ich möchte immer noch!
Wann kann ich kommen?
Gabriella
Von: Lotti Latrous
Datum: 18. November 2002
An: Gabriella Baumann-von Arx
Betreff: re: wann?
liebe gabriella
wie so oft, habe ich auch dieses mal wieder gemerkt, dass der gedanke, eine wichtige entscheidung treffen zu müssen, unglaublich viel energieraubender ist, als diese tatsächlich zu treffen. ich habe endlich wieder einmal gut geschlafen.
aber denk daran: es wird die hölle sein. für uns beide, denn sobald ich einmal loslege, kann mich nichts und niemand mehr stoppen.
du fragst, wann du kommen kannst? eigentlich gar nicht, denn hier im land läuft einiges schief. die politischen probleme haben dazu geführt, dass einige regierungsfeindliche rebellen am 19. september einen aufstand gewagt haben. seither haben wir eine zermürbende ausgangssperre. aber das ist noch nicht alles, die zeichen stehen auf krieg! jetzt zu kommen, wäre sicher nicht ratsam.
lotti
Von: Gabriella Baumann-von Arx
Datum: 19. November 2002
An: Lotti Latrous
Betreff: Re: Re: Wann?
Liebe Lotti
Ich habe im Internet auf der Seite des Eidgenössischen Amts für auswärtige Angelegenheiten (EDA) gesurft. Du hast Recht, man rät von Reisen an die Elfenbeinküste ab. Hier der Wortlaut der Meldung:
«Am 19.09.2002 ist es in Abidjan, Bouake und Korhogo zu Kämpfen zwischen abtrünnigen Militärs und regierungstreuen Truppeneinheiten gekommen, die mehrere Todesopfer gefordert haben. Wie die Regierung am 20.09.2002 mitteilt, hat sie die Lage in Abidjan wieder unter Kontrolle. Die Situation ist im ganzen Land sehr angespannt, und es gilt eine nächtliche Ausgangssperre.
Bis zur Klärung der Sicherheitslage wird von Reisen nach Côte d’lvoire abgeraten. Schweizer Bürgerinnen und Bürgern, die sich bereits im Land befinden, wird empfohlen, möglichst zu Hause zu bleiben und auf nicht dringende Fahrten zu verzichten. Reisen von Abidjan ins Landesinnere sollten unbedingt unterbleiben.»
Trotzdem: Ich möchte vorwärts machen, möchte, was ich – per Zufall – am Fernsehen gesehen habe, erleben. Möchte dich, die moderne Mutter Teresa, kennen lernen.
Gabriella
Von: Lotti Latrous
Datum: 20. November 2002
An: Gabriella Baumann-von Arx
Betreff: eine ganz normale frau!
liebe gabriella
das eidgenössische amt für auswärtige angelegenheiten hat recht, wenn es von reisen abrät. es wird also vielleicht übermorgen, bis du kommen kannst.
eines aber musst du jetzt schon wissen:
vergleiche mich nicht mit mutter teresa. sie war eine katholische nonne, die alles für gott machte. ich hingegen bin eine ganz normale frau, die das, was sie tut, aus wut tut. aus wut darüber, dass die welt keine skrupel kennt.
lotti
Von: Gabriella Baumann-von Arx
Datum: 21. November 2002
An: Lotti Latrous
Betreff: Re: Eine ganz normale Frau!
Liebe Lotti
Der Vergleich mit Mutter Teresa drängt sich auf, aber ich erkläre im Buch gerne, warum du glaubst, dieser sei ungerechtfertigt.
Aber – keine Angst: Ich will dich nicht heilig sprechen.
Gabriella
Von: Lotti Latrous
Datum: 22. November 2002
An: Gabriella Baumann-von Arx
Betreff: gestern nacht.
liebe gabriella
gestern nacht, das heisst, es war bereits drei uhr morgens, hörte ich vor unserem ambulatorium schreie und ging hinaus. ich fand eine frau, die auf dem boden lag. in dreck und staub, dort, wo die hunde hinpinkeln und die leute hinspucken. die frau versuchte, ihr kind zu gebären, das mit den füssen voraus kam und dessen köpfchen eingeklemmt war. sie hätte dringend ins krankenhaus gebracht werden müssen. aber da ausgangssperre ist, konnte ich sie nicht hinfahren. alles, was ich tun konnte, war, mit meinem handy die polizei zu rufen. es dauerte eine unsäglich lange stunde, bis diese da war. zu lang. viel zu lang für das baby. als wir im krankenhaus ankamen, war es tot. wenigstens konnte die mutter gerettet werden.
stell dir vor, du oder ich hätten so gebären müssen, stell dir vor, wir hätten dort im dreck gelegen, stell dir vor, es könnte jede von uns treffen.
lotti
Von: Gabriella Baumann-von Arx
Datum: 23. November 2002
An: Lotti Latrous
Betreff: Re: Gestern Nacht!
Liebe Lotti
Dein Erlebnis mit dem Baby hat mich tief berührt und hinterlässt mich ebenso fassungs- wie sprachlos. Ich habe mich in Sachen politisches Klima der Elfenbeinküste informiert. Am klärendsten fand ich einen Bericht von Anneliese Tenisch, der im «Echo der Zeit» auf Radio DRS I ausgestrahlt wurde.
«Die Côte d’lvoire, einstige Vorzeigekolonie Frankreichs, zählte noch vor ein paar Wochen zu den reichsten Ländern Afrikas, sie war ein Hort der Sicherheit und Stabilität und die wirtschaftliche Lokomotive für die ganze Region Westafrikas, nicht zuletzt wegen ihres Hafens Abidjan. Das Land war der weltweit wichtigste Kakaoproduzent, produzierte und exportierte daneben auch noch verschiedene andere Agrarprodukte. Die Triebfeder für die momentan stattfindenden Kämpfe liegt weit zurück und hat ihren Ursprung in den Millionen von Immigranten, die aus den umliegenden Ländern – aus Mali, Guinea, Burkina Faso, Senegal und Nigeria – in den fruchtbaren Plantagen der Elfenbeinküste seit Generationen Arbeit fanden und oftmals seit Jahrzehnten an der Côte d’lvoire leben. Eine Klausel in der Verfassung des Landes verweigert ihnen aber eine Einbürgerung und damit auch den Landbesitz. Die daraus resultierenden ethnischen Spannungen entluden sich erstmals im Präsidentenwahljahr 1995, als der einzige aussichtsreiche Gegenkandidat, der frühere Premierminister, der Muslime Alassane Ouattara, mit der Begründung der ‹mangelnden lvoirité› – seine Mutter stammte ursprünglich aus Burkina Faso – ausgeschlossen wurde. Bei den Wahlen im Jahr 2000 wurde Ouattara, inzwischen eine Symbolfigur der muslimisch-nordivoirischen Elite – wegen der nach wie vor mangelnden Staatsbürgerschaft – abermals nicht zugelassen. Der damalige Sieger dieses nicht fairen und freien, dafür umso blutigeren Urnengangs, der christliche Laurent Gbagbo, verteidigt die ‹Ivoirité›-Klausel nach wie vor. Der lang gehegte Unmut darüber, was die ivoirische Identität ausmacht, entlud sich am 19. September 2002 erneut, als eine Gruppe Soldaten gegen Präsident Gbagbo putschte. Ihre Begründung: Der christliche, im Süden lebende Präsident unterdrücke den muslimischen Norden und schüre den Hass gegen die rund vier Millionen Immigranten aus den umliegenden Ländern. Der Putsch schlug zwar fehl, die Rebellen brachten aber den Norden des Landes unter ihre Kontrolle. Im November tauchten im Westen – an der Grenze zu Liberia – zwei neue Rebellengruppen auf, worauf Frankreich 2500 Soldaten in die Elfenbeinküste entsandte. Zum einen, um die wirtschaftlichen Interessen zu wahren, zum anderen, um die rund 20 000 Landsleute zu beschützen, die in der Elfenbeinküste leben.»
Ich habe heute übrigens mit der Schweizer Botschaft in Abidjan telefoniert, sie raten mir dringend ab, in den nächsten Wochen zu reisen.
Gabriella
Von: Lotti Latrous
Datum: 24. November 2002
An: Gabriella Baumann-von Arx
Betreff: warten.
liebe gabriella
die politische lage wird im radiobericht perfekt beschrieben, und die botschaft hat recht, du musst warten, mindestens bis entschieden ist, ob die situation mit verhandlungen geklärt werden kann oder ob es zum krieg kommt. ich tippe eher auf zweiteres, denn die regierung, also gbagbo (schwieriger name, man spricht ihn bag-bo aus), wird nicht akzeptieren, dass zwischen dem norden und dem süden eine neue grenze gezogen wird.
momentan ist es hier jederzeit möglich einzureisen, aber vielleicht wirds mit der ausreise schwierig, und das kannst du dir mit zwei kindern zu hause nicht erlauben. also, warte bis mitte dezember, hab noch etwas geduld.
lotti
Von: Gabriella Baumann-von Arx
Datum: 25. November 2002
An: Lotti Latrous
Betreff: Ungeduld.
Liebe Lotti
Ich weiss, dass ich warten muss, ungeduldig bin ich trotzdem.
Gabriella
Von: Lotti Latrous
Datum: 27. November 2002
An: Gabriella Baumann-von Arx
Betreff: geduld!
liebe ungeduldige frau
übe dich in geduld, lerne sie kennen! die erste afrikanische weisheit ist, geduld nicht nur zu haben, sondern sich auch gedulden zu können. wer hier keine geduld aufbringt, wird – schlicht und einfach und ziemlich schnell – verrückt.
wir haben viele kranke im moment, zu viele, ich musste neue matratzen bestellen und sie auf den boden legen, damit alle ein bett haben.
lotti
Von: Gabriella Baumann-von Arx
Datum: 28. November 2002
An: Lotti Latrous
Betreff: Okay?
Liebe Lotti
Okay, dann werde ich jetzt eben Geduld nicht nur haben, sondern mich auch gedulden, ist ja – mit bald zweiundvierzig Jahren – ohnehin an der Zeit.
Gabriella
Von: Lotti Latrous
Datum: 29. November 2002
An: Gabriella Baumann-von Arx
Betreff: un-geduld!
liebe gabriella
ich bin – bald fünfzig – selbst daran, die afrikanische geduld zu verlieren.
lotti
Von: Gabriella Baumann-von Arx
Datum: 30. November 2002
An: Lotti Latrous
Betreff: i.O.?
Guten Morgen, liebe Lotti
Keine Geduld mehr! Bin am Vorbereiten, werde heute noch den Pass verlängern, beim Tropeninstitut für die Gelbfieber-Impfung und die Malariaprophylaxe vorbeischauen und auch noch Passfotos machen, die ich für das Visum brauche. Ich möchte es gleich morgen beantragen. Unglaublich, was die Botschaft der Elfenbeinküste alles vorgelegt haben will! Auch eine Referenz in Abidjan sowie die Adresse, wo ich schlafen werde. Ich habe beide Male deine Adresse angegeben, geht das in Ordnung?
Übrigens – wo werde ich schlafen?
Gabriella
Von: Lotti Latrous
Datum: 1. Dezember 2002
An: Gabriella Baumann-von Arx
Betreff: i.o.!
liebe gabriella
du kannst bei uns im zentrum schlafen, ich habe für besucher wie dich zwei kleine zimmer bauen lassen.
hast du gehört, dass eine neue rebellengruppe nochmals ein paar städte eingenommen hat? diesmal sind liberianer und sierra leoner dabei, und das sind schlimme krieger. vor denen habe sogar ich angst. die atmosphäre ist zum zerreissen gespannt, und ich bin sicher, dass es zum krieg kommt. unklar ist nur wann. ich weiss nicht mehr, was ich dir raten soll!
lotti
Von: Gabriella Baumann-von Arx
Datum: 3. Dezember 2002
An: Lotti Latrous
Betreff: Pantöffelchen.
Liebe Lotti
Ich werde warten, werde dann kommen, wenn – vielleicht nicht alles, aber doch wenigstens einiges – stimmt.
Ich war gestern in Bern, in der Botschaft der Elfenbeinküste, um das Visum zu beantragen. Ich hätte das auch per Post erledigen können, aber ich konnte es mir nicht verkneifen, persönlich vorbeizugehen.
Die «Femme du Visa» sass in einem – gelinde ausgedrückt – etwas chaotischen Raum. Auf ihrem Schreibtisch lag eine Zehnerpackung Strumpfhosen in Grösse XXL für zehn Franken, hinter ihr auf dem Boden waren rosarote Pantöffelchen, das eine drei Meter vom anderen entfernt.
Vor dem Schreibtisch stand ein Stuhl. Ich übergab der Dame das Couvert stehenden Fusses. Sie öffnete es, schüttelte den Inhalt – 120 Franken, den Pass, den internationalen Gelbfieber-Impfausweis, das frankierte und bereits eingeschriebene Rückantwortcouvert, die Rückreisebestätigung, das Certificat d’Hébergement sowie die vier eigenhändig und in stundenlanger Arbeit vollständig ausgefüllten Visa-Anträge – achtlos auf den Tisch, warf einen Blick auf das entstandene Durcheinander und legte dann alles auf einen Berg von losen Blättern und dicken Akten. Dann schaute sie mich an und sagte: «au revoir.» Etwas perplex über die Eile – ich war noch keine dreissig Sekunden bei ihr – zottelte ich ab. Und nun bin ich gewaltig gespannt, ob es mit dem Visum klappt.
Gabriella
Von: Lotti Latrous
Datum: 4. Dezember 2002
An: Gabriella Baumann-von Arx
Betreff: re: pantöffelchen.
liebe gabriella
gut, bist du selbst bei der botschaft vorbeigegangen, so hast du bereits einen kleinen eindruck von afrika bekommen.
es läuft nicht gut im land, wir warten, warten, warten. ich weiss schon bald nicht mehr, worauf. ruhe, frieden, darauf, dass die vor drei (!) monaten verhängte ausgangssperre von sechs uhr abends bis sechs uhr morgens endlich aufgehoben wird, denn die macht uns mürbe. niemand versteht all die sch…, die hier abgeht. aber ändern können wir nichts, wir können nur hoffen, dass bald eine lösung gefunden wird. eine ohne krieg.
lotti
Von: Gabriella Baumann-von Arx
Datum: 6. Dezember 2002
An: Lotti Latrous
Betreff: Re: Re: Pantöffelchen.
Liebe Lotti
Warten – ihr auf Ruhe und Frieden, die Kinder auf den Samichlaus, ich auf Abidjan und dich.
Dass es nicht gut geht, dass ihr im Schlamassel steckt, nicht wisst, wies weitergehen soll, ob Krieg kommt oder nicht – all das berührt mich. Berührt mich mehr als andere schlechte Nachrichten, mehr als der drohende Irak-Krieg, weil ich nun einen direkten Bezug zur Elfenbeinküste habe.
Warten wir.
Gabriella
Von: Lotti Latrous
Datum: 8. Dezember 2002
An: Gabriella Baumann-von Arx
Betreff: nonchalance.
liebe gabriella
in der nähe von zwei grossen städten wurden zwei riesige massengräber entdeckt. rebellen und regierung schieben sich die schuld dafür gegenseitig in die schuhe. nach diesem vorfall haben wir die hoffnung auf frieden aufgegeben, wir sind der schlechten nachrichten müde, möchten, dass der alptraum ein ende hat.
am sonntag ist mir ein fünfzehnjähriger junge unter der hand gestorben, weil sein vater die umgerechnet achtzig schweizer franken für eine operation im öffentlichen krankenhaus nicht auftreiben konnte und die familie zu spät von uns und unserem im notfall kostenlosen ärztlichen angebot hörte.
du musst dir vorstellen, im krankenhaus machte keiner der ärzte auch nur den kleinen finger krumm. im gegenteil, sie nahmen in kauf, dass der junge unter ihren augen – entschuldige – krepierte. der vater kam mit seinem sohn dann aber doch noch zu uns. wie gesagt, zu spät, er starb an einem darmdurchbruch. die ursache dafür? nun, der junge hatte mit kollegen fussball gespielt und dabei einen kick in den bauch bekommen.
stell dir vor: dein sohn, gut und mit aller liebe der erde erzogen, ein junge, auf den du stolz bist, ein wunderbarer junger mensch, der gerne in die schule geht, charmant und offen ist – und du verlierst ihn wegen eines fussballspiels und fehlender achtzig franken. verlierst ihn unter den augen von ärzten!
solche fälle mehren sich hier, die gleichgültigkeit der menschen ist nicht zu fassen, ich hätte wieder einmal morden können! (von wegen mutter teresa!)
heute ist mireille, einundzwanzig jahre jung, an aids gestorben, der vierte tod diese woche. morgen gehe ich mit sechs an aids erkrankten kindern zum kinderarzt. aids grassiert hier wie eine seuche. aber nicht nur aids und andere schlimme krankheiten machen uns zu schaffen. die menschen sind auch am verhungern. manchmal weiss ich nicht, wie ich den tag überstehen soll.
habe ich dir erzählt, dass ich für unsere aidspatienten, die noch arbeiten können, aber arbeitslos sind, da niemand ihnen arbeit geben will, einen gemüsegarten und eine kleine hühnerzucht aufbauen möchte? als ich mit einer bekannten, einer weissen, die im reichen teil der stadt lebt, darüber sprach, fragte sie mich, ob so etwas denn rentieren würde. ohhh, da hatte ich grosse lust, ihr eine hinter die ohren zu kleben. die welt ist komplett verdorben, alles muss rentieren, sonst lässt man es lieber gleich bleiben.
lotti
Von: Gabriella Baumann-von Arx
Datum: 10. Dezember 2002
An: Lotti Latrous
Betreff: Rendite.
Liebe Lotti
Grauenvoll, was du erzählst: von dem Jungen, von Mireille, von Hunger und Aids. Trotzdem musste ich, als ich von der weissen Bekannten las, lachen. Fragt sie dich nach Rendite!
In den Zeitungen lese ich nichts Gutes. Die Elfenbeinküste, schreibt die «Neue Zürcher Zeitung», versinke immer mehr im Morast. Frankreich habe sein Truppenkontingent vergrössert und Fremdenlegionäre geschickt. Und in den Nachrichten habe ich Bilder von Menschen gesehen, die das Land fluchtartig verlassen. Aber was erzähle ich da, schliesslich bist du ja vor Ort, erlebst alles hautnah mit.
Es hat übrigens bestens geklappt, das Visum ist gekommen.
Pass auf dich auf!
Gabriella
Von: Lotti Latrous
Datum: 12. Dezember 2002
An: Gabriella Baumann-von Arx
Betreff: deine nase.
liebe gabriella
danke für deine mail. zeitung zu lesen und nachrichten zu sehen, ist gut, aber um wirklich zu wissen, wie es hier ist, fehlt dir das wichtigste: deine nase. kein bildmaterial, keine texte können dir den gestank vermitteln. den gestank von noch lebenden menschen, die auf dem schlachtfeld (oh pardon, ich wollte sagen, an der front) am verfaulen sind. genau wie meine patienten, die auch erst verwesen müssen, bevor sie sterben dürfen. es fehlt dir das elend, das einen überkommt, wenn man ein sterbendes kind ans herz drückt. auch wenn es das hundertste ist, ich sage dir, es ist jedes mal ein eigener kleiner tod. worte und bilder lassen keine wut im bauch entstehen, keine trauer in der seele, keine frustration, die dir zeigt, wie unendlich klein und ohnmächtig du selbst bist. sie lassen nichts in dir explodieren, weil du nicht miterlebst, wie es der mutter das herz zerreisst. und ein paar hundert meter weiter, im cyber-café der innenstadt, stolziert ein samichlaus herum. erfreut dutzende von privilegierten – weissen und schwarzen – kindern und stimmt mit ihnen das lied: «o tannenbaum» an.
um schreiben zu können, ist es wichtig, dass du alles selbst erlebst, die gerüche, den schmerz, die ungerechtigkeit: alles muss dir unter die haut gehen, und zwar so, dass du dabei fast selbst zu grunde gehst. erst dann kannst du – davon bin ich überzeugt – das ganze elend in worte packen, die berühren.
du machst dir keine vorstellung, was auf dich zukommen wird, du musst dich auf unerträgliches gefasst machen.
ich bereite weihnachten vor, backe guetsli, stell dir vor!, sorge für spielzeug, musik, einen christbaum und einen echten – schwarzen – samichlaus. an weihnachten wird es ein spezielles menü geben und für die kinder im sterbespital ein paar schuhe, auch wenn sie diese nicht mehr lange werden tragen können. zum dessert gibts jogurt und zum trinken coca-cola oder seven-up, die augen werden wieder einmal leuchten.
lotti
Von: Gabriella Baumann-von Arx
Datum: 13. Dezember 2002
An: Lotti Latrous
Betreff: Etwas auslösen.
Liebe Lotti
Ja, ich weiss, es wird einiges auf mich zukommen, es wird alles andere als einfach. Und ich weiss, dass ich mir noch keine Vorstellung machen kann von dem, was dann tatsächlich über mich hereinbrechen wird. Aber ich weiss auch, dass deine Geschichte etwas auslösen kann. Und darauf freue ich mich.
Gabriella
Von: Lotti Latrous
Datum: 15. Dezember 2002
An: Gabriella Baumann-von Arx
Betreff: gewissen.
liebe gabriella
hier ist alles beim alten, zu viele menschen sterben viel zu jung und unter zu grässlichen umständen. aber es gibt auch immer wieder solche, die gerettet werden können, und das ist unsere ganze motivation: zu wissen, dass noch viel mehr menschen ihr leben liessen, wenn wir aufgeben würden. ich habe heute nicht viel zeit zum schreiben, denn es haben sich viele weisse angemeldet, die uns besuchen wollen. an weihnachten erwacht das eine oder andere schlechte gewissen. schade, dass man nicht das ganze jahr über an seine mitmenschen denkt. schade, dass nicht zwölfmal im Jahr weihnachten ist.
lotti
Von: Gabriella Baumann-von Arx
Datum: 18. Dezember 2002
An: Lotti Latrous
Betreff: Zwölfmal Weihnachten?
Liebe Lotti
Zwölfmal Weihnachten im Jahr wäre für uns der totale Irrsinn. Wir würden alle dick und fett, unsere Kinder würden an Verwöhnung ersticken, die alkoholbedingten Unfälle würden rasant steigen, die Familienstreitigkeiten eine noch höhere Scheidungsrate, als wir sie jetzt schon haben, hervorrufen. Der andauernde vorweihnachtliche Stress und die andauernde nachweihnachtliche Erschöpfung würden uns mit der Zeit ganz, ganz klein kriegen. Vielleicht würden wir dann aber auch merken, dass wir – bevor wir zwölfmal im Jahr Weihnachten zu feiern begannen – eigentlich jeden Tag Weihnachten hatten.
Gabriella
Von: Lotti Latrous
Datum: 20. Dezember 2002
An: Gabriella Baumann-von Arx
Betreff: zombie.
liebe gabriella
weihnachten ist unendlich weit weg, hier ist alles ka-ta-strophal! ich bin total übermüdet, müsste einmal ausspannen. nur habe ich das rezept, abstand zu gewinnen, irgendwie verloren. eine weisse freundin sagte mir gestern: «zum glück kommt deine familie an weihnachten nicht, so wie du ausschaust, würdest du ihnen angst machen.» sie meinte, ich sehe aus wie ein zombie. sie hat recht. ich weiss, ich bräuchte dringend etwas distanz, aber jetzt zu gehen, wäre dasselbe wie abzuhauen.
die botschaften haben alle ausländer aufgefordert, das land zu verlassen, die meisten packen ihre ware, viele von ihnen sicherlich schweren herzens, denn eigentlich wäre das leben hier schön.
nein, weggehen und diese süsse frau mit ihren erst zwanzig Jahren allein an aids krepieren lassen, kann ich nicht. ich muss bei ihr bleiben, will auf ihrem bettrand sitzen, ihre hand halten, ihr zuhören, wenn sie singt. sie liebt es zu singen. sie singt: «ich liebe dich, ich liebe dich», streichelt mir mit ihren händen immer wieder übers gesicht und sagt: «weine nicht.» und ich weiss nicht mehr, wer wen tröstet.
schliessen wir das ambulatorium und das sterbespital jetzt – und wenn es nur für kurze zeit wäre –, sterben noch mehr menschen. auch an hunger. du musst wissen, wir verteilen pro monat zweitausendfünfhundert mahlzeiten und vierhundert portionen kinderbreie.
ich bleibe. und damit basta.
lotti
Von: Gabriella Baumann-von Arx
Datum: 22. Dezember 2002
An: Lotti Latrous
Betreff: Ich verstehe.
Liebe Lotti
Ich verstehe, dass du nicht weglaufen magst, weil ich erkannt habe, dass du nicht nur mit deinem Herzen, sondern mit deiner ganzen Seele das tust, was du tun willst und tun musst.
Ich denke viel an dich.
Gabriella
Von: Lotti Latrous
Datum: 24. Dezember 2002
An: Gabriella Baumann-von Arx
Betreff: kein bier.
liebe gabriella
ein arabisches sprichwort lautet: je mehr ich leide, desto nötiger habe ich das lachen. und genau dort liegt mein problem, ich habe hier niemanden mehr, mit dem ich lachen kann. alle sind weg.
was bleibt, ist schmerz, tod, leid und, als ob dies nicht schon genug wäre, grausam lange, einsame nächte. ausgangssperre und keine möglichkeit, in der nächsten kneipe ein bier zu trinken, an all dem gehe ich momentan fast zu grunde.
ich fühle mich fürchterlich egoistisch, weil ich klage und dabei nur an mich denke, verstehst du das? am 26. dezember machen wir im sterbespital ein fest. ich freue mich darauf, wenigstens für ein paar stunden alles vergessen zu können. du feierst bestimmt heute, geniesse es.
lotti
Von: Gabriella Baumann-von Arx
Datum: 25. Dezember 2002
An: Lotti Latrous
Betreff: Nötig.
Liebe Lotti
Du fühlst dich als Egoistin? Weil du von deinen Problemen erzählst? Ich glaube, das Fest morgen brauchst du nötiger als alle anderen!
Gabriella
Von: Lotti Latrous
Datum: 27. Dezember 2002
An: Gabriella Baumann-von Arx
Betreff: vergessen.
liebe gabriella
es ist gut, dass ich geblieben bin. ich hatte ein wunderschönes fest im sterbespital. alle waren am tisch, sogar unser maurice, der den heutigen tag wahrscheinlich nicht überleben wird.
für viele war es das erste mal, dass sie an einem fest teilnahmen. es machte mich glücklich, all die strahlenden augen in den ausgemergelten gesichtern sehen zu dürfen, diese verwunderung darüber, dass sie dabei sein durften, dass für sie weder mühe noch kosten gescheut wurden, dass der tisch für sie gedeckt war.
es gab bier, gebackene ente, foutou – ein afrikanisches gericht – kuchen und jogurt und sogar geschenke: schuhe, tücher und für die muslime gebetsteppiche. und es gab viele, die lachten.
es war ein echtes, ein gutes fest, nichts kommerzielles, nur pure freude und tiefe dankbarkeit.
für ein paar stunden haben wir alles leid vergessen können.
lotti
Von: Gabriella Baumann-von Arx
Datum: 28. Dezember 2002
An: Lotti Latrous
Betreff: Lachen.
Liebe Lotti