LOTTI LATROUS - 3 Bestseller in einem - Gabriella Baumann-von Arx - E-Book

LOTTI LATROUS - 3 Bestseller in einem E-Book

Gabriella Baumann-von Arx

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Beschreibung

"Lotti, La Blanche" beschreibt das Leben einer Frau, die der Hoffnungslosigkeit im gebeutelten Schwarzafrika jeden Tag aufs Neue die Stirn bietet und dabei ihren Humor nicht verloren hat. "Madame Lotti" unterscheidet sich vom ersten Buch "Lotti, La Blanche" vor allem dadurch, dass es sehr viel intensiver die Fragen um Sterben und Tod thematisiert. Außerdem lässt die Autorin diesmal auch Lotti Latrous' Mann zu Wort kommen, den sie in Kairo besuchte. "Lotti Latrous" ist die lang erwartete und sehr eigenständige Fortsetzung der beiden Beststeller "Lotti, La Blanche" und "Madame Lotti". Und ein großes Dankeschön an all die Menschen, die Lotti Latrous seit Jahren - in welcher Form auch immer - unterstützen.

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Seitenzahl: 855

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Die verwendeten Bilder stammen, wo nicht anders vermerkt, von der Autorin Gabriella Baumann-von Arx.

Alle Rechte vorbehalten, einschliesslich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.

© Wörterseh, Lachen

Wörterseh-Bestseller als E-Book 1. Auflage 2020

Lotti, La Blanche© 2011 Wörterseh, Lachen Die Originalausgabe erschien 2003 im Werd-Verlag, Zürich Lektorat: Katharina Rengel · Korrektorat: Heike Burkard · Umschlag und Gestaltung: Buch & Grafik, Barbara Willi-Halter · Satz und Umbruch: Manuel Süss · Karte: Edith Huwiler · Herstellung: Rolf Schöner ISBN 978-3-85932-461-9 (Originalausgabe Werd-Verlag, vergriffen) ISBN 978-3-03763-523-0 (E-Book) Madame Lotti© 2004 Wörterseh, Lachen Lektorat: Claudia Bislin · Korrektorat: Andrea Leuthold · Karte: Edith Huwiler · Typografisches Konzept, Gestaltung und herstellerische Betreuung: Rolf Schöner ISBN 978-3-033-00245-6 (Originalausgabe, vergriffen) ISBN 978-3-03763-524-7 (E-Book) Lotti Latrous© 2007 Wörterseh, Lachen Lektorat: Claudia Bislin · Korrektorat: Andrea Leuthold · Umschlaggestaltung: Thomas Jarzina · Karte: Sonja Schenk · Layout, Satz und herstellerische Betreuung: Rolf Schöner, Buchherstellung ISBN 978-3-9523213-5-5 (Originalausgabe) ISBN 978-3-03763-512-4 (E-Book)

Fotos Cover: Lotti Latrous mit der kleinen Lotti, die ihr zu Ehren den gleichen Namen trägt (oben), und mit Emanuel (Mitte und unten)

ISBN 978-3-03763-525-4 (E-Book) ISBN 978-3-03763-784-5 (ePDF)

www.woerterseh.ch

 

Über die Bücher

«Lotti, La Blanche» beschreibt das Leben einer Frau, die der Hoffnungslosigkeit im gebeutelten Schwarzafrika jeden Tag aufs Neue die Stirn bietet und dabei ihren Humor nicht verloren hat.

«Madame Lotti» unterscheidet sich vom ersten Buch «Lotti, La Blanche» vor allem dadurch, dass es sehr viel intensiver die Fragen um Sterben und Tod thematisiert. Ausserdem lässt die Autorin diesmal auch Lotti Latrous’ Mann zu Wort kommen, den sie in Kairo besuchte.

«Lotti Latrous» ist die lang erwartete und sehr eigenständige Fortsetzung der beiden Beststeller «Lotti, La Blanche» und «Madame Lotti». Und ein grosses Dankeschön an all die Menschen, die Lotti Latrous seit Jahren – in welcher Form auch immer – unterstützen.

 

Über die Autorin

© Wörterseh

Gabriella Baumann-von Arx, geb. 1961 in Erlinsbach/SO, ging es in ihren journalistischen Texten immer um Menschen und deren Geschichten. Bald war ihr die Länge eines Zeitungsartikels zu kurz für all die Facetten, die sie in ihre Texte einarbeiten wollte, und so begann sie, Bücher zu schreiben. Bücher über aussergewöhnliche Menschen. Ihr erfolgreichstes Buch «Lotti, La Blanche» kam 2003 im Werd-Verlag heraus, da dieser keinen Nachfolgeband wollte, gründete Gabriella Baumann-von Arx ein Jahr später den Wörterseh-Verlag. Schon bald fand sie keine Zeit mehr zum Selberschreiben und konzentrierte sich ausschliesslich aufs Verlegen. Eines aber ist geblieben: Es sind Menschen und deren Geschichten, die die Verlegerin interessieren. Gabriella Baumann-von Arx ist verheiratet und wohnt in Lachen und in Vals.

 

Lotti, La Blanche

Eine Schweizerin in den Elendsvierteln von Abidjan

 

Für Aziz, Selim, Sonia und Sarah, die verzichten, damit andere bekommen.

 

Inhalt   |   Band 1

«Il faut faire un effort»

E-Mails

Und erstens kommt es anders …

Tagebuch einer Begegnung

Freitag, 13. Juni 2003

Samstag, 14. Juni 2003

Sonntag, 15. Juni 2003

Montag, 16. Juni 2003

Dienstag, 17. Juni 2003

Mittwoch, 18. Juni 2003

Donnerstag, 19. Juni 2003

Freitag, 20. Juni 2003

Samstag, 21. Juni 2003

Nachwort

Bildteil

 

«Il faut faire un effort»

Als Gabriella Baumann-von Arx mit der Bitte an mich herantrat, ein Buch über mich schreiben zu dürfen, war ich im ersten Moment davon überzeugt, dass dies nie zu Stande käme. Wir hatten in der Elfenbeinküste Krieg, und ich hatte damals weder Lust noch Musse, auch nur einen Gedanken an ein solches Projekt zu verschwenden.

Heute bin ich froh, dass es anders kam. Nicht nur, weil die nochmalige Auseinandersetzung mit meiner Geschichte mich darin bestärkt hat, das Richtige zu tun. Sondern auch, weil ich hier und jetzt die Gelegenheit erhalte, den Menschen Danke zu sagen, die mir meine Arbeit erst ermöglichen. Das sind, neben vielen uns wohlgesinnten Spendern, meine Freunde, meine Geschwister, meine Mutter. Das sind unsere Kinder Selim, Sonia und Sarah. Das ist mein verständnisvoller Mann Aziz. Dank der grenzenlosen Liebe meiner Familie kann ich helfen, trösten, pflegen, ermutigen; kann ich Hoffnung und Zuversicht geben und – am Schluss, wenn nichts anderes mehr bleibt – meine Kranken auf ihrem letzten Weg begleiten.

Lotti Latrous

 
Die Familie

Aziz – Lottis Mann

Selim – Lottis Sohn (1979)

Sonia – Lottis Tochter (1981)

Sarah – Lottis Jüngste (1989)

Die Mitarbeiter

Dr. Germain Gnode, Arzt; Adelaide, Breimutter; Monsieur Konaté, Nachtwache; M. Koné, Nachtwache; YaYa, Pfleger; Felix, Pfleger; Monique, Krankenschwester; Josiane, Pflegerin; Hortense, Köchin; Solange, Kindermädchen; Ouattara, Nachtwächter; Emmanuel, Sprechstundenorganisator.

Die Menschen im Spital

Arlette, 28, Mutter von Osé, 3, und Hermas, acht Monate; Maryam, 24, Mutter von Yusuf, 8; Noëlle, 29, Mutter von Emanuel, 20 Monate; Chantal, 21, Mutter von Christ, 4; Assita, 38, Mutter von Bouba, 12; Mohamed, siebzehn Monate, Vollwaise; Aïcha, 19; Lea, 37; Therese, 37; Jeannette, 27; Jean-Marie, 31; Monsieur Jean, 34; Alphons, 42; Felix, der blinde Nigerianer, 60.

Das Ambulatorium

Das Centre Espoir öffnete am 1. Februar 1999 sein oranges Tor. Bis Ende August 2004 wurden gut 150 000 Konsultationen gemacht.

Das Spital

Centre Espoir d’Eux feierte seine Eröffnung am 2. September 2002, innerhalb von zwei Jahren wurden 680 Patienten behandelt. 360 von ihnen starben.

Lotti Latrous hat mit diesen beiden Zentren 25 Arbeitsplätze geschaffen.

 

Die Elfenbeinküste (Côte d’Ivoire), mit Yamoussoukro, der Hauptstadt, und Abidjan, der Wirtschaftsmetropole.

 

E-Mails

 

Von: Gabriella Baumann-von Arx

Datum: 5. November 2002

An: Lotti Latrous

Betreff: Eine Anfrage.

Liebe Frau Latrous

In der Sendung «Sternstunde Philosophie» des Schweizer Fernsehens habe ich zufällig einen Beitrag über Sie gesehen und ein paar Tage später – wieder zufällig – einen Bericht gelesen, der Sie porträtierte. Und zwar in der Zeitung der Migros, im «Brückenbauer». Ihre Arbeit in den Elendsvierteln von Abidjan, der Wirtschaftsmetropole der Elfenbeinküste in Westafrika, beeindruckt mich. Die Tatsache, dass Sie es aus eigener Initiative geschafft haben, erst ein Ambulatorium und kürzlich auch noch ein Sterbespital zu eröffnen, imponiert mir. Sie haben dafür ein Leben fernab von Ihrer Familie gewählt, und trotzdem ist Ihre Familie nicht daran zerbrochen. Ich bin fasziniert – ich möchte ein Buch über Sie schreiben.

Ich bin Journalistin und Autorin, verheiratet, Mutter von zwei Teenagern und ehemalige Arztgehilfin. Ich würde in Ihrem Spital beim Anblick von eiternden Wunden also nicht gleich aus den Socken kippen.

Es würde mich freuen, bald etwas von Ihnen zu hören.

Mit freundlichen Grüssen

Gabriella Baumann-von Arx

Von: Lotti Latrous

Datum: 6. November 2002

An: Gabriella Baumann-von Arx

Betreff: Eine Antwort.

Liebe Gabriella

Herzlichen Dank für Ihr Angebot, ich muss Ihnen aber sagen, dass ich vorhabe, selbst ein Buch zu schreiben. Vor sechs Jahren nämlich begann ich hier in Abidjan im Sterbekrankenhaus von Mutter Teresa zu arbeiten. Ich war damals eine privilegierte Frau, die über den Schmerz und das Leiden der Menschen im Krankenhaus in arge Schuldgefühle verfiel. Um meine Erlebnisse verarbeiten zu können, begann ich, alles aufs Papier zu kotzen. (Verzeihen Sie diesen harten Ausdruck, aber es gibt keinen passenderen dafür.)

Während der folgenden Jahre, in denen ich ein eigenes Ambulatorium eröffnete, schrieb ich immer wieder. Obwohl meine Muttersprache Schweizerdeutsch ist, schreibe ich auf Französisch, da mir diese Sprache inzwischen leichter fällt.

Doch seit ich nun auch noch das Sterbespital eröffnet habe, komme ich kaum mehr zum Schreiben.

Nun zu Ihrer Anfrage: Da ich momentan selbst keine Zeit finde zu schreiben, freut sie mich, sie irritiert mich aber auch, weil ich nicht weiss, ob jemand anders als ich selbst dieses Buch schreiben kann.

Wenn ich mein Tagebuch lese, merke ich, dass die Worte direkt aus meinem Herzen kommen und für mich wertvoller sind als alles Gold der Erde. Sie sind mein ganzes Leben. Sind Schmerz und Leid, Liebe und Hoffnung.

Nun lasse ich Sie überlegen, liebe Gabriella, was da weiter zu machen wäre.

Ganz herzlich, Lotti Latrous

Von: Gabriella Baumann-von Arx

Datum: 7. November 2002

An: Lotti Latrous

Betreff: Du?

Liebe Lotti

Danke für die prompte Antwort, sie ist so persönlich, dass ich mir erlaube, dir das Du anzubieten. Ich hoffe und setze voraus, du bist damit einverstanden.

Aus deiner E-Mail sehe ich, dass du das Buch selbst schreiben könntest. Also, warum lass ich jetzt nicht einfach los und nehme deine Zeilen als Absage?

Ganz einfach: Du interessierst mich inzwischen noch mehr. Ich brenne darauf, dich und deine Arbeit kennen zu lernen, weil ich glaube, dass die Welt viel von dir erfahren sollte und – vor allem – viel lernen könnte.

Ich möchte dich besuchen, möchte dich am Tag bei deiner Arbeit begleiten, nächtelang mit dir zusammensitzen, dich reden lassen, dir zuhören, mehr von dir erfahren, dich und deine Umwelt ganz direkt erleben. Und dann nach Hause gehen und schreiben. Auch aus dem Herzen heraus, aber – mit einer professionellen Distanz.

Wenn du es selbst angehen willst, kann ich gut damit leben. Hauptsache, es passiert etwas in dieser Richtung, denn in deiner Geschichte, da bin ich mir sicher, liegt ein riesiges Potenzial.

Ich freue mich, wieder von dir zu hören.

Gabriella

Von: Lotti Latrous

Datum: 10. November 2002

An: Gabriella Baumann-von Arx

Betreff: du!

liebe gabriella

hab dank für deine zeilen. ich werde dir in kleinschrift antworten, denn nur schon auf deutsch schreiben zu müssen, ist für mich in der zwischenzeit sehr anstrengend geworden.

ich spüre, dass du mich stärker einschätzt, als ich es tatsächlich bin, ich gehe oft durch endlose, dunkle tunnels, habe hunderte von fragen und finde keine antworten darauf. abgesehen davon weiss ich nicht, ob ich es verkraften könnte, das, was ich bereits geschrieben habe, noch einmal zu erzählen. ich habe keine ahnung, ob ich fähig wäre, alles ein zweites mal zu durchleben und zu durchleiden. allein beim gedanken daran überwältigen mich die gefühle, weil einiges nach wie vor schmerzt. hinzu kommt, dass ich vieles auch gar nicht mehr so wiedergeben kann wie einst, da ich – um mich selbst zu schützen – in der zwischenzeit härter geworden bin.

du musst wissen, dass ich oft unter starken schuldgefühlen meiner familie gegenüber leide, die ohne mich leben muss. es geht mittlerweile zwar besser, aber es schmerzt immer noch. oft liege ich nachts auf meiner matratze und weine. aus wut, aus frustration, manchmal auch aus einsamkeit, denn ich habe keine echten freunde, die meine wahl, hier zu bleiben, wirklich verstehen, geschweige denn akzeptieren.

die wenigsten haben eine ahnung, was mir der tägliche umgang mit dem tod bedeutet, können verstehen, dass nicht ich den kranken und sterbenden helfe, sondern sie mir. die menschen, die ich pflege, bringen mich dem leben näher, schenken mir inneren frieden und glück.

so, liebe gabriella, nun liegt es an dir, zu «hirnen», was zu machen ist.

lotti

Von: Gabriella Baumann-von Arx

Datum: 11. November 2002

An: Lotti Latrous

Betreff: Eine Anregung.

Liebe Lotti

Du schreibst, du fragtest dich, ob du es verkraften könntest, alles noch einmal hervorzuholen und zu erzählen. Eine Antwort darauf kann ich dir nicht geben, nur eine Anregung: Vielleicht hilft es dir, wenn du alles noch einmal ausgräbst, abermals darüber redest und der Welt sagen kannst, was du warum, weshalb und wieso entschieden hast.

Du schreibst, die meisten Menschen könnten deine Entscheidung, deine Familie zu verlassen, nach wie vor nicht akzeptieren und verständen nicht, was der tägliche Umgang mit todkranken Menschen dir bringt. Sagen wir es ihnen doch!

Du schreibst, du seiest in der Zwischenzeit härter geworden. Kein Nachteil, liebe Lotti, sondern ein Vorteil, denn heute kannst du mit mehr Abstand über alles reden, das macht deine Geschichte erträglicher.

Du schreibst, es sei an mir zu «hirnen», was zu machen sei. Ich muss nicht «hirnen», ich weiss es: einen Versuch wagen. Uns sehen. Herausfinden, ob die Chemie stimmt.

Ich werfe dir den Ball zurück.

Gabriella

Von: Lotti Latrous

Datum: 15. November 2002

An: Gabriella Baumann-von Arx

Betreff: ein entscheid.

liebe gabriella

so, nach einigen schlaflosen nächten bin ich einverstanden. versuchen wir den versuch! (falls du immer noch möchtest.) jetzt liegt der ball wieder bei dir. ich warte auf das weitere.

lotti

Von: Gabriella Baumann-von Arx

Datum: 16. November 2002

An: Lotti Latrous

Betreff: Wann?

Liebe Lotti

sei versichert – ich möchte immer noch!

Wann kann ich kommen?

Gabriella

Von: Lotti Latrous

Datum: 18. November 2002

An: Gabriella Baumann-von Arx

Betreff: re: wann?

liebe gabriella

wie so oft, habe ich auch dieses mal wieder gemerkt, dass der gedanke, eine wichtige entscheidung treffen zu müssen, unglaublich viel energieraubender ist, als diese tatsächlich zu treffen. ich habe endlich wieder einmal gut geschlafen.

aber denk daran: es wird die hölle sein. für uns beide, denn sobald ich einmal loslege, kann mich nichts und niemand mehr stoppen.

du fragst, wann du kommen kannst? eigentlich gar nicht, denn hier im land läuft einiges schief. die politischen probleme haben dazu geführt, dass einige regierungsfeindliche rebellen am 19. september einen aufstand gewagt haben. seither haben wir eine zermürbende ausgangssperre. aber das ist noch nicht alles, die zeichen stehen auf krieg! jetzt zu kommen, wäre sicher nicht ratsam.

lotti

Von: Gabriella Baumann-von Arx

Datum: 19. November 2002

An: Lotti Latrous

Betreff: Re: Re: Wann?

Liebe Lotti

Ich habe im Internet auf der Seite des Eidgenössischen Amts für auswärtige Angelegenheiten (EDA) gesurft. Du hast Recht, man rät von Reisen an die Elfenbeinküste ab. Hier der Wortlaut der Meldung:

«Am 19.09.2002 ist es in Abidjan, Bouake und Korhogo zu Kämpfen zwischen abtrünnigen Militärs und regierungstreuen Truppeneinheiten gekommen, die mehrere Todesopfer gefordert haben. Wie die Regierung am 20.09.2002 mitteilt, hat sie die Lage in Abidjan wieder unter Kontrolle. Die Situation ist im ganzen Land sehr angespannt, und es gilt eine nächtliche Ausgangssperre.

Bis zur Klärung der Sicherheitslage wird von Reisen nach Côte d’lvoire abgeraten. Schweizer Bürgerinnen und Bürgern, die sich bereits im Land befinden, wird empfohlen, möglichst zu Hause zu bleiben und auf nicht dringende Fahrten zu verzichten. Reisen von Abidjan ins Landesinnere sollten unbedingt unterbleiben.»

Trotzdem: Ich möchte vorwärts machen, möchte, was ich – per Zufall – am Fernsehen gesehen habe, erleben. Möchte dich, die moderne Mutter Teresa, kennen lernen.

Gabriella

Von: Lotti Latrous

Datum: 20. November 2002

An: Gabriella Baumann-von Arx

Betreff: eine ganz normale frau!

liebe gabriella

das eidgenössische amt für auswärtige angelegenheiten hat recht, wenn es von reisen abrät. es wird also vielleicht übermorgen, bis du kommen kannst.

eines aber musst du jetzt schon wissen:

vergleiche mich nicht mit mutter teresa. sie war eine katholische nonne, die alles für gott machte. ich hingegen bin eine ganz normale frau, die das, was sie tut, aus wut tut. aus wut darüber, dass die welt keine skrupel kennt.

lotti

Von: Gabriella Baumann-von Arx

Datum: 21. November 2002

An: Lotti Latrous

Betreff: Re: Eine ganz normale Frau!

Liebe Lotti

Der Vergleich mit Mutter Teresa drängt sich auf, aber ich erkläre im Buch gerne, warum du glaubst, dieser sei ungerechtfertigt.

Aber – keine Angst: Ich will dich nicht heilig sprechen.

Gabriella

Von: Lotti Latrous

Datum: 22. November 2002

An: Gabriella Baumann-von Arx

Betreff: gestern nacht.

liebe gabriella

gestern nacht, das heisst, es war bereits drei uhr morgens, hörte ich vor unserem ambulatorium schreie und ging hinaus. ich fand eine frau, die auf dem boden lag. in dreck und staub, dort, wo die hunde hinpinkeln und die leute hinspucken. die frau versuchte, ihr kind zu gebären, das mit den füssen voraus kam und dessen köpfchen eingeklemmt war. sie hätte dringend ins krankenhaus gebracht werden müssen. aber da ausgangssperre ist, konnte ich sie nicht hinfahren. alles, was ich tun konnte, war, mit meinem handy die polizei zu rufen. es dauerte eine unsäglich lange stunde, bis diese da war. zu lang. viel zu lang für das baby. als wir im krankenhaus ankamen, war es tot. wenigstens konnte die mutter gerettet werden.

stell dir vor, du oder ich hätten so gebären müssen, stell dir vor, wir hätten dort im dreck gelegen, stell dir vor, es könnte jede von uns treffen.

lotti

Von: Gabriella Baumann-von Arx

Datum: 23. November 2002

An: Lotti Latrous

Betreff: Re: Gestern Nacht!

Liebe Lotti

Dein Erlebnis mit dem Baby hat mich tief berührt und hinterlässt mich ebenso fassungs- wie sprachlos. Ich habe mich in Sachen politisches Klima der Elfenbeinküste informiert. Am klärendsten fand ich einen Bericht von Anneliese Tenisch, der im «Echo der Zeit» auf Radio DRS I ausgestrahlt wurde.

«Die Côte d’lvoire, einstige Vorzeigekolonie Frankreichs, zählte noch vor ein paar Wochen zu den reichsten Ländern Afrikas, sie war ein Hort der Sicherheit und Stabilität und die wirtschaftliche Lokomotive für die ganze Region Westafrikas, nicht zuletzt wegen ihres Hafens Abidjan. Das Land war der weltweit wichtigste Kakaoproduzent, produzierte und exportierte daneben auch noch verschiedene andere Agrarprodukte. Die Triebfeder für die momentan stattfindenden Kämpfe liegt weit zurück und hat ihren Ursprung in den Millionen von Immigranten, die aus den umliegenden Ländern – aus Mali, Guinea, Burkina Faso, Senegal und Nigeria – in den fruchtbaren Plantagen der Elfenbeinküste seit Generationen Arbeit fanden und oftmals seit Jahrzehnten an der Côte d’lvoire leben. Eine Klausel in der Verfassung des Landes verweigert ihnen aber eine Einbürgerung und damit auch den Landbesitz. Die daraus resultierenden ethnischen Spannungen entluden sich erstmals im Präsidentenwahljahr 1995, als der einzige aussichtsreiche Gegenkandidat, der frühere Premierminister, der Muslime Alassane Ouattara, mit der Begründung der ‹mangelnden lvoirité› – seine Mutter stammte ursprünglich aus Burkina Faso – ausgeschlossen wurde. Bei den Wahlen im Jahr 2000 wurde Ouattara, inzwischen eine Symbolfigur der muslimisch-nordivoirischen Elite – wegen der nach wie vor mangelnden Staatsbürgerschaft – abermals nicht zugelassen. Der damalige Sieger dieses nicht fairen und freien, dafür umso blutigeren Urnengangs, der christliche Laurent Gbagbo, verteidigt die ‹Ivoirité›-Klausel nach wie vor. Der lang gehegte Unmut darüber, was die ivoirische Identität ausmacht, entlud sich am 19. September 2002 erneut, als eine Gruppe Soldaten gegen Präsident Gbagbo putschte. Ihre Begründung: Der christliche, im Süden lebende Präsident unterdrücke den muslimischen Norden und schüre den Hass gegen die rund vier Millionen Immigranten aus den umliegenden Ländern. Der Putsch schlug zwar fehl, die Rebellen brachten aber den Norden des Landes unter ihre Kontrolle. Im November tauchten im Westen – an der Grenze zu Liberia – zwei neue Rebellengruppen auf, worauf Frankreich 2500 Soldaten in die Elfenbeinküste entsandte. Zum einen, um die wirtschaftlichen Interessen zu wahren, zum anderen, um die rund 20 000 Landsleute zu beschützen, die in der Elfenbeinküste leben.»

Ich habe heute übrigens mit der Schweizer Botschaft in Abidjan telefoniert, sie raten mir dringend ab, in den nächsten Wochen zu reisen.

Gabriella

Von: Lotti Latrous

Datum: 24. November 2002

An: Gabriella Baumann-von Arx

Betreff: warten.

liebe gabriella

die politische lage wird im radiobericht perfekt beschrieben, und die botschaft hat recht, du musst warten, mindestens bis entschieden ist, ob die situation mit verhandlungen geklärt werden kann oder ob es zum krieg kommt. ich tippe eher auf zweiteres, denn die regierung, also gbagbo (schwieriger name, man spricht ihn bag-bo aus), wird nicht akzeptieren, dass zwischen dem norden und dem süden eine neue grenze gezogen wird.

momentan ist es hier jederzeit möglich einzureisen, aber vielleicht wirds mit der ausreise schwierig, und das kannst du dir mit zwei kindern zu hause nicht erlauben. also, warte bis mitte dezember, hab noch etwas geduld.

lotti

Von: Gabriella Baumann-von Arx

Datum: 25. November 2002

An: Lotti Latrous

Betreff: Ungeduld.

Liebe Lotti

Ich weiss, dass ich warten muss, ungeduldig bin ich trotzdem.

Gabriella

Von: Lotti Latrous

Datum: 27. November 2002

An: Gabriella Baumann-von Arx

Betreff: geduld!

liebe ungeduldige frau

übe dich in geduld, lerne sie kennen! die erste afrikanische weisheit ist, geduld nicht nur zu haben, sondern sich auch gedulden zu können. wer hier keine geduld aufbringt, wird – schlicht und einfach und ziemlich schnell – verrückt.

wir haben viele kranke im moment, zu viele, ich musste neue matratzen bestellen und sie auf den boden legen, damit alle ein bett haben.

lotti

Von: Gabriella Baumann-von Arx

Datum: 28. November 2002

An: Lotti Latrous

Betreff: Okay?

Liebe Lotti

Okay, dann werde ich jetzt eben Geduld nicht nur haben, sondern mich auch gedulden, ist ja – mit bald zweiundvierzig Jahren – ohnehin an der Zeit.

Gabriella

Von: Lotti Latrous

Datum: 29. November 2002

An: Gabriella Baumann-von Arx

Betreff: un-geduld!

liebe gabriella

ich bin – bald fünfzig – selbst daran, die afrikanische geduld zu verlieren.

lotti

Von: Gabriella Baumann-von Arx

Datum: 30. November 2002

An: Lotti Latrous

Betreff: i.O.?

Guten Morgen, liebe Lotti

Keine Geduld mehr! Bin am Vorbereiten, werde heute noch den Pass verlängern, beim Tropeninstitut für die Gelbfieber-Impfung und die Malariaprophylaxe vorbeischauen und auch noch Passfotos machen, die ich für das Visum brauche. Ich möchte es gleich morgen beantragen. Unglaublich, was die Botschaft der Elfenbeinküste alles vorgelegt haben will! Auch eine Referenz in Abidjan sowie die Adresse, wo ich schlafen werde. Ich habe beide Male deine Adresse angegeben, geht das in Ordnung?

Übrigens – wo werde ich schlafen?

Gabriella

Von: Lotti Latrous

Datum: 1. Dezember 2002

An: Gabriella Baumann-von Arx

Betreff: i.o.!

liebe gabriella

du kannst bei uns im zentrum schlafen, ich habe für besucher wie dich zwei kleine zimmer bauen lassen.

hast du gehört, dass eine neue rebellengruppe nochmals ein paar städte eingenommen hat? diesmal sind liberianer und sierra leoner dabei, und das sind schlimme krieger. vor denen habe sogar ich angst. die atmosphäre ist zum zerreissen gespannt, und ich bin sicher, dass es zum krieg kommt. unklar ist nur wann. ich weiss nicht mehr, was ich dir raten soll!

lotti

Von: Gabriella Baumann-von Arx

Datum: 3. Dezember 2002

An: Lotti Latrous

Betreff: Pantöffelchen.

Liebe Lotti

Ich werde warten, werde dann kommen, wenn – vielleicht nicht alles, aber doch wenigstens einiges – stimmt.

Ich war gestern in Bern, in der Botschaft der Elfenbeinküste, um das Visum zu beantragen. Ich hätte das auch per Post erledigen können, aber ich konnte es mir nicht verkneifen, persönlich vorbeizugehen.

Die «Femme du Visa» sass in einem – gelinde ausgedrückt – etwas chaotischen Raum. Auf ihrem Schreibtisch lag eine Zehnerpackung Strumpfhosen in Grösse XXL für zehn Franken, hinter ihr auf dem Boden waren rosarote Pantöffelchen, das eine drei Meter vom anderen entfernt.

Vor dem Schreibtisch stand ein Stuhl. Ich übergab der Dame das Couvert stehenden Fusses. Sie öffnete es, schüttelte den Inhalt – 120 Franken, den Pass, den internationalen Gelbfieber-Impfausweis, das frankierte und bereits eingeschriebene Rückantwortcouvert, die Rückreisebestätigung, das Certificat d’Hébergement sowie die vier eigenhändig und in stundenlanger Arbeit vollständig ausgefüllten Visa-Anträge – achtlos auf den Tisch, warf einen Blick auf das entstandene Durcheinander und legte dann alles auf einen Berg von losen Blättern und dicken Akten. Dann schaute sie mich an und sagte: «au revoir.» Etwas perplex über die Eile – ich war noch keine dreissig Sekunden bei ihr – zottelte ich ab. Und nun bin ich gewaltig gespannt, ob es mit dem Visum klappt.

Gabriella

Von: Lotti Latrous

Datum: 4. Dezember 2002

An: Gabriella Baumann-von Arx

Betreff: re: pantöffelchen.

liebe gabriella

gut, bist du selbst bei der botschaft vorbeigegangen, so hast du bereits einen kleinen eindruck von afrika bekommen.

es läuft nicht gut im land, wir warten, warten, warten. ich weiss schon bald nicht mehr, worauf. ruhe, frieden, darauf, dass die vor drei (!) monaten verhängte ausgangssperre von sechs uhr abends bis sechs uhr morgens endlich aufgehoben wird, denn die macht uns mürbe. niemand versteht all die sch…, die hier abgeht. aber ändern können wir nichts, wir können nur hoffen, dass bald eine lösung gefunden wird. eine ohne krieg.

lotti

Von: Gabriella Baumann-von Arx

Datum: 6. Dezember 2002

An: Lotti Latrous

Betreff: Re: Re: Pantöffelchen.

Liebe Lotti

Warten – ihr auf Ruhe und Frieden, die Kinder auf den Samichlaus, ich auf Abidjan und dich.

Dass es nicht gut geht, dass ihr im Schlamassel steckt, nicht wisst, wies weitergehen soll, ob Krieg kommt oder nicht – all das berührt mich. Berührt mich mehr als andere schlechte Nachrichten, mehr als der drohende Irak-Krieg, weil ich nun einen direkten Bezug zur Elfenbeinküste habe.

Warten wir.

Gabriella

Von: Lotti Latrous

Datum: 8. Dezember 2002

An: Gabriella Baumann-von Arx

Betreff: nonchalance.

liebe gabriella

in der nähe von zwei grossen städten wurden zwei riesige massengräber entdeckt. rebellen und regierung schieben sich die schuld dafür gegenseitig in die schuhe. nach diesem vorfall haben wir die hoffnung auf frieden aufgegeben, wir sind der schlechten nachrichten müde, möchten, dass der alptraum ein ende hat.

am sonntag ist mir ein fünfzehnjähriger junge unter der hand gestorben, weil sein vater die umgerechnet achtzig schweizer franken für eine operation im öffentlichen krankenhaus nicht auftreiben konnte und die familie zu spät von uns und unserem im notfall kostenlosen ärztlichen angebot hörte.

du musst dir vorstellen, im krankenhaus machte keiner der ärzte auch nur den kleinen finger krumm. im gegenteil, sie nahmen in kauf, dass der junge unter ihren augen – entschuldige – krepierte. der vater kam mit seinem sohn dann aber doch noch zu uns. wie gesagt, zu spät, er starb an einem darmdurchbruch. die ursache dafür? nun, der junge hatte mit kollegen fussball gespielt und dabei einen kick in den bauch bekommen.

stell dir vor: dein sohn, gut und mit aller liebe der erde erzogen, ein junge, auf den du stolz bist, ein wunderbarer junger mensch, der gerne in die schule geht, charmant und offen ist – und du verlierst ihn wegen eines fussballspiels und fehlender achtzig franken. verlierst ihn unter den augen von ärzten!

solche fälle mehren sich hier, die gleichgültigkeit der menschen ist nicht zu fassen, ich hätte wieder einmal morden können! (von wegen mutter teresa!)

heute ist mireille, einundzwanzig jahre jung, an aids gestorben, der vierte tod diese woche. morgen gehe ich mit sechs an aids erkrankten kindern zum kinderarzt. aids grassiert hier wie eine seuche. aber nicht nur aids und andere schlimme krankheiten machen uns zu schaffen. die menschen sind auch am verhungern. manchmal weiss ich nicht, wie ich den tag überstehen soll.

habe ich dir erzählt, dass ich für unsere aidspatienten, die noch arbeiten können, aber arbeitslos sind, da niemand ihnen arbeit geben will, einen gemüsegarten und eine kleine hühnerzucht aufbauen möchte? als ich mit einer bekannten, einer weissen, die im reichen teil der stadt lebt, darüber sprach, fragte sie mich, ob so etwas denn rentieren würde. ohhh, da hatte ich grosse lust, ihr eine hinter die ohren zu kleben. die welt ist komplett verdorben, alles muss rentieren, sonst lässt man es lieber gleich bleiben.

lotti

Von: Gabriella Baumann-von Arx

Datum: 10. Dezember 2002

An: Lotti Latrous

Betreff: Rendite.

Liebe Lotti

Grauenvoll, was du erzählst: von dem Jungen, von Mireille, von Hunger und Aids. Trotzdem musste ich, als ich von der weissen Bekannten las, lachen. Fragt sie dich nach Rendite!

In den Zeitungen lese ich nichts Gutes. Die Elfenbeinküste, schreibt die «Neue Zürcher Zeitung», versinke immer mehr im Morast. Frankreich habe sein Truppenkontingent vergrössert und Fremdenlegionäre geschickt. Und in den Nachrichten habe ich Bilder von Menschen gesehen, die das Land fluchtartig verlassen. Aber was erzähle ich da, schliesslich bist du ja vor Ort, erlebst alles hautnah mit.

Es hat übrigens bestens geklappt, das Visum ist gekommen.

Pass auf dich auf!

Gabriella

Von: Lotti Latrous

Datum: 12. Dezember 2002

An: Gabriella Baumann-von Arx

Betreff: deine nase.

liebe gabriella

danke für deine mail. zeitung zu lesen und nachrichten zu sehen, ist gut, aber um wirklich zu wissen, wie es hier ist, fehlt dir das wichtigste: deine nase. kein bildmaterial, keine texte können dir den gestank vermitteln. den gestank von noch lebenden menschen, die auf dem schlachtfeld (oh pardon, ich wollte sagen, an der front) am verfaulen sind. genau wie meine patienten, die auch erst verwesen müssen, bevor sie sterben dürfen. es fehlt dir das elend, das einen überkommt, wenn man ein sterbendes kind ans herz drückt. auch wenn es das hundertste ist, ich sage dir, es ist jedes mal ein eigener kleiner tod. worte und bilder lassen keine wut im bauch entstehen, keine trauer in der seele, keine frustration, die dir zeigt, wie unendlich klein und ohnmächtig du selbst bist. sie lassen nichts in dir explodieren, weil du nicht miterlebst, wie es der mutter das herz zerreisst. und ein paar hundert meter weiter, im cyber-café der innenstadt, stolziert ein samichlaus herum. erfreut dutzende von privilegierten – weissen und schwarzen – kindern und stimmt mit ihnen das lied: «o tannenbaum» an.

um schreiben zu können, ist es wichtig, dass du alles selbst erlebst, die gerüche, den schmerz, die ungerechtigkeit: alles muss dir unter die haut gehen, und zwar so, dass du dabei fast selbst zu grunde gehst. erst dann kannst du – davon bin ich überzeugt – das ganze elend in worte packen, die berühren.

du machst dir keine vorstellung, was auf dich zukommen wird, du musst dich auf unerträgliches gefasst machen.

ich bereite weihnachten vor, backe guetsli, stell dir vor!, sorge für spielzeug, musik, einen christbaum und einen echten – schwarzen – samichlaus. an weihnachten wird es ein spezielles menü geben und für die kinder im sterbespital ein paar schuhe, auch wenn sie diese nicht mehr lange werden tragen können. zum dessert gibts jogurt und zum trinken coca-cola oder seven-up, die augen werden wieder einmal leuchten.

lotti

Von: Gabriella Baumann-von Arx

Datum: 13. Dezember 2002

An: Lotti Latrous

Betreff: Etwas auslösen.

Liebe Lotti

Ja, ich weiss, es wird einiges auf mich zukommen, es wird alles andere als einfach. Und ich weiss, dass ich mir noch keine Vorstellung machen kann von dem, was dann tatsächlich über mich hereinbrechen wird. Aber ich weiss auch, dass deine Geschichte etwas auslösen kann. Und darauf freue ich mich.

Gabriella

Von: Lotti Latrous

Datum: 15. Dezember 2002

An: Gabriella Baumann-von Arx

Betreff: gewissen.

liebe gabriella

hier ist alles beim alten, zu viele menschen sterben viel zu jung und unter zu grässlichen umständen. aber es gibt auch immer wieder solche, die gerettet werden können, und das ist unsere ganze motivation: zu wissen, dass noch viel mehr menschen ihr leben liessen, wenn wir aufgeben würden. ich habe heute nicht viel zeit zum schreiben, denn es haben sich viele weisse angemeldet, die uns besuchen wollen. an weihnachten erwacht das eine oder andere schlechte gewissen. schade, dass man nicht das ganze jahr über an seine mitmenschen denkt. schade, dass nicht zwölfmal im Jahr weihnachten ist.

lotti

Von: Gabriella Baumann-von Arx

Datum: 18. Dezember 2002

An: Lotti Latrous

Betreff: Zwölfmal Weihnachten?

Liebe Lotti

Zwölfmal Weihnachten im Jahr wäre für uns der totale Irrsinn. Wir würden alle dick und fett, unsere Kinder würden an Verwöhnung ersticken, die alkoholbedingten Unfälle würden rasant steigen, die Familienstreitigkeiten eine noch höhere Scheidungsrate, als wir sie jetzt schon haben, hervorrufen. Der andauernde vorweihnachtliche Stress und die andauernde nachweihnachtliche Erschöpfung würden uns mit der Zeit ganz, ganz klein kriegen. Vielleicht würden wir dann aber auch merken, dass wir – bevor wir zwölfmal im Jahr Weihnachten zu feiern begannen – eigentlich jeden Tag Weihnachten hatten.

Gabriella

Von: Lotti Latrous

Datum: 20. Dezember 2002

An: Gabriella Baumann-von Arx

Betreff: zombie.

liebe gabriella

weihnachten ist unendlich weit weg, hier ist alles ka-ta-strophal! ich bin total übermüdet, müsste einmal ausspannen. nur habe ich das rezept, abstand zu gewinnen, irgendwie verloren. eine weisse freundin sagte mir gestern: «zum glück kommt deine familie an weihnachten nicht, so wie du ausschaust, würdest du ihnen angst machen.» sie meinte, ich sehe aus wie ein zombie. sie hat recht. ich weiss, ich bräuchte dringend etwas distanz, aber jetzt zu gehen, wäre dasselbe wie abzuhauen.

die botschaften haben alle ausländer aufgefordert, das land zu verlassen, die meisten packen ihre ware, viele von ihnen sicherlich schweren herzens, denn eigentlich wäre das leben hier schön.

nein, weggehen und diese süsse frau mit ihren erst zwanzig Jahren allein an aids krepieren lassen, kann ich nicht. ich muss bei ihr bleiben, will auf ihrem bettrand sitzen, ihre hand halten, ihr zuhören, wenn sie singt. sie liebt es zu singen. sie singt: «ich liebe dich, ich liebe dich», streichelt mir mit ihren händen immer wieder übers gesicht und sagt: «weine nicht.» und ich weiss nicht mehr, wer wen tröstet.

schliessen wir das ambulatorium und das sterbespital jetzt – und wenn es nur für kurze zeit wäre –, sterben noch mehr menschen. auch an hunger. du musst wissen, wir verteilen pro monat zweitausendfünfhundert mahlzeiten und vierhundert portionen kinderbreie.

ich bleibe. und damit basta.

lotti

Von: Gabriella Baumann-von Arx

Datum: 22. Dezember 2002

An: Lotti Latrous

Betreff: Ich verstehe.

Liebe Lotti

Ich verstehe, dass du nicht weglaufen magst, weil ich erkannt habe, dass du nicht nur mit deinem Herzen, sondern mit deiner ganzen Seele das tust, was du tun willst und tun musst.

Ich denke viel an dich.

Gabriella

Von: Lotti Latrous

Datum: 24. Dezember 2002

An: Gabriella Baumann-von Arx

Betreff: kein bier.

liebe gabriella

ein arabisches sprichwort lautet: je mehr ich leide, desto nötiger habe ich das lachen. und genau dort liegt mein problem, ich habe hier niemanden mehr, mit dem ich lachen kann. alle sind weg.

was bleibt, ist schmerz, tod, leid und, als ob dies nicht schon genug wäre, grausam lange, einsame nächte. ausgangssperre und keine möglichkeit, in der nächsten kneipe ein bier zu trinken, an all dem gehe ich momentan fast zu grunde.

ich fühle mich fürchterlich egoistisch, weil ich klage und dabei nur an mich denke, verstehst du das? am 26. dezember machen wir im sterbespital ein fest. ich freue mich darauf, wenigstens für ein paar stunden alles vergessen zu können. du feierst bestimmt heute, geniesse es.

lotti

Von: Gabriella Baumann-von Arx

Datum: 25. Dezember 2002

An: Lotti Latrous

Betreff: Nötig.

Liebe Lotti

Du fühlst dich als Egoistin? Weil du von deinen Problemen erzählst? Ich glaube, das Fest morgen brauchst du nötiger als alle anderen!

Gabriella

Von: Lotti Latrous

Datum: 27. Dezember 2002

An: Gabriella Baumann-von Arx

Betreff: vergessen.

liebe gabriella

es ist gut, dass ich geblieben bin. ich hatte ein wunderschönes fest im sterbespital. alle waren am tisch, sogar unser maurice, der den heutigen tag wahrscheinlich nicht überleben wird.

für viele war es das erste mal, dass sie an einem fest teilnahmen. es machte mich glücklich, all die strahlenden augen in den ausgemergelten gesichtern sehen zu dürfen, diese verwunderung darüber, dass sie dabei sein durften, dass für sie weder mühe noch kosten gescheut wurden, dass der tisch für sie gedeckt war.

es gab bier, gebackene ente, foutou – ein afrikanisches gericht – kuchen und jogurt und sogar geschenke: schuhe, tücher und für die muslime gebetsteppiche. und es gab viele, die lachten.

es war ein echtes, ein gutes fest, nichts kommerzielles, nur pure freude und tiefe dankbarkeit.

für ein paar stunden haben wir alles leid vergessen können.

lotti

Von: Gabriella Baumann-von Arx

Datum: 28. Dezember 2002

An: Lotti Latrous

Betreff: Lachen.

Liebe Lotti

Schön, dass du so viel Freude bereiten konntest, wunderschön, dass du dabei so viel Freude zurückbekommen und dein Lachen wieder gefunden hast.

In den Medien erfahre ich von weit greifender Verunsicherung und von grossen Zweifeln, ob sich der Riss durch Land und Bevölkerung wieder kitten lässt. Die Zeitungen berichten in zum Teil seitenlangen Artikeln über die Elfenbeinküste. Das Gebaren des Präsidenten wird als pures Machtmanöver beschrieben.

Gabriella

Von: Lotti Latrous

Datum: 29. Dezember 2002

An: Gabriella Baumann-von Arx

Betreff: verrückt.

liebe gabriella

ja, es geht um macht. die französische armee schützt die wirtschaftsmetropole abidjan und ihre landsleute, die franzosen. frankreich, die einstige kolonialmacht, ist daran interessiert, dass die wirtschaft hier weiter floriert, deshalb werden auch die kakaoplantagen im süden des landes gesichert.

bei mir im elendsviertel geht vorläufig alles irgendwie weiter. ich weiss zwar nicht recht wie, aber wir quälen uns durch. ich habe gehört, dass die amerikaner sich überlegen, bei uns auch noch ein bisschen mitzumischen. das erstaunt mich gar nicht, da die ja sowieso gott auf erden spielen. ich rechne aber nicht wirklich damit, schliesslich gibt der irak ihnen schon genug zu tun.

wir leiden unter dem druck, der hier herrscht, und das verrückte dabei ist, dass man offensichtlich beginnt, sich daran zu gewöhnen.

lotti

Von: Gabriella Baumann-von Arx

Datum: 30. Dezember 2002

An: Lotti Latrous

Betreff: Ver-rückt.

Liebe Lotti

Ja, die Amerikaner! Ich habe heute in der Zeitung einen Bericht über ein Gerichtsverfahren gelesen, das entscheiden soll, ob «McDonald’s» für die Fettsucht von Kindern zur Verantwortung gezogen werden kann. Eines der Opfer, ein vierzehnjähriges Mädchen, soll siebenundsiebzig Kilo wiegen. Wie schwer sind deine Hungernden?

Gabriella

Von: Lotti Latrous

Datum: 31. Dezember 2002

An: Gabriella Baumann-von Arx

Betreff: stolz.

liebe gabriella

zu viel zu essen zu bekommen, ist ebenso tödlich wie zu wenig. bloss weniger schmerzhaft.

die französische armee stellt rund um unseren slum immer neue barrieren auf. sie wollen damit die ausländer in der stadt schützen. in den letzten tagen kam es erneut zu kämpfen zwischen den franzosen und den rebellen. aber das ist nichts gegen das, was im westen des landes, in der stadt man geschehen ist: sie wurde völlig zerstört, man spricht von massengräbern, von über tausend toten. viele unter ihnen sollen zivilisten gewesen sein.

ich weiss nicht, wie das alles noch enden wird, keiner weiss es. ich werde heute nacht im sterbespital mit meinen kranken silvester feiern. es geht allen gut, nur gerade zwei können nicht aufstehen, all die anderen werden das neue jahr beginnen, wie es sich gehört: mit (alkoholfreiem) champagner und mit viel afrikanischem rhythmus.

ich bin glücklich hier, es ist herrlich, dass wir die hoffnung, die freude und das vertrauen in die zukunft trotz allem nicht verloren haben. darauf bin ich stolz. ich wünsche dir einen guten rutsch.

lotti

Von: Gabriella Baumann-von Arx

Datum: 1. Januar 2003

An: Lotti Latrous

Betreff: Wolkenlos.

Liebe Lotti

Danke, ich bin gut gerutscht. Der erste Tag 2003 zeigt sich hier – wettermässig zumindest – von seiner besten Seite. Blauer, klarer Himmel, keine einzige Wolke. Die Sonnenstrahlen verwandeln die weisse Schneedecke in ein Meer von funkelnden Kristallen.

Wie wärs, wenn ich im Januar käme?

Gabriella

Von: Lotti Latrous

Datum: 3. Januar 2003

An: Gabriella Baumann-von Arx

Betreff: re: wolkenlos.

liebe gabriella

nur schon die aussicht, dass du bald kommst, macht mir mut. komm einfach, wann immer du willst, jetzt, wo du dich entschieden hast, musst du einfach kommen. denn diese blöde situation kann noch sehr lange dauern. du musst jedoch wissen, dass ich für nichts garantieren kann. nur das: sollte es brenzlig werden, flüchten wir nach ghana!

an silvester wurde die ausgangssperre bis mitternacht aufgehoben. das war vielleicht ein fest! endlich wieder einmal hinaus auf den nachtmarkt, ein bier trinken, lachen, feiern. ich ging dann aber doch bereits um zehn uhr wieder ins spital, um mit den patienten falschen champagner zu trinken und chips zu knabbern. viele haben vor lauter rührung geweint.

heute ist ein neuer tag, einer, der wolken trägt, auch wenn man sie am himmel nicht sieht. ich habe heute eine 25-jährige frau vom boden ihrer hütte aufgelesen. man hat mir gesagt, sie liege schon seit einem monat dort. ihre angehörigen hatten angst, sie ins spital zu bringen, weil sie eine behandlung nicht bezahlen können.

viele haben noch immer nicht begriffen, dass bei uns – im notfall und bei zahlungsunfähigkeit – alles gratis ist.

die frau ist, ich kann es nicht anders sagen, halb verfault und schreit vor schmerzen. ich bin sicher, sie wird heute noch sterben. jetzt wenigstens in einem sauberen bett. ich freue mich auf dich!

lotti

Von: Gabriella Baumann-von Arx

Datum: 6. Januar 2003

An: Lotti Latrous

Betreff: Bammel.

Liebe Lotti

Was du schreibst von all dem Elend, von der Frau, die am Boden verfault, macht mir – das gebe ich zu – Angst. Ja, ich habe den Bammel davor, das Unerträgliche ertragen zu müssen.

Gabriella

Von: Lotti Latrous

Datum: 10. Januar 2003

An: Gabriella Baumann-von Arx

Betreff: keine garantie.

liebe gabriella

für den 15. januar sind verhandlungen in paris angekündigt. offenbar wollen sich die verschiedenen parteien an einen tisch setzen. falls diese verhandlungen platzen, kann ich hier für nichts mehr garantieren.

lotti

Von: Gabriella Baumann-von Arx

Datum: 14. Januar 2003

An: Lotti Latrous

Betreff: Warten – abermals.

Liebe Lotti

Ich werde das Resultat der Verhandlungen abwarten. Sind sie erfolgreich, werde ich mich am darauf folgenden Tag in das Flugzeug setzen. Das Reisebüro hat mir versichert, dass die Flüge nach Abidjan nicht ausgebucht sind.

Gabriella

Von: Lotti Latrous

Datum: 23. Januar 2003

An: Gabriella Baumann-von Arx

Betreff: konsens.

liebe gabriella

offenbar hat man einen konsens gefunden! präsident gbagbo, der in paris weilt, muss den vertrag nur noch unterzeichnen! lies die zeitung, melde dich!

lotti

Von: Gabriella Baumann-von Arx

Datum: 24. Januar 2003

An: Lotti Latrous

Betreff: Also dann.

Liebe Lotti

Morgen, Samstag, so heisst es in den Zeitungen hier, soll Gbagbo den aus dem Norden stammenden Seydou Diarra zum Premierminister ernennen. Bleibt die Frage, ob der Präsident tatsächlich gewillt ist, seine Macht künftig zu teilen, und ob er letztlich unterschreiben wird? Laut den Zeitungsberichten bleibt ihm keine andere Wahl, Frankreich scheint Druck zu machen. Ich habe den Flug gebucht und werde in drei Tagen, am Montag, dem 27. Januar 2003, um 7.40 Uhr, landen. Der Flug – mit Air France – geht über Paris nach Abidjan. Retour gehts dann am 6. Februar, um 10.20 Uhr. Aber von der Rückreise wollen wir jetzt noch gar nicht reden.

Kannst du mich abholen? Was für eine Währung soll ich mitnehmen? Und – was kann ich als Geschenk mitbringen?

Gabriella

Von: Lotti Latrous

Datum: 25. Januar 2003

An: Gabriella Baumann-von Arx

Betreff: bis bald!

liebe gabriella

gbagbo hat unterschrieben! wir feiern, geniessen den tag, alle sind erleichtert. frieden, endlich! ich hoffe, er hält.

natürlich hole ich dich ab! geh einfach durch die passkontrolle, ich werde dort sein.

euros sind hier leicht zu wechseln, aber bring nicht zu viel geld mit, du wirst hier praktisch keines ausgeben können, da du mit mir im slum leben wirst. das frühstück wird dich fünfzig rappen kosten und ein omelett mit brot einen franken. fünfzig rappen kosten auch die spaghetti mit nierchen. ob du die wohl runterkriegst?

ich habe mir deine frage nach geschenken wiederholt durch den kopf gehen lassen, mir kam nichts in den sinn. die einzig richtige antwort lautet denn auch: ich brauche nichts. ich bin restlos glücklich, also bring nichts ausser einem spray gegen die mücken und deine tabletten gegen die malaria mit.

dies wird die letzte mail sein, bevor ich dich sehe. ich werde auch keine mehr von dir lesen können, da ich vor deiner ankunft nicht mehr im cyber-café vorbeikommen werde, von wo aus ich die ganze zeit mit dir in verbindung stand. so, ich muss jetzt gehen. es ist immer noch ausgangssperre!

ich werde dich also am montagmorgen in aller frühe am airport abholen und mich dann, mit dir zusammen, in die arbeit stürzen. du wirst bald erkennen, wie arbeitssüchtig ich bin, abgesehen davon ist der montag der intensivste tag für mich, da alle «sozialfälle» kommen. ausruhen kommt für dich also nicht in frage! ich hoffe, du bist eine von denen, die im flugzeug schlafen können.

lotti

 

Und erstens kommt es anders …

 

Sonntag, 26. Januar 2003

Meine Tasche ist schnell gepackt. Zwei Paar Jeans, zehn weisse T-Shirts, Turnschuhe, ein mit Insektizid vorbehandeltes Moskitonetz, Medikamente, Laptop, Tonband, Schreibunterlagen. Bevor mich mein Mann und unsere beiden Kinder an den Flughafen bringen, überprüfe ich nochmals die Handtasche: Pass mit Visum, vierhundert Euro, Ticket, Buch, alles dabei. Endlich – es kann losgehen. Dank eines Zeitungsberichts über den positiven Verlauf der Verhandlungen ist meine Familie nicht mehr ganz so vehement gegen mein Unterfangen. Alles ist gut.

Dann stehe ich vor dem Check-in-Schalter, zücke mein Ticket. Die Groundhostess macht grosse Augen, meint: «Nach Abidjan wollen Sie?», erwartet allerdings keine Antwort, sondern spricht gleich weiter: «Heute fliegen wir nicht! Wenden Sie sich bitte an den Informationsschalter der Air France.»

Dort sagt man mir, es habe in Abidjan schwerste Ausschreitungen gegeben. Air France fliege frühestens am Mittwoch wieder. Versprechen könne man mir dies allerdings nicht.

Wieder zu Hause und ziemlich enttäuscht, telefoniere ich mit Lotti. Ihre Stimme, die ich zum ersten Mal höre, ist klar, warm und fröhlich. Als sie meine vernimmt, meint sie: «Schön, dich zu hören, schön, dass du nicht Berndeutsch sprichst, das wäre mir zu langsam gewesen.»

Wir lachen, auch weil wir spüren, dass wir uns nicht nur schriftlich gut verstehen. Dann sage ich, ich käme morgen nicht. Lotti weiss es, weiss, dass der Flughafen in Abidjan geschlossen wurde, weil präsidententreue Demonstranten im Stadtzentrum gegen französische Einrichtungen randalieren. Sie werfen Frankreich vor, zu grossen Druck auf Gbagbo ausgeübt, ihn quasi zur Unterschrift gezwungen zu haben. «Die Hoffnung auf Ruhe und Frieden ist», erzählt Lotti, «geplatzt wie eine Seifenblase. Was bleibt, ist Angst. Aber mach dir keine Sorgen um mich. In den Slums ist es vorläufig noch ruhig.»

Auf meine Frage, ob ich am Mittwoch kommen solle, rät sie mir, weiterhin Zeitungen zu lesen und von Tag zu Tag zu entscheiden. Sie könne unmöglich sagen, was hier noch abgehen werde. «Was ich aber sicher weiss, ist, dass ich in den nächsten Tagen den Slum nicht verlasse und nicht am Cyber-Café vorbeikomme. Maile nicht, telefoniere.»

Montag, 27. Januar 2003

Ich lese Zeitungen und bin nicht mehr frustriert, dass ich nicht fliegen konnte, sondern unendlich froh, daheim zu sein. Der «Tages-Anzeiger» schreibt:

«Die von Frankreich vermittelte Einigung auf ein Friedensabkommen für die Elfenbeinküste hat schwere Unruhen in Abidjan ausgelöst. In der Wirtscbaftsmetropole protestierten am Sonntag mehrere Tausend Menschen gegen die Übereinkunft, die nach ihrer Ansicht den Rebellen im Norden und Westen des Landes zu weit entgegenkommt. Die Anhänger von Präsident Laurent Gbagbo warfen der Regierung in Paris vor, mit dem Friedensplan ein Pulverfass aufgemacht zu haben. Zentrum der Ausschreitungen war die französische Botschaft. Dort kam es zu Explosionen. Französische Soldaten setzten Wasserwerfer und Tränengas gegen die aufgebrachte Menge ein. Französische Geschäfte wurden geplündert, französische Schulen gestürmt. Von Paris aus rief Gbagbo die Bevölkerung zur Ruhe auf.»

Donnerstag, 30. Januar 2003

Die Medien berichten von anhaltenden Unruhen in der Wirtschaftsmetropole Abidjan. Davon, dass die Armee der Elfenbeinküste den in Paris abgeschlossenen Friedensvertrag mit den Rebellen im Norden des Landes ablehnt und dass Augenzeugen von zahlreichen Leichen in den Strassen und von brennenden Moscheen und Kirchen sprechen. Die ehemalige Kolonialmacht Frankreich trifft Vorbereitungen zur Evakuierung ihrer Staatsbürger. Bereits sind fast zweihundertfünfzig Menschen, vor allem Frauen und Kinder, nach Frankreich oder ins Nachbarland Ghana gebracht worden.

Immer wieder versuche ich, mit Lotti telefonischen Kontakt aufzunehmen. Erfolglos.

Sonntag, 2. Februar 2003

Endlich! Ich erreiche sie. Lotti tönt gut, was sie erzählt, ist alles andere.

Die grossen Firmen, auch Nestlé, haben ihre Fabriken geschlossen, die Situation wird von Tag zu Tag prekärer. Die Slums seien, meint sie, für die Randalierenden aber nach wie vor von keinem Interesse. Und weiter: «Falls sich dies ändert und ich – als einzige Weisse im Quartier – um mein Leben fürchten muss, habe ich mit meinen Mitarbeitern im Spital ausgemacht, dass ich mich im Notfall in die Leichenhalle begebe und sie mich dort mit einem weissen Tuch zudecken.»

Die Gänsehaut, die meinen Rücken überzieht, beweist mir, wie nah mir Lotti in den letzten Monaten gekommen ist.

Die Situation wird für sie von Tag zu Tag bedrohlicher. Bald hat sie kein Benzin mehr im Auto und muss ihren «sicheren Hafen» wohl oder übel verlassen, um im Zentrum zu tanken. Vier junge Männer haben sich dazu anerboten, sie als Bodyguards zu begleiten. Ihr grösstes Problem ist das Auftreiben von Nahrung. Die Preise sind explodiert, inzwischen ist fast nichts mehr zu bekommen.

Auch fehlen, nun wo die Fabriken ihre Türen geschlossen haben, die Gratislieferungen – der Lebensmittelvorrat für Ambulatorium und Sterbespital reicht nur noch für ein paar Tage. Zwar hat Lotti noch Geld, aber das schmilzt wie Schnee in der Sonne, nicht nur wegen der exorbitanten Preise, sondern auch weil die Spender, die bis anhin so grosszügig gewesen sind, nun damit rechnen, dass ihre Gelder gar nicht mehr an den richtigen Ort gelangen, und die Spenden einstellen, was Lotti versteht.

Als ob dies nicht genug wäre, fordert die Ausgangssperre nach wie vor ihren Tribut. Viele sterben, weil im Slum niemand ein Telefon hat, um im Notfall die Polizei kommen zu lassen, die die Patienten ins Spital bringt. Komplizierte Geburten während der Nacht enden oft tödlich. «Haben wir einen Notfall, kann ich zwar telefonieren, bekomme dann aber oft zu hören, man hole niemanden ab, das Benzin sei ausgegangen. Das ändert sich allerdings schnell, wenn ich Schmiergeld in Aussicht stelle. Trotzdem ist letzte Nacht ein Asthmatiker gestorben.»

Wenn ich mir schon solche Sorgen um Lotti mache, wie gross müssen dann erst die ihrer Familie sein? Ich muss die Frage nicht aussprechen, Lotti hat sie gespürt: «Mein Mann hat mich gestern dazu aufgefordert, Abidjan zu verlassen. Ich habe ihn beruhigen können, habe ihm versprochen, nichts zu riskieren. Gestern hat mir eine Freundin, eine Weisse, gesagt, sie habe vier Ausreisetickets für Mittwoch organisieren können und würde mir eines schenken, falls ich mitkommen wolle.»

Trotz allem lacht Lotti am Telefon immer wieder, ist kommunikativ, herzlich und widerspricht aufs Vehementeste, als ich philosophiere, dass, wenn sie das Land verlässt, auch das Glück die Armen verlasse. Sie erzählt dann aber doch, dass die Menschen ihr sagen, sie müsse sich keine Sorgen machen, sie sei von Gott geschickt und er würde sie beschützen.

Als ich endlich aufhänge, habe ich zwar die Gewissheit, dass es Lotti den Umständen entsprechend gut geht, nicht aber die Gewissheit, dass es dort unten bald Frieden geben wird. Im Gegenteil. Wir verbleiben so, dass wir unser Vorhaben verschieben, wenn es sein muss um Monate. Die Hoffnung, dass ich den Ort, wo sie lebt und arbeitet, irgendwann mit all meinen Sinnen erleben werde, hat sie – trotz allem – nicht aufgegeben. Mir bleibt die Hoffnung, dass dies tatsächlich so ist.

Donnerstag, 27. März 2003

Ich telefoniere abermals, will einfach wissen, wie es ihr geht. Sie erzählt, sie habe ein neues Projekt. Ein Mütter- und Kinderheim, denn: «Es geht nicht mehr an, dass Kinder von schwer aidskranken Müttern ganze Wochen in einem Sterbespital verbringen müssen.»

Nach wie vor ist alles chaotisch, die Ausgangssperre gilt immer noch. Die Lage, meint Lotti, habe sich aber beruhigt: «Nimm jetzt einfach all deinen Mut zusammen und komme! Komme einfach.»

Ich antworte ihr, dass ich momentan noch an einem anderen Buchprojekt arbeite und eine Reise vor Juni nicht möglich sei. «Juni ist gut! Aber komm erst nach dem vierten. Vom 25. Mai bis zum 4. Juni bin ich bei meiner Familie in Kairo, um den vierzehnten Geburtstag von Sarah, unserer Jüngsten, zu feiern.»

Donnerstag, 5. Juni 2003

Ich unterbreche die zweimonatige Funkstille, telefoniere, frage, wie es in Kairo war, und bekomme die Antwort: «Wundervoll.» Ein zweites «Wundervoll» erhalte ich auf meine Ankündigung, ich würde in acht Tagen reisen. «Das ist gut, sehr gut. Du kommst im richtigen Moment, die Ausgangssperre ist seit dem 10. Mai aufgehoben. Wir können sogar zusammen auf den Nachtmarkt gehen und ein afrikanisches Bier geniessen!» Lotti tönt gut. Ihre Stimme verblüfft mich in ihrer klaren, hellen, sprudelnden Art immer wieder. Sie rät mir noch, Gummistiefel mitzubringen, es sei Regenzeit.

Ich buche den Flug, beantrage zum zweiten Mal ein Visum und öffne im Internet die Seite des Eidgenössischen Amtes für auswärtige Angelegenheiten (EDA), auf welcher ich unter Reisehinweise Folgendes lese:

«Am 19.09.2002 versuchten abtrünnige Militäreinheiten die Regierung zu stürzen. Der Aufstand ist in einen Bürgerkrieg ausgeartet, der das Land grundlegend destabilisiert hat. Die nördlichen und östlichen Landesteile werden von Rebellengruppen, der Süden von Regierungstruppen kontrolliert. Trotz der Unterzeichnung eines Friedensabkommens im Januar 2003 bleibt die Lage unübersichtlich. Die Sicherheit ist nicht gewährleistet.

Aus diesen Gründen wird weiterhin von Reisen an die Elfenbeinküste abgeraten.

Dringend notwendige Reisen nach Abidjan können, unter Beachtung der folgenden Vorsichtsmassnahmen, unternommen werden:

–  Klären Sie vorgängig die Sicherheitslage mit Ihren lokalen, vertrauenswürdigen Kontaktpersonen ab und befolgen Sie unbedingt deren Empfehlungen.

–  Beschränken Sie Ihren Aufenthalt auf Abidjan und auf das absolute Minimum.

–  Befolgen Sie die Anweisungen der Sicherheitskräfte (Personenkontrollen, allfällige Ausgangssperren etc.).

–  Meiden Sie grössere Menschenansammlungen und Kundgebungen jeder Art.

–  Informieren Sie die Schweizerische Botschaft in Abidjan über Ihren Aufenthalt (Personalien, Kontaktadressen, Aufenthaltsdauer).

Die medizinische Versorgung ist nicht in jedem Fall gewährleistet. Für die Behandlung von ernsthaften Erkrankungen und Verletzungen empfiehlt sich die Rückkehr in die Schweiz.

Eigenes Verbandsmaterial und Wegwerfspritzen können sich als nützlich erweisen. Wenn Sie auf bestimmte Medikamente angewiesen sind, sollte Ihre Reiseapotheke einen ausreichenden Vorrat enthalten. Bedenken Sie jedoch, dass in vielen Ländern für die Mitnahme von betäubungsmittelhaltigen Medikamenten und psychotropen Substanzen besondere Vorschriften zu beachten sind. Erkundigen Sie sich gegebenenfalls vor der Abreise direkt bei der Botschaft von Côte d’Ivoire in Bern und konsultieren Sie die Rubrik nützliche Links, wo Sie unter anderem weitere Informationen zu diesem Thema sowie generell zur Reisemedizin finden.

Neben verschiedenen (Tropen-)Krankheiten kommen auch Cholera und Tuberkulose vor.»

 

Tagebuch einer Begegnung

 

Freitag, 13. Juni 2003

Ein Freitag, der dreizehnte, ausgerechnet! Trotzdem ist das Flugzeug voll. Ich muss sogar froh sein, einen freien Platz bekommen zu haben. An allen andern Tagen waren die Flüge ausgebucht. Anscheinend fliegt man wieder nach Abidjan. Und zwar – seit die Ausgangssperre aufgehoben wurde – nicht mehr nachts, sondern so wie vor dem Putsch im letzten Jahr, am Tag. Deshalb checke ich diesmal nicht am Abend ein, sondern am Morgen. Das Check-in verläuft ohne Probleme, der Flug nach Paris, wo ich umsteige, auch. Im Transit noch einmal das Handy gezückt und nach Hause telefoniert – denkste! Mein Handy meldet: «Servicestelle kontaktieren». Trotz mehrmaligem An- und Abschalten und Nummer-um-Nummer-Eingeben gelingt es mir nicht, diesem unmöglichen Ding auch nur einen einzigen Telefonanruf abzuringen.

Als ich mich endlich dazu entschliesse, von einem öffentlichen Telefon aus zu Hause anzurufen, um zu melden, man könne mich die nächsten Tage nun doch nicht erreichen, wird der Flug Air France 702 von Paris nach Abidjan auch schon geboardet. Also lasse ich das Telefonieren bleiben und stelle mich in die Schlange.

Das Reisebüro hat mir einen Fensterplatz reserviert – der Sitz gleich daneben ist bereits besetzt. Von einem sympathischen Herrn um die fünfzig. Er steht auf und hilft mir, den Laptop zu verstauen. Nachdem er sich wieder gesetzt hat, meint er: «Falls der Flieger nicht ganz voll wird, werde ich mich verziehen, damit Sie mehr Platz und Ihre Ruhe haben.» Ich sage, ich hätte die Ruhe im Moment sowieso nicht, da mein Handy den Geist aufgegeben und ich meine Familie nicht mehr erreicht habe. Daraufhin zückt er seines. Ich teile zu Hause mit, man müsse die nächsten zehn Tage ohne telefonische Verbindung auskommen, was Kinder und Mann alles andere als toll finden. Ich, ehrlich gesagt, auch nicht. Mit einer gekappten Nabelschnur zur «Homebase» in ein Krisengebiet fliegen zu müssen, ist nicht das, was ich mir vorgestellt habe.

Mein Sitznachbar, das stellt sich im Verlauf des Flugs heraus, hat vier Töchter und wohnt im Libanon. Rund alle vier Wochen fliegt er für drei Tage nach Abidjan, um in seiner Importfirma, er handelt vor allem mit Reis, nach dem Rechten zu sehen. Er bestätigt, was das EDA geschrieben hat, nämlich, dass die nördlichen und östlichen Landesteile von Rebellengruppen, der Süden von Regierungstruppen kontrolliert werden. In Abidjan selbst, meint er, herrsche Ruhe, es sei allerdings eine, die gefährlich an die sprichwörtliche vor dem Sturm erinnere. Er rät mir, mich so schnell wie möglich mit einem neuen Handy auszustatten, und gibt mir, kurz bevor wir landen, seine Nummer, für alle Fälle. Lotti kennt er nicht.

Nach der Landung begleitet er mich durch die Passkontrolle, erklärt, was ich wo zeigen muss (Pass, Gelbfieberimpfausweis, Einreisepapiere). Er scheint die Offiziellen der Flughafenpolizei alle persönlich zu kennen. Am Gepäckförderband verabschiedet er sich mit den Worten: «Ich habe kein Gepäck, wenn Sie aber wünschen, warte ich mit Ihnen auf das Ihre und begleite Sie dann hinaus, um ganz sicher zu sein, dass diese Frau Latrous Sie auch wirklich abholt.» Ich winke ab, sage, ich sei sicher, dass ich abgeholt würde, bedanke mich herzlich für die Hilfe und sage Adieu. Dann warte ich zwanzig Minuten auf meine Tasche, sichte sie, hieve sie vom Förderband, gehe durch den Zoll, muss sie öffnen. Zwei, drei prüfende Griffe des Zollbeamten in ihr Innenleben, schon kann ich den Reissverschluss wieder zuziehen. Ich packe die Tasche auf einen Gepäckwagen, hole tief Luft und gehe durch die Tür in die Ankunftshalle. Endlich! Abidjan! Und – weit und breit keine Lotti.

Sie hat mir noch gemailt, ich würde sie vom Fernsehen her ja sofort erkennen. Sollte dies nicht der Fall sein, dann müsse ich nach einer weissen Frau suchen, die unter ihrem Bastrock Wollstrümpfe trage, da es wegen der Regenzeit kalt sei. «Nur rund dreissig Grad!» Im Übrigen trage sie einen Knochen in der Nase und werde auf einer afrikanischen Trommel nicht nur einen Wirbel schlagen, sondern gleich noch einen Freudentanz aufführen und dazu «Tam tam hou hou ha ha. Bal bal do do hou hou ha ha» singen. Laut.

Ohne Zweifel, die Frau hat Humor, und ich hätte gerne über ihren Freudentanz gelacht, aber – sie ist nicht da! Ich suche jedes weisse Gesicht ab, es gibt nicht viele davon, lese die paar Schilder mit Namen, die hochgehalten werden. Vielleicht hat sie ja nicht kommen können und jemand anderen geschickt. Aber ich sehe nichts, was mich betreffen könnte. Ich tigere hin und her und werde schon nach dreissig Sekunden von einem jungen Mann angesprochen, der sich anerbietet, meinen Gepäckwagen zu stossen. Es vergeht sicher eine volle Minute, bis er mir glaubt, dass ich keine Hilfe brauche. Keine Hilfe? Kein Handy! Wo ist Lotti? Da!

Dort kommt sie durch die Haupttür gestürmt. Übers ganze Gesicht strahlend. In Jeans, weissem Kittel und Turnschuhen. Mit blondem Haar und grossen blauen Augen. Erleichtert gehe ich auf sie zu, sie lacht, fragt: «Bist du es wirklich?», umarmt mich. Nach einer kurzen Unsicherheit, ob das jetzt schon angebracht ist oder nicht, küssen wir uns links und rechts und nochmals links.

War es im Flughafen noch klimatisiert kühl, empfängt mich jetzt eine feuchte, schwüle Hitze. Lotti führt mich zu ihrem Geländewagen, schliesst die Türen auf, lässt mich einsteigen, fragt, ob ich müde sei.

Nein, ich bin nicht müde, im Gegenteil, ich verspüre Unternehmungslust. Ich möchte sehen, wo sie lebt, und ein Bier mit ihr trinken. Lotti fährt los. Als wir auf der Hauptstrasse sind, staune ich über ihren Fahrstil, «real african», fährt sie mehr mit der Hupe als mit der Bremse. Aber – und das wird schnell klar – sie hat die Sache im Griff.

Wir passieren die ersten Slums. Holzhütte an Holzhütte, dazwischen mal eine aus Beton, und am Strassenrand kleine Imbissbuden, die Reis und Fisch anbieten. Ab und an wird die hereinbrechende Dämmerung durch ein loderndes Feuer aufgehellt, auf welchem Hühnchen gegrillt werden. Überall Rhythmus, laute Musik und unzählige Menschen. Trotz der offensichtlich herrschenden Armut ist die Stimmung gut. Lotti sagt: «Der Reichtum der Armen ist das Lachen und die Liebe.»

Nach gut zehn Minuten biegt Lotti nach links ab, sagt: «Adjouffou, mein Zuhause.» Mit dem, was jetzt kommt, habe ich nicht gerechnet. Eine zirka drei Meter breite Sandstrasse, die zwischen armseligen Marktständen geradeaus führt. Die Schlaglöcher sind immens, es schüttelt mich ordentlich durch, hebt mich aus dem Sitz, staucht mich wieder zusammen. Paris – Dakar muss gegen das hier ein Kinderspiel sein. Dass ich nicht seekrank werde, ist einzig dem Umstand zu verdanken, dass ich aus dem Staunen nicht herauskomme.

Menschen, überall Menschen. In Autowracks sitzende Jugendliche, Mütter mit auf den Rücken gebundenen Babys an ihren Marktständen, Männer in behelfsmässig eingerichteten Restaurants. Und Kinder, überall Kinder. In kurzen Hosen, durchlöcherten T-Shirts und ohne Schuhe bewegen sie sich zur aus schlechten Lautsprechern plärrenden Musik, so weich und geschmeidig, anmutig und rhythmisch, wie dies nur afrikanische Kinder können. Als sie den Geländewagen von Lotti sehen, brechen sie ihren Tanz ab, laufen neben dem langsam fahrenden Auto her und rufen laut und froh: «Lotti! Lotti! Lotti!»

Nach etwa hundert Metern meint Lotti: «Da rechts, bei dem orangen Eisentor, ist das Ambulatorium, dort wirst du wohnen. Willst du es dir kurz ansehen, oder sollen wir zuerst ins Sterbespital, um Hallo zu sagen?» Ich entscheide mich fürs Hallosagen, und so geht es fünfzig Meter geradeaus. Dann biegen wir nach rechts ab, und Lotti überfährt um ein Haar drei sehr empört gackernde Hühner. Kurz darauf meint sie: «So, angekommen!»

Wir steigen aus, ich greife nach meiner Handtasche, aber Lotti meint: «Lass nur alles drinnen, ich schliesse ab.» Und so lasse ich alles im Auto: Geld, Pass, Rückflugticket, meine Tabletten für die Malariaprophylaxe, alles!

Einen kurzen Moment noch überlege ich, ob ich die Handtasche nicht doch mitnehmen soll, erinnere mich dann aber an den wunderbaren Satz aus dem Reisehinweis des EDA, den ich vor dem Abflug im Internet las: «Klären Sie vorgängig die Sicherheitslage mit Ihren lokalen, vertrauenswürdigen Kontaktpersonen ab und befolgen Sie unbedingt deren Empfehlungen.» Also lasse ich, wie von meiner sehr vertrauenswürdigen Kontaktperson empfohlen, alles drin.

Wir gehen durch ein grosses braunes Tor. Ich betrete einen offenen Raum, von dem u-förmig Zimmer weggehen. Die Atmosphäre ist so friedvoll, dass ich unwillkürlich ganz leise «bonsoir» sage, als mich Lotti den ersten Patienten vorstellt. Es sind Arlette, deren dreijährige Tochter Osé und ihr acht Monate alter Sohn Hermas, den Lotti «ma petite crevette», meine kleine Crevette, nennt, da Hermas so abgemagert ist, dass die Haut über den Gelenken zarte Falten wirft, was bei einem acht Monate alten Kind unendlich traurig aussieht.

Arlette und ihre beiden Kinder sind nicht krank, sondern auf der Flucht. Sie haben durch den Krieg alles verloren. Arlettes Mann ist verschwunden, und als sie mit den Kindern in Abidjan ankam, hatte sie nichts mehr, ausser dem guten Tipp, sie solle sich doch bei Lotti melden. Lotti, so sagte man ihr, habe ein grosses Herz. Und Lotti mit ihrem grossen Herzen nahm Arlette und die beiden Kinder auf, legte ihnen neben der Küche eine Matratze auf den Boden und meinte: «In gut sechs Monaten werde ich ein Heim für Mütter und ihre Kinder gebaut haben, bis dahin könnt ihr hier bleiben.» Und so blieben sie. Kamen von einer Minute zur anderen von der Strasse in ein Königreich, wo es umsonst zu essen gibt und sie sich waschen konnten. Ein Königreich, wo Arlette Freundinnen fand und Osé und Hermas Spielkameraden und wo sie endlich ruhig schlafen und abends gar fernsehen können. Arlette strahlt eine tiefe Dankbarkeit und Zufriedenheit aus.