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Dort, wo anderen schon vom bloßen Zuschauen elend wird, fühlte sich Ueli Steck zu Hause. Dort, wo es für Nichtalpinisten nur ein Abwärts gibt, zog es ihn nach oben. Und dies am liebsten ohne Seil, im Alleingang und mit nicht nachvollziehbarer Geschwindigkeit. Ueli Steck war ein alpiner Zehnkämpfer, der nicht nur am Fels in unseren Alpen, sondern auch im Himalaja, in Eis und Schnee und dünner Luft höchst erfolgreich war. 2005, nach seinen Erfolgen an den Wendenstöcken und seinem erfolgreichen sogenannten Khumbu- Express, fragte ihn die Autorin Gabriella Baumann-von Arx an, ob er an einem Buchprojekt interessiert sei. Nach kurzem Zögern sagte er zu und erklärte ihr in langen Gesprächen, was ihn antrieb. Er nahm sich aber auch Zeit, der Nichtalpinistin seine Welt zu zeigen, und führte sie an den Einstieg der Eiger-Nordwand. Um zu erfahren, was Ueli Steck ihr in seiner Bescheidenheit nicht erzählen wollte, führte die Autorin auch ausführliche Gespräche mit zweien seiner Freunde. Mit dem Arzt und Bergsteiger Oswald Oelz und mit dem Fotografen, Bergführer und Kletterer Robert Bösch, der Ueli Steck seit seinen Anfängen fotografisch begleitete und von dem auch die eindrücklichen Bilder in "Solo" stammen. Am Schluss des Buches wird klar: Ueli Steck hat sein Leben geliebt - und es gerade deshalb so intensiv gelebt.
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Seitenzahl: 244
Alle Rechte vorbehalten, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe
© Wörterseh, Gockhausen
Neuauflage als Klappenbroschur 1. Auflage 2017 Die Originalausgabe (vergriffen) erschien 2006 als Hardcover mit Schutzumschlag
Lektorat: Claudia Bislin, Zürich, ausgenommen Seiten 84 (oben) bis 88 (Mitte): Karin Steinbach Tarnutzer, St. Gallen Korrektorat: Andrea Leuthold, Zürich Fotos Umschlag: Robert Bösch Fotos Bildteil: Robert Bösch (Fotos Himalaja: Ueli Steck; Route Eiger-Nordwand: Schweizer Illustrierte / Nigel Simmonds)Umschlaggestaltung: Thomas Jarzina, Holzkirchen Layout, Satz und herstellerische Betreuung: Beate Simson, Pfaffenhofen a. d. Roth Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm
Print ISBN 978-3-03763-310-6 E-Book ISBN 978-3-03763-510-0
www.woerterseh.ch
Ich finde, es gibt Träume, die es wert sind, etwas zu wagen. Und ich finde, das Leben ist ein Traum.
Ueli Steck
Über das Buch
Über die Autorin und den Fotografen
Vorwort zur Neuauflage
Excalibur
The Young Spider
Khumbu-Express
Bildteil
Kurzbiografie Ueli Steck
Interviewte Personen
Glossar
Literatur
In dieser Neuauflage wurden zwei Stellen der Originalausgabe erweitert. Bei der ersten geht es um die Speed-Rekorde am Eiger, bei der zweiten um die bis Frühling 2017 an diesem Berg abgestürzten Bergsteiger. Neu hinzugekommen ist auch eine Kurzbiografie zu Ueli Steck.
Alle Erfolge von Ueli Steck finden sich auf seiner Website: www.uelisteck.ch
Dort, wo anderen schon vom bloßen Zuschauen elend wird, fühlte sich Ueli Steck zu Hause. Dort, wo es für Nichtalpinisten nur ein Abwärts gibt, zog es ihn nach oben. Und dies am liebsten ohne Seil, im Alleingang und mit nicht nachvollziehbarer Geschwindigkeit. Ueli Steck war ein alpiner Zehnkämpfer, der nicht nur am Fels in unseren Alpen, sondern auch im Himalaja, in Eis und Schnee und dünner Luft höchst erfolgreich war. 2005, nach seinen Erfolgen an den Wendenstöcken und seinem erfolgreichen sogenannten Khumbu-Express, fragte ihn die Autorin Gabriella Baumann-von Arx an, ob er an einem Buchprojekt interessiert sei. Nach kurzem Zögern sagte er zu und erklärte ihr in langen Gesprächen, was ihn antrieb. Er nahm sich aber auch Zeit, der Nichtalpinistin seine Welt zu zeigen, und führte sie an den Einstieg der Eiger-Nordwand. Um zu erfahren, was Ueli Steck ihr in seiner Bescheidenheit nicht erzählen wollte, führte die Autorin auch ausführliche Gespräche mit zweien seiner Freunde. Mit dem Arzt und Bergsteiger Oswald Oelz und mit dem Fotografen, Bergführer und Kletterer Robert Bösch, der Ueli Steck seit seinen Anfängen fotografisch begleitete und von dem auch die eindrücklichen Bilder in »Solo« stammen. Am Schluss des Buches wird klar: Ueli Steck hat sein Leben geliebt – und es gerade deshalb so intensiv gelebt.
Outdoorshopper.net
Reinhold Messner
GABRIELLABAUMANN-VON ARX schrieb für Evelyne Binsack, die erste Schweizerin auf dem Everest, 2002 das Buch »Schritte an der Grenze«. Ein Jahr später verfasste sie »Lotti, la Blanche«, eine Biografie über Lotti Latrous, die an der Elfenbeinküste ein Hilfswerk eröffnet hatte und später zur Schweizerin des Jahres gewählt wurde. 2004 gründete die Autorin den Wörterseh-Verlag, in dem sie ihr zweites Buch über Lotti Latrous, »Madame Lotti«, und drei Jahre später auch noch das dritte, »Lotti Latrous«, verlegte. 2006 schrieb und verlegte sie mit »Solo – Der Alleingänger Ueli Steck« eine Nahaufnahme über den damals knapp dreißigjährigen Ausnahmeathleten. Heute konzentriert sie sich nur noch aufs Verlegen.
ROBERTBÖSCH, Bergführer, dipl. Geograf und seit über dreißig Jahren freischaffender Berufsfotograf, ist Autor vieler Bildbände. Mit dem Buch »Bergsteigen – Verlockung des Ungewissen« gewann er den Internationalen Bergbuchpreis. 2009 wurde er für sein Schaffen im Bereich der alpinen Fotografie mit dem Eiger Special Award ausgezeichnet. Sein vorläufig letztes Werk, das Landschafts-Kunstbuch »Aus den Bündner Bergen«, ist 2016 bei NZZ Libro erschienen. In den letzten Jahren dokumentierte er viele der Extremtouren von Ueli Steck und wollte ihn auch bei seinem Everest-Lhotse-Projekt, soweit das möglich war, fotografisch begleiten. Deshalb flog er nach Nepal, wo er am 30. April 2017 kurz nach der Landung in Kathmandu vom Tod seines Freundes erfahren musste. www.robertboesch.ch
Als dieses Buch 2006 in die Buchhandlungen kam, wussten viele Menschen bereits, wer Ueli Steck ist, sehr viele aber auch noch nicht. Heute ist sein Name in der ganzen Welt bekannt. Das hat nicht nur mit seinem viel zu frühen Tod zu tun, sondern vor allem mit seinen herausragenden Leistungen. Aber auch damit, dass er ein charismatischer Ausnahmeathlet war, dem seine Erfolge nie in den Kopf stiegen und der seine Wurzeln nie vergaß. Der gelernte Zimmermann blieb immer auf dem Boden, auch das hat ihn ausgezeichnet. Genauso wie all die Meilensteine, die Ueli Steck im Alpinismus immer wieder setzte. Im Mai 2017 sollte ein weiterer dazukommen: die Everest-Lhotse-Überschreitung. Aber dann ist das passiert, was nie hätte passieren dürfen. Ueli Steck ist, nur gerade vierzig Jahre alt, am 30. April 2017 gestorben. Abgestürzt auf einer Akklimatisationstour im Himalaja.
Den Menschen geht Uelis Schicksal nahe, sie trauern, sind fassungslos und suchen für Uelis Frau, seine Eltern, Brüder, Schwiegereltern und Freunde tröstende Worte. Aber es gibt auch kritische Stimmen, die sich zu Ueli, zu dem, was er tat, und zu seinem Schicksal mehr als verletzend äußern.
Den Kritikern halte ich die Neuauflage dieses Buches entgegen. Es zeigt Ueli in seinen Anfängen, was er mit knapp dreißig Jahren sagte, wie er dachte und wie er lebte. Wer es liest, kann nachvollziehen, worum es ihm bei seinen Leistungen ging. Nie ums Berühmtwerden, sondern immer nur darum, Grenzen zu verschieben. Nicht die anderer, sondern die eigenen.
Für mich war schon bei unseren Gesprächen vor elf Jahren klar, dass er, wenn er seine Abenteuer weiterhin überlebte – das Glück war von Anfang an ein paarmal auf seiner Seite –, ein herausragender Alpinist werden würde. Nicht in erster Linie, weil er außerordentlich gut klettern konnte, sondern weil er schon in diesen jungen Jahren eine unvergleichliche mentale Stärke hatte und im Kern seines Tuns etwas Philosophisches lag. Ueli übte nie einfach nur den Beruf des Bergsteigens aus, sondern ging einer Berufung nach.
Viele haben Ueli für unsterblich gehalten, zumindest dort, wo er Dinge vollbracht hat, die für uns Normalsterbliche schlicht undenkbar sind. Dass er gerade in diesen Sphären seine letzten Tage verbringen durfte, mag ein kleiner Trost sein. Er fehlt.
Gabriella Baumann-von Arx, im Mai 2017
DAS LINKE BEIN der Spinne in der Eiger-Nordwand hätte Ueli Steck im Sommer 2001 das Leben kosten können. Und dies, obwohl er nichts dem Zufall überlässt. Nicht, wenn er in den Alpen ohne Seil dreihundertfünfzig Meter durch den Fels steigt, nicht, wenn er in der Eiger-Nordwand eine neue Route einrichtet, und erst recht nicht, wenn er im Himalaja eine Solobegehung macht. Das östliche Spinnenbein konnte ihn nur deshalb nicht packen, weil Ueli Steck Panik zu verhindern weiß. Sich voll und ganz auf sein Können verlässt. Und einen unglaublichen Willen hat. Oder – ganz einfach – »e sture Gring«, wie die Berner sagen.
Von Ueli Steck sah und hörte ich zufällig. Völlig fasziniert saß ich vor dem Fernseher, vergaß zu atmen, realisierte, dass sich da einer in der Senkrechten so selbstverständlich vorwärtsbewegt, wie es ein Baby in der Waagrechten tut – oder dies zumindest versucht. Auf allen vieren. Und, das war das eigentlich Wahnsinnige: ohne Seil!
Ueli Steck ist einer, der, mit Körper und Geist der Erdanziehungskraft trotzend, glatte Felswände hochgeht, als hätte er Saugnäpfe an Fingern und Zehen. Als Sicherung einzig und allein Vertrauen. Vertrauen in seine Muskelkraft. Vertrauen in sich selbst. Vertrauen in seinen Kopf.
Wir treffen uns am Berner Hauptbahnhof. Fester Händedruck, wache dunkelblaue Augen, in denen der Schalk blitzt, als er merkt, dass ich ihn mir größer und muskelbepackter vorgestellt habe. Er wirkt unscheinbar. Erst sehr viel später, als er in einer Kletterroute nicht so vorwärtskommt, wie er will, und vor lauter stillem Ärger darüber sein T-Shirt auszieht, es in die Tiefe schmeißt und dann »oben ohne« klettert, erkenne ich, dass sein Körper kein Gramm Fett hat. Seine Muskeln sind nicht künstlich antrainiert, sondern im wahrsten Sinn des Wortes von der Natur geformt und zeichnen sich so unter der Haut ab, dass Michelangelo seine helle Freude gehabt hätte.
Was mir an ihm allerdings auch sofort auffällt, sind seine – wie er sagt – krummen Haxen. Formvollendete O-Beine, wie ich sagen würde, die Michelangelo dann vielleicht doch davon abgehalten hätten, ihn in Stein zu hauen. Er lacht, als ich ihn frage, ob die zum Klettern gemacht seien, meint, das könne er so nicht sagen, er habe sie von der Natur bekommen und akzeptiert.
Ich stelle andere Fragen. Viele. Bekomme Antworten. Kurze. Erkenne, dass der Neunundzwanzigjährige einiges zu sagen hätte, aber nicht viel redet. Er sei mit einem Buch einverstanden, gibt er mir zu verstehen, warnt mich aber gleichzeitig davor, dass er einer sei, der eigentlich lieber schweige. Ein Buch über einen Schweiger, über einen, der lieber handelt als redet? Lieber zuhört, als etwas von sich preisgibt?
Lange weiß ich nicht, ob ich es wagen soll oder nicht. Gebe mir Bedenkzeit, telefoniere oder maile ab und zu mit ihm. Versuche, ihn zu lesen. So wie ein Bergsteiger, bevor er sich in eine Route begibt, den Berg, den Fels, das Eisfeld liest, um herauszufinden, ob es überhaupt eine Möglichkeit gibt, auf den Gipfel zu kommen. Und ich finde eine. Die einzige: Vertrauen. Und weil ich glaube, seines mit der Zeit gewinnen zu können, schenke ich ihm meines und beginne mit der Arbeit. Begleite ihn zu einem Vortrag, um dort definitiv zu entscheiden.
In der Mehrzweckhalle in der Lenk erzählt der gebürtige Emmentaler vor zahlreich versammeltem Publikum zwar einiges – das, was sein Können aber wirklich ausmacht, müssen die Zuschauer aus den vielen Pausen heraushören. Nie würde er von sich sagen, dass er im Dezember 2005 vom englischen Magazin »Climb« zu einem der drei besten Alpinisten Europas gewählt wurde. Nie, dass seine Leistungen herausragend sind. Seine Bescheidenheit ist schon fast unanständig. Aber ehrlich.
Genauso ehrlich wie die Aufmerksamkeit, die er den Menschen schenkt, als der Vortrag fertig ist. Nie würde er gleich zusammenpacken und gehen. Er ist einer, der bleibt. So lange, bis auch der letzte Zuhörer das loswerden kann, was er ihm privat sagen oder ihn unter vier Augen fragen will. Ueli bleibt dieses Mal bis nach Mitternacht, hört jedem zu, schweigt nicht, antwortet.
Als das Publikum ihn freigibt, geht Ueli zu den Bergführern, die gekommen sind. Er kennt sie alle. An einen Stehtisch gelehnt, reden sie über sein Können. Darüber, dass sie – auch wenn es sie noch so reizen würde und sie es sich bei gewissen Routen auch zutrauen würden – nie free solo in eine Felswand steigen würden. Der eine macht der Diskussion dann ein Ende mit: »Seien wir doch ehrlich, wir haben einfach nicht den Kopf dazu.«
Ueli ist der Einzige am Tisch, der die Bergführerausbildung nicht gemacht hat. Trotzdem wird sofort klar: Er ist unter seinesgleichen. Mit ihm sind es sechs. Sechs, die sich schon lange kennen. Alle mit großen Händen, kräftigen Fingern, die Haut von Wind und Wetter zerfurcht.
Wenn einer redet, hören die anderen zu. Unterbrochen wird nur das Schweigen. Nie kommt es vor, dass zwei gleichzeitig zum Sprechen ansetzen. Es sind Männer, die – obwohl sie die meiste Zeit führen – sich nicht in den Vordergrund drängen. Männer, denen ihre Frauen, da bin ich mir sicher, Gespräche über Gefühle Wort für Wort abringen müssen, die aber – auch das erkenne ich – absolut verlässliche Partner sind.
An diesem Tisch wurde mir klar, dass Ueli und ich vorankommen würden, und vor allem realisierte ich wie: Schritt für Schritt. Satz für Satz. Dazwischen immer wieder Schweigen.
Ich weiß.
Nun – (hier die erste von gegen achttausend langen Pausen) – nun, aus ihrer Sicht mag das stimmen. Ich selber sehe das anders.
Nein.
Ich kalkuliere.
Ja, ich kalkuliere. Ich kalkuliere das Risiko.
Das hat viele Gründe. Einer davon ist, dass sich das Risiko nie ausschließen lässt. Jeder von uns geht tagtäglich das »Risiko Leben« ein. Jeder, der die Straße überquert, kalkuliert vorher das Risiko. Ist ihm das Auto weit genug entfernt, entscheidet er sich zum Gehen. Ist es ihm zu nah, ist das Risiko zu groß, und er wartet ab.
Eine Felswand ist nie glatt wie Eis! Sie hat Kanten, Griffe, Vorsprünge, Löcher, Risse.
Bin ich nicht davon überzeugt, dass ich es schaffe, steige ich nicht ein; denn bin ich erst mal drinnen, gibt es – zumindest bei Excalibur – kein Zurück mehr.
Außer, wenn ich falle, aber ich falle nicht.
Weil ich vorbereitet bin. Weil ich die Route im Schlaf kenne. Weil ich sie wieder und wieder gesichert geklettert bin und dabei die brüchigen Griffe abgeklopft habe.
Nein, das wäre ethisch nicht korrekt. Ich habe sie abgeklopft, um zu hören, wie sie klingen, und habe mir die gemerkt, welche hohl tönen, diese habe ich dann beim Klettern einfach nicht angefasst.
Im Gegenteil, ich tue etwas ganz anderes: Ich lebe!
Wäre am Morgen von Excalibur nur der kleinste Zweifel gewesen, ich wäre zu Hause geblieben und hätte Kaffee getrunken.
Nein, ich ging.
Glaubst du mir etwa nicht?
Dann hätte jemand gewusst, wo ich zu suchen bin.
Ein Freund. Frag nicht nach seinem Namen. Er ist der Einzige, den ich immer orientiere, wenn ich allein klettern gehe. Ihm sagte ich, ich würde wieder an die Wendenstöcke gehen.
Nein, denn damit hätte ich nicht nur mich unter Druck gesetzt, sondern auch ihn absolut unnötig belastet. Verstehst du? Ich will niemanden damit belasten. Ich will nicht, dass sich jemand um mich sorgt. Auch dann nicht, wenn ich solo unterwegs bin.
Solo ist ein ganz anderer Stil als Free Solo. Solo bedeutet, man trägt einen Klettergurt, daran ist eine Bandschlinge befestigt und an dieser ein Karabinerhaken. Solo ist man zwar ohne Seil unterwegs, aber man hat immer die Möglichkeit, sich mit dieser Schlinge in einem Bohrhaken einzuhängen und auszuruhen. Kräfte zu sammeln, Armen und Beinen eine Erholung zu gönnen. Free Solo hingegen klettert man ohne Hilfsmittel, das heißt nur in Kletterfinken und mit einem Beutel Magnesium. Ist man solo, weiß man, dass Pausen möglich sind, dass man – im Extremfall – an einem Haken eingehängt, auf Rettung warten kann. Die psychische Anspannung bei Free Solo ist ungleich größer, weil bei diesem Stil die einzige Sicherheit die ist, die man in sich selbst findet.
Ich habe mich bei meinem Freund dann aber doch verraten, denn bevor ich aufhängte, sagte ich etwas, das ich zuvor noch nie gesagt hatte, nämlich: »Und heute Abend, ich verspreche es, bin ich wieder zurück.« Er war ein armer Tropf.
Klar! Ich würde mir, wenn ich wüsste, dass ein Kollege von mir eine Route free solo klettern will, auch Sorgen machen. Das würde mich sogar sehr beschäftigen. Logisch! Deshalb muss man es vorab auch niemandem sagen, denn sich Sorgen zu machen, bringt nichts und hilft niemandem weiter. Im Gegenteil.
Das war grundlegend, ich wollte …
Absicherung? Nein! Es gibt bei Free Solo keine Absicherung. Es ging mir lediglich darum, dass man nicht das ganze Berner Oberland nach mir hätte durchforsten müssen. Das wäre ja blöd gewesen.
Ich musste erst ihre Stimme hören, dann – ich hatte ihn nicht vergessen – schrieb ich ihm per SMS zwei kurze Worte.
Genau.
Er schrieb zwei kurze Worte zurück.
Nein: »Okay, gut«.
Wild? Nein, eher ruhig. Aber Auslauf brauchte ich schon immer.
Nie.
Nein. Vor dem Einschlafen, da bin ich die Route wieder und wieder und wieder, immer wieder in Gedanken gegangen, habe jeden Griff, jeden Tritt, jeden Vorsprung durchgespielt. Aber geträumt? Nein, geträumt habe ich von Excalibur nie.
Excalibur ist ganz einfach eine der schönsten Routen, die es gibt. Excalibur heißt nicht nur die Route, sondern auch der ästhetische Pfeiler, der in der Südwand der Wendenstöcke im Berner Oberland in den Himmel ragt. Excalibur ist ein Klassiker, es ist die erste Route, die an diesem Pfeiler erschlossen wurde. Sie ist nicht wahnsinnig schwer. Abgesehen von ein paar risikoreichen Stellen, wo es extreme Felsplatten hat. Von meinen Fähigkeiten her konnte ich diese Route ohne große Probleme klettern. Ganz abgesehen davon, hat mich nicht ihr Schwierigkeitsgrad gereizt, sondern ihre fantastische Linie.
Hätte ich vorher gewusst, dass dieser Morgen, es war ein Sonntag im Juni 2004, die Dreizehn trägt, ich hätte – abergläubisch, wie ich ein kleines bisschen bin – mein Vorhaben verschoben. Rückblickend gesehen, ist klar, dass ich diesen Tag nicht mit Unglück verbinden konnte, denn da war null Raum, um an Daten zu denken. Stunden – nein, wohl eher Tage – zuvor, genauso wie Tage danach, befand ich mich in einer Art Vakuum. Nicht weggetreten! Im Gegenteil – sehr nah bei mir. Ich atmete, ich zog mich an, ich aß, ich trank, ich fuhr Auto, ich hängte mir den Magnesiumbeutel um, ich zwängte meine Füße in die Kletterfinken – den rechten übrigens immer zuerst. Egal, was für Schuhe, ich ziehe immer den rechten zuerst an.
Genau. Wäre ich an diesem Morgen aus Versehen zuerst in den linken geschlüpft, ich hätte alles abgeblasen. Meine Gedanken waren in einer Art und Weise von meinem Vorhaben absorbiert, wie ich das kaum für möglich gehalten hätte. Es gab für nichts anderes mehr Raum. Da waren nur noch die Route und ich.
Nein, keine Angst. Ich wusste, es gelingt. Ich hatte mich seriös auf Excalibur vorbereitet. Ich konnte mich auf mich verlassen. Und damit wirklich nichts schieflief, machte ich dem Berg ein Geschenk.
Weil er es angenommen hat.
Als ich 2002 in den Himalaja fuhr, um eine Wand zu klettern, die noch nie jemand zuvor geklettert war, bekam ich von Martin, einem befreundeten Goldschmied, einen Glücksbringer, den ich mir um den Hals hängte. Er war aus Jade und ähnelte einem peruanischen Amulett.
Ich war zwar nicht erfolgreich, kam aber heil nach Hause, insofern hat er mir großes Glück gebracht.
Das kann es, bei dem, was ich mache, immer. Vor allem, wenn man in eine anspruchsvolle Wand einsteigt, die zuvor noch niemandem geglückt ist.
Jannu-Nordwand, sie misst dreitausend Meter! Der Jannu selbst ist 7710 hoch. Wir mussten auf 6600 Metern umkehren.
Ich war mit dem Schweizer Extremalpinisten Erhard Loretan unterwegs.
Sie ist mit »extrem schwierig« bewertet, aber wir waren gut vorangekommen. Es war der Schneefall, der uns zur Umkehr zwang.
Wer im Himalaja etwas erzwingen will, überlebt nicht – Glücksbringer hin oder her.
Ja, ich hatte das Amulett, bevor ich in Excalibur einstieg, am Wandfuß, in einer kleinen Höhle im Fels deponiert. Als ich zurück war, ließ ich es – als Dankeschön, dass alles so gut gegangen war – ganz bewusst dort zurück. Jedes Mal, wenn ich später raufkam, schaute ich bei ihm vorbei, und eines Tages war es nicht mehr da.
Nein, bestimmt nicht. Der Wind hat es mitgenommen.
Nein, im Gegenteil. Ich habe damit gerechnet, dass es eines Tages weggeweht werden würde, sonst hätte ich es irgendwie befestigt. Aber das wäre weder cool noch fair gewesen.
Und niemand sollte sich anbinden lassen.
Ich bin sicher, er beschützt mich nach wie vor.
Ja.
Zuerst boulderte ich, das ist Klettern in Absprunghöhe.
Richtig! Als ich mich sicher fühlte, ging ich einen Schritt weiter, das heißt in den Klettergarten, wo die Routen eine Seillänge, also zwischen zwanzig und dreißig Meter lang sind. Immer am frühen Morgen, damit mich niemand sah, ich also niemanden erschrecken konnte. Zuerst kletterte ich gesichert hoch, inspizierte alles, seilte ab und kletterte die Route dann erneut. Ungesichert.
Ich hatte alles so vorbereitet, dass ich mich abseilen konnte.
Ich wusste, ich konnte ohne Sicherung klettern, also musste ich es auch ausprobieren. Und je sicherer ich mich fühlte, desto mehr spürte ich, dass nicht nur mein Körper, sondern auch meine Psyche mithält.
Genau. Und da kam mir die Route Silberfinger in den Sinn. Sie befindet sich am Simelistock in den Engelhörnern, auch im Berner Oberland. Ihre sieben Seillängen bin ich das erste Mal mit sechzehn Jahren geklettert. Zusammen mit einem Freund und mit sehr viel Respekt. Die Route verläuft fast senkrecht und ist sehr exponiert. So schwierig waren wir in Mehrseillängen noch nie geklettert, was unseren Adrenalinspiegel zusätzlich erhöhte. Wir standen schon um sieben Uhr am Wandfuß, waren beide sehr nervös und tief beeindruckt von den Hakenabständen – wir mussten zum Teil sieben Meter über den letzten Haken hinausklettern, bevor wir unser Seil wieder in eine Zwischensicherung einhängen konnten.
Stürzt man bei solchen Abständen vor dem Einhängen, fällt man gleich die doppelte Länge, mit der Seildehnung also rund fünfzehn Meter, ins Seil. Wir kriegten alles sturzfrei hin. Nach vier Stunden standen wir auf dem Gipfel. Glücklich. Zufrieden. Stolz. Und etwas durchfroren, denn die Sonne war auch um elf noch nicht in der Wand. Silberfinger war damals ein persönlicher Meilenstein, und es war eine logische Fortsetzung, in dieser Route noch einen weiteren zu setzen.
Ich schränkte das Risiko am Anfang ein. Kaspar, ein Freund, half mir dabei. Er sicherte mich, während ich Seillänge um Seillänge genauestens inspizierte, bei jedem Stand seilte er mich ab, ich zog den Klettergurt aus, er zog ihn hoch, ich kletterte free solo nach, stieg wieder in den Klettergurt, inspizierte die nächste Seillänge und so weiter. Bevor wir nach Hause gingen, deponierte ich oben, am Ausstieg, ein Seil, einen Klettergurt, einen Karabiner und einen Abseilachter. Kaspar ahnte wohl, warum, aber wir redeten nicht darüber. Ich ließ es auch für mich völlig offen, es hätte auch sein können, dass ich es nicht durchziehe. Druck aufsetzen bringt nichts. Zwei Tage später stieg ich free solo ein.
Wieder daheim, realisierte ich, wie irrational die Psyche funktioniert. Obwohl Kaspar zwei Tage zuvor kaum eine Chance gehabt hätte, mich aus einer Notsituation zu befreien, habe ich mich anscheinend doch auf ihn verlassen, denn mit ihm in der Wand war ich die Sache viel lockerer angegangen. Weder Anspannung noch Stress waren zu vergleichen. Ganz abgesehen von den Emotionen! Mit Kaspar auf dem Gipfel zu stehen, war gut. Für das Gefühl, free solo durch die Wand geklettert und danach allein auf dem Gipfel gewesen zu sein, finde ich noch heute keine passenden Worte. Weder »wunderbar« noch »wahnsinnig« würde diese Empfindung treffen. Es war – wohl gerade weil mir diese Route Jahre zuvor so viel abverlangt hatte – einfach ein großer Schritt in meiner persönlichen Entwicklung.
Weil ich es für mich behielt.
Silberfinger war nur ein Zwischenziel zu Excalibur.
Vom Schwierigkeitsgrad her sind Excalibur und Silberfinger gleich bewertet. Aber Excalibur ist mit dreihundertfünfzig Metern fast doppelt so lang wie die Route Silberfinger, die zweihundert Meter misst. Und sie ist viel risikoreicher. Der Fels, steinharter Kalk – oft nur glatte Felsplatten –, weist an vielen Stellen nur millimeterbreite Leisten auf, die Risse sind fein, man ist immer und vor allem neun Seillängen lang ausgesetzt. Es gibt Stellen, die absolute Konzentration erfordern.
Mit anderen Worten: Trotz Silberfinger war ich noch lange nicht für Excalibur gerüstet.
Ja, beide mit sieben, wobei …
Die Anforderungen einer Kletterroute werden über eine Bewertungsskala definiert. Bei uns wird oft noch die UIAA-Skala eingesetzt, die bei eins beginnt und nach oben offen ist.
Der, der sie einrichtet, macht einen Vorschlag. Mehr oder weniger stimmt es dann so, wobei dem einen eine Route besser liegen kann als einem anderen. Alte Routen sind im Vergleich zu heute oft streng bewertet.
Sagen wir, realistischer. Bis Anfang der Siebzigerjahre reichte die Skala übrigens nur bis zum sechsten Grad. Mit besserem Training und neuer Ausrüstung, konnte sie immer höher geschraubt werden.
Momentan klettert niemand mehr als 11+. Wobei einer, der 11+ klettert, nicht jede 11+ schafft. Die eine Route ist auf Ausdauer angelegt, die andere extrem überhängend, die dritte hat unglaublich kleine Griffe – jede Route hat ihre Spezialität. Die Abstufungen sind objektiv nicht messbar, sind aber subjektiv sehr wohl spürbar. So empfindet nicht jeder Kletterer eine 6+ als 6+, und auch eine 10 ist subjektiv gesehen nicht immer eine 10.
Nein, niemand.
Eine 10+ kann ich, wenn ich gut trainiert bin, Rotpunkt klettern. Eine 10− klettere ich regelmäßig.
Mein Trainingsprogramm glich einer Pyramide, deren Spitze eine 9− free solo war. Im Klettergarten!
Wörtliche Definitionen gibt es keine guten. Ich kann aber sagen, dass der zehnte Grad bedeutet, dass sich ein Nichtkletterer keine Sekunde am Fels halten könnte, ein guter Kletterer keine Chance hat, weiterzukommen, und nur der erfolgreich ist, der über recht beachtliche Fähigkeiten verfügt. Darunter liegen 10−, 9+, 9 und dann eben die 9−. Reinhold Messner gab einmal folgende Erklärung ab: 1, sagte er, entspreche dem Begehen einer steilen Treppe, 10 dem Klettern an einer Raufasertapete.
So in etwa. Eine 9− ist schon recht schwierig. Zu dem Zeitpunkt kletterte ich, gesichert, regelmäßig im zehnten Grad und rechnete mir aus, dass es möglich sein sollte, eine 9− free solo zu klettern. Nicht von heute auf morgen! Wie gesagt, 9− war die Spitze meiner Trainingspyramide, deren Aufbau in vierzig Routen 6+, dann dreißig 7, dann fünfundzwanzig 7+, dann zwanzig 8, dann zehn 8+ und schließlich drei 9− bestand.
Immer nur eine Seillänge …
Ja, und frühmorgens, um allein zu sein. Nach diesen drei 9− spürte ich die Kontinuität, die ich wollte, um mich an Excalibur heranzuwagen. Ich ging zuerst mit dem Seil. Wieder und wieder. Ich lernte die dreihundertfünfzig Meter kennen, ich klopfte den Fels nach losen Stellen ab; eines Tages deponierte ich ein Seil, meinen Klettergurt, einen Karabiner und einen Achter beim Ausstieg und wusste, jetzt ist der Moment gekommen, wo ich jederzeit einsteigen kann, falls ich es will. Danach ging ich ein paarmal an den Wandfuß und kletterte die Route. Mit Seil. Und dann, eben am 13. Juni, wusste ich einfach, heute funktioniert es. Ich wärmte mich auf, kletterte die erste Seillänge mit dem Seil, spürte, es läuft. Es klettert. Es stimmt. Ich seilte ab, zog den Klettergurt aus, machte in meinem Biwak Kaffee, ging die Route im Kopf durch, spürte meine Ruhe. Wann ich zeitlich losging, wann ich oben ankam, wann ich wieder am Wandfuß stand, all das kann ich unmöglich sagen. Zeit existierte nicht. Ich war nur auf das Klettern fixiert. Auf den Moment.
Nein, ich war einfach konzentriert. So fokussiert, dass kein anderer Gedanke mehr möglich war. Es darf in solchen Situationen nur den Moment geben, das Jetzt, sonst ist es viel zu gefährlich. Nach drei, vier Zügen wusste ich, ich bin völlig auf dem Punkt.
Nein, kein Vorbild, aber einen, um den es mir sehr leidtut, dass er tot ist. Wolfgang Güllich.