Lovecrafts Schriften des Grauens 23: Schatten über Hamburg - Michael Buttler - E-Book

Lovecrafts Schriften des Grauens 23: Schatten über Hamburg E-Book

Michael Buttler

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Beschreibung

Konrad und Harry sind zwei Kriminelle, die im Jahr 1886 unabhängig voneinander ihr Glück in Hamburg versuchen. Doch eigenartige Geschöpfe, die nicht von dieser Welt scheinen, kreuzen ihren Weg, breiten sich aus und kämpfen gegeneinander. Die beiden Protagonisten geraten zwischen die Fronten.

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Michael ButtlerSchatten über Hamburg

In dieser Reihe bisher erschienen:

2101 William Meikle Das Amulett

2102 Roman Sander (Hrsg.) Götter des Grauens

2103 Andreas Ackermann Das Mysterium dunkler Träume

2104 Jörg Kleudgen & Uwe Vöhl Stolzenstein

2105 Andreas Zwengel Kinder des Yig

2106 W. H. Pugmire Der dunkle Fremde

2107 Tobias Reckermann Gotheim an der Ur

2108 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Xulhu

2109 Rainer Zuch Planet des dunklen Horizonts

2110 K. R. Sanders & Jörg Kleudgen Die Klinge von Umao Mo

2111 Arthur Gordon Wolf Mr. Munchkin

2112 Arthur Gordon Wolf Red Meadows

2113 Tobias Reckermann Rückkehr nach Gotheim

2114 Erik R. Andara Hinaus durch die zweite Tür

2115 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Cthulhu Libria Neo

2116 Adam Hülseweh Das Vexyr von Vettseiffen

2117 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Cthulhu Libria Neo 2

2118 Alfred Wallon Salzburger Albträume

2119 Arno Thewlis Der Gott des Krieges

2120 Ian Delacroix Catacomb Kittens

2121 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Cthulhu Libria Neo 3

2122 Tobias Reckermann Gotheims Untergang

2123 Michael Buttler Schatten über Hamburg

Michael Buttler

Schatten überHamburg

Michael Buttler wohnt mit seiner Familie und zwei Katzen im Rhein-Main-Gebiet. Er arbeitet als Bankkaufmann bei einem Kreditinstitut.

Anthologien, an denen der Autor beteiligt war, wurden verschiedentlich für den Deutschen Phantastik-Preis nominiert. Im Jahr 2012 war er mit einer Geschichte in dem Buch vertreten, das den ersten Preis gewann.

Zwei seiner historischen Kriminalromane spielen zur Zeit Johann Wolfgang von Goethes in Weimar, weshalb Buttler sie seine Goethe-Krimis nennt: Die Bestie von Weimar und Der Teufelsvers.

Im BLITZ-Verlag schreibt er hauptsächlich für die Serie Sherlock Holmes – Neue Fälle.

Auf Anfrage steht der Autor gern für Lesungen zur Verfügung.

www.michael-buttler.de

Diese Reihe erscheint als limitierte und exklusive Sammler-Edition!Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.Infos unter: www.BLITZ-Verlag.de© 2022 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 WindeckRedaktion: Jörg KaegelmannTitelbild: Björn CraigUmschlaggestaltung: Mario HeyerLogo: Mark FreierVignette: Jörg KleudgenSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-933-1Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!

Prolog

Das eisige Wasser traf ihn wie ein Faustschlag ins Gesicht. Petrov war mit einem Schlag wach, aber nicht in der Lage, sich zu orientieren. Irgendjemand murmelte in einer Sprache, die er nicht verstand. Petrov wollte sich aufrichten, sich mit den Händen über das Gesicht fahren, doch etwas blockierte ihn. Es war ihm unmöglich, sich aufzurichten. Nur den Kopf konnte er heben.

Im ersten Moment dachte er, er sei vom Mast gefallen und gelähmt. Von so etwas hatte er gehört. Ein Leben lang ans Bett gefesselt zu sein, die Abhängigkeit von Krankenschwestern, das war kaum zu ertragen. Diese Stimme, gehörte sie einem Arzt? Oder einem Priester?

Petrov blinzelte, bis er klar sehen konnte. Das Licht war dämmrig. Irgendwo flackerten Kerzen. Über ihm befand sich eine alte, schmucklose Felsdecke. Dies war eine Gruft. Fühlte es sich so an, wenn man lebendig war und für tot gehalten wurde?

Das ergab keinen Sinn. Jemand hatte ihm Wasser ins Gesicht geschüttet. Das tat man nicht bei Menschen, die man für tot hält. Was, bei allen Seeschlangen der Welt, passierte gerade?

Petrov öffnete den Mund und wollte genau diese Frage stellen. Alles, was er selbst hörte, war ein leises Krächzen. Der Arzt oder Priester sprach weiter, trat an ihn heran. Petrov konnte ihn jetzt sehen. Er trug einen ­dunklen Umhang. Auf dem Kopf hatte er eine furcht­erregende Maske: riesige Augen, keine Ohren und ein blankes Haupt sowie schuppige Haut. Die Nase war kaum vorhanden.

Ein anderer Kerl, ein verwachsenes Faktotum, erschien und schüttete ihm aus einem Eimer erneut Wasser ins Gesicht. Petrov hustete, rang nach Luft und versuchte wieder, aufzustehen. Jetzt bemerkte er die Stricke, mit denen er auf einen Tisch gefesselt war. Was soll das?, wollte er fragen. Und: Wer seid ihr? Doch der Maskenmann legte eine Hand auf Petrovs Kopf und die Angst ließ alle Worte verstummen.

Eine nackte Frau erschien neben dem Tisch. Auch sie trug eine ähnlich scheußliche Maske, doch die schuppige Haut bedeckte nicht nur ihr Gesicht, sondern ihren ganzen Körper. Er glänzte feucht, wies einige tiefe Falten auf, an Stellen, die Petrov irgendwie falsch erschienen. Sie gaben ihr eine seltsame, nicht mehr menschliche Form.

Zum ersten Mal nahm er den Geruch nach gammeligem Fisch wahr.

Erst jetzt bemerkte er weitere Einzelheiten um sich herum. Er lag nicht auf einem Tisch, sondern auf einem großen und eiskalten Steinblock. Und Petrov war nackt.

Das Faktotum half der Frau hinauf zu Petrov. Plötzlich traf ihn die Erkenntnis wie eine Harpune mitten ins Herz: Dies war ein Ritual. Und er war ein scheinbar wesentlicher Bestandteil. Ihm wurde flau im Magen. Sein ­Herzschlag beschleunigte sich, sein Atem wurde heftiger. Er begann zu zittern. Tiefe, existenzielle Angst ergriff ihn.

Die Frau ließ sich auf ihm nieder und rutschte zu seiner Körpermitte. Noch nie hatte er etwas so Wider­liches, etwas so Abscheuliches erlebt. Die Haut der Frau fühlte sich rau und glitschig an. Sie griff zu, packte sein Geschlecht und fabrizierte etwas damit. Petrov schrie vor Schmerz, vor Angst und vor Entsetzen.

Die Frau beugte sich weiter vor, betrachtete sein Gesicht. Ihr Atem roch wie Brackwasser. Er wand sich, wollte sich befreien, das Ding über sich wegstoßen. Rennen, rennen, bis er den Himmel über sich sehen konnte.

Etwas blitzte im Schein der Kerze. Die Frau über ihm nahm ein Messer von dem Maskenmann entgegen. Sie rutschte wieder zurück.

„Nein! Nicht! Aufhören!“, schrie er in seiner Muttersprache. Wahrscheinlich sprachen diese Leute kein Bulgarisch. Aber er konnte nicht viel mehr tun außer bitten und betteln und sich zu winden. Die Fesseln saßen zu fest.

Die Frau packte ihn wieder da unten. Oh Gott! Petrov riss die Augen auf, schnappte nach Luft, sah das Messer in ihrer freien Hand.

Die Frau sah ihm ins Gesicht, betrachtete ihn mit Neugier.

„Bitte nicht“, flüsterte er.

Die Frau legte den Kopf schief, als würde sie ihm zuhören. Petrov schöpfte Hoffnung. Er sprach weiter, vorsichtig, ruhig, versuchte dabei, seinen Atem unter Kontrolle zu halten. Er bat sie, ihn gehen zu lassen. Er versprach, stillschweigend auf dem nächstbesten Schiff anzuheuern und aus dieser Stadt zu verschwinden. Er nickte immer wieder mit dem Kopf, um ein Nein anzudeuten, bis ihm einfiel, dass diese Geste in diesem Teil der Welt als Zustimmung gedeutet wurde. Wenn er sich noch in dem Land aufhielt, wo sein Schiff zuletzt vor Anker gegangen war. Es gab keinen Grund, etwas anderes anzunehmen.

Die Frau grinste ihn an und zeigte ihm ihre dunkle Mundhöhle, in der vereinzelt gelbe Zähne zu sehen waren. Sofort schüttelte er den Kopf. Er schüttelte ihn und schüttelte ihn und schrie wieder.

Sie näherte sich mit dem Messer seinem Geschlecht. Sie wirkte ratlos dabei.

„Nein! Nein! Nein!“

Ein Schnitt. Sofort spürte Petrov den Schmerz. Er spürte, wie sein Verstand ihn verlassen wollte. Er rüttelte an den Fesseln, versuchte, sich aufzubäumen, und schrie sich die Seele aus dem Leib.

Der nächste Schnitt, und noch einer. Bald war alles in seiner Körpermitte ein heißer Schmerz. Er verschluckte sich erst, dann würgte er und erbrach sich, atmete ein, den Mund noch voller Magensaft und wurde ohnmächtig.

1 Harry

Das Tor schloss sich hinter ihm mit einem lauten Schlag. Harry atmete tief ein. Vier Jahre lang hatte er sich diesen Moment vorgestellt. Befreiung, mehr als drei Schritte vor und zwei zur Seite. Nicht mehr der üble Gestank in der Zelle. Nicht mehr die anderen Schwachköpfe, Angeber und Arschlöcher. Widerliche Zecken der Gesellschaft. Die, die sich an Kindern vergriffen, waren schnell weg vom Fenster. Und ehemalige Polizisten oder Spitzel für die Polizei, denen gab man nicht länger als eine Woche, bis sie mit blutiger Fresse und gebrochenen Rippen in einer dunklen Ecke lagen. So gab es doch ein wenig Gerechtigkeit im Centralgefängnis in Fuhlsbüttel.

Unerträglich waren diejenigen, die jeden Tag ihre Unschuld beteuerten. Ja, es gab ein paar arme Seelen, die wegen einer Tat verhaftet worden waren, die sie nicht begangen hatten. Aber unschuldig? Das waren nicht einmal die Richter. Jeder hatte irgendetwas auf dem Kerbholz, da machte man ihm nichts vor. Besonders diejenigen, die für Gerechtigkeit sorgten, oder für das, was sie dafür hielten, waren schlitzohriger als so mancher, der hinter der abgeschlossenen Seite einer Tür sein Dasein für eine Weile fristete.

Harry hatte sich den Moment der Entlassung befreiender und befriedigender vorgestellt. Aber es war ein Tag wie jeder andere. Die Sonne schien. Die Vögel ­zwitscherten. Die Fleißigen gingen zur Arbeit, die Faulen ließen es bleiben. So mancher aß Brot mit Wurst oder Käse, andere saßen mit gequältem Gesichtsausdruck auf dem Scheißhaus und drückten das wieder raus, was sie sich Stunden zuvor reingefüllt hatten. Irgendeine Mutter entband gerade, jemand anderes krepierte allein in einer Kammer. Gauner wurden eingebuchtet. Und Harry Herzig – seine Vorfahren seien auf ewig verflucht wegen dieses Nachnamens, seine Eltern im Speziellen wegen der Kombination zu seinem Vornamen – war heute freigekommen. Nach vier Jahren und ein paar Zerdrückten. Eine Handvoll Zerdrückte weniger, weil er sich gut geführt hatte und weil seine Zelle gebraucht wurde.

Vier verfluchte Jahre. Er war den Jungs aus dem Weg gegangen, die immer einen bereitwilligen Hintern suchten. Es war meistens gut gegangen, bis auf zweimal ganz zu Anfang, als er noch unvorsichtig, nein, als er noch naiv gewesen war. Harry konnte sich an diese Momente kaum noch erinnern, und das war gut so. Genau wusste er allerdings noch, wie einer ihn von draußen erkannte und erpressen wollte. Das war zu Beginn des dritten Jahres gewesen. Der Kerl hatte gewusst, welches Ding er zuletzt gedreht hatte. Und er hatte ihm nicht abgekauft, dass die Beute aus dem Tresor auf der Flucht verloren gegangen war. Er hatte behauptet, es Harry an der Nasenspitze ansehen zu können, dass er log. Nun ja, etwas Ähnliches hatten die Kommissare auch gesagt, damals, vor der Verhandlung, und auch noch eine Weile danach. Irgendwann hatten sie es aber aufgegeben. Wahrscheinlich lag das daran, dass dem alten, reichen Pinkel, den Harry beklaut hatte, der Schlag getroffen hatte. Seine viel zu junge Frau hatte sich mit dem, was Harry an Wertsachen zurück­gelassen hatte, aus dem Staub gemacht und den Rest der Familie mit dummen Gesichtern zurückgelassen. Es hieß, sie habe jetzt ein Etablissement der besonderen körperlichen Freuden in New Orleans aufgemacht.

Aber dieser Kerl hatte nicht lockergelassen. Weil er draußen ein paar Freunde hatte, wollte er Harrys Freundin etwas antun, wenn Harry nicht redete. Nun, Harry hatte geredet. Es waren zwei Worte gewesen, nachdem er dem Mistkerl das Gesicht beinah durch zwei Gitterstäbe hindurch geprügelt hatte, bis der Kopf verbogen und verbeult mittendrin stecken geblieben war, und der Kerl seine letzten Züge tat. „Gute Nacht“, hatte Harry gesagt, denn keiner vergriff sich, nicht einmal verbal, gegen seine Eva.

Natürlich hatte es Harry so abgepasst, dass er nicht erwischt wurde. Und es war für den Mistkerl überraschend gekommen.

Harry war hinter Gittern ein anderer geworden. Er hatte bei seinen Brüchen immer darauf geachtet, dass so wenig Gewalt wie möglich angewendet wurde. Wie oft war er einfach getürmt, als er überrascht worden war, statt seinem Gegenüber eins überzubraten oder ihn am Ende ins Jenseits zu befördern. Nachsicht bedeutete im Knast jedoch nichts anderes, als Schwäche zu zeigen. Wenn man dort überleben wollte, dann konnte man sich das nicht leisten.

Hoffentlich würde Eva ihm dabei helfen können, wieder ein bisschen so zu werden wie früher. Sie hatten sich seit seiner Verurteilung nicht mehr gesehen. Er wollte nicht, dass Eva sich den Kommissaren als ein Beobachtungsobjekt aufdrängte. Sicher hatte die Polente sie wegen der verschwundenen Beute in den ersten Wochen auf Schritt und Tritt verfolgt. Nachdem sie aber ihrem Freund nicht einen Besuch abgestattet hatte, war Eva sicherlich nicht mehr von Interesse für die Polente gewesen. Immerhin kostete es eine Menge Geld, laufend Leute abzustellen. Das konnte keiner von den Kommissaren verantworten. Nicht über vier Jahre und ein paar Zerquetschte.

Nun war genug Zeit ins Land gegangen. Harry glaubte nicht, dass sich heute noch einer der Kommissare für ihn interessierte, auch wenn er später gedacht hatte, dass dieser Mistkerl, den er zwischen die Gitter gebracht hatte, ein Polizeispitzel gewesen sein könnte. Doch dann wären die Untersuchungen intensiver verlaufen, als dass man den Kerl einfach nur aus seiner Klemme befreite, in einen Sack steckte und fortschaffte. Mittlerweile waren die Schreibtische der Kommissare wieder voll von Akten anderer Straftaten, denen sie nachgehen mussten, um ihre Erfolge zu feiern. Trotzdem wollte Harry vorsichtig sein. Er würde darauf achten, ob ihm oder Eva jemand folgte. Wenn das so war, dann könnte dort drüben in den Büschen schon einer lauern.

Er vertraute Eva. Sie waren schon lange ein Paar, vor der Verurteilung waren sie annähernd zehn Jahre zusammen gewesen. Dass er sie nicht geheiratet hatte, hatte sie ihm nie krummgenommen. Zumindest hatte sie das gesagt, als Harry ihr die Gründe dafür erklärt hatte. Es war nicht gut, als Krimineller eine Ehefrau und – Gott bewahre – Kinder zu haben. Eine Familie konnte immer irgendwie mit in eine Sache hineingezogen werden. Selbst eine Freundin war nicht sicher, wie sich Anfang des dritten Jahres gezeigt hatte. Aber eine Ehefrau war für das Opfer, also für Harry, ein sehr verbindliches Angriffsziel.

Nicht mehr lange, dann würde er sich mit seiner Eva in Ording, oben in Nordfriesland, mit dem Geld, das ihm der Schwachkopf zwischen den Gitterstäben hatte abluchsen wollen, ein neues Leben aufbauen. Sie hatten genug zusammen, um ihren Traum zu verwirklichen, einen Traum, in dem eine Frühstückspension nicht weit vom Strand die zentrale Rolle spielte. Ein eigenes Haus mit Gästen, das sie nach und nach erweiterten mit einer Liegewiese und mit einem Veranstaltungsraum für Konzerte.

Sie waren einmal dort gewesen, hatten sich in ihren gemeinsamen Traum hineingesteigert, hatten den Standort der kleinen Pension Eva ausgewählt, in Gedanken die Aufgaben verteilt und in ihrem Übermut noch weitere Dinge durchgespielt, wie man zum Beispiel ein frisch vermähltes Paar begrüßte. Dann wäre vielleicht auch die Zeit für eine Hochzeit und Kinder.

Nun rückte das Vorhaben in greifbare Nähe. Noch nie war die Sehnsucht nach der Pension Eva so stark gewesen, wie in diesem Moment. Es drängte ihn, so schnell wie möglich nach Hamburg zu kommen, zu Eva, die nicht weit von Sankt Jacobi wohnte. Gewohnt hatte. Er ging davon aus, dass sie ihm eine Nachricht hinterlassen hätte, wenn sie an ihrer Adresse etwas geändert hätte. Seine Eva würde schon dafür sorgen, dass sie sich fanden.

Harry hatte einen weiten Weg vor sich. Vermutlich fuhr vom Ohlsdorfer Friedhof aus noch immer die Pferdebahn in die Stadt. Oder er konnte in Bramfeld die schnellere Dampfbahn nehmen. Oder ein Boot an der Alster. Doch alles kostete Geld. Harrys Taschen waren leer bis auf den Entlassungsschein und seine Ausweispapiere. Vielleicht ergab sich die Gelegenheit, auf einer der Chausseen ein Fuhrwerk anzuhalten, dessen Besitzer ihn ein Stück mitnahm.

Jetzt, gegen Ende April, schien die Sonne in den Morgen und zwischen den Bäumen. Harry steckte die Hände in die Taschen. Ja, es war ein guter Tag, auch wenn er sich zu viele Gedanken machte, auch wenn er Eva noch nicht zu Gesicht bekommen hatte – nach vier langen Jahren. Bald, bald, heute noch, würde sich noch so viel tun. Er würde Eva in die Arme schließen. Er würde sie küssen und ein bisschen mehr. Ein sehr viel bisschen mehr. Während er daran dachte, konnte er es noch weniger erwarten, endlich bei ihr zu sein. Harry schritt schneller aus.

Er war schon ein gutes Stück vorangekommen, überquerte die Alster bei Alsterdorf und ging stramm auf Winterhude zu, als er erst wieder daran dachte, nach Verfolgern Ausschau zu halten. Nach einer Kurve sprang er schnell hinter einen Baum und wartete einige Minuten, doch außer einem jungen Fräulein auf einem Fahrrad kam in dieser Zeit niemand den Weg entlang.

Weiter ging es. In Winterhude schipperte ein Alsterdampfer auf die Anlegestelle zu. Harry gönnte sich den Luxus und ging die Bellevue entlang, starrte dabei abwechselnd auf das Wasser und die hübschen Villen. Und hatte es plötzlich noch eiliger. Hier kam er sich wie ein abgehalfterter Halunke vor. Was er im Grunde auch war. All seine Hoffnung lag bei Eva. Ohne sie war er im Moment nichts, hatte keine Bude und kein Geld. Schon gar keine Arbeit. Ohne Eva stand er auf der Straße.

Auf der Höhe des Allgemeinen Krankenhauses wandte er sich etwas von der Alster weg Richtung St. Georg und ab dem Steintorwall nach St. Jacobi. Dann ging es durch die Fuhlentwiete in die Niedernstraße. Die Häuser hier standen dicht an dicht und verfügten über verästelte Hinter­höfe. Sie hatten neben dem Erdgeschoss, in dem sich oft ein Gewerbe befand, noch drei weitere Stockwerke und ein Dachgeschoss. Die Wohnungen waren eng und die Häuser alt. Doch hier konnte man sich die kleinen Buden noch leisten. Eva wohnte im zweiten Stock gleich neben einer Witwe, die ihr Schlafzimmer an eine noch ärmere Seele untervermietete. Als er das Schild von Erwins Tabakladen sah, spürte er erst, wie nervös er war. Und wie lang der Weg gewesen war, den er so schnell hinter sich gelassen hatte. Obwohl es Quatsch war, hatte er doch ein bisschen Angst vor dem Wiedersehen. In den für ihn extremen Jahren hatte er sich verändert, aber auch Eva hatte es bestimmt nicht einfach gehabt. Auch sie könnte sich verändert haben. Manchmal war sie immer ein wenig besserwisserisch gewesen. Und sie war schnell aus der Haut gefahren. Er war gespannt darauf, wie sie ihn empfangen würde.

Endlich stand er vor der Haustür. Seine Knie waren weich, und er atmete schwer, schwerer, als es notwendig gewesen wäre. Er streckte die feuchte Hand nach dem Griff aus. Es war nicht abgeschlossen, wie immer. Das Schloss war kaputt, wie schon vor vier Jahren. Plötzlich zog jemand von innen die Tür auf. Harry stolperte von dem Schwung ins Treppenhaus und stieß mit einem jungen Kerl zusammen, der nur ein Unterhemd und eine kurze Hose trug. Er musste schwer arbeiten, denn er hatte enorme Muskeln. Jemand oder etwas hatte ihm vor einiger Zeit die Nase eingedrückt. Dazu trug er eine Narbe von der rechten Augenbraue bis hinauf zum Haar­ansatz. Das Fleisch hatte sich beim Heilen verworfen. Das konnte von einem unfairen Faustkampf oder von einem Unfall auf der Arbeit, mit einer schweren Maschine, herkommen.

Der Kerl starrte Harry böse an. Gleich würde er wissen wollen, zu wem, verdammich, er in diesem Haus wollte. Und Harry war bereit, ihm sofort Auskunft zu geben. Mit solchen Leuten spaßte man nicht. Die Augen des Kerls verengten sich. Schließlich spuckte der Mann neben Harry auf den Boden, schob ihn zur Seite und trat auf die Straße, als wolle er das herrliche Wetter bei einem Spaziergang genießen.

Harry rückte sein Hemd zurecht. Ja, im Knast war er anders gewesen. Kaum wieder draußen, verfiel er in seine alte Art. Hier konnte er es sich leisten, leisezutreten. Solange niemand seine Eva bedrohte.

Harry stieg die Stufen hinauf.

Vier Türen hatte er oben vor sich, zwei in der Mitte und jeweils eine rechts und links von der Treppe. Eva wohnte in der linken Bude. Vorsichtig versuchte Harry, die Wohnungstür zu öffnen, doch es war abgesperrt. Eva schloss immer ab, egal, ob sie zu Hause oder unterwegs war.

Harry klopfte – nicht dreimal, wie es jeder tat, sondern viermal, mit einer kurzen Pause zwischendrin. Er grinste. Jetzt würde sie wissen, wer hinter der Tür stand. Sie würde ihre Frisur im Spiegel überprüfen, einen Daumen ablecken und versuchen, eine vorwitzige Strähne zur Räson bringen, was ihr nie gelang. Doch das Ergebnis würde sie nicht abwarten, stattdessen würde sie noch einmal über ihr Kleid streichen. Normalerweise würde sie so etwas rufen wie: „Ich bin gleich da.“ Doch dafür wäre sie heute zu aufgeregt. Vielleicht konnte er hören, wie sie sich leise räusperte. Danach würde sie mit der Zunge über ihre Lippen fahren, um sie geschmeidiger zu machen für den Kuss, der auf sie beide wartete.

Klappern des Schlüssels, dann wurde die Tür einen schmalen Spalt aufgezogen. Ein unglaublicher Gestank nach Schweiß und Alkohol schlug ihm entgegen. Ein kleiner Mann stand vor ihm, die vierzig weit überschritten und mit fettigem Haar, das er in langen Strähnen über seine Glatze gelegt hatte.

„Ja“, fragte der andere und rülpste zeitgleich.

Harry war zu verdutzt, als dass er reagieren konnte.

„Ich kauf nix“, sagte der Mann hinter der Tür und drückte sie zu. Harry konnte hören, wie der Schlüssel wieder herumgedreht wurde. Das holte ihn aus seiner Starre. Er klopfte erneut.

„Hau ab!“

„Eva, ich will zu Eva.“

„Is’ keine Eva hier.“

Harry wurde ungeduldig. Er trat mit dem Fuß gegen die Tür. Was war da los? Hielt der Kerl sie etwa in der Wohnung gefangen? Schlimme Bilder erschienen vor Harrys Augen. Er trat härter zu.

„He, du Armleuchter, lass das, oder ich ruf aus dem Fenster, dass ’n Wachtmeister kommt.“

Harry trat noch härter zu, immer wieder. Sollte der Kerl nur die Polizei rufen. Die anderen Türen auf dem Stockwerk blieben geschlossen. Selbst wenn jemand zu Hause war, würde niemand nachsehen, was los war. Mit den Problemen der anderen wollte man nichts zu tun haben. Am Ende wurde man noch in etwas hineingezogen.

Der andere schloss wieder auf. Bevor er die Tür öffnen konnte, kam Harry ihm zuvor. Er griff an die Klinke und rammte die Tür gegen den Kerl auf der anderen Seite.

„He!“, beschwerte sich der Wohnungsbesetzer, doch Harry drückte ihn an die Wand. Er ließ ihm ein bisschen Luft, dann stieß er die Tür erneut gegen den Kerl, der jetzt nur noch ein Uff von sich geben konnte. Am Kopf hatte er ein paar blutige Schrammen abbekommen. Auf seiner Lippe bildete sich ein dicker Blutstropfen. Gut so.

Harry warf die Tür zu, schloss wieder ab und nahm den Schlüssel an sich. Dann packte er den anderen von hinten am Genick. Eine Hand drehte er ihm auf den Rücken, bis er sich vor Schmerzen wand.

„Wo ist Eva?“

„Dammich, kenn’ doch keine Eva“, brüllte der Kerl. Auch damit würde er keinen Nachbarn aufschrecken. Es konnte in der Nebenwohnung ein Krieg mit Kanonendonner stattfinden. Solange die Wand das aushielt, verhielt man sich still.

Harry schob den Kerl vor sich her, wie er es im Knast gelernt hatte. Die Wohnung bestand aus zwei Zimmern, was ein großer Luxus für eine Einzelperson bedeutete. Eva hatte die Wohnung durch eine Beziehung ihrer Eltern erlangt. Wie das zustande gekommen war, das wusste er nicht. Als Harry Eva kennenlernte, da wohnte sie schon hier.

Harry schob den Kerl durch beide Zimmer, um sicherzugehen, dass sonst niemand hier war, der ihm in den Rücken fallen konnte. Dann stieß er ihn von sich weg, sodass der Kerl mit dem Kopf voran gegen die Wand prallte, hinfiel und wimmernd liegen blieb.

Die Möbel waren noch dieselben, die er zuletzt in dieser Bude gesehen hatte. Zumindest, soweit er sich erinnern konnte. Heute waren sie nur unglaublich schmutzig. Dazu stank es hier drinnen wie in einem Schweinestall. Die Luft draußen war schon nicht gut, allein wegen der überfüllten Klos in den Höfen und den Urinrinnsalen auf der Straße, wegen des Mülls, der sich in den Häuserecken türmte. Dennoch öffnete Harry das Fenster und genoss den Geruch, der von draußen hereinkam.

Hinter ihm raschelte es. Harry drehte sich herum. Der andere hatte sich aufgerichtet und suchte etwas auf dem Schrank, in dem Eva ihre Wäsche aufbewahrt hatte. Mit drei schnellen Schritten war Harry bei ihm, drängte den Kerl weg, dann schaute er in den Schrank. Dort lag eine Eisenstange, vielleicht von einer Baustelle geklaut. Harry griff nach der Stange und hielt sie wie eine Waffe vor sich.

„Ich will jetzt wissen, wo Eva ist. Was du mit ihr gemacht hast. Und ich warne dich: Für jede falsche Antwort zieh ich dir eins über.“

Der andere wurde bleich. Er hob die Arme und duckte sich. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch er blieb stumm, überlegte kurz, und als Harry die Stange drohend ein Stück höher hob, öffnete er wieder den Mund. Dann schaute er zum offenen Fenster, als sei dies der gesegnete Fluchtweg.

„Nun, was ist?“

„Dammich“, kam es jetzt aus dem anderen heraus, „ich kenn’ deine Eva nich’, da kannste mir zehnmal eins ­überbraten.“

Harry starrte sein Gegenüber eine Weile an, dann schaute er in den Schrank. Von Evas Wäsche keine Spur. „Wie lange wohnst du schon hier?“

„Schon ’ne ganze Weile, is’ schon der zweite Frühling. Hab’ die Bude damals günstig gekriegt.“

„Warum günstig?“

„Na ja, hab’ se erst ausräumen müssen.“

Harry spürte, wie sein Magen sich verkrampfte. „Sachen von einer Frau?“

„Ja, Wäsche und so’n Zeug. Das meiste hab’ ich weggeschmissen.“

„Was nicht? Was ist noch da?“

Der andere zuckte mit den Schultern. „Nix ist mehr da. Hab’ das Geld, das ich gefunden hab’, ausgegeben. Den Schmuck hab ich am Hafen verscheuert.“

„Das Geld?“

„Nur ’ne Handvoll Münzen. War nich’ viel, ehrlich!“

„Wie hat es hier ausgesehen, als du die Wohnung übernommen hast?“

„Normal eben. Als wenn da einer wohnen tät.“

Harry stellte die Eisenstange ab. Ihm wurde schlecht. „Wer hat dir die Wohnung angeboten?“

„Irgend so’n Kerl am Hafen. Hab’ inner Ecke gesessen. Es war zwei oder drei Uhr morgens. Da kommt der aus’m Nix und überlässt mir die Bude. Die Miete zahl ich an den Kerl, dem se gehört. Der war grad so überrascht wie du, aber ihm war’s egal. Sagte nur, dass er mich rausschmeißt, denn ich nicht zahl’.“ Er schniefte. „Wird knapp, die Woche. Hab’ kein Einkommen.“

„Du gehst nicht arbeiten?“

Der andere wiegte den Kopf hin und her. „Is’ nich’ immer einfach.“

Harry setzte sich auf einen der beiden Stühle. Er fühlte sich müde und kraftlos. Was war das mit Eva? War sie weggegangen, ohne etwas mitzunehmen? War ihr etwas zugestoßen? Oder hatte sie, entgegen dem, was Harry jemals für möglich gehalten hatte, seine Beute genommen und sich aus dem Staub gemacht?

Plötzlich raffte er sich wieder auf. Widerstand regte sich in ihm. „Du bleibst, wo du bist“, sagte Harry und fuchtelte mit der Eisenstange vor dem anderen herum.

„Is’ klar.“

Dann fing Harry an, die Wohnung zu durchsuchen, schaute in den Schrank, bis unten, schob den Schrank zur Seite, schaute oben drauf, untersuchte jeder Schublade, nahm das Bett auseinander, warf das graue, stinkende Laken durch den Raum, untersuchte die Matratze, warf auch sie runter. Dann waren die Töpfe dran, das Geschirr, das er noch zu gut kannte, selbst der Ofen und die Sammlung an alten Zeitungen, die dafür dienen sollten, das Holz im Ofen anzuzünden, wenn es denn Holz gegeben hätte. Nirgendwo fand er einen Hinweis auf Eva, auf ihr Schicksal, auf ihren Verbleib.

Obwohl der neue Mieter genügend Gelegenheit gehabt hatte, aus der Tür zu verschwinden und zu flüchten, weil Harry zu beschäftigt mit der Suche war, hatte er sich keinen Fingerbreit bewegt.

„Und jetzt? Räumst du mir die Bude wieder auf?“

Harry hatte eine halb volle Flasche Schnaps gefunden. Er antwortete nicht, sondern setzte sich auf den Stuhl und nahm einen kräftigen Schluck.

„He, das is meine Notreserve!“

„Und das ist eine Notlage.“ Harry trank noch einen Schluck. Das Zeug brannte in seinem Hals und trieb ihm die Tränen in die Augen. Er war Schnaps nicht mehr gewohnt. Doch der Schmerz und das Unbehagen, die mit seinem Genuss verbunden waren, kamen ihm gerade recht.

Eva war fort. Scheinbar spurlos verschwunden. Allein das war schlimm genug, doch dazu kam die Beute, mit der sie gemeinsam ein neues Leben aufbauen wollten. Für beides, Eva und das Geld, hatte Harry die letzten vier Jahre im Knast ausgehalten. Was waren schon vier harte Jahre hinter Gittern, wenn einen anschließend dreißig Jahre in Ruhe und Frieden erwarteten?

War Eva mit dem Geld abgehauen? Aber warum hatte sie dann so lange gewartet?

Also war sie nicht freiwillig gegangen. Wer hatte das zu verantworten? Die Polizei?

„Gib mir wenigstens noch’n Schluck, bevor du alles weggesoffen hast.“

Harry starrte die Flasche an. Sie war fast leer. Er hatte, ohne es zu merken, immer weiter getrunken. Auf den Rest kam es jetzt auch nicht mehr an. Er kippte sich den Rest auch noch hinter die Binde.

„Oh Mann“, nörgelte der Kerl in der Ecke.

„Wie heißt du?“

„Anton.“

Harry nickte.

„Und du?“

Harry nannte seinen Namen.

„Und jetzt machst du wieder ’ne Fliege, ja?“

Harry stand auf. Er hatte Hunger, war müde und angetrunken. Der Nachmittag war schon weit fortgeschritten. Er musste sich auf die Suche nach Eva machen.

„Gehste jetzt dein Mädchen suchen?“

Harry antwortete nicht, sondern ging zur Tür.

„Is’ was für mich drin, wenn ich dir helf?“

Harry blieb kurz stehen, überlegte seinen nächsten Schritt. Anton schien das als ein Zeichen zu sehen. „Bin bei dir, Kumpel.“

Harry hatte nicht darum gebeten. Vielleicht konnte er den Kerl noch brauchen, doch jetzt war es ihm gleichgültig, dass Anton ihm folgte, ihm die Stufen nach unten hinterherlief.

2 Konrad

Die Mietdroschke hielt vor dem Haus des Fabrikanten Heinzmann. Eigentlich war dieser Luxus zu teuer für Konrad, doch er musste weiterhin Eindruck schinden. Wahrscheinlich würde ihn kaum jemand in diesem Gefährt sehen, doch der Zufall trieb manchmal ein böses Spiel. Es war besser, alles richtig zu machen. Erschwerend für Konrads Geldbeutel kam hinzu, dass er den Kutscher warten lassen musste, damit dieser ihm ständig zur Verfügung stand. Der schamlose Kerl auf dem Kutschbock war ein Schlitzohr, das erkannte, wenn sich ihm eine Gelegenheit bot, gutes Geld einfach zu verdienen. Notlagen anderer konnte solches Volk weit gegen den Wind riechen.

Konrad musste endlich bei den Heinzmanns vorankommen. Lange würde es nicht mehr dauern, bis ihm das Geld ausging, insbesondere in diesem sündhaft teuren Hotel, das gegenüber den besten Hotels der Stadt immer noch sehr viel günstiger war. Konrad hatte sich damit herausgeredet, dass er sich nicht auskannte und die ersten Häuser der Stadt bei seiner Ankunft ausgebucht waren. Und dass er jetzt zu bequem war, sein Domizil zu wechseln. Er fände es sogar erfrischend, einmal diese Seite einer Stadt kennenzulernen. Bla-bla-bla.

Konrad wartete, bis der Diener, der draußen die Gäste empfing, zu seiner Droschke gelaufen kam und die ­Kabinentür öffnete. Dann stieg er aus, mit geradem Rücken und nach oben gereckter Nase, das niedere Volk dabei kaum wahrnehmend. So, wie er es in diesen Situationen immer tat.

Lore war eine vielversprechende Partie. Sie würde ein gewaltiges Vermögen mit in eine Ehe bringen. Sie war sein bislang größter Fisch, den er an der Angel hatte. Und wenn alles so lief, wie er es sich vorstellte, dann war sie auch der letzte Fang, den er machen musste, um für den Rest seines Lebens ausgesorgt zu haben. Dabei sah sie auch noch recht passabel aus, was natürlich die Bewerber­schar nahezu unüberschaubar machte, doch niemand konnte mit Konrad mithalten. Immerhin war er ein Großindustrieller, der in der Ferne, vorwiegend in Westindien, sein Geld verdiente. So suggerierte er das zumindest jedem, den er in Hamburg traf. Und das waren in den knapp sechs Wochen eine Menge Leute gewesen. Seinen schwäbischen Dialekt hatte er sich schon vor Jahren mühevoll abgewöhnt, und das hatte sich auch in dieser Stadt bezahlt gemacht, denn nichts war schlimmer, als wenn man etwas Provinzielles an sich hatte. Zumindest, wenn es eine fremde Provinz betraf. Doch nun wurde das Geld der reichen Witwe, die er im Berliner Umland beerbt hatte, knapp.

Konrad schritt durch das Entree und reichte einem weiteren Bediensteten Hut und Gehstock. Dann schaute er in den Spiegel, ob nach der holprigen Fahrt in der Droschke noch alles an der richtigen Stelle saß. Besonders auf seine Locken bildete er sich einiges ein. Sie waren natürlich und ungewöhnlich. Die Frauen mochten das.

Im großen Salon, aus dem eine Reihe Möbelstücke entfernt worden waren, um genügend Platz zu schaffen, befanden sich bereits an die drei Dutzend Menschen. Einige kannte er von anderen Veranstaltungen. Es handelte sich weitgehend um Fabrikanten in den verschiedensten Branchen. Dort sah er einen alten Adligen aus einem kleinen Herzogtum, das nie eine besondere Bedeutung erlangt hatte, doch das ein exquisites Bankhaus sein eigen nannte und dessen Direktion der Herzog vorsaß.

Und dort, am Fenster zum Garten, stand Lore. Man konnte sie kaum sehen. Das zarte Geschöpf wurde wie üblich umschwirrt von den gierigen reichen Lümmeln Hamburgs, die im Alter von Mitte zwanzig bis Anfang dreißig mit abgestoßenen Hörnern bereit waren, um eine Ehe einzugehen. Konrad wirkte gegen diese aufgescheuchten Kinder wie die einzig gute Partie, die sich in Aussicht stellte. Sah man einmal von dem ergrauten Pfarrer ab, dessen Frau im letzten Jahr gestorben war und der sich ein alter Freund der Familie Heinzmann nennen durfte. Er hatte Lore getauft und konfirmiert. Wahrscheinlich hatte sie als Kind auch auf seinem Schoß gesessen und zu reite, reite Rössle vor Vergnügen gejauchzt. Und bald sollte sie das, wenn es nach dem Pfarrer ging, wohl wieder tun.

Konrad bemerkte, wie seine Hand auf der Tasche seiner Smoking-Jacke lag, und nahm sie von dort weg. Er würde den Trumpf bald ausspielen.

Frau Heinzmann sah ihn und winkte ihm ganz undamenhaft. Besonders auf sie hatte Konrad Eindruck gemacht, während Lores Vater froh war, wenn er seine Ruhe von all dem feinen Getue hatte. Er war als einfacher Mann aufgestiegen und genau das letztendlich auch geblieben. Nur dass er jetzt Zigarren statt Zigaretten rauchte und Brandy statt klaren Schnaps trank.

Das Betragen der Gastgeberin hatte Aufmerksamkeit erregt. Die Leute schauten ihn an, nickten ihm zu oder schenkten ihm ein Lächeln. Immerhin war er charmant und reich, da konnte es von Vorteil sein, ihn nicht wie Luft zu behandeln und wenigstens den Schein zu wahren. Darum ging es in diesen Kreisen am Ende immer. Man durfte nicht zu viel von sich selbst preisgeben, denn das konnte einem irgendwann einmal auf die Füße fallen. Mit ein bisschen Beobachtungsgabe und Verstand war man in der Lage, sich unter all den Bestien zu bewegen, ohne gefressen zu werden. Die Heinzmanns, insbesondere die Ehefrau des Fabrikanten, hatte kaum Gaben und Verstand noch weniger, weshalb sie sich aufführte, als wäre dies ein Kaffeekränzchen unter Waschweibern.

„Herr von Bitz“, rief sie nach ihm und hörte nicht auf zu winken. „Herr von Bitz!“

Die Leute machten ihm Platz, denn sie wussten, das Rufen würde erst aufhören, wenn die Gastgeberin ihn in ihren Fängen hatte.

Während er seinen Weg durch die Reihen ging, schaute er immer wieder zu Lore, die ihn kurz ansah, sich dann aber erneut dem Gespräch mit den jungen Bürschchen widmete.

Beinahe übermütig streckte ihm Frau Heinzmann die Hände entgegen. Er ergriff sie, hauchte jeweils einen Kuss auf jeden Handrücken, dann strahlte er sie an.

„Es ist sehr freundlich von Ihnen, mich einzuladen.“

„Aber das ist doch eine Selbstverständlichkeit.“

„Entschuldigen Sie bitte meine Verspätung, doch ein äußerst dringendes Geschäft hielt mich davon ab, rechtzeitig aufzubrechen. Es ist eine Schande, dass diesen Dingen so viel Aufmerksamkeit eingeräumt werden muss, aber was würden die armen Kleinbauern in den fernen Ländern nur tun, wenn wir ihnen nicht ihre Waren so großzügig abkauften.“ Dabei schüttelte er mitleidig den Kopf. „Verhungern würden diese armen, fleißigen Männer. Und ihre Familien ebenfalls.“

„Ach, Sie haben immer ein so großes Herz.“

Konrad hatte sich absichtlich verspätet, denn er wusste, das würde ihm einen besonderen Auftritt verschaffen, mehr, als wäre er nur einer von vielen Gästen, die nahezu gleichzeitig eintrafen.

„Wie ich sehe, unterhalten sich all diese fabelhaften Menschen sehr prächtig bei Ihnen.“

Frau Heinzmanns Wangen glühten rot. „Dass Ihnen das aufgefallen ist ...“, sagte sie bescheiden.

„Auch Lore hat ein paar Bekannte getroffen, wie ich sehe.“

Frau Heinzmann winkte ab. „Ach das, das sind doch nur ...“ Sie wusste nicht, wie sie den Satz beenden sollte.

„Sagen Sie, wo ist eigentlich Ihr Mann?“

„Ach, Sie wissen doch, wie der ist. Er sitzt in seiner Bibliothek und lässt sich bei solchen Gesellschaften kaum blicken. Selbst die Häppchen muss man ihm bringen.“ Bei diesen Worten wirkte sie ein wenig bedrückt. „Wollen Sie ein Glas Punsch haben?“ Sie war im Begriff, einen der gemieteten Kellner heranzuwinken.

„Das will ich mir auf keinen Fall entgehen lassen. Doch zuerst möchte ich ein paar Worte mit Ihrem Mann wechseln.“

„So?“ Sie hob die Augenbrauen und schielte zu Lore. Konrad tat es ihr gleich. Sie unterhielt sich angeregt mit einem bestimmten Exemplar der jungen Schnösel.

„Ja, und vielleicht können wir anschließend miteinander anstoßen.“

„Ach so?“ Jetzt strahlte Frau Heinzmann wieder. Seine Worte waren nicht zu subtil gewählt. Die Hausherrin hatte ihn verstanden. „Sie kennen den Weg, Herr von Bitz?“

„Aber sicher doch.“ Natürlich wusste er, wo sich die Bibliothek des alten Kauzes befand. Er hatte lange genug damit zugebracht, sich bei Familie Heinzmann beliebt zu machen, nachdem ihn die Recherchen nach einem geeigneten Objekt zur Sicherung seines Lebensstils zu Lore geführt hatten.

Konrad ging durch den Korridor und klopfte an die Tür. Die Antwort hätte dem Ton nach, wie sie ausgesprochen wurde, sowohl Herein als auch Hinfort lauten können. Konrad öffnete die Tür und trat ein.

Heinzmann saß in seinem Lieblingssessel, hatte ein Glas Brandy neben sich auf dem Tisch stehen und schmökerte in einer Akte, während die Zigarre im Aschen­becher so aussah, als sei sie, obwohl erst zu einem Drittel abgebrannt, bereits kalt.

„Guten Abend, Herr Heinzmann. Ich habe mich sehr über die Einladung zu Ihrem Ball gefreut.“

„Ein Ball?“, knurrte der Alte und sah erst jetzt zu ihm auf. „Wenn Sie das einen Ball nennen, dann haben Sie entweder noch nie einen gesehen oder Sie versuchen, besonders zuvorkommend zu sein.“ Er rümpfte die Nase. „Beides finde ich verdächtig.“

Konrad setzte ein strahlendes Lächeln auf. „Sie haben mich erwischt, Herr Heinzmann. Ein wirklicher Ball passt nicht zu Ihrer Art. Sie lieben die eher intimen Zusammen­künfte, die viel persönlicher sind und die Möglichkeit bieten, sich an geistreichen Gesprächen zu erfreuen.“

„Intim, ja, ja. Am liebsten in der Einsamkeit.“

„Es gibt jedoch Gelegenheiten, die auch einen größeren Rahmen bedürfen.“

„So? Die gibt es?“

Konrad schritt jetzt auf den alten Heinzmann zu. „Ja, und auch Sie, da bin ich mir sicher, werden, trotz Ihrer Liebe zur Zurückgezogenheit, die Gelegenheit zu würdigen wissen, aus sich herauszugehen. Mit Verlaub.“

„Sie scheinen mir heute ein wenig anmaßend. Mit Verlaub.“

„Oh, entschuldigen Sie, wenn ich etwas zu forsch auftrete, doch der Entschluss, den ich gefasst habe, die Erwartung und die Spannung, die meinen Geist erfüllen, lassen mich diese Worte sagen.“

Der Alte runzelte die Stirn. „Das klingt mir nach einem lukrativen Geschäft, dem Sie auf der Spur sind. Setzen Sie sich zu mir und erzählen Sie davon. Das interessiert mich.“ Er deutete auf einen freien Sessel ihm gegenüber.

Konrad nahm Platz. „Nichts könnte falscher sein, als von einem Geschäft zu sprechen. Nun habe ich endlich den Mut gefunden, um mein Anliegen vorzubringen, das einige Zeit meine Seele beschäftigt.“

„Wir wollen nicht, dass Ihre Seele Schaden nimmt, also nur frei heraus.“

„Seit ich Ihre Tochter sah ...“

„Ach so“, unterbracht der Alte ihn. „Darum geht es.“

„Ich war sofort von ihrem Wesen bezaubert.“

„Meine Frau geht mir schon eine ganze Weile auf die Nerven damit.“

„Und dann die geistreichen Gespräche mit ihr, die mir immer wieder neue Sichtweisen zu meinen bescheidenen Ansichten die Kultur betreffend ermöglichen.“

„Die will nämlich nicht, dass Lore zu einer Pfarrerstochter verkommt. Im Gegensatz zu dem alten Gebets­bruder haben Sie wohl nicht ein Auge auf ihr Geld geworfen, nicht wahr? Sie haben schließlich selbst genug davon.“

Der Alte hörte ihm einfach nicht zu. Er interessierte sich nicht für die Schwurbeleien, die Konrad in seinem Repertoire hatte. Also ging er auf den Alten ein. „Ich werde meine Zukünftige schon zu unterhalten wissen, wenn Sie das meinen.“

„Ja, na also gut, meinen Segen haben Sie. Den meiner Frau schon lange.“

Es fehlte nur noch, dass er abwinkte, so gelangweilt klangen seine Worte. Doch für Konrad hätte es nicht besser laufen können.

„Ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Sie werden Ihre Entscheidung zu keiner Zeit bereuen.“

„Jetzt ist es wohl an der Zeit, darauf anzustoßen.“ Er deutete hinter Konrad auf ein bestimmtes Regalfach. „Holen Sie sich eins von den Gläsern.“

Konrad tat, wie ihm geheißen wurde. Dann stießen Sie mit Brandy an.

„So, jetzt suchen Sie sich einen Diener und lassen ihn meine Frau und Lore hierher bringen. Und während wir warten, rauchen wir einen von meinen guten Torpedos.“

Es war, als habe Frau Heinzmann ihre Tochter in dem Moment an der Hand geschnappt, als Konrad die Biblio­thek des Hausherrn betreten hatte. Und als habe sie seitdem auf der Lauer gelegen. Es vergingen nur wenige Herzschläge, bis die beiden Frauen im Zimmer standen, die Mutter mit einem hochroten Kopf, die Tochter mit einem fragenden Blick.

Konrad sprang auf und legte seine Zigarre zur Seite, die gerade erst Feuer gefangen hatte. Er wollte seinen Spruch aufsagen, der Mutter schmeicheln, Lore schmeicheln und dann die Frage stellen, deren Beantwortung über seine künftigen finanziellen Verhältnisse entscheiden würde.

Heinzmann kam ihm zuvor.

„Stellt euch vor, um was Herr von Bitz mich gerade gebeten hat?“

Wenn man es genau nahm, dann hatte Konrad um nichts gebeten, oder? Er war gar nicht richtig zu Wort gekommen.

Frau Heinzmann klatschte in die Hände und strahlte ihn an. Lore, das sah man ihrem Gesichtsausdruck an, verstand jetzt endlich, was gerade geschah: dass sie verlobt wurde.

„Liebe Lore“, begann Konrad.

Sie wurde nun ebenfalls knallrot im Gesicht. Konrad hoffe, es war die Aufregung und nicht der Ärger über sein Vorhaben. Doch sie konnte kaum etwas herausbringen, denn die Mutter zerrte schon an ihr. „Wir müssen es den Leuten sagen. Was werden die für Augen machen.“

Konrad holte das kleine Etui aus seiner Tasche, öffnete es und hielt es Lore hin. Als die beiden Frauen den großen Klunker sahen, der auf dem Ring steckte, waren sie im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos. Wenn sie wüssten, wie er an das sündhaft teure Stück gekommen war, würden sie nicht vor Freude und Stauen nach Luft schnappen, sondern vor Entsetzen.