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Alexander Hirtenbach, Astronaut und Held des Dorfes Klarenfeld, erhängt sich in der Scheune. Sein Neffe Marvin erbt das Haus seines Onkels. Und das dunkle Geheimnis, das sich darin eingenistet hat.
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Seitenzahl: 235
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LOVECRAFTS SCHRIFTEN DES GRAUENS
BUCH 35
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Über den Autor
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Copyright © 2023 BLITZ-Verlag
Hurster Straße 2a, 51570 Windeck
Redaktion: Alfred Wallon
Titelbild: Mario Heyer
Umschlaggestaltung: Mario Heyer
Logo: Mark Freier
Satz: Torsten Kohlwey
Alle Rechte vorbehalten.
www.Blitz-Verlag.de
ISBN: 978-3-7579-5418-5
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„Ich war es, der ihn gefunden hat, musst du wissen. Was für ein Schock, das kann ich dir sagen. Es ist jetzt schon drei Tage her, und noch immer zittern mir die Knie. Ich war ja wegen des Interviews gekommen. Also, er hatte es noch nicht zugesagt, aber ich war ganz sicher, dass er es nicht ablehnen würde. Er wusste ja schließlich, was er an mir, ich meine, an uns hatte, nicht wahr? Seine treuesten Fans.“
Uwe Schröter, der Vorsitzende des Alexander Hirtenbach Fanklubs Klarenfeld, kurz AHFK, sah Marvin erwartungsvoll an, dann redete er weiter. Marvin hatte die Chance vertan, ein abschließendes Wort zu finden und ins Haus zu verschwinden. Also blieb er am Gartentor gefangen. Genau wie Schröters Promenadenmischung an der Leine, die längere Aufenthalte scheinbar gewohnt war, denn sie setzte sich hin und wartete geduldig. Wohl, weil sie gelernt hatte, dass alles ziehen und zerren nichts brachte.
„Na ja, ein bisschen komisch war er schon, dein Onkel, gerade in den letzten Tagen, aber auch insgesamt, also seit er von seinem letzten Ausflug, haha, Ausflug, ja, so nennen wir das, zurück war. Ich glaube, es war irgendwann im März.“
Marvin wusste, dass Schröter den genauen Tag und die Uhrzeit kannte und dass er jetzt nur unwissend tat. Vielleicht, um nicht als Stalker verdächtigt zu werden.
„Na, du wirst ja wissen, wann das war, auch wenn du ihn nicht besucht hast. Er hat ja ganz allein hier gelebt. Es hat sich außer mir, außer uns, keiner wirklich um ihn gekümmert, und das, obwohl wir keinen müden Euro dafür erhalten haben. Geht jetzt nicht gegen dich, Marvin, als junger Mensch hat man schließlich andere Interessen. Eh, und Pflichten auch, ja, das verstehe ich. Ich hatte damals nicht die Möglichkeit, zu studieren. Wir hatten ja kein Geld, ich musste mit fünfzehn schon in die Werkstatt, aber bei dir ist das was anderes, du hattest ja deinen Onkel, der dir das Studium ermöglichte, nicht wahr? Also nichts für ungut. Du musst nicht so schauen. Keiner macht dir Vorwürfe. Ich am allerwenigsten.
Wenn ich jetzt an den Klub denke, und das muss ich ja schließlich auch irgendwie so als Vorsitzender, da sind wir doch auch verpflichtet, das Erbe deines Onkels zu bewahren. Also das Vermächtnis natürlich, nicht das Erbe. Das ist ja wohl eher deine Sache, das Erbe. Nichts für ungut, aber wir haben da schließlich eine Verantwortung übernommen, der wir uns auch in schweren Zeiten stellen wollen. Also wenn ich irgendwann einmal vorbeischauen dürfte, denn jetzt gehört doch wohl alles dir, nicht wahr? Bist ja der Letzte in der Familie, nicht wahr? Denke ich doch. Also da müssen wir unbedingt gemeinsam mal in seinen Unterlagen schauen, was es noch zu entdecken gibt. Uns vom Klub schwebt da ein Buch vor. Ein Gedenkbuch, vielleicht auch mit bislang unveröffentlichtem Material.
Es wäre wirklich eine Schande, wenn dein großartiger Onkel in Vergessenheit geraten sollte. Du weißt ja, dass unsere Gemeinde extra für ihn einen goldenen Schlüssel anfertigen ließ, nicht wahr? Das wäre so ein Beispiel für unser Museum, das wir planen. Finanziert vom Erlös des Gedenkbuches. Da könnte man doch zum Beispiel den goldenen Schlüssel der Gemeinde Klarenfeld ausstellen. Unter Glas natürlich, damit er nicht geklaut wird. Das wäre auch gut für alle hier. Wenn Touristen kommen, dann gehen sie auch was essen, oder sie übernachten auch mal. Vielleicht parken sie auch falsch, dann kann der Vorsteher direkt bei ihnen abkassieren, haha. Und eine Plakette für das Haus, die wäre natürlich auch notwendig. Ich denke doch, dass das aus dem Nachlass finanziert werden kann. Und für das Museum, also, meinst du, oder überlegst du mal vielleicht, ob die Scheune, also auch wenn ich ihn darin gefunden habe, aber die Scheune wäre doch nicht schlecht. Man könnte einen eigenen Weg von der Straße her gestalten. Also du könntest das doch machen. Hast ja auch etwas von seinem Andenken, nicht wahr? Kannst in Ruhe zu Ende studieren. Ohne finanziellen Druck, nehme ich an. Also überleg es dir, Marvin. Wir alle, alle sage ich, sind deinem Onkel viel schuldig und jeder muss sich seiner Verantwortung stellen. Du als junger Mensch hast die Chance, schon früh diese Erfahrung zu machen.
Ich muss jetzt auch los, muss den anderen Klubmitgliedern von unserem Gespräch berichten. Und von unserem Vorhaben. Übrigens Klubmitglied, dein Onkel konnte ja kein Mitglied in seinem eigenen Fanklub sein, aber du bist herzlich eingeladen. Wir treffen uns einmal im Monat, nun gut, jetzt zur Planungsphase für das alles, was wir vorhaben, da wird es öfter sein, aber sonst einmal im Monat, immer am Freitag, abends um sieben. Aber für einen Studenten können wir auch mehr aufs Wochenende ausweichen, auf Samstag vielleicht, nach der Bundesliga. Überhaupt treffen wir uns da sowieso zum Stammtisch.
Also dann, Marvin, denk über alles nach, und dann werden wir uns schon einigen.
Mach’s gut, ach ja, und herzliches Beileid. Habe ich vor lauter Aufregung vergessen.“
Schröter klopfte Marvin auf die Schulter, dann wandte er sich um und ging die Straße hinab in Richtung des Astronauten, der Dorfkneipe, die früher einmal prägnant Dorfkrug geheißen hatte. Vor einigen Jahren war sie zu Ehren von Marvins Onkel umbenannt worden.
Es war ein langer Tag für Marvin gewesen. Die Verbindung mit den öffentlichen Verkehrsmitteln nach Klarenfeld war alles andere als gut zu nennen. Dann noch die Verspätung des ersten Zuges und die überpünktliche Abfahrt seines Anschlusses. Die letzten zehn Kilometer war er vom Bahnhof aus per Anhalter gefahren. Also eigentlich war er mehr als die Hälfte der Strecke mit seiner Tasche über den Schultern gelaufen, weil ihn zunächst niemand hatte mitnehmen wollen. Und nun war es bereits acht Uhr am Abend und dunkel. Und er hatte seit dem Frühstück nichts gegessen. Und jetzt laberte ihn dieser Schröter stundenlang zu. Als hätte der nur darauf gewartet, dass Marvin ankam. Kaum dass Marvin in die Ortseinfahrt eingebogen war – Onkel Alex’ Haus war direkt das erste hinter dem Ortsschild –, war Schröter aus der Dunkelheit auf ihn gestürzt wie ein Verbrecher, der auf sein Opfer lauerte.
Marvin fröstelte. Es wurde mit Riesenschritten Herbst. Schröter glaubte wohl allen Ernstes, dass Onkel Alex ihm eine Menge Kohle zugesteckt hatte. Das war lächerlich. Alles musste sich Marvin selbst verdienen. Jeden Cent. Deshalb war auch kein Geld für eine warme Jacke da.
Er zog die Nase hoch und nahm seine Tasche wieder auf, die er während Schröters Monolog abgestellt hatte. Dann öffnete er das Gartentor und ging den breiten Vorgarten entlang.
Hatte ihn Schröter eigentlich begrüßt? Dieser alte, selbstverliebte Geier hatte wahrscheinlich nur sein Gedenkbuch und das Museum im Sinn. Weil er selbst nicht dazu in der Lage war, etwas zu leisten, riss er die Prominenz des bekanntesten Bürgers Klarenfelds an sich und baute sich darauf etwas auf.
Onkel Alex war einfach zu nett gewesen, weil er das zugelassen hatte. Ja, er war nett gewesen. Geizig, aber ein feiner Kerl. Denn er ließ seinen Neffen in seinem Haus leben, wenn dieser nicht gerade in Frankfurt studierte. Und das seit so vielen Jahren, weil sie nur noch sich hatten. Sonst niemanden.
Marvin stand vor der Haustür und kramte nach dem Schlüssel in der Tasche.
Ausgerechnet Schröter hatte Onkel Alex in der Scheune gefunden. Das verkaufte er jetzt auch als seine Leistung, so als habe er selbst die Schlinge geknüpft und Onkel Alex auf die Leiter gestellt und diese weggestoßen und dabei gerufen: Tun Sie es nicht!
Marvin verzog den Mund. Aufgehängt. Das sah Onkel Alex gar nicht ähnlich. Absolut nicht. Aufgehängt. Scheiße!
Marvin fand den Schlüssel und schloss die Tür auf. Er trat ein und machte Licht. Schon seltsam, so allein in diesem Haus. Da war keiner im Arbeitszimmer oder in der Küche. Alles war dunkel und kalt. Auch wenn das Licht brannte und die Heizung lief: Es fühlte sich nicht gut an.
Marvin schloss die Tür hinter sich, ließ die Tasche auf den Boden gleiten, schlüpfte aus den Schuhen, ging erst einmal durch die Wohnung und machte überall Licht. Es war, als müsse er sichergehen, wirklich allein zu sein.
Die Polizei hatte ihm mitgeteilt, dass man keinen Abschiedsbrief gefunden hatte. Weil die Sachlage aber eindeutig schien, der Tote eine bekannte Persönlichkeit war und außerdem ein Schulfreund des Kommissars, hatte man darauf verzichtet, das Haus auf den Kopf zu stellen und vielleicht auf peinliche Details zu stoßen, die das Image des Toten ankratzten. Wenn Marvin einen Brief oder Beleg finden sollte, möge er die Polizei benachrichtigen. Darüber hinaus würde man Alexander Hirtenbach einer Obduktion unterziehen. Nur zur Sicherheit, dass wirklich keiner nachgeholfen habe, den berühmtesten Sohn Klarenfelds in seiner Scheune aufzuhängen.
Dem ersten Anschein nach war alles so, wie es sein sollte. Alles lag an seinem Platz. Weder auf dem Schreibtisch noch irgendwo anders lag ein Umschlag mit der Aufschrift An Marvin, An meinen Neffen oder Warum ich nicht mehr leben will.
In der Küche schaute er in den Kühlschrank, aber da war nicht viel. Im Brotkasten lag altes Körnerbrot, das er nicht mochte. Was, zum Teufel, sollte er essen? Er hatte Lust auf etwas Deftiges. Ein Steak mit Bratkartoffeln. Aber dafür fehlte ihm das Geld. Nun, er wusste, wo Onkel Alex seine Barschaft aufbewahrte, in seinem Arbeitszimmer im ersten Stock, in der linken Schublade des Schreibtisches.
Marvin tapste hinauf und fand, was er suchte. Sogar ganz ordentlich was.
Marvin nahm sich einen Fünfziger und legte den Rest wieder zurück. Er würde sowieso alles erben, da brauchte er kein schlechtes Gewissen zu haben. Und dass Onkel Alex genug Geld hatte, das war allgemein bekannt. Das Studieren würde Marvin nun leichter fallen, weil er seinen Job im Kulturzentrum aufgeben konnte, um sich ganz dem Lernen hinzugeben. Na ja, vielleicht würde er trotzdem ins Kulturzentrum gehen, nur dass er dann auf der anderen Seite der Theke stehen würde.
Mit dem Geld in der Tasche zog er die Schuhe wieder an, dann nahm der die Jacke seines Onkels vom Haken. Sie war ein bisschen zu groß für ihn, aber sie war auf jeden Fall wärmer als seine eigene.
Das Licht im Flur ließ er an. Das gab ihm das Gefühl, jemand würde auf ihn warten.
Dann ging er zum Astronaut.
* * *
Es war offen und so zog er die Tür auf. Früher war er schon mal da gewesen, als er alt genug gewesen war, um Bier zu trinken. Nico, Rick und er waren die einzigen Jungs ihrer Klasse, die aus Klarenfeld kamen. Und weil man ohne fahrbaren Untersatz nicht aus diesem Dorf wegkam, hatten sie eine verschworene Einheit der Landeier gebildet. So lange, bis sie nacheinander den Führerschein gemacht hatten.
Marvin betrat den kleinen Flur, dann öffnete er die Tür auf der rechten Seite, auf der Gaststube stand.
Alles kam Marvin bekannt vor. Vier Jahre waren an einem Ort wie diesem keine lange Zeitspanne. Wahrscheinlich bedeckten die dunklen grün-grauen Fliesen schon seit den Fünfzigerjahren den Boden. Die Wand und die Bilder, die dort hingen, waren grau und stumpf, weil über Jahrzehnte im Dorfkrug geraucht wurde. Die Stühle, die Tische und die Theke waren aus heller Eiche und massiv. Immerhin, Marvin hatte schon dunklere Löcher gesehen.
Hinter dem Tresen stand Waldemar, von allen nur Waldi genannt. Sein schmales Gesicht schaute zur Tür. Es schien Marvin fast, als würden Waldis abstehende Ohren durch den Luftzug, den die geöffnete Tür verursachte, flattern. Waldi stand seit den Siebzigern dort, nachdem er den Dorfkrug von seinem Opa geerbt hatte. Marvin wusste sonst nicht viel über den Wirt, und er glaubte nicht, dass nach diesem ein anderer Wirt den Astronaut übernehmen würde.
An dem ovalen Tisch am hinteren Ende saß Schröter mit drei anderen Kerlen und tat das, was er am besten konnte: Sich wichtigmachen. Mit großen Gesten und lauter Stimme erzählte er von einer Begebenheit mit Alexander Hirtenbach. Wahrscheinlich hatten seine Zuhörer diese Geschichte schon ein Dutzend Mal über sich ergehen lassen müssen. Das war dann wohl der Stammtisch, von dem Schröter gesprochen hatte.
Marvin hoffte, man würde ihn in Ruhe lassen. Er ging zum Tresen.
„Ach schau an, der Marvin“, meinte Waldi.
Marvin wusste nicht, was diese Ansprache zu bedeuten hatte. War das ein Vorwurf, weil er so lange schon nicht mehr hier gewesen war? Oder sollte ihn diese Begrüßung an vergangene Schandtaten erinnern, die im Rausch des Alkohols geschehen waren?
„Ja, ich bin es. Und ich habe Hunger. Kann ich mal bitte die Karte haben?“
„Bist du auch mal wieder hier?“ Waldi klang beleidigt, und es kam Marvin so vor, als mache er ihn persönlich dafür verantwortlich, dass die Reisebusse mit japanischen Touristen ausblieben.
„Eh, ja.“
„Die Karte ist überflüssig. Wir haben Krautwickel. Die sind natürlich selbst gemacht. Und Kartoffelbrei. Da machen wir Zwiebeln rein.“
„Ach schade, ich hatte Appetit auf ein Steak oder ein Schnitzel.“
„Lohnt sich nicht mehr. Essen läuft nicht gut. Wir haben die Karte reduziert.“
Marvin nickte. „Dann nehm ich die Krautwickel.“
„Den“, verbesserte Waldi ihn. „Einen, die sind groß.“ Er deutete mich den Händen etwas an, das von der Länge her an eine liegende Bierflasche herankam.
„Okay. Und ein Pils.“
„Klar. Bist du wegen deinem Onkel hier?“
Warum denn sonst, dachte Marvin, doch er nickte nur.
„Wirst das Anwesen jetzt verkaufen, was? Und ganz nach Frankfurt ziehen.“
„Wer sagt denn das?“
„Habe ich gehört.“
„Wer erzählt denn so etwas?“
Waldi zuckte mit den Schultern und reichte ihm das frisch gezapfte Bier. „Noch einen Kurzen dazu?“
Warum eigentlich nicht, dachte Marvin und nickte.
Waldi schnappte sich zwei Gläser und schenkte eine klare Flüssigkeit ein. Ein Glas reichte er Marvin, das andere nahm er in die Hand, prostete Marvin zu und sagte: „Die Firma dankt.“ Dann kippte er sich den Inhalt des Glases hinter die Binde.
Was war das denn jetzt? Dachte Waldi, er sei eingeladen worden? Marvin fragte sich, was er gesagt hatte, das diesen Schluss zuließ.
„Ich geh dann mal in die Küche und sag Bescheid“, sagte Waldi.
Marvin nickte und schnupperte an seinem Kurzen. Es war ein einfacher Korn. So etwas trank er schon lange nicht mehr. In Frankfurt waren Shots angesagt.
Jemand klopfte ihm auf die Schulter. Marvin verschüttete fast den Schnaps. Dann stürzte er ihn schnell hinunter, damit nichts mehr schiefgehen konnte, doch da hatte er sich geirrt. Zum einen hörte er Schröters Stimme, die irgendetwas zu ihm sagte, zum anderen hatte er den Alkohol in die falsche Kehle bekommen und hustete sich fast die Seele aus dem Leib.
Schröter klopfte ihm jetzt rhythmisch auf den Rücken.
„Luft holen, junger Hirtenbach, Luft holen.“
Marvin standen die Tränen in den Augen. Er schnappte sich das Pils und nahm einen tiefen Schluck. Jetzt war es etwas besser.
„Nowak, ich heiße Nowak“, presste er zwischen zwei weiteren Hustern hervor.
„Ach, gar nicht Hirtenbach, wie dein Onkel?“ Schröter klang enttäuscht.
„Nee, Nowak. Onkel Alex war der Bruder meiner Mutter. Ich dachte, dass Sie als Vorsitzender des Fanklubs so etwas wissen.“
Marvin freute sich über die Spitze, die er in Richtung Schröter abgeschossen hatte.
„Ja, natürlich weiß ich das“, meinte Schröter jovial. „Du solltest mal überlegen, ob du nicht seinen Namen annehmen willst. Das hätte bestimmt Vorteile. Und so schlimm ist es ja auch nicht, denn Hirtenbach ist ja der Mädchenname deiner Mutter. Bleibt also alles in der Familie, nicht wahr?“
Vorteile hätte es für Schröters Museum in Onkel Alex’ Scheune, dachte Marvin. Dann konnte Schröter mit seinem Museum bessere Werbung machen. Der letzte Hirtenbach in Klarenfeld, Neffe des berühmten Astronauten und des einzigen Ehrenbürgers Klarenfelds, macht das Museum möglich. So würde die Schlagzeile aussehen.
„Alle kennen mich unter Marvin Nowak, da wüsste ich jetzt nicht, wo der Vorteil für mich wäre.“
„Ja ja, die Jugend. Will sich selbst beweisen. Na, wofür es gut ist. Hat dein Onkel ja auch gemacht, nicht wahr?“
Waldi kam aus der Küche.
„Mach uns mal noch eine Runde“, sagte Schröter.
„Und ein paar Kurze?“, fragte Waldi und sah Marvin dabei an.
Was wollte der von ihm? Marvin zuckte mit den Achseln.
Schröter klopfte Marvin erneut auf die Schulter. „Danke dir, das ist sehr anständig, nun ja, wenn man allerdings bedenkt, was wir hier für das Andenken deines Onkels tun, nun ja, ist jedenfalls anständig von dir.“ Noch ein Klopfer. „Seine Jacke hast du schon an, wie? Keine Zeit verlieren, gleich um das Erbe kümmern. Hast ja recht.“
„Ich bring dann gleich alles“, sagte Waldi und zapfte das Bier. Der Schaum musste sich setzen. Waldi nutzte die Zeit und schenkte den Schnaps ein. Dabei vergaß er sein Glas nicht. „Du auch?“, fragte er.
Marvin schüttelte den Kopf. Bloß nicht.
Während er Waldi bei der Prozedur beobachtete, fragte sich Marvin, ob er eben nicht wieder etwas falsch gemacht hatte.
Waldi servierte die Getränke. Kaum war er zurück, da klingelte es in der Küche. Marvins Essen war fertig. Waldi holte den Teller und stellte ihn vor Marvin auf den Tresen. Dann reichte er in einer Serviette eingewickeltes Besteck.
„Guten“, meinte Waldi.
„Danke.“ Der Krautwickel war nicht halb so groß, wie Waldi es hatte erahnen lassen. Und er schmeckte nicht halb so scheußlich, wie Marvin es befürchtet hatte.
Am Stammtisch gab es lautes Zugeproste und einen Hochruf auf Alexander Hirtenbach, den Astronaut, und seinen Neffen, ohne dass dieser namentlich erwähnt wurde.
„Weißt du, warum dein Onkel das gemacht hat?“ Waldi machte eine Geste mit der Hand am Hals. „Der hatte doch alles. Oder hatte er da oben Probleme?“ Jetzt deutete Waldi mit einem Finger auf seinen Kopf.
„Nein, ich weiß nicht, warum er das getan hat.“
„Vielleicht ein Abschiedsbrief?“, schlug Waldi vor.
Marvin kaute und zuckte mit den Schultern. Er hatte keine Lust mehr, hier zu sein. Am liebsten hätte er alles stehen lassen und wäre gegangen, aber das sähe blöd aus, und morgen hielt ihn jeder in Klarenfeld, der das nicht sowieso schon tat, für einen komischen Kauz. Er packte jetzt größere Portionen auf seine Gabel und kaute schneller.
„Da passiert fünfzig Jahre lang nichts in diesem Kaff, und dann so kurz hintereinander sind es gleich drei Dinge. Vier, wenn man die Scheune von Bauer Kripp mitrechnet.“
„So?“, fragte Marvin mit vollem Mund pflichtbewusst. „Was ist denn passiert?“
„Na, zuerst sind hier ein paar Katzen verschwunden. Innerhalb von drei oder vier Tagen waren fast alle Freigänger fort.“
Marvin nickte, als sei alles klar.
„Dann das mit der Scheune. Brandstiftung, das hat die Feuerwehr gesagt. Drin lag jemand, wahrscheinlich ein Penner. Wenn er Glück hatte, dann war er so besoffen, dass er nicht mitbekam, wie er abkratzte.“
Wieder nickte Marvin. Noch fünf oder sechs Gabeln voll, dann hätte er es geschafft.
„Dann hat jemand eine Kuh von Bauer Kram auf der Wiese getötet und übel zugerichtet.“
Marvin hob überrascht die Augenbrauen.
„Wer macht so etwas? Hier in Klarenfeld?“
„Ein Durchreisender“, meinte Marvin zwischen den Portionen.
„Mit Sicherheit.“
„Und das Vierte?“
„Na, dein Onkel. Dass er sich aufgehängt hat. Zuletzt hat sich einer vor fünfzig Jahren in Klarenfeld aufgehängt. Weil seine Frau mit einem anderen abgehauen ist. Und bei dem Vetter von Bauer Kram ist man sich nicht ganz sicher, ob es ein Unfall war, mit der Häckselmaschine, oder ob er sich hineingeworfen hat. Ist auch schon über dreißig Jahre her.“
Marvin verzog den Mund. Er hatte sich gerade das letzte Stück Hackfleischfüllung in den Mund geschoben. Nun legte er das Besteck auf den Teller, wischte sich den Mund mit der Serviette ab und bedeckte damit den Teller.
„Hat’s geschmeckt?“
„Mhm“, machte Marvin und spülte die letzten Essensreste mit einem Schluck Bier hinunter.
Waldi nahm den Teller und brachte ihn weg.
Endlich war Marvin allein. Der Wirt ging ihm ein bisschen auf den Wecker. Wenn Marvin aber an Onkel Alex’ verlassen wirkendes Haus dachte, da war er schon wieder ein bisschen froh darüber, unter Leuten zu sein. Auch wenn sie alle nicht so wirklich seine Kragenweite waren. Aber davon gab es sowieso nicht viele in Klarenfeld. Wahrscheinlich hatte er sich in Frankfurt weiterentwickelt. Er lächelte bei dem Gedanken daran, dass er sich für die Klarenfelder möglicherweise zu einem Snob gemausert hatte. Einem Snob, der üblicherweise Shots trank und keinen klaren Fusel.
Mit einem letzten Schluck leerte Marvin sein Bier.
Waldi kam wieder und zeigte auf das Glas. „Noch eins?“
„Nee, ich bin müde. Ich zahl jetzt.“
Waldi nickte und zog einen kleinen Block heran. „Also acht für die Wickel, dann noch die Getränke.“ Er schrieb und rechnete, dann sagte er: „Fünfundreißigfünfzig.“
Offenbar hatte Marvin wirklich die ganzen Schnäpse auf dem Deckel. Er wollte sich nichts anmerken lassen, zog den Fünfziger hervor. „Sechsunddreißig“, sagte er.
Waldi hob eine Braue.
„Ah, Moment, wie viel war das noch, ja, eh, vierzig meine ich natürlich.“
Waldi nickte und brummte. Dann gab er einen Zehner zurück.
Als Marvin nach draußen ging, bemerkte er, dass er die ganze Zeit über Onkel Alex’ Jacke anbehalten hatte. Beinahe so, als hatte er von Anfang an gewusst, dass er nicht lange hierbleiben wollte.
Er steckte die Hände in die Hosentaschen und ging nach Hause. Seit Marvins Eltern gestorben und Onkel Alex ihn bei sich aufgenommen hatte, war es sein Zuhause.
Noch immer konnte er nicht begreifen, wie Onkel Alex das hatte tun können. Und warum.
Trotzig stieß er einen Schnaufer aus, dann kickte er eine Eichel über die Straße.
Er war jetzt allein. Ganz allein. Der übrig Gebliebene der Familien Hirtenbach und Nowak. Unglaublich.
Er hatte schlecht geschlafen. Das Alleinsein machte ihm zu schaffen. In der Stille der Nacht hatte er sich immer wieder vorgestellt, was dazugehörte, sich an einem Balken in der Scheune aufzuhängen. Das Nachdenken, die innere Bereitschaft, die Vorbereitungen, das Durchführen – was hatte sein Onkel von der Planung bis zur Tat durchgemacht, um zu dem Schluss zu kommen, dies sei der richtige Weg? Was war der Grund dafür gewesen?
Als sich das erste Licht des Tages seinen Weg ins Haus suchte, war Marvin aufgestanden und in Onkel Alex’ Arbeitszimmer gegangen. Auf dem Schreibtisch hatte schon immer eine beeindruckende Ordnung geherrscht.
Marvin öffnete die Schubladen und durchsuchte sie, ohne zu wissen, was er zu finden hoffte. Abgesehen von einem Abschiedsbrief. Trotzdem suchte er weiter. Nachdem er jedes Papier einmal umgedreht hatte, schaltete er Onkel Alex’ Laptop ein. Marvin nahm ihn mit in die Küche und ließ ihn hochfahren, während er die Kaffeemaschine in Gang brachte.
Das Passwort kannte Marvin natürlich. In manchen Dingen war Onkel Alex vorhersehbar gewesen. Brain Damage war schließlich sein Lieblingslied gewesen. Erschreckend, wenn man daran dachte, dass bei Onkel Alex vielleicht irgendetwas im Oberstübchen durcheinandergeraten war. Ein Wissenschaftler, ein kühler Kopf, der die Mathematik und die Physik über alles stellte. Und dann hängte er sich auf.
Auf dem Rechner war nichts Interessantes zu finden. Neben dem Üblichen fand Marvin nur ein Programm, das offensichtlich mit seiner Arbeit zu tun hatte. Das war mit einem Anwendernamen und einem Passwort geschützt, vermutlich, weil es der Vorschrift des Arbeitgebers entsprach. Dann ein paar Dateien: Briefe an öffentliche Stellen und Versorger und die Bank, dann eine Datei, die eher aussah wie ein Notizzettel, weil dort viele Einzelbegriffe standen, Buchtitel hauptsächlich. Wahrscheinlich Bücher, die er sich kaufen wollte. Diese Datei war recht aktuell, das Speicherdatum von letzter Woche. Von den Autoren hatte er nie gehört. Da waren ein Ludwig Prinn und ein von Junzt darunter, sowie ein vermeintlicher Franzose, ein Araber, ein Kjell Snorrison und zum Schluss ein Prof. Dr. Dr. Nathan Eelsaep. Der letzte Name sprach sich wie ein Zungenbrecher aus.
Die Titel der Bücher kannte er nicht. Na ja, Fachliteratur eben, dachte Marvin zuerst, aber die Titel passten eher zu einem Roman von Stephen King als zu Astronomie oder Physik. Sie waren teilweise in Latein.
Marvin schloss die Datei wieder. Jeder hatte so seine Geheimnisse oder verborgenen Liebhabereien. Vielleicht hatte Onkel Alex damit begonnen, sich für so ein Zeug zu interessieren. Was immer dieses Zeug war.
Schnell waren zwei Stunden vergangen, in denen er sich einmal durch den Computer geklickt hatte. Seufzend lehnte sich Marvin in dem Stuhl zurück. Sonntage waren für sich gesehen in einem Kaff wie Klarenfeld schlimm. Zu wissen, allein auf der Welt zu sein, machte es nicht besser.
Musste er jetzt darauf warten, bis sich das Amtsgericht bei ihm meldete? Würde ein Notar oder ein Anwalt auf ihn zu kommen? Konnte er einfach so weiterstudieren? Letzteres würde ihm schwerfallen. An Konzentration war nicht zu denken. Zum Studieren musste er wieder weg, damit er an den Vorlesungen teilnehmen konnte. Man wusste von Onkel Alex’ Tod. Die Zeitungen, sogar das Fernsehen, hatten davon berichtet. Was, wenn sich ein geisteskranker Fan oder ein Dieb daran machte, in das Haus einzusteigen, weil er beobachtete, dass Marvin in der Woche nicht im Haus war? Was, wenn das dem Fan oder Dieb egal war und er trotzdem einstieg, wenn Marvin hier wohnte. Diese Leute waren skrupellos.
Unwillkürlich lauschte Marvin, ob er ein verdächtiges Geräusch hörte. Das Haus war schon alt, mindestens aus den Fünfzigern, deshalb knackte und knarrte es immer irgendwo. Jetzt hörte er zuerst das Dag-Dag-Dag der Heizung, dann das Zischen des Gasbrenners im Keller.
Der Keller. Er war schon überall im Haus durchgelaufen, aber er war noch nicht im Keller gewesen. Im ganzen Haus waren die Fenster geschlossen, das hatte er kontrolliert. Was war dort unten los? Und in der Scheune?
Zuerst den Keller. Dort, wo die Treppe nach oben ging, gab es eine Tür, und dahinter ging es nach unten. Marvin betätigte den Lichtschalter und sah die schlichten Betonstufen hinab. Sie waren mit roter Farbe gestrichen: Das Relikt einer vergangenen Geschmacksverirrung, wie Marvin meinte. Er hatte Onkel Alex häufig damit aufgezogen. Daraufhin hatte Onkel Alex graue Farbe besorgt und es Marvin überlassen, die Treppe neu zu streichen. Natürlich war das nie passiert, und die Farbe stand seit fünf oder sechs Jahren irgendwo dort unten und war bestimmt nicht mehr zu gebrauchen. Und wenn doch, so würde Marvin sie nicht anrühren. Er wollte an diese kleinen, spaßigen Auseinandersetzungen immer wieder gern erinnert werden. Gerade jetzt, da Onkel Alex nicht mehr da war.