Sherlock Holmes - Neue Fälle 39: Der verschwundene Seemann - Michael Buttler - E-Book

Sherlock Holmes - Neue Fälle 39: Der verschwundene Seemann E-Book

Michael Buttler

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Beschreibung

Sherlock Holmes und Dr. Watson verschlägt es erneut nach Hamburg. Ihre gute Bekannte Alice Jasper betreibt dort ein Waisenhaus. Einer ihrer Schützlinge ist das Mädchen Carola. Ihr Vater galt lange Zeit als verschollen, bis er eines Tages wieder auftaucht. Doch bald darauf fehlt erneut jede Spur von ihm.Sherlock Holmes und Dr. Watson wollen helfen und beginnen mit der Suche nach dem verschwundenen Seemann. Dabei geraten sie in einen anderen Fall und müssen um ihr Leben fürchten.

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Ähnliche


DIE NEUEN FÄLLE DES MEISTERDETEKTIVSSHERLOCK HOLMES

In dieser Reihe bisher erschienen:

3001 – Sherlock Holmes und die Zeitmaschine von Ralph E. Vaughan

3002 – Sherlock Holmes und die Moriarty-Lüge von J. J. Preyer

3003 – Sherlock Holmes und die geheimnisvolle Wand von Ronald M. Hahn

3004 – Sherlock Holmes und der Werwolf von Klaus-Peter Walter

3005 – Sherlock Holmes und der Teufel von St. James von J. J. Preyer

3006 – Dr. Watson von Michael Hardwick

3007 – Sherlock Holmes und die Drachenlady von Klaus-Peter Walter (Hrsg.)

3008 – Sherlock Holmes jagt Hieronymus Bosch von Martin Barkawitz

3009 – Sherlock Holmes und sein schwierigster Fall von Gary Lovisi

3010 – Sherlock Holmes und der Hund der Rache von Michael Hardwick

3011 – Sherlock Holmes und die indische Kette von Michael Buttler

3012 – Sherlock Holmes und der Fluch der Titanic von J. J. Preyer

3013 – Sherlock Holmes und das Freimaurerkomplott von J. J. Preyer

3014 – Sherlock Holmes im Auftrag der Krone von G. G. Grandt

3015 – Sherlock Holmes und die Diamanten der Prinzessin von E. C. Watson

3016 – Sherlock Holmes und die Geheimnisse von Blackwood Castle von E. C. Watson

3017 – Sherlock Holmes und die Kaiserattentate von G. G. Grandt

3018 – Sherlock Holmes und der Wiedergänger von William Meikle

3019 – Sherlock Holmes und die Farben des Verbrechens von Rolf Krohn

3020 – Sherlock Holmes und das Geheimnis von Rosie‘s Hall von Michael Buttler

3021 – Sherlock Holmes und der stumme Klavierspieler von Klaus-Peter Walter

3022 – Sherlock Holmes und die Geheimwaffe von Andreas Zwengel

3023 – Sherlock Holmes und die Kombinationsmaschine von Klaus-Peter Walter (Hrsg.)

3024 – Sherlock Holmes und der Sohn des Falschmünzers von Michael Buttler

3025 – Sherlock Holmes und das Urumi-Schwert von Klaus-Peter Walter (Hrsg.)

3026 – Sherlock Holmes und der gefallene Kamerad von Thomas Tippner

3027 – Sherlock Holmes und der Bengalische Tiger von Michael Buttler

3028 – Der Träumer von William Meikle

3029 – Die Dolche der Kali von Marc Freund

3030 – Das Rätsel des Diskos von Phaistos von Wolfgang Schüler

3031 – Die Leiche des Meisterdetektivs von Andreas Zwengel

3032 – Der Fall des Doktor Watson von Thomas Tippner

3033 – Der Fluch der Mandragora von Ian Carrington

3034 – Der stille Tod von Ian Carrington

3035 – Ein Fall aus der Vergangenheit von Thomas Tippner

3036 – Das Ungeheuer von Michael & Molly Hardwick

3037 – Winnetous Geist von Ian Carrington

3038 – Blutsbruder Sherlock Holmes von Ian Carrington

3039 – Der verschwundene Seemann von Michael Buttler

3040 – Der unheimliche Mönch von Thomas Tippner

3041 – Die Bande der Maskenfrösche von Ian Carrington

3042 – Auf falscher Fährte von James Crawford

Michael Buttler

SHERLOCK HOLMESDer verschwundene Seemann

Basierend auf den Charakteren vonSir Arthur Conan Doyle

Michael Buttler wohnt mit seiner Familie und zwei Katzen im Rhein-Main-Gebiet. Er arbeitet als Bankkaufmann bei einem Kreditinstitut.

Anthologien, an denen der Autor beteiligt war, wurden verschiedentlich für den Deutschen Phantastik-Preis nominiert. Im Jahr 2012 war er mit einer Geschichte in dem Buch vertreten, das den ersten Preis gewann.

Zwei seiner historischen Kriminalromane spielen zur Zeit Johann Wolfgang von Goethes in Weimar, weshalb Buttler sie seine Goethe-Krimis nennt: Die Bestie von Weimar und Der Teufelsvers.

Einige seiner Romane sind im BLITZ-Verlag erschienen, hauptsächlich für die Reihe Sherlock Holmes – Neue Fälle.

www.michael-buttler.de

Als Taschenbuch gehört dieser Roman zu unseren exklusiven Sammler-Editionen und ist nur unter www.BLITZ-Verlag.de versandkostenfrei erhältlich.Bei einer automatischen Belieferung gewähren wir Serien-Subskriptionsrabatt.Alle E-Books und Hörbücher sind zudem über alle bekannten Portale zu beziehen.© 2023 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 WindeckRedaktion: Jörg KaegelmannTitelbild: Mario HeyerLogo: Mark FreierVignette: iStock.com/neyro2008Satz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-238-7

Kurze Vorrede

Bei diesem Buch handelt es sich um die indirekte Fortsetzung meines Buches Sherlock Holmes und die ­indische Kette, das ebenfalls im BLITZ-Verlag erschienen ist. Man kann beide Bücher allein für sich lesen. Aber he! – Ihr lest doch sowieso alle meine Bücher, nicht wahr?

Der eigentliche Grund für die kurze Vorrede ist aber, dass ich wie beim Vorgängerband ein historisches Ereignis eingeflochten habe, zu dem ich eines klarstellen will, bevor ein falscher Eindruck entsteht. Beide Bücher spielen in Hamburg. Bei Die indische Kette nahm die Cholera-­Epidemie von 1892 Einfluss auf die Handlung. Bei dem vorliegenden Band ist es der große Streik der Hafen­arbeiter und der Seeleute von 1896/97. Einige Ereignisse, die ich beschreibe, sind wirklich so passiert. Bei vielen habe ich mir meine Freiheiten genommen. Die von mir beschriebenen Ungeheuerlichkeiten (ihr werdet am Ende des Buches wissen, was ich meine), sind allein meiner Phantasie entsprungen. Personen und eine Personen­gruppe, die in meinem Roman in diesem Zusammenhang wichtige Rollen einnehmen, hat es nie gegeben. Wer sich am Ende des Buches für die wirkliche Geschichte des großen Streiks interessieren sollte, dem empfehle ich einschlägige Literatur zu diesem Thema.

Prolog

Aden, 1892

Sand und Felsgestein lagen vor ihnen und in der Ferne kahle Hügel. Am Horizont befand sich ein Gebirge, genauso trostlos in Braun- und Grautönen wie alles, was dieses Land scheinbar zu bieten hatte. Hinter ihnen lag der Golf von Aden, in dem die Carson Bay, ihr Schiff, auf dem Meeresgrund lag.

Die Sonne brannte zu dieser frühen Stunde bereits unbarmherzig und verstärkte die Kopfschmerzen, die vom Durst und der enormen Anstrengung herrührten, einfach am Leben zu bleiben.

Vor wenigen Minuten erst war er selbst erwacht, hatte lange geglaubt, in einem Traum gefangen zu sein, weil er noch immer das Gefühl hatte, im Wasser zu schwimmen. Aber dann hatte er sich schließlich aufgesetzt.

Nur wenige Schritte von ihm entfernt hatte Finn gelegen, auf dem Bauch liegend, mit dem Körper fast noch im Wasser, den Kopf vorgestreckt, wie um seine Nase in die Luft zu recken, damit er atmen konnte.

Hagen erinnerte sich, wie sie sich an einem Trümmerstück der Reling festgehalten hatten. Der Fockmast der Carson Bay war gebrochen und hatte während des schlimmsten Sturms, an den sich Hagen in seinen vielen Jahren als Seemann erinnern konnte, diesen Teil der Reling herausgebrochen. Zum Glück, denn zeitgleich war Hagen über Bord gegangen und hatte sich nach langem Strampeln und Überwasserhalten daran festhalten können. Nur wenig später war Finn, der kurz zuvor noch bei ihm gestanden hatte, ihm unfreiwillig gefolgt. Sie hatten sich die ganze Nacht an dem Stück Holz festgeklammert. Der Sturm hatte um sie herum getost; die Wellen hatten sie hinauf- und wieder hinuntergetragen. Hagen hatte Wasser geschluckt und es gleich darauf wieder erbrochen. Sie hatten sich von der Carson Bay entfernt. Hagen hatte das Schiff noch eine Weile gesehen, immer wenn sie sich auf der Höhe eines Wellenkamms befunden hatten, bis es schließlich umkippte und in den Fluten verschwand.

Hagen hatte sich so fest an das Stück der Reling geklammert, dass ihm bald die Schultern und die Arme wehtaten. Doch jede Schwäche hätte den Tod bedeutet. Irgendwann kamen die Krämpfe, und Hagen hatte die Zähne zusammengebissen und an seine beiden Liebsten zu Hause gedacht. Er hatte die Krämpfe in Gedanken an seine Frau Frieda, an die kleine Carola, die er kaum kannte, weil er so oft zur See war, und die er trotzdem in seinem Herzen trug, ausgehalten. Er hatte sich in seinen Träumen verloren, stellte sich vor, wie es wäre, wieder zu Hause zu sein. Wenn er Carola auf den Arm nehmen konnte, mit ihr herumtollte, wie sie es manchmal in den engen Gassen und Hinterhöfen der Gegend taten, in der sie wohnten. Wenn er Frieda wieder in seine Arme schließen konnte, die er nach all den Jahren noch immer so sehr liebte und begehrte wie am ersten Tag. Er stellte sich vor, wie sie zusammenlagen. Wie lange schon hatte sie ihn bedrängt, sich eine Arbeit im Hafen zu suchen, damit er abends zu Hause sein konnte. Jeden Abend, und nicht nur dann, wenn er nicht gerade wieder auf Fahrt ging. Aber er war ein Seemann und so, wie er Frieda zum Leben brauchte, konnte er nicht ohne die Seefahrt leben. Auch wenn er für einen Hungerlohn arbeitete. Aber die Kräfte der Natur zu spüren, die Weite der Meere zu sehen und die herrliche Luft an Deck waren für ihn unverzichtbar. Ohne all das würde er eingehen.

Weil er an all dies gedacht hatte, so vermutete Hagen jetzt, hatte er wahrscheinlich die Schmerzen in seinem Körper irgendwann nicht mehr gespürt.

Hagen rieb sich über die Arme, knetete seine Schultern. Er schaute zu Finn, seinem norwegischen Freund und Kamerad, dessen Leute eigentlich Tierbauern im Landesinneren Norwegens, dem Gudbrandsdal, waren. Finn wischte sich eine dunkle Locke seines Haars aus den Augen und sah sich ebenfalls um. Irgendwann einmal hatte Finn ihm erzählt, dass sein Name in etwa der Blonde hieß. Seine Mutter hatte auf einen hellhaarigen Jungen gehofft. Sie war enttäuscht worden.

„Keine Spur von den anderen“, sagte Finn.

„Muss nichts heißen“, brummte Hagen.

„Wir können hier nicht bleiben. Suchen wir einen Ort oder wenigstens eine Straße“, schlug Finn vor.

„Das wäre wohl das Beste.“

Sie gingen in Richtung der Hügel. Hoffentlich fanden sie bald eine Siedlung oder wenigstens einen Bauernhof, wo sie um etwas Proviant bitten konnten. Und wo es Schatten gab. Doch was sollte ein Bauer in dieser kargen Umgebung anbauen? Vor ihnen erstreckte sich eine Wüste aus Sand und kleinem Geröll. Ein englischer Kamerad hatte ihm einmal erzählt, wie es in Afghanistan aussah. Er war dort als Soldat stationiert gewesen und hätte beinah das Pech gehabt, bei der Schlacht um Maiwand dabei zu sein. Glücklicherweise hatte er sich damals bei den Kanonen den rechten Arm so stark versengt, dass heute noch kein Härchen darauf wachsen wollte. Ihm schien es das kleinere Übel gewesen zu sein.

Wie weit waren sie gegangen? Hagen schaute zurück. Nun, es hatte sich weiter angefühlt. Wie sehr sehnte er sich jetzt nach Ruhe, doch Finn, der einige Schritte Vorsprung hatte, zog ihn mit, kannte keine Gnade. Und das war gut so.

„Da vorn verläuft das Gelände regelmäßig“, sagte der Norweger.

Hagen holte auf und folgte mit seinem Blick der Bewegung des Arms seines Freundes, der damit eine Linie durch die Luft zog, um etwas, das vor den Hügeln lag und von einer Seite zur anderen verlief, sichtbar zu machen.

„Eine Straße“, sagte Hagen.

„Gehen wir weiter.“

Das sagte sich so leicht. Hagen war heilfroh, als sie endlich das niedergetrampelte Band, das durch das Gelände verlief, erreicht hatten.

Sie schauten immer wieder abwechselnd in beide Richtungen.

„Wo lang?“, sprach Hagen das aus, was sie offenbar beide dachten. Doch dabei sah er zurück zum Strand. Erst jetzt traf ihn mit Wucht die Erkenntnis, dass Finn und er den Sturm und das Sinken der Carson Bay überlebt hatten, während ihre Kameraden vermutlich gestorben waren. Wenn nicht alle, so doch ein großer Teil von ihnen.

Wie gern hätte er sich jetzt erst einmal hingesetzt und verschnauft, aber das war nicht möglich. Sie mussten so schnell wie möglich aus dieser Ödnis heraus.

„Da“, sagte Finn und deutete mit der Hand in eine der beiden Richtungen. Dem Stand der Sonne nach zu urteilen grob nach Westen.

Hagen kniff die Augen zusammen und versuchte, etwas zu erkennen. Finn hatte die besseren Augen, das musste Hagen neidlos anerkennen.

Mitten auf der Straße befand sich etwas, hell und ockerfarben, doch es war kaum auszumachen, ob es sich bewegte. Geschweige denn in welche Richtung.

Hagen rieb sich mit den Händen über die Arme und Beine. Das Meerwasser auf seiner Haut war schon lange verdunstet und hatte eine Salzkruste hinterlassen, die zwar nicht zu sehen war, die aber ordentlich ziepte.

„Was ist damit?“, fragte er.

„Ich glaube, es bewegt sich auf uns zu.“

„Sollen wir entgegengehen?“

„Wenn da jemand auf uns zu kommt und am frühen Morgen nach Osten will, dann ist dort bestimmt etwas. Wir sollten unsere Kraft nicht verschwenden und uns den Weg in die falsche Richtung ersparen.“

„Aber der da muss doch auch irgendwo hergekommen sein“, entgegnete Hagen.

Finn schnalzte mit der Zunge und setzte sich auf einen kleinen Findling. „Ich bin für warten. Da machen wir bestimmt nichts falsch.“

Hagen brummte und suchte sich ebenfalls einen Stein, auf dem er sich niederließ.

Was dort auch war, es kam tatsächlich näher. Irgendwann erkannte Hagen einen Ochsenkarren, vor den zwei Tiere gespannt waren, und eine dünne Gestalt, die mit einer Gerte nebenherlief. Auf der Ladefläche stapelte sich etwas, dass sich nach ein paar weiteren Minuten als Hühnerkäfige herausstellte.

Immer mehr war zu erkennen. Die Gestalt, die die beiden Ochsen antrieb, war klein und schmächtig. Zuerst hatte Hagen vermutet, es handele sich um einen Jungen, doch dann konnte er den Bart erkennen und die alten, krummen Beine.

Als der Karren nahe genug heran war, stand Finn auf und hob die Hand zu einem Gruß.

Der kleine Einheimische starrte ihn nur verwundert aus seinen dunklen Augen an. Er hatte eine Mütze auf. An den Seiten stand ihm strähniges, lichtes Haar wirr vom Kopf. Die Haut war vom Wetter gegerbt und neigte eher zu einem dunklen als zu einem hellen Braun.

Finn sprach englisch mit dem Mann, die Sprache, in der Finn und Hagen sich unterhielten, denn auch wenn Finns Deutsch vorhanden war, zeigte es große Lücken. Über Hagens Norwegisch brauchte sich niemand ­Gedanken zu machen. Es war so gut wie nicht existent. Außer takk und har det1, Danke und mach’s gut, wusste er nichts in dieser Sprache zu sagen. Da war Englisch eindeutig die bessere Wahl.

Der Mann verstand ein paar Worte und in Verbindung mit Gesten und Mimik gelang es Finn, dass sie sich einen freien Platz auf der Ladefläche des Karrens suchen durften. Der Mann würde sie in die nächste Stadt mitnehmen. Es handelte sich dabei um Aden, falls sie ihn richtig verstanden hatten. Von dort sollte es ihnen möglich sein, in die Heimat zu gelangen.

Der Einheimische, Yafer war einer seiner zahlreichen Namen und der, mit dem sie ihn ansprechen sollten, überließ ihnen einen seiner Wasserschläuche. Hagen und Finn suchten sich hinter den Hühnerkäfigen einen Platz und kauerten sich hin. Finn reichte Hagen den Wasserschlauch. Der nahm ein paar kleine Schlucke.

Plötzlich übermannte ihn die Erschöpfung wie eine gewaltige Woge Meerwasser bei einem Orkan. Ihm fielen die Augen zu. Einen Moment wehrte er sich noch dagegen, doch es hatte keinen Zweck. Er spürte noch, wie Finn ihm den Wasserschlauch abnahm, bevor dieser ihm aus den Händen und vielleicht auf die Straße gerutscht wäre. Dann schlief er ein.

Mit schweren Augenlidern erwachte Hagen. In seinem Schädel hämmerte jemand auf einen Amboss und seine Haut fühlte sich heiß an, ebenso die Kopfhaut. Um ihn herum war Lärm. Müde schaute er auf und sah, dass sie sich in Aden zu befinden schienen. Zu beiden Seiten der Straße standen Häuser. Leute liefen herum, redeten miteinander, riefen oder schrien sich an. Mit jedem Schritt drangen sie tiefer in die Stadt vor, wurde das Treiben um sie herum hektischer.

Finn reichte ihm den Wasserschlauch erneut. Dankbar hielt er sich jetzt nicht mit kurzen Schlucken auf, sondern nahm einen tiefen und befriedigenden Zug, auch wenn das Wasser warm war.

Irgendwann hielt Yafer den Karren an. Finn und Hagen stiegen schwerfällig ab. Hagen taten vom Sitzen auf den harten Brettern der Hintern und der untere Rücken weh. Mit steifen Beinen näherten sie sich ihrem Helfer. Sie befanden sich auf einem Marktgelände. Nicht weit erhob sich ein Geröllberg, an dem sich Häuser festkrallten wie Seevögel an einer Steilküste.

Gestenreich dankten sie ihrem Helfer und gaben ihm den Wasserschlauch zurück. Auch Yafer fuchtelte mit den Armen, lächelte freundlich, verneigte sich und nahm den Wasserschlauch entgegen.

Finn fragte nach dem Hafen, dem Harbour, und machte mit seinen Armen Wellenbewegungen. Dabei gab er ein Tuut-tuut von sich, als rede er mit einem Schwach­sinnigen. Hagen war das peinlich, aber Yafer lachte, klatschte in die Hände und zeigte mit seiner Hand in eine bestimmte Richtung, während er dabei für Hagen unverständliche Wörter auf sie beide einprasseln ließ.

Irgendwann war diese Prozedur zu Ende und Hagen und Finn gingen den angezeigten Weg.

„Hoffentlich finden wir gleich ein Schiff, bei dem wir anheuern können“, sagte Finn.

Hagen nickte. „In dieser Stadt mittellos ein paar Tage zu verbringen, kann ganz schön schiefgehen. Stell dir vor, du hast Hunger und stiehlst was.“

„Hacken die hier den Dieben nicht eine Hand ab?“

Wenn Hagen ehrlich war, dann wusste er es nicht, wollte aber nicht daran glauben. „Du hast zu viele arabische Märchen gelesen, glaube ich. Aber hier im Knast zu landen, wird auch kein Vergnügen.“

Sie konnten noch am gleichen Tag anheuern. Ohne Papiere. Es handelte sich um den Segeldampfer Tough Sailor. Dies erschien ihnen als ein großes Glück. Und der Name des Schiffes wie ein Zeichen, weil sie den Untergang der Carson Bay überlebt hatten.

In der gleichen Nacht legten sie, den Frachtraum voller Waren aus Bombay und Aden für Europa, ab.

Besser konnten sie es gar nicht treffen.

Bald würde Hagen seine Frieda wieder umarmen. Und die kleine Carola. Dachte er.

Die Hitze vor dem Kessel war kaum erträglich, obwohl sie im Hafen lagen und die Kohlen nicht brannten. Hagen wusste, dass es innen noch um ein Vielfaches schlimmer war. Um Zeit zu sparen, wartete man nicht lange genug, bis mit dem Reinigen der Kessel begonnen wurde. Sie waren noch nicht ausreichend abgekühlt.

Am Abend waren sie in einen Hafen eingelaufen. Welchen, das wussten sie nicht, doch da der Herbst erneut weit fortgeschritten war und sie es in anderen Schiffs­teilen bereits fröstelte, hatten sie wohl London erreicht. In der Nacht sollte es bereits weiter gehen. Bis dahin musste der Kessel sauber und wieder aufgeheizt sein.

Bombay-Aden-London und wieder den gleichen Weg zurück, das war die regelmäßige Route der Tough Sailor, hin und wieder mal ein Abstecher in einen anderen Hafen, wenn die Ladung lukrativ genug für einen Umweg war. Hagen wusste das aus Erzählungen und nicht, weil er die Häfen je gesehen hätte.

Sie befanden sich seit viel zu langer Zeit auf diesem Schiff. Die Monate hatten sich zu Jahren entwickelt. Wie viele, das konnte er gar nicht genau sagen, aber er glaubte, sie gingen jetzt auf ihren sechsten Winter zu. Ein Wunder, dass Finn und er es so lange unter diesen Bedingungen ausgehalten hatten.

Sein norwegischer Freund keuchte dort unten im Kessel. Hagen wusste, dass die Luft jetzt unerträglich da drin war. Er stand Wache, damit er Finn helfen konnte, schnell wieder aus dem schmalen Mannloch herauszukommen, durch das sein Freund gerade erst hineingeschlüpft war. Aufgrund der harten Arbeit und der kargen Rationen, die sie auf diesem Schiff als Heimatlose ausgesetzt waren, waren sie dünn genug, um durch die schmalen Öffnungen hindurchzupassen.

Die Öllampe, die Finn mitgenommen hatte, war kaum in dem stickigen Dunst da drin zu erkennen. Es würde mehr als vier Stunden dauern, bis sie den Kessel gereinigt hatten. Heute übernahm Finn die erste Hälfte, dann würden sie sich wie immer abwechseln. Sie hatten mit ihrer Arbeit begonnen, als die anderen noch schliefen. Sie würden das Frühstück verpassen. So lief das immer ab. Denn sie waren trotz der Jahre, die sie hier festsaßen, noch immer die Neuen. Nicht viele Seeleute waren so dämlich, ohne Papiere auf ein Schiff zu gehen und einem schmierigen Zahlmeister zu vertrauen. Finn und er waren Arbeitssklaven. Und da sie nicht an Deck durften, erhielten sie auch nicht die Möglichkeit, das Schiff zu verlassen, wenn es in einem Hafen lag.

Wenn sie nicht gerade den Kessel reinigten, dann hatten sie Kohle in den Ofen zu befördern. Außer ihnen gab es noch zwei andere Illegale, die ein ähnliches Schicksal wie sie fristeten. Vor einigen Monaten waren sie noch fünf gewesen. Die beiden richtigen Heizer trieben sie zur Arbeit an, droschen mit ihren Knüppeln auf sie ein, wenn es nicht schnell genug ging, und kannten keine Gnade. Der Fünfte im Bunde war ein kleiner, schmächtiger Kerl gewesen, der vor ihnen die Kessel gereinigt hatte. Er war allein gewesen und war ohnmächtig im Kessel zusammengeklappt. Man fand ihn erst, als man den Kessel wieder füllen wollte. Da war klar, dass er nicht mehr lange von Nutzen war, und so hatte man ihn beim Kohleschleppen der letzten Kräfte beraubt, bis er schließlich tot umgefallen war.

Finn begann damit, den Wasserstein zu lösen. Das Hämmern und Schaben im Kessel dröhnte einem in den Ohren, wenn man diese Arbeit verrichtete. Wenn man zu ungestüm an die Sache heranging, dann löste sich der Salpeter, der sich in den Kalkablagerungen befand, stärker als gewollt und wirbelte wie Staub herum. Das erschwerte in der dunstigen Hitze das Atmen zusätzlich.

Finn hustete, wieder und immer wieder. Zwischendrin sog er Luft ein wie einer, der mit dem Kopf zu lange unter Wasser gewesen war.

„Finn, komm her!“, rief Hagen. Irgendetwas stimmte da nicht. „Du musst raus. Schnell.“

Etwas polterte im Kessel. Es war das Werkzeug. Finn hatte es scheinbar fallen lassen.

„Finn! Komm her, ich zieh dich raus.“

Verdammt, in dem Dunst da drin war nichts zu sehen. Es war ruhig im Kessel. War Finn bereits zusammen­geklappt?

„Finn, reich mir deinen Arm.“

Nichts. Hagen musste da rein und seinen Freund heraus­holen. Das würde eine sehr enge Angelegenheit da drin werden, aber es blieb ihm nichts anderes übrig. Er wollte nicht, dass Finn so endete wie der andere Kerl, der vor Schwäche gestorben war. Wie ... verdammt, er wusste nicht einmal, wie er geheißen hatte. Er war immer nur Frettchen gerufen worden, weil er eine gewisse Ähnlichkeit in den Gesichtszügen aufgewiesen hatte.

Da erschien doch noch Finns Arm. Hagen packte ihn und fand bald auch den zweiten.

Finns Atem ging rasselnd. Er hatte die Augen und den Mund aufgerissen und wirkte tatsächlich wie ein Ertrinkender. Verdammt, der Kessel war heute einfach noch zu heiß.

Finn musste an die frische Luft. Eine undenkbare Vorstellung, doch sein Freund würde sonst krepieren. Hagen packte Finn, schob ihn halb auf seine Schultern und schwankte mit ihm durch den Schiffsraum. Sie erreichten die Schlafstätten der Verdammten, wie sie beide welche waren, dann die der normalen Matrosen. An der Treppe hinauf an Deck stand eine Wache. Der Kerl holte einen unterarmlangen Knüppel hervor und drohte ihnen.

„Was wollt ihr hier?“

„Er braucht frische Luft“, sagte Hagen. „Der Kessel war noch zu heiß.“

Als hätten sie es abgesprochen, rollte Finn mit den Augen und hustete sich bald die Seele aus dem Leib. Das konnte niemand simulieren. Offenbar sah das auch die Wache ein.

„Also gut. Wäre bestimmt nicht gut, wenn der da krepiert, während ich die Aufsicht habe. Aber ich bleibe bei euch.“

Hagen antwortete nicht und trottete hinter der Wache her. Die Treppe war schwierig zu nehmen, weil Finn ihm nicht helfen konnte.

Draußen an Deck war es gewaltig. Es war Nacht und es war kühl. Die frische Luft versetzte Hagen einen Hieb. Es war, als ströme mit jedem Atemzug heiliges ­Ambrosia in ihn hinein. Und dort war der Hafen. Die Tough ­Sailorwurde nicht direkt am Kai gelöscht. Hagen sah die Lichter einer Stadt, sah die Schuten der Löscher, die ihre Nachtschicht versahen.

So nah. Sie waren so nah an der Freiheit.

„Fünf Minuten“, sagte die Wache, „dann geht es wieder runter mit euch.“

Hagen traute sich nicht, Finn abzusetzen, weil er fürchtete, sein Freund würde dann nicht wieder hochkommen.

Gegenüber hievten zwei Löscher gerade einen schweren Sack über einen Flaschenzug hinauf, um ihn dann auf der anderen Seite wieder hinunterzulassen.

„Finn, mein Freund.“

Finn reagierte auf die Ansprache. Er atmete jetzt ruhiger. Und er schaute sich um. Seine Beine gewannen an Kraft.

„Was ist los?“, fragte Finn.

„Du hast im Kessel nicht mehr atmen können. Ich mache nachher weiter.“

„Danke, Hagen.“

„So, jetzt ist es aber Zeit“, begann die Wache. Dann war da plötzlich Geschrei auf der anderen Seite. Das Seil mit dem Sack war gerissen. Die beiden Löscher an Deck sprangen zurück und warfen sich auf den Boden. Der Sack sauste auf der anderen Seite hinunter. Von dort erklang ebenfalls Geschrei. Wahrscheinlich fiel sie auf eine Schute, die die Waren zum Kai bringen sollte.

„Was, zum Teufel“, entfuhr es der Wache. Dann zeigte er auf Hagen und Finn. „Ihr zwei: unter Deck.“ Doch er wartete nicht ab, ob sie dem Befehl Folge leisteten, und eilte zu dem Unglücksort.

„Wo sind wir?“, fragte Finn.

„In Freiheit, mein Freund. Komm.“

Kapitel 1

London, Anfang Dezember 1896

Ich starrte missmutig aus dem Fenster auf die Baker Street hinunter, beobachtete das Treiben dort unten und hielt mir die Schulter. Nun kam wieder die Zeit, in der mir öfter die Stelle wehtat, an der mich die Kugel des afghanischen Vorderladers einst getroffen und aus dem Kriegsgeschehen befördert hatte. Die Wetterfühligkeit war eine der Spätfolgen, für die ich den Schützen, der mich aufs Korn genommen hatte, schon oft verflucht hatte. Und so auch heute.

Holmes saß in seinem Sessel am Kamin und sah die Post durch. Jeden Tag hatte er eine Menge Briefe durch­zusehen und die wichtigen von den verzichtbaren Schriftstücken zu trennen. Wie immer waren einige Schreiben von Bittstellern dabei, viele mit derart lapidaren ­Problemen gesegnet, dass Holmes ständig ein entrüstetes Schnaufen von sich gab, wenn er die Texte las. Ich hörte das täglich etwa ein Dutzend Mal.

Nun war es aber für eine Weile ruhig geblieben. Das hieß, er hatte ein interessantes Schriftstück vor Augen.

Vielleicht war dies der intellektuell herausfordernde Fall, auf den er schon seit ein paar Tagen wartete.

„Hat Sie ein Brief von Belang erreicht, Holmes?“, wollte ich wissen. Es war bald an der Zeit, dass ich die Rundfahrt zu meinen Patienten antrat, die nicht mehr in meine Praxis zu kommen vermochten, weil sie aufgrund des Alters oder einer Erkrankung nicht mehr dazu in der Lage waren.

„In der Tat, Watson. Sie werden immer besser mit Ihrer Auffassungsgabe. Es ist ein Brief an uns beide.“

Es gab nur eine Person, die in nahezu regelmäßigen Abständen eine Nachricht an uns beide verfasste: Alice Jasper aus Hamburg, die Tochter eines alten Freundes von Sherlock Holmes, welcher bei diesem in Ungnade gefallen war und der nun nicht mehr unter uns weilte. Alice hatte mit dem Geld, das ihr Vater ihr hinterlassen hatte, Straßenkinder in dem großen familieneigenen Haus aufgenommen. Mit dieser Geste wollte Alice einen Teil der Schuld, die ihr Vater auf die Familie geladen hatte, wiedergutmachen, und so das nicht auf ganz einwandfreien Wegen erwirtschaftete Vermögen, das mit dem Diebstahl einer indischen Kette, einer Art Talisman, den Anfang genommen hatte, einem guten Zweck zuführen, den sie selbst bestimmte. Darüber hinaus waren in Hamburg Gelder für eine Sandfilteranlage einst veruntreut worden, sodass die Anlage nicht gebaut werden konnte. Daran trug Alice’ Vater zwar keine nachweisbare Schuld. Am Ende hatten aber viele Menschen in Hamburg dies mit dem Leben bezahlen müssen, als die Cholera ­ausgebrochen war. Die meisten der Kinder, die Alice bei sich aufgenommen hatte, hatten während der Cholera-­Epidemie ihre Eltern verloren. Die Mitglieder der beiden verfeindeten Kinderbanden, die sich aus diesem Unglück gebildet hatten, die Hanse-Gören und die Oostkinner, vertrugen sich mittlerweile.2

„Alice’ letzte Nachricht ist erst vor vier Wochen gekommen. Und nun schreibt sie erneut?“ Normalerweise lagen längere Zeiträume zwischen den Briefen. Hin und wieder erwiderten wir sie, doch über uns beide gab es, wenn wir nicht gerade mit einem Fall beschäftigt waren, nicht viel zu erzählen. Da bot ein Waisenhaus doch deutlich mehr Unterhaltsames, zumal uns die Schicksale ihrer Schützlinge interessierten. „Ist denn etwas vorgefallen?“

„Watson, Ihre Spürnase ist heute aber in besonders guter Form.“

„Sie bittet uns, zu kommen?“

„Nein, das nicht. Sie wollte sich wohl einfach nur etwas Kummer von der Seele schreiben.“

„Ich hoffe, es ist nichts Ernstes.“

„Es ist keine Lappalie.“

„Dieser entsetzliche Kommissar lässt sie doch wohl endlich in Ruhe?“

Kommissar Kreier, von mir nur KK genannt, weil er es nach meiner Ansicht aufgrund seines rüpelhaften Benehmens während unseres letzten Besuches in Hamburg nicht verdiente, bei vollem Namen genannt zu werden, erschien in unregelmäßigen Abständen bei Alice. Es war ein wenig undurchsichtig, was er mit seinen Besuchen bezweckte, während derer er das Waisenhaus inspizierte. Doch weil wir sicher waren, dass sich Alice nichts zuschulden kommen lassen würde, war KKs Verhalten zwar lästig, doch keineswegs wert, dagegen vorzugehen.

„Es geht um eines der Kinder, ein Mädchen. Sie heißt Carola Kilian und ist zehn.“

„Dieses Kind ist mir damals nicht besonders aufgefallen“, gab ich zu. Ich hatte keine Ahnung, um wen es sich handelte. Es waren zu viele Gesichter gewesen.

„Ich kenne die Kinder auch nicht alle beim Namen, Watson. Alice schreibt, Carola hat ihre Mutter während der Epidemie verloren.“

„Und der Vater?“

„Nun, jetzt wird es interessant. Er galt als verschollen. Das Schiff, auf dem er als Matrose arbeitete, fiel einem Sturm zum Opfer und kenterte. Nicht ein Mann überlebte das Unglück. Zumindest glaubte man das. Bis der Vater plötzlich wieder auftauchte.“

„Welch glückliche Fügung, Holmes. Das sind doch gute Nachrichten.“

„Nun ja, er war auf der Suche nach seiner Familie und hat schließlich vom Schicksal seiner Frau erfahren. Und er hat seine Tochter wiedergefunden. Carola konnte sich kaum noch an den Vater erinnern, denn als sie sich zuletzt gesehen hatte, da war sie drei oder vier Jahre alt.“

„Aber sie hat wieder jemanden.“

„Hatte, lieber Watson. Hatte. Der Vater wollte sich um sie kümmern, musste aber erst einmal eine Wohnung und eine Arbeit besorgen. So lange sollte Carola bei Alice bleiben. Doch dann kam er nicht wieder. Er meldete sich nicht mehr. Selbst sein Freund, ein norwegischer Seemann, der ebenfalls auf dem gekenterten Schiff arbeitete und das gleiche Schicksal wie Carolas Vater teilte, weiß nicht, was passiert ist. Er hatte sein Fehlen zuerst bemerkt und war bei Alice, um sie zu fragen, ob sie wüsste, was passiert war.“