Sherlock Holmes - Neue Fälle 20: Sherlock Holmes und das Geheimnis von Rosies Hall - Michael Buttler - E-Book

Sherlock Holmes - Neue Fälle 20: Sherlock Holmes und das Geheimnis von Rosies Hall E-Book

Michael Buttler

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Beschreibung

Im Zweiten Afghanischen Krieg wurde John Watson angeschossen. Zudem erkrankte er an Typhus. Während dieser Zeit kümmerte sich Dr. Clifford Smith um ihn.Viele Jahre später erhält Watson von Dr. Smith überraschend eine Einladung nach Brixford, Devonshire. Sein Kollege hat ein altes Haus geerbt. Rosie's Hall.In Brixford angekommen, erfährt Watson, dass drei Kinder spurlos verschwunden sind. Er informiert seinen Freund Sherlock Holmes über weitere mysteriöse Vorfälle auf Rosie's Hall.Nach umfangreichen Ermittlungen offenbaren sich grauenhafte Machenschaften, die bis in die oberen Kreise des Britischen Empires reichen.

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Seitenzahl: 268

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Ähnliche


DIE NEUEN FÄLLE DES MEISTERDETEKTIVSSHERLOCK HOLMES

In dieser Reihe bisher erschienen:

3001 – Sherlock Holmes und die Zeitmaschine von Ralph E. Vaughan

3002 – Sherlock Holmes und die Moriarty-Lüge von J. J. Preyer

3003 – Sherlock Holmes und die geheimnisvolle Wand von Ronald M. Hahn

3004 – Sherlock Holmes und der Werwolf von Klaus-Peter Walter

3005 – Sherlock Holmes und der Teufel von St. James von J. J. Preyer

3006 – Dr. Watson von Michael Hardwick

3007 – Sherlock Holmes und die Drachenlady von Klaus-Peter Walter

3008 – Sherlock Holmes jagt Hieronymus Bosch von Martin Barkawitz

3009 – Sherlock Holmes und sein schwierigster Fall von Gary Lovisi

3010 – Sherlock Holmes und der Hund der Rache von Michael Hardwick

3011 – Sherlock Holmes und die indische Kette von Michael Buttler

3012 – Sherlock Holmes und der Fluch der Titanic von J. J. Preyer

3013 – Sherlock Holmes und das Freimaurerkomplott von J. J. Preyer

3014 – Sherlock Holmes im Auftrag der Krone von G. G. Grandt

3015 – Sherlock Holmes und die Diamanten der Prinzessin von E. C. Watson

3016 – Sherlock Holmes und die Geheimnisse von Blackwood Castle von E. C. Watson

3017 – Sherlock Holmes und die Kaiserattentate von G. G. Grandt

3018 – Sherlock Holmes und der Wiedergänger von William Meikle

3019 – Sherlock Holmes und die Farben des Verbrechens von Rolf Krohn

3020 – Sherlock Holmes und das Geheimnis von Rosie‘s Hall von Michael Buttler

Michael Buttler

SHERLOCK HOLMESund das Geheimnis von Rosie‘s Hall

Basierend auf den Charakteren vonSir Arthur Conan Doyle

Diese Reihe erscheint in der gedruckten Variante als limitierte und exklusive Sammler-Edition!Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag, www.blitz-verlag.de, in einer automatischen Belieferung ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt bis zu einer Höhe von 23 %.

© 2017 BLITZ-VerlagRedaktion: Jörg KaegelmannTitelbild: Mark FreierUmschlaggestaltung: Mark FreierSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenwww.BLITZ-Verlag.deISBN 978-3-95719-219-6

Michael Buttler wohnt mit seiner Familie und zwei Katzen im Rhein-Main-Gebiet. Er arbeitet als Bankkaufmann bei einem Kreditinstitut.

Anthologien, an denen der Autor beteiligt war, wurden verschiedentlich für den Deutschen Phantastik-Preis nominiert. Im Jahr 2012 war er mit einer Geschichte in dem Buch vertreten, das den ersten Preis gewann.

Zwei seiner historischen Kriminalromane spielen zur Zeit Johann Wolfgang von Goethes in Weimar, weshalb Buttler sie seine ­Goethe-Krimis nennt: Die Bestie von Weimar und Der Teufelsvers.

Im BLITZ-Verlag erschien bisher Sherlock Holmes und die indische Kette.

Auf Anfrage steht der Autor gern für Lesungen zur Verfügung.

www.michael-buttler.de

Kapitel 1

„Ha!“, rief mein Freund Sherlock Holmes, der im Sessel mir gegenübersaß und die Zeitung studierte. Und wieder: „Ha!“

Ich zuckte beide Male zusammen und schaute von meinen Aufzeichnungen hoch. Es handelte sich um die Notizen der letzten Fälle, die ich mit Holmes bestritten hatte. Auf dem ersten Blatt hatte ich als Überschrift Das Rätsel um das blaue Kaninchen geschrieben. Auf einem zweiten stand Der sprechende Koffer und das dritte zierte der delikate Titel Die schwarzen Beine der Madame. Zumindest den letzten Beitrag würde ich wohl tief in dem Stapel meiner Unterlagen verschwinden lassen, wollte ich tatsächlich alles so niederschreiben, wie es sich zugetragen hatte. Die beiden anderen mochten sich für eine Veröffentlichung eignen.

Als Holmes nun ein drittes Mal ein „Ha!“ anstimmte, legte ich meine Papiere zur Seite.

„Welche Neuigkeiten sind das, die Sie so früh am Tage derart aufbringen?“, fragte ich und wartete vergebens auf eine Antwort. Holmes würde den Artikel erst zu Ende lesen. Und wenn er es für angebracht hielt, dann würde er den Text noch ein Dutzend Mal lesen und mir die Antwort so lange schuldig bleiben.

Ich griff nach meiner Kaffeetasse, die gemeinsam mit dem Frühstücksgeschirr noch auf dem Tisch stand, und nahm einen kräftigen Schluck. Danach stand ich auf und schloss das Fenster. Wir hatten genug gelüftet. Außerdem sah es nach Regen aus. Der Oktober hatte in diesem Jahr nicht sehr vielversprechend angefangen.

Hinter mir hörte ich das Rascheln der Zeitung.

„Mein lieber Watson, dieser Artikel hier ist doch zu köstlich. Sehen Sie selbst.“

Ich wandte mich meinem Freund zu und beugte mich über die Rückenlehne seines Sessels. Holmes deutete mit dem Finger auf die Stelle, die er meinte. Pflichtgetreu las ich:

Auf Scotland Yard ist Verlass

Wie uns mitgeteilt wurde, hat man den Mörder des Reeders John Heeling innerhalb von vierundzwanzig Stunden gefasst. Wie Inspektor Lestrade erklärte, gelang der rasante Durchbruch erst in den letzten drei Stunden, als man einem Ermittlungsansatz folgte, den er höchstselbst in die Wege leitete. Was genau unternommen wurde, um den Mörder zu überführen, wollte der Inspektor nicht preisgeben. Würde man die breite Öffentlichkeit über seine gewieften Ermittlungsmethoden in Kenntnis setzen, so könne sich das kriminelle Gesindel darauf einstellen, führte der Inspektor aus. Das Geheimnis seines Erfolges wolle er mit ins Grab nehmen.

Hoffen wir, dass bis dahin noch viel Wasser die Themse hinunterfließen wird, denn Männer wie Inspektor Lestrade sind es, die unserer Welt die Ordnung erhalten.

In der Folge wurde der Tathergang beschrieben, den ich sehr genau kannte, denn ich war während der ­letzten drei Stunden der Ermittlungen dabei gewesen. Hinter ­Lestrades Erfolg steckte kein anderes Geheimnis als die Beobachtungs- und Kombinationsgabe des Meisterdetektivs Sherlock Holmes.

„So ein elender Hund“, presste ich hervor. Es kostete mich Mühe, keine härteren und treffenderen Worte zu finden. Ich wusste nun, welche Notizen ich als nächstes in eine veröffentlichungsreife Form bringen würde. Einen Titel hatte ich auch schon: Das Geheimnis seines Erfolges. Es juckte mich in den Fingern, sofort mit der Arbeit zu beginnen, als Mrs Hudson den Raum betrat.

Unsere Vermieterin hielt ein paar Kuverts in der Hand. Wahrscheinlich waren das wieder Bittbriefe von unglücklichen Zeitgenossen, die glaubten, Holmes würde, sollte, ja müsste ihnen sogar helfen. Mit meiner nächsten Geschichte würde ich dafür sorgen, dass Scotland Yard am Fuß der Treppe, die zu unserer Wohnung führte, ein kleines Empfangsbüro einzurichten hätte.

„Darf ich das wegräumen?“, fragte Mrs Hudson und schaute uns nacheinander an.

Holmes reagierte nicht. Er war schon wieder in die Zeitung vertieft.

„Bis auf den Kaffee, Misses Hudson. Vielen Dank“, antwortete ich für uns beide.

„Die Post war schon da“, sagte unsere Vermieterin überflüssigerweise, dann legte sie drei der Briefe vor meinem Freund ab. Einen jedoch erhielt ich. Damit überraschte mich Mrs Hudson. Üblicherweise erhielt ich nicht mehr als einen Brief im Monat und glaubte, mein Soll wäre bereits erfüllt.

Während unsere gute Fee die Reste des Frühstücks auf dem Tablett zusammenstellte und damit den Raum wieder verließ, begab ich mich zu meinem Sessel und studierte den Absender: C. Smith, Rosie’s Hall, Brixford, ­Devonshire.

Ich kannte niemanden in Devonshire, geschweige denn in Brixford. Der Name dieses Ortes war mir völlig unbekannt. Und der Name Smith, nun, dazu gab es wirklich nichts zu sagen. Holmes hätte sicherlich anhand der Qualität des Kuverts, der Handschrift, in welcher Absender und Empfänger (Dr. John H. Watson M.D., Baker Street 221 b, London) geschrieben worden waren, analysiert, dass ein hinkender Linkshänder diesen Brief verfasst hatte, dessen Vater an Tuberkulose und dessen Mutter im Kindbett gestorben waren. Manchmal ritt mich der Teufel und ich versuchte, die Methoden meines Freundes recht erfolglos anzuwenden. Heute hatte ich keine Muse, ihm nachzueifern.

Allerdings, das M.D. im Anschluss an meinen Namen machte mich schon aufmerksam, bezeichnete das doch den Militärischen Dienst der Armee, aus dem ich mit einer Schusswunde ausgeschieden war.

Holmes’ Stimme schreckte mich aus meinen Gedanken. „Mein lieber Watson, manchmal lohnt es sich nicht, den Kopf anzustrengen, wenn man sich der Lösung auf einfache Weise nähern kann.“

„Was meinen Sie?“

„Nun, Sie scheinen zu überlegen, wer Ihnen den Brief geschrieben hat. Ich könnte Sie in dieser Sache weiter bringen, denn die Verwendung des Zusatzes M.D. legt nahe, dass es jemand ist, der Sie schon lange kennt. Und weil der Brief nicht offiziell aussieht, so wird es nicht das Militär selbst gewesen sein, das sich Ihrer erinnert. Weil der Absender Ihnen offensichtlich unbekannt ist, kann es sich entweder um jemanden handeln, der von Ihnen gehört oder der sich und seine Lebensumstände in bedeutender Weise verändert hat.“

Ich nickte, während sich Holmes seinen eigenen Briefen widmete. „Indes sind alle Versuche einer Schlussfolgerung in diesem Fall höchstwahrscheinlich unnötig, denn wenn Sie den Brief öffnen und einfach hineinsehen, ihn lesen, dann werden Sie aus dem Kontext der geschriebenen Wörter sicherlich daraus schließen können, wer Sie mit diesem Brief beehrte. Sollte Ihnen danach trotzdem kein Rückschluss auf den Absender möglich sein, dann können wir uns weiter den Überlegungen widmen, denen wir uns eben hingegeben haben.“

Dazu gab es von meiner Seite nichts hinzuzufügen. Deshalb griff ich nach dem Brieföffner und folgte dem Rat meines Freundes. Die Nachricht war nicht sehr lang:

Lieber John,

ich hoffe, deine Adresse stimmt. Leider hast du vergessen, sie mir zu schicken. Ein Kamerad vom Militär half mir in dieser Angelegenheit weiter.

Seit unserer gemeinsamen Zeit in Peshawar sind ein paar schöne Jahre vergangen. Ich hoffe, es ist dir gut ergangen.

In meinem Fall hat es einige bedeutende Veränderungen der Lebensumstände gegeben. Ich lebe nun in einem großen Herrenhaus in Brixford, Devonshire. Es trägt den Namen Rosie’s Hall. In den Zeiten, da es nicht viel für mich zu tun gibt, vergehen die Stunden nur sehr schleppend. Die Gegend hier ist recht einsam, zumal weder Freunde noch Bekannte in näherer Umgebung wohnen.

Aus diesem Grund lade ich dich ein, ein paar Tage mein Gast zu sein. Ich würde dir sehr gern erzählen, was sich seit Afghanistan in meinem Leben getan hat. Gleichwohl bin ich begierig darauf zu erfahren, wie es dir ergangen ist.

Außerdem habe ich dir ein Angebot zu unterbreiten, das du hoffentlich nicht abschlagen wirst. Telegrafiere mir, wann du kommst. Ich hole dich vom Bahnhof in Kingsbridge ab. Du bist jederzeit willkommen.

Herzlich,

Clifford Smith

„Ihrem zufriedenen Gesichtsausdruck entnehme ich, dass weitere Deduktionen nicht notwendig sind“, meinte Holmes, als ich die Hand, in der ich den Brief hielt, sinken ließ.

Ich las das Schriftstück noch einmal, bevor ich es Holmes reichte.

„Mister Smith ist ein alter Kampfgefährte, nehme ich an.“

Ich schüttelte zuerst den Kopf, dann nickte ich. „Nicht ganz“, antwortete ich. „Clifford war Arzt in dem Hospital in Peshawar, in das ich mit ein paar anderen armen Seelen verbracht wurde.“ Ich dachte nicht gern an die Zeit von damals zurück, bedeutete sie doch eine große Niederlage für mich und das Britische Empire. Als Assistenzarzt sollte ich für meine Kameraden da sein, doch dieser Aufgabe konnte ich nicht lange nachgehen. Wir standen der dreifachen Anzahl von Feinden gegenüber, als die Schlacht von Maiwand in die Geschichte einging. Wir hielten uns aufgrund der Überlegenheit unserer Waffen zunächst ganz gut, doch letztendlich mussten wir uns geschlagen geben. Glücklicherweise gelang es unseren Politikern ein paar Jahre später, die Russen und ihren Expansionsdrang im Rahmen einer Demarkationslinie einzudämmen. Ich war sicher, eines Tages würde dieses hungrige Volk ihre sibirischen Steppen verlassen, um sich weiter südlich, namentlich in der Nähe unseres indischen Herrschaftsgebietes, niederzulassen. Und wenn diese Menschen erst einmal den Reichtum dieser Gebiete erkannten, würden sie nicht Halt machen und uns einfach überrennen. Es war demnach unbedingt notwendig, dass Afghanistan als eine neutrale Zone die Sicherheit der indischen Bevölkerung gewährleistete.

„Sie denken an die alten Zeiten, nicht wahr?“

Holmes hatte mich aus meinen Gedanken wieder zurückgeholt.

„Sie haben mich ertappt. Clifford behandelte meine Schusswunde in der Schulter. Wir verstanden uns recht gut. Und so kam es, dass er auch einen Teil seines Feierabends mit mir verbrachte, bis der Typhus mich heimsuchte. Als ich aus dem Fieber erwachte und mich von dieser Krankheit soweit erholt hatte, dass ich reisen konnte, wurde mein Abtransport in ein englisches Krankenhaus veranlasst. Nachdem ich endlich genesen war und aus dem Krankenhaus entlassen wurde, schrieb ich ihm einen Brief. Es kam eine Antwort zurück. So ging das drei oder vier Mal. Clifford zog es vor, sein Glück auf dem Subkontinent zu versuchen. Irgendwann kam ein Brief unzustellbar zurück. Nun, und dann wechselte ich meine Adresse zur Baker Street 221 b.“

„Immerhin, er ist in England und hat Sie gefunden.“

Ich lächelte. Ein warmes Gefühl breitete sich in meinem Bauch aus. „Ja, er ist nach England gekommen, hat sich meiner erinnert und es auf sich genommen, mich zu suchen.“

„Nun, Sie zu finden war nicht ganz so schwierig, denke ich. Neben den offiziellen Stellen, bei denen man nachfragen kann, und neben ihren Veröffentlichungen unserer kleinen Abenteuer hatte Doktor Smith den erwähnten Kamerad vom Militär. Dort werden Sie immer noch in einer Akte geführt. Man muss also nur die richtige Schublade aufziehen und nachsehen, wo Sie gemeldet sind.“

„Holmes, rauben Sie mir meine Freude nicht.“

„Er hat sich, wie Sie erwähnten, an Sie erinnert. Und er hat Schritte unternommen, Sie zu finden. Er hätte das auch lassen können. Also besteht für Sie kein Grund, ihrer Freude nicht nachzugehen.“

„Herzlichen Dank.“

Ich trank noch etwas Kaffee, während sich Holmes erneut in die Zeitung vertiefte. Nach einer Weile sah mein Freund auf.

„Sie fragen sich, was er in Devonshire zu schaffen hat, ist es nicht so?“

„Ich bin für Sie ein offenes Buch, Holmes.“

„In der Tat.“

„Nun, Holmes? Sie haben sich gewiss schon ein Urteil gebildet.“

„Lassen Sie mich zunächst etwas nachschlagen.“

Mein Freund faltete die Zeitung zusammen, stand auf und öffnete eine der Kommoden. Zielsicher griff er nach einem großformatigen Buch und setzte sich wieder neben mich.

„Rosie’s Hall, das ist ein ungewöhnlicher Name für ein Herrenhaus. Nur deshalb ist es mir noch im Gedächtnis geblieben, obwohl ich meine Nase schon seit Jahren nicht mehr in dieses Werk gesteckt habe.“ Er blätterte ein paar Seiten um, dann hielt er inne und nickte zufrieden. „Das ist es.“

„Würden Sie bitte zu meiner Erleuchtung beitragen und etwas deutlicher werden, Holmes?“

Mein Freund drehte das Buch so, dass ich die maßgebliche Seite gut einsehen konnte.

Ich war beeindruckt. Das Blatt wurde von einer Zeichnung beherrscht, die auf den ersten Blick wenig mit einem Haus zu tun hatte. Es sah aus, als habe man die Hinterteile – zwei Prunkhecks – von großen Linienschiffen aneinander gestellt. Das Dach war dementsprechend flach. Wer, um Himmels willen, dachte sich so etwas aus?

„Das Haus wurde vor knapp siebzig Jahren gebaut. Im Gegensatz zu seinem Vorbild besteht es jedoch aus solidem Stein“, erläuterte mir Holmes die Details. „Heute gehört es einem älteren Herrn, einem gewissen William Charles Smith.“

„Clifford ist möglicherweise als sein Arzt angestellt. Es wird nicht viel zu tun geben, und so langweilt er sich den Rest des Tages.“

„Das ist möglich, mein lieber Watson. Ich gebe jedoch zu bedenken, dass die Nachnamen beider Herren Smith lauten. Möglicherweise besteht eine Verwandtschaft.“

„Holmes, ich bin überrascht. Es ist doch gar nicht Ihre Art, sich an Spekulationen zu beteiligen.“

Mein Freund sah mich mit ernstem Gesicht an. „Sie haben mich ertappt. Der Name Smith kommt zu häufig vor, um hier einen Anhaltspunkt zu bieten. Allerdings frage ich mich, wie der alte Mister Smith ausgerechnet auf den jungen Doktor Smith gekommen ist, als er einen Arzt benötigte. Als alter Herr, der in der Provinz lebt, hat er sicherlich kaum die Möglichkeiten, sich intensiv mit der Arztsuche zu beschäftigen.“ Er hob die Hand, um einen Einwand meinerseits im Vorfeld zu stoppen, den ich gar nicht vorhatte zu äußern. „Ich weiß, der junge Doktor Smith hätte sich auf der Durchreise befinden können. Vielleicht war er sogar so etwas wie ein Dorfarzt in der kleinen Siedlung Brixford. Aber wie ist er dorthin gekommen? Und vor allem, warum? Das, mein lieber Watson, sind die wahren Spekulationen. Deshalb ist, wie ich wohl behaupten darf, meine These, bei der ich mich auf ein verwandtschaftliches Verhältnis beziehe, die Wahrscheinlichere.“

„Gut gekontert, Holmes. Wie immer gut gekontert. Allerdings weiß ich noch so einiges, was Clifford und ich besprachen, damals in Peshawar. Er erzählte mir, er stehe ganz allein auf der Welt.“

„Etwas genauer, bitte.“

„Die Familie meines Freundes besaß ein wenig Geld. Es handelte sich um keine großen Reichtümer, doch man kam angenehm damit zurecht. Es reichte aus, um Clifford nach London zu schicken, damit er dort studieren konnte.“

„Wo kommt er ursprünglich her?“

„Aus einem kleinen Nest in der Nähe von Ipswich. Er war noch nicht lange in London, als ihn eines Tages eine furchtbare Nachricht erreichte. Das Haus seiner Eltern war niedergebrannt. Weder seine Mutter noch sein Vater überlebten. Sie kamen beide in den Flammen um. Geschwister oder andere Verwandte hatte Clifford nicht. Aus dem Polizeibericht ging hervor, dass die Toten in ihren Betten gelegen hatten, als es passierte. Wahrscheinlich schliefen sie. Das Feuer muss aus irgendeiner Unachtsamkeit heraus entstanden sein, vielleicht eine Öllampe auf wackligem Untergrund oder eine Jacke, die über Nacht zu nah am Kamin zum Trocknen hing.“

„Und keine weitere Verwandtschaft.“

„Es war ihm keine bekannt.“

„Nun, mein lieber Watson, so hatten Sie einen Wissensvorsprung, den sie geschickt verschwiegen haben. Dennoch, nur weil er nichts von weiteren Verwandten wusste, heißt das nicht, dass es sie nicht doch gibt.“

Wirkte Holmes pikiert? Ich vermochte es nicht zu deuten und tat deshalb so, als hätte ich seine Bemerkung nicht gehört. Doch Holmes war in Stimmung gekommen und gab eine unschmeichelhafte Bemerkung von sich.

„Ich fasse also zusammen: Ihr Freund aus alten Tagen sitzt womöglich in einem kleinen Nest fest, betreut einen Greis, der ihn womöglich gut genug bezahlt, um ihn zu halten, und sucht einen Gesellschafter für die langen Tage, an denen nichts mehr zu tun ist, als den Puls dreimal täglich zu messen. Da endlich erinnert er sich Ihrer nach so langer Zeit und keine Minute früher, obwohl er schon eine Weile in England weilen musste, bevor er an diese Stellung geraten konnte.“

„Sie versuchen, mir diesen Brief madig zu machen.“

„Ich ziehe lediglich meine Schlüsse.“ Mit diesen Worten wandte er sich ab und ging in sein Schlafzimmer.

Kopfschüttelnd sah ich ihm nach. Vielleicht sollte ich Holmes gegenüber bei Gelegenheit einmal erwähnen, wie ich hin und wieder meine Rolle im Zusammenleben mit meinem Mitbewohner auffasste. Sicher, es war immer interessant, mit Sherlock Holmes ein Abenteuer zu erleben, doch oft genug war ich ein Statist. Manchmal bildete ich mir ein, ihm eine moralische Unterstützung zu sein. Hinzu kam, dass ich so manche seiner seltsamen Eigenheiten zu ertragen hatte. Insbesondere, wenn er wieder einmal enervierend auf seiner Violine und in meinem Gemüt herum kratzte, wo er dieses Instrument doch so gut beherrschte. Was also war ich an manchen Tagen anderes für ihn als ebenfalls nur ein Gesellschafter?

Ein paar Minuten später trat Holmes angekleidet in den Salon.

„Sie gehen aus?“, fragte ich überflüssigerweise, weil ich etwas sagen wollte, mir aber nichts Intelligenteres einfiel.

„In der Tat. Ich werde der Bibliothek einen Besuch abstatten. Wenn Sie möchten, dann kommen Sie mit. Ich möchte etwas recherchieren.“

Ich unterdrückte ein Lächeln und schenkte mir demonstrativ noch eine Tasse Kaffee ein. „Vielen Dank für das Angebot, doch ich möchte den heutigen Tag geruhsam angehen.“

„Ich nehme an, Sie wollen nachher Vorbereitungen für Ihre Reise nach Devonshire treffen.“

„Sie haben mich durchschaut. Und wenn Sie ein wenig Luftveränderung brauchen, dann kommen Sie doch einfach mit mir. Ich nehme an, in Rosie’s Hall wird es noch ein weiteres freies Gästezimmer geben. Sie könnten mir auf der Reise und vor Ort Gesellschaft leisten.“ Bei den letzten beiden Worten hob ich meine Stimme eine Nuance an, doch Holmes tat so, als habe er es nicht bemerkt. Weil mein Freund ein außerordentliches Beobachtungstalent besaß, war ich sicher, dass es ihm nicht entgangen sein konnte.

„Ich glaube, vor einiger Zeit etwas über Rosie’s Hall gelesen zu haben. Die interessante Architektur hatte damals meine Aufmerksamkeit geweckt“, erzählte mein Freund unbefangen. „Wenn mich nicht alles täuscht, so hat Javed Redhead das Haus bauen lassen. Sagt Ihnen der Name etwas?“

„Sie meinen den indischen Seeräuber, der sich seine Haare rot färbte?“, antwortete ich.

Holmes nickte. „Ja. Zu Beginn dieses Jahrhunderts hat er während der Herrschaft Muhammad Alis viele Mumien aus Ägypten herausgeschafft, die nicht medizinischen Zwecken dienen sollten.“ Natürlich waren mir als Mediziner einige der obskuren Rezepte bekannt, für die Mumienstaub verwendet wurde. „Damals waren sogenannte Mumienpartys unter den Adligen noch weit verbreitet, aber original ägyptisch sollten sie sein. Diese Mumien waren teuer. Javed Redhead erkannte, dass der Handel an den offiziellen Stellen vorbei sehr lukrativ war, und verließ seinen einst eingeschlagenen Weg – die reine Seeräuberei.“

„Sie haben sich mit der Person dieses Redheads intensiv befasst.“

„Er ist mir im Verlauf meiner Studien begegnet. Sie wissen ja, dass ich mich insbesondere für ungewöhnliche Fälle interessiere.“

„Wenn Sie vom Anfang dieses Jahrhunderts sprechen, so mag Mister Redheads Wirken schon an die achtzig Jahre her sein. Sie wollen doch hoffentlich keine Verbindung zu meinem Freund Clifford herstellen?“

„Wie Sie wissen, sammle ich lediglich Informationen. Es gibt derzeit keinen Grund für irgendwelche Vermutungen. Mumienpartys gibt es heute sicherlich auch noch, doch nicht mehr in diesem Umfang. Javed Redhead wurde in den dreißiger Jahren auf Sardinien erkannt. Damals war er längst ein gemachter Mann und fuhr nur noch zum Vergnügen zur See. Doch einige Leute nahmen ihm seine Seeräubereien der Vergangenheit immer noch übel.“

„Verständlich.“

„Er wurde aufgeknüpft. Damit endet die Geschichte der Person Javed Redhead. Und die seiner Frau Rosie, denn sie warf man in den Kerker.“

„Daher der Name des Hauses: Rosie’s Hall. Javed Redhead hat es nach ihr benannt.“

„In der Tat, mein lieber Watson. Sie haben es erfasst.“

Kapitel 2

Zwei Tage später bestieg ich in Paddington zur Mittagszeit einen Zug der Great Western Railway Richtung Plymouth. Um an mein Ziel zu gelangen, musste ich in South Brent umsteigen. In Kingsbridge war Endstation.

Gleich nach dem Gespräch mit Holmes über Javed Redhead und dessen Haus telegrafierte ich meinem Freund Clifford Smith und teilte ihm mit, wie gern ich ihn besuchen würde. Es wurde ausgemacht, dass ich mit einem bestimmten Zug ankommen sollte. Er wollte mich mit einer Droschke am Bahnhof abholen. Umso erstaunter war ich, als am späten Nachmittag außer dem Bahnhofsvorsteher niemand in Kingsbridge auf dem Bahnsteig zu sehen war.

„Entschuldigen Sie bitte“, sprach ich den Mann an. „Ich warte auf einen Freund, der mich abholen wollte.“

Der Bahnhofsvorsteher starrte mich erwartungsvoll an.

„Er scheint nicht hier zu sein“, führte ich weiter aus.

„Da scheinen Sie, verdammt noch mal, Recht zu haben.“

„Hat denn jemand eine Nachricht hinterlassen?“

Mein Gegenüber grinste. Ich sah den Kautabak zwischen seinen Zähnen hängen. „Sie meinen, Ihr Freund soll gekommen sein, um mir für Sie eine Nachricht zu hinterlassen, um dann wieder zu verschwinden?“

„Ich dachte mehr an ein Telegramm.“

Er schüttelte den Kopf.

„Na, dann warte ich eben noch eine Weile.“

„Scheint mir angebracht.“

Der Bahnhofsvorsteher wandte sich um und verschwand in seinem Häuschen. Welch reizende Person. Ich hoffte nicht, dass der Charme dieses Mannes ein Abbild dessen war, was mir in dieser Provinz noch begegnen sollte. Ich setzte mich auf eine Bank, stellte meine Reisetasche neben mich und schaute auf die Uhr. Der Zug war beinahe pünktlich angekommen. Wäre er ein paar Minuten zu früh gewesen, dann hätte ich eine Erklärung gehabt, weshalb Clifford noch nicht da war. So blieb mir nichts anderes übrig, als zu warten.

Ich wurde von Minute zu Minute unruhiger, konnte bald nicht mehr still sitzen und marschierte schließlich auf und ab, als könnte dies helfen, Clifford herbeizubringen. Was war da nur los? Warum ließ er so lange auf sich warten? Er konnte mich doch nicht innerhalb von zwei Tagen vergessen haben, oder? Das sah ihm gar nicht ähnlich. Vielleicht hatte er einen Unfall mit seiner Droschke?

Schließlich hielt ich es nicht mehr aus und klopfte an der Bürotür des Bahnhofsvorstehers.

„Ja?“

„Entschuldigen Sie, gibt es eine andere Möglichkeit für mich, nach Brixford zu gelangen?“

„Hat man Sie versetzt?“

„Diese Frage erscheint mir unangebracht. Meinem Freund ist vielleicht etwas passiert.“

Der andere kratzte sich am Kopf und verschob auf diese Weise seine Mütze. „Sie könnten in Kingsbridge übernachten. Morgen früh findet sich bestimmt eine Gelegenheit, um nach Brixford zu kommen.“

„Ich möchte lieber jetzt gleich von hier fort. Gibt es jemanden, der mir eine Droschke leihen kann. Oder der mich fährt?“

„Hier gibt es eher Fuhrwerke, Meister.“

„Dann eben ein Fuhrwerk.“ Ich wurde langsam ungeduldig. Man musste diesem Kerl wirklich jede Information aus der Nase ziehen.

Er schüttelte den Kopf. „Nee, es ist noch hell.“

Was wollte er mir damit sagen? Die Frage schien mir ins Gesicht geschrieben zu stehen, denn er sprach doch tatsächlich von allein weiter!

„Schauen Sie mal auf den Kalender, Meister. Es ist Erntezeit. Die sind alle auf den Feldern.“

Ich unterdrückte einen Fluch.

„Wie weit ist es bis nach Brixford?“

„Knapp sechs Meilen.“

Das bedeutete ungefähr zwei bis zweieinhalb Stunden Fußmarsch. Mit Gepäck. Ich würde es vor der Dunkelheit nicht mehr schaffen, an mein Ziel zu gelangen, doch alles war besser, als noch länger zu warten.

„In welche Richtung?“

Er deutete auf eine Straße, die nach Süden führte.

„Vielen Dank“, sagte ich und ging los.

„Alles klar, Meister.“

Wie prophezeit war es dunkel, als ich nach meinem Marsch durch das südliche Devonshire endlich die ersten Häuser sah. Ich traf nur wenige Menschen. Meistens waren sie ebenso zu Fuß unterwegs wie ich, doch ich war zu wütend, um mit ihnen in ein Gespräch zu kommen. Sofern wir den gleichen Weg hatten, schritt ich schneller aus und überholte diese Leute.

Einige Arbeiter sah ich auf den Feldern, ebenso die einfachen Fuhrwerke, von denen der Bahnhofsvorsteher gesprochen hatte. Doch von Clifford war keine Spur zu sehen. Fast wünschte ich mir, ihn im Straßengraben liegen zu sehen, bewusstlos und damit in der Lage, sein Nichterscheinen zu rechtfertigen. Es musste andere Gründe geben, weshalb mein Freund aus alten Tagen mich versetzt hatte. Möglicherweise – nein höchstwahrscheinlich sogar benötigte der Hausherr von Rosie’s Hall ihn als Arzt. Bei dem Gedanken daran verflog mein Groll, denn ich wusste, wie sehr man sich auf seine Patienten konzentrieren musste, wenn eine ernsthafte Erkrankung vorlag. Da vergaß man häufig alles andere.

Ein kläffender Hund begrüßte mich am Ortseingang von Brixford. Er kam auf wenige Yards heran und verschwand im Gebüsch, als ich einen Tritt andeutete. Allerdings hörte er nicht auf zu bellen. Na, das war ein vielversprechender Empfang.

Ich ging weiter. Es dauerte nicht lange, bis ich irritiert auf einem kleinen, nicht gepflasterten Platz stand und auf die Kirche starrte, die sich augenscheinlich im Zentrum des Ortes befand. Nun konnte ich mir in etwa ausrechnen, wie klein Brixford war. Es hätte mich gewundert, wenn mehr als dreihundert Menschen hier gelebt hätten. Und niemand außer mir und dem kläffenden Köter am Ortseingang befand sich um diese Uhrzeit draußen.

Ausgerechnet hier in der Nähe sollte ein Herrenhaus stehen. Der alte Mister Smith schien die Abgeschiedenheit sehr zu schätzen.

Hier in der Dorfmitte gab es auch einen Pub. Das Schild war in der Dunkelheit nicht lesbar, doch das Licht und die Stimmen, die durch die offenen Fenster zu mir drangen, waren eindeutig. Sofort setzten bei mir Hunger und Durst ein, als hätten sie nur auf diesen Augenblick gewartet. Die letzten Schritte überwand ich schnell. Ich öffnete die Tür. Die Einrichtung war einfach und sauber. Einige Tische waren besetzt. Insgesamt befand sich ungefähr ein Dutzend Männer in dem Lokal. Einige schauten zur Tür, um sich den Neuankömmling zu betrachten.

Weil ich mit dem Wirt ein paar Worte wechseln wollte, begab ich mich an den komplett freien Tresen und schritt an den anderen Leuten vorbei. Die meisten achteten schon gar nicht mehr auf mich. Man war mit sich selbst beschäftigt. Staubig wie ich war stellte ich meine Tasche ab und setzte mich auf einen der Hocker.

„Sie sehen durstig aus, mein Herr“, sagte der Mann am Zapfhahn.

„Und hungrig bestimmt auch. Doch zuerst bitte ich um ein Pint Ale.“

„Geht klar.“ Er füllte ein Glas und stellte es vor mich hin.

„Sind Sie der Wirt?“

Er tippte mit einer Hand an seinen grauen Haaransatz und nickte. „Jeder nennt mich Skinny.“

Ich starrte wohl einen Moment zu lange seine feisten Wangen, sein dreifaches Kinn und seinen überdurchschnittlich runden Bauch an.

Er lachte kurz und heftig. „Ja, wir haben Humor in Brixford, nicht wahr?“

Ich lachte mit und nannte meinen Namen. Dieser Mann war mir sympathisch. Er zählte mir auf, was es zu essen gab: Eintopf mit Wurst oder Eintopf ohne Wurst. Ich entschied mich für die erste Variante.

Skinny verschwand für einen Augenblick hinter einem Vorhang und gab meine Essensbestellung auf. Dann stand er wieder vor mir, schaute in die Runde, nickte hin und wieder und nahm ein paar neue Gläser. Offenbar hatte er einige Bestellungen aufgenommen.

„Wo kommen Sie her?“, wollte Skinny zwischen den Zapfvorgängen wissen.

„Ich bin aus London angereist.“

„Ja, sieht man gleich, dass Sie von der feineren Gesellschaft sind.“

Wahrscheinlich bezog sich das auf meine Kleidung und die gerade, militärische Haltung, die ich regelmäßig einnahm. Doch alle Londoner – und mich eingeschlossen – mit der feinen Gesellschaft gleichzusetzen, hielt ich für sehr gewagt. Aber ich ließ den Wirt in seinem Glauben.

„Es kommt selten vor, dass jemand aus London zu uns kommt.“

„Nun, ich besuche einen Freund. Er wohnt in Rosie’s Hall.“

Skinny zapfte weiter.

„Wissen Sie, wie ich dort hinkomme?“, fragte ich schließlich.

Mein Gegenüber deutete vage in eine Richtung. „Sie müssen zur Küste.“

„Wie weit ist das?“

„Etwa eine Meile.“

„Ich bin von Kingsbridge mit meinem Gepäck hierher gelaufen und ziemlich müde. Meinen Sie, jemand könnte mich mit einem einfachen Gespann rasch hinüber fahren?“

Der Wirt wiegte den Kopf, als überlegte er. Eine Antwort auf meine Frage sollte ich nicht erhalten. Stattdessen knallte jemand an einem der Tische sein Glas so kraftvoll auf, dass es zersprang. Schimpfen und Gejohle wechselten sich ab. Ein Stuhl fiel polternd zu Boden. Erst jetzt wandte ich mich um und erkannte einen schmalen Mann Mitte dreißig in stark vernachlässigter Kleidung, der die Faust ballte.

„Das nimmst du zurück, du verdammter Lügner!“, schrie er einen anderen an, der nun ebenfalls aufstand, dies aber betont lässig und mit einem unverschämten Grinsen im Gesicht tat.

„Es ist nun mal offensichtlich, Pete.“

Der Schreihals, den der andere mit Pete angesprochen hatte, nahm sein halbvolles Glas und warf es über den Tisch. Die Distanz war zu kurz, als dass der vermeintliche Lügner hätte ausweichen können, doch Pete hatte ohne zu zielen und in Rage geworfen. Das Glas prallte gegen die Wand und zerbrach. Auf dem Putz blieb ein nasser Fleck zurück.

„Bist du irre?“, schrie jetzt der andere.

Skinny trat energisch auf Pete zu und wollte ihn am Hemdkragen packen. Pete bemerkte ihn und machte zwei Schritte rückwärts.

„Hör auf, dich wie ein Idiot aufzuführen“, sagte der Wirt. „Du gehst jetzt besser nach Hause.“

„Wer ist das?“, rief Pete und hielt seinen ausgestreckten Arm in meine Richtung.

„Ein Gast. Den wirst du in Ruhe lassen.“

„Passt nur auf, bald wird auch eins von euren Kindern verschwinden! Immer, wenn ein Fremder kommt, passiert das.“

„Es ist erst ein Fremder in den letzten Jahren hergekommen“, sagte Skinny. Er wirkte ruhig und gefasst. Ich bewunderte ihn für seinen Gleichmut. Dass ich aber nun im Brennpunkt des Geschehens stand, schmeckte mir gar nicht.

„Siehst du“, rief Pete, „niemand kommt in dieses Nest, wenn er nicht etwas im Schilde führt. Er hat es auf unsere Kinder abgesehen!“ Nun verstellte er die Stimme in dem Versuch, jemanden nachzuäffen, den er selbst nicht zu kennen schien, und klang wie ein nervendes Kind. „Weit ab leben die hier. Alle plemplem sind die hier. Es interessiert sich keiner für diese Hinterwäldler. Mit denen können wir machen, was wir wollen.“

„Warum soll er denn unsere Kinder wollen?“

„Frag ihn doch! Frag ihn!“

Ich wollte zur Entspannung der Situation beitragen. Mittlerweile waren sowieso alle Augen auf mich gerichtet. Pete, der Wirt und meine Person, wir hatten die ganze Aufmerksamkeit der anwesenden Personen.

„Mein Name ist Doktor Watson. Ich möchte nur einen Freund besuchen.“

„Ein Doktor!“, schrie Pete jetzt. „Wie der andere. Nun sind es zwei! Sie holen unsere Kinder, um mit ihnen zu experimentieren.“

„Das ist Unsinn“, sagte Skinny.

Nun ging es drunter und drüber. Pete wollte auf mich losgehen. Geschickt entwischte er den zupackenden Pranken des Wirtes. Skinny war einfach zu langsam.