Luca und das Mal der Fürsten - Regina Schleheck - E-Book

Luca und das Mal der Fürsten E-Book

Regina Schleheck

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Beschreibung

Der junge Luca lebt in einer chaotischen Großfamilie. Der Vater hat schon vor seiner Geburt das Weite gesucht. Neben ihm und seiner Zwillingsschwester sorgt eine quirlige Schar älterer Schwestern und Brüder dafür, dass es zuhause drunter und drüber geht. Und dann ist da noch Alexander, sein Playmobil-Ritter … Lucas Lieblingsort ist das Stille Örtchen im Keller, das er immer aufsucht, wenn er Ruhe und Stille braucht. Es scheint aber auch ein mystischer Ort zu sein, denn eines Tages gelangt er unfreiwillig von dort in eine gänzlich andere Welt, wo tiefstes Mittelalter herrscht, wo Räuber, Ritter und Minnesänger umherstreifen, und wo für ihn ein großes Abenteuer beginnt, in dem schließlich das Geheimnis um seine eigentliche Herkunft gelüftet wird Jugend-Fantasy von Regina Schleheck

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Seitenzahl: 234

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Regina Schleheck

Luca und das Mal der Fürsten

Regina Schleheck – Luca und das Mal der Fürsten

2. Auflage – Mai 2018

© vss-verlag Hermann Schladt

Titelbild: Armin Bappert

Lektorat: Hermann Schladt

Erstes Kapitel: Ein Mal im Doppel

Was ist eigentlich normal? Jedenfalls nicht die Norm. Ich zum Beispiel bin mit einem Mal geboren. Normal ist das schon mal nicht. Wenn ich sage, ich bin mit einem Mal geboren, meine nicht, dass ich auf einmal geboren bin, das eher grade nicht, sondern ich habe ein Mal, seit meiner Geburt, so eine Art Muttermal halt. Und damit fängt diese Geschichte schon an. Was man damit Beklopptes erleben kann, glaubt mir wahrscheinlich sowieso keiner. Am Anfang hört sich vieles ja noch harmlos an, wenn auch nicht unbedingt normal. Oder was sollte daran normal sein, dass bis zu meiner Geburt keiner mit mir gerechnet hatte? Vielleicht war es ja auch Lucia, mit der keiner gerechnet hatte, jedenfalls hatte niemand gemerkt, dass wir zu zweit waren, Lucia und ich. Da Lucia aber als erste rauskam, war ich eben das Überraschungsei.

Ihr werdet sagen: Was macht das schon aus? Ich will gar nicht auf diesen ganzen Kram mit dem besseren Durchsetzungsvermögen und so raus. Mit einem guten Therapeuten kriegt man das später alles schon noch irgendwie hin gebogen. Aber manchmal macht es eben richtig was aus. Mich hätte es jedenfalls vermutlich das Leben gekostet, wenn’s anders gewesen wäre. Mein anderes Ich zumindest. Aber dazu später.

Ich weiß ja nicht mehr wirklich, wie es überhaupt dazu kam und was da drinnen so gebacken war. Aber ich denke schon, Lucia und ich, wir sind ganz gut miteinander klar gekommen. Das war auch nachher nie anders. Sie war halt grad näher am Ausgang, als es losging.

Eigentlich dachten alle, es wäre gelaufen. Mama hatte die Augen geschlossen und versuchte sich zu verschnaufen, während der Arzt und die Hebamme damit beschäftigt waren, Lucia zu waschen und zu vermessen. Lucia ist das hübscheste Baby gewesen, das man sich vorstellen kann. Das muss man neidlos anerkennen. Auch wenn mich das im Grunde nie wirklich gekratzt hat. Aber ich konnte natürlich auch schlecht darüber hinwegsehen. An mir ist nicht viel dran. Man sieht schon, dass wir Geschwister sind, aber okay, eineiig ginge ja sowieso nicht wegen des Y-Chromosoms. Aber wenn die Menschen sich über den Kinderwagen gebeugt haben, dann hieß es immer: „Ist die süß!“ Und dann die hastige Nachfrage: „Das eine ist doch ein Mädchen, oder?“ Und wenn es bestätigt wurde, dann das erleichterte: „Na, dann passt es ja!“ Ich fand immer, es passte ganz gut, dass keiner so einen Bohei um mich machte. Im Alltag war das allerdings auch bei Lucia nicht wirklich so. Wie auch? Hatte ja keiner wirklich Zeit zu. Mama jedenfalls nicht, und sonst war da ja auch keiner, der ihr was abgenommen hätte. Und unsere Geschwister – na, wie Geschwister halt so sind. Wir lernten sie am nächsten Tag kennen. Aber dazu nachher mehr.

Erst mal hatte ich ganz schön zu tun, dass man mich überhaupt erstmal zur Kenntnis nahm. Mama war natürlich die erste, die merkte, dass da noch was im Busch oder vielmehr im Bauch war. Die Wehen gingen munter weiter und sie stöhnte schließlich so laut, dass die Hebamme Lucia dem Arzt überließ und Mama zu Hilfe kam. Vielleicht lag es daran, dass Mama schon so erschöpft war, aber mir wurde auch später gern vorgehalten, ich hätte mir wohl nicht sonderlich Mühe gegeben – Melli nannte es schissig -, jedenfalls zog es sich noch ganz schön in die Länge von dem Moment an, wo die Hebamme schließlich geschnallt hatte, dass es mich auch noch gab. Sie war ein ziemlich resolutes Exemplar von Geburtshelferin. Wie Mama von ihr zwischen den Wehen erfuhr, hatte sie einige Jahre im afrikanischen Busch bei „Ärzte ohne Grenzen“ ausgeholfen. Vielleicht wusste sie deshalb auch nicht so genau, wie ein Ultraschallgerät funktioniert, oder hatte es zumindest für überflüssig gehalten, sich damit zu vergewissern, wie viele Babys anstanden. Dafür fackelte sie aber nicht lange, als Mama schließlich dicht vor einem Kollaps war, sondern kniete sich neben ihr auf das Bett und bohrte den Ellbogen kräftig in Mamas Bauch, um meiner Anstageslichtbeförderung Nachdruck zu verleihen, während der Arzt, der noch ziemlich frisch von der Uni kam, sie beschwor, der Anästhesist müsse her und ein Kaiserschnitt gemacht werden. Böse Zungen mögen vermuten, dass er noch nicht genügend Kaiserschnitte zusammen hatte für die Approbation. Der Hebamme war es auf der anderen Seite wohl ganz schön peinlich, dass sie bei all ihrer Erfahrung nicht geschnallt hatte, dass wir Zwillinge waren. Daher musste sie wohl partout zeigen, dass sie jetzt alles im Griff hatte. Wie dem auch sei, der Arzt konnte sich jedenfalls nicht durchsetzen, sondern der Hebammen-Ellbogen, der mich unerbittlich ans Tageslicht drückte, wo Lucia mittlerweile friedlich schlummerte und sich auch nicht stören ließ, als ich meinen ersten Krächzer tat.

Mama war so kaputt, dass sie mit Mühe die Augen aufkriegte, als die Hebamme erstaunt rief: „Na, das ist aber mal ein Storchenbiss! Das ist ja ein richtiges Mal!“ Mama erzählte später, dass sie im ersten Moment dachte, die Hebamme spräche von einer Mahlzeit, und so fragte sie sich gerade, ob die Frau mich für so einen Appetithappen hielt oder ob sie bereits begonnen hatte den Säugling zu füttern, als diese ihr das frisch gewaschene nackte Kind – mich – rücklings vorhielt, so dass sie meinen Nacken sehen konnte, in dem tatsächlich eine Art krönchenförmiges braunes Mal prangte. „Ein echtes Schöpfungskrönchen!“, versuchte sie Mama meinen Makel schön zu reden.

„Es ist, wie es ist, aber jetzt ist auch mal gut“, muss Mama gestöhnt haben. Ob sie damit sagen wollte, dass sie nun wirklich nicht noch mehr Kinder, dass sie schlicht ihre Ruhe haben wollte oder ob sie damit mein Nackentatoo beklagte – wer weiß.

Zumindest weiß ich, dass ich als kleines Kind auf den Fotos immer Baumwollrollis oder Halstücher trug, während Lucia auch schon mal Kleidchen mit Ausschnitt anhatte. Vielleicht wollte Mama sich und mir damit aber auch nur dumme Fragen ersparen. Ich hab es jedenfalls auch immer versucht zu verstecken, weil ich keine Lust hatte, irgendwelche Erklärungen abzugeben. Wenn jemand Sommersprossen hat oder O-Beine, fragt ja auch keiner, wieso das so ist. Aber egal was es ist, das Leute nicht ganz normal aussehen oder sein lässt, sie schmieren es dir aufs Butterbrot. Kinder sind da einfach völlig gemein. Mir haben sie auf dem Spielplatz nachgesagt, ein Vampir müsse sich nachts an mir die Zähne ausgebissen haben, weil er sich statt in die weiche Halsschlagader von hinten in die Halswirbel verbissen hätte. Ich fand die Geschichte eigentlich gar nicht so uncool. Aber es nervte natürlich. Also hab ich meinen Nacken nach Möglichkeit nicht zur Schau gestellt.

Das ist allerdings auch wieder ein Vorteil an großen Geschwistern. Solange sie dabei sind, sorgen sie dafür, dass du in Ruhe gelassen wirst. Allerdings sorgen sie andererseits auch dafür, dass man nie in Ruhe gelassen wird.

Oma Gerti, Mamas Mama, kam am zweiten Tag mit allen zusammen und sie hatte zu allem Überfluss auch noch einen Fotografen mitgebracht. Es ist nicht so, als wenn Oma Gerti es so dicke gehabt hätte oder dass sie so begeistert war. Im Gegenteil. Sie war am ersten Tag schon da gewesen und ihr erster Kommentar war wohl: „Wie hast du dir das denn vorgestellt?“ „Gar nicht“, hatte Mama böse geantwortet, „stell dir vor, sie sind einfach im Doppelpack gekommen und jetzt sind sie da, und wir kommen schon klar!“

Ich denke, heimlich war Oma Gerti schon auch ein bisschen stolz auf ihre Enkel. Jedenfalls hatte sie am nächsten Tag extra einen Fotografen angeheuert und alle mächtig herausgeputzt, um dieses Ereignis würdig für die Ewigkeit festzuhalten. Aber mit der Würde war es nicht weit her. Meine Geschwister sind einfach ein Haufen Chaotenjollys, das war das erste, was Lucia und ich verstanden haben.

Mama platzierte der Fotograf auf ihrem Krankenbett. Sie sollte in der Mitte des Bildes sitzen, Lucia rechts und mich links im Arm. Damit war sie komplett handlungsunfähig, und Oma Gerti und der Fotograf mussten den Verkehr alleine regeln. Klara und Melli halfen ein bisschen, weil sie ja schon groß waren. Eine Stationsschwester, die hereinschneite, weil es im Zimmer so laut war, wurde dazu verdonnert, ein Alusegel so zu halten, dass die Beleuchtung stimmte. Derweil kletterte Robert mit Straßenschuhen auf das Bett, ehe die Schwester reagieren konnte. Melli riss ihn energisch am Bein, dass er umfiel und fast mit dem Kopf gegen die Wand geknallt wäre. Er schrie natürlich Zeter und Mordio, während Melli ihm die Schuhe von den strampelnden Füßen zog. Kaum hatte sie sie ihm ausgezogen, da ließ er sich wieder vom Bett runterrutschen, war beleidigt und wollte nicht mehr mit auf das Bild. Melli und Oma Gerti mussten eine ganze Weile auf ihn einreden, ehe er sich bequemte auf das Bett zurück zu klettern. Eine der beiden Bettnachbarinnen von Mama half schließlich nach, indem sie aus ihrem Nachttisch eine Tafel Schokolade hervorkramte, die sie Robert hinhielt. Melli konnte sie ihr gerade noch entreißen, bevor Robert danach griff. „Erst wenn das Foto fertig ist!“, bestimmte sie. Das zog. Robert kletterte mit Mellis Hilfe maulend wieder auf das Bett und hängte sich von hinten über die Schulter von Mama, die etwas gequält lächelte.

Da er auf ihrer linken Seite war, kam es, dass das erste, was ich im Leben, wenn auch nur sehr unscharf, wahrnahm, ein kleiner Playmobil-Ritter war, den Robert mir direkt über das Gesicht hielt. Ihr werden jetzt sagen: Stopp, das geht gar nicht, Neugeborene können noch gar keine Details sehen, das kommt erst nach ein paar Wochen. Kann ja sein. Vielleicht erinnere ich mich auch nur so genau an diesen Ritter, weil er auf dem Foto nachher gestochen scharf zu erkennen war, und das Foto hängt jetzt noch im Flur. Ich hab es mir bestimmt hunderttausend Mal angeguckt. Vielleicht glaubt ihr mir aber auch einfach. Nachher kommt’s sowieso noch viel dicker, also gewöhnt euch schon mal an den Gedanken, dass es Dinge gibt, die gibt’s gar nicht.

Dieser Ritter sollte später auf jeden Fall noch eine nicht unerhebliche Rolle spielen. Und ob ihr’s nun glaubt oder nicht: das ist meine früheste Erinnerung: dieser Ritter, der über meinem Kopf baumelte. Ich könnte sogar schwören, dass er mich anlachte und mich mit der freien Hand grüßte. Die andere hielt Robert ja umklammert.

Kennt ihr diese Geschichte mit den Graugänsen? Von dem Verhaltensforscher, der frisch geschlüpften Graugansküken ein Sofakissen vor die Nase gehalten hat, und sie dachten, es sei ihre Mutter, und folgten dem Kissen überallhin, wo der Forscher es hin trug?

Mit dem Ritter war es für mich genauso. Irgendwie hat es mich halt magisch zu den Rittern gezogen, ob ich nun wollte oder nicht. Deshalb glaube ich schon, dass es so war, dass ich ihn ganz genau gesehen hab damals im Krankenhaus. Dieser Playmobil-Ritter war auf jeden Fall von da an mein bester Freund. Ich hab ihn ständig mit mir rumgetragen. Robert hat ihn mir sozusagen vermacht. Als ich noch nicht greifen konnte, hat er den Ritter immer neben mich aufs Kopfkissen gelegt, da konnte ich ihn angucken und ihm was vorbrabbeln, und später hab ich ihn dann selbst immer mitgenommen.

Manchmal versuche ich mir vorzustellen, was passiert wäre, wenn Robert auf der anderen Seite gestanden hätte und Lucia den Ritter vor die Nase gehalten hätte. Wäre sie dann später nach Arona gekommen und ein Ritter geworden? Normal ist das alles nicht. Und trotzdem hätte es vielleicht ganz anders kommen können. Oder musste das alles genau so kommen?

Klara hatte in der Zwischenzeit auf Omas Geheiß Line eingefangen, die im ganzen Zimmer rum gekrabbelt war. Sie hatte sich gerade unter einem der anderen Betten verkrochen, wo Oma Gerti nicht dran kam, und winkte fröhlich, als Oma nach ihr rief. Für Klara war das nicht so ein Problem, aber weiß waren Lines und Klaras T-Shirts nach dieser Aktion jedenfalls nicht mehr. Man sieht auf dem Foto deutlich, wie Line mit verschmiertem T-Shirt auf Klaras Schoß lacht und sich windet, um nach ihrem Zopf zu haschen, während Klara etwas stinkig guckt. Ihre Fingerknöchel sind ganz weiß, weil sie Line so fest umklammert.

Oma Gerti sitzt neben Melli und hat den Arm um sie gelegt, was Melli gar nicht leiden kann. Sie zeigt Oma hinter deren Kopf mit zwei Fingern Eselsohren.

Als die Familie endlich so saß, dass der Fotograf alle im Fokus hatte, muss eine von Mamas Bettnachbarinnen gesagt haben: „Und wo ist denn nun der Vater dazu?“ „Der Vater“, hat Mama geantwortet, „stellen Sie sich vor, der ist einfach abgehauen. Aber jetzt hat er uns dafür zwei Kinder auf einmal hinterlassen und das ist garantiert nicht der schlechteste Tausch!“ So ist sie. Egal, wie dicke es kommt und selbst wenn sie überhaupt nichts mehr geregelt kriegt, versucht sie den Kopf immer oben zu halten.

Ich bin mir eigentlich ziemlich sicher, dass der Fotograf nicht nur ein Foto gemacht haben kann. Wenn dieses Bild, das bei uns im Flur hängt, also das gelungenste gewesen sein soll, dann ist anzunehmen, dass alle auf den anderen Bildern noch viel mehr Faxen gemacht oder noch blöder aus der Wäsche geguckt haben müssen. Das sagt doch eigentlich schon alles.

Zweites Kapitel: Hokus Pokus Lokus

Ich mag das Bild im Flur. Als ich kleiner war, habe ich mir immer einen Hocker dazu geholt. Aber selbst jetzt bleibe ich noch oft davor stehen und nehme es auch schon mal vom Nagel, um mir alles genau anzugucken. Dann fühle ich mich immer ganz warm im Bauch. So liebe ich meine Familie. In Wirklichkeit ist sie unerträglich.

Als ich kleiner war, ist mir das gar nicht so aufgefallen, es war einfach so, und ich hab immer zugesehen, dass ich mich raushielt, wenn es mir zu viel wurde. Es klappte erstaunlich gut. Je chaotischer es zugeht, umso leichter ist es sich zurückzuziehen. Es gibt in so einem Haushalt eine Menge Nischen, wo man sich wunderbar verstecken kann: Hinter dem Sofa, auf dem Kleiderschrank, in der Garderobe oder auf dem Klo im Keller.

Das war in den letzten Jahren mein Lieblingsaufenthaltsort geworden, vor allem zum Lesen. Ich hatte einen ganzen Stapel Asterix-Hefte da gebunkert, aber auch jede Menge Bücher, die Tafelrunden-Geschichten, Mark Twain und so. Es gibt da unten ein kleines vergittertes Souterrainfenster, durch das genügend Licht reinkommt. In der Garderobe oder hinter dem Sofa braucht man eine Taschenlampe. Damit fällt man natürlich auch viel schneller auf.

Auf das Kellerklo gehen die anderen sehr ungern, da muss einer oben schon stundenlang mit Durchfall das Bad blockieren. Außerdem ist es im Keller schön kühl und unheimlich und es gibt Spinnen. Das war für die Mädels schon mal ein schlagendes Argument mich auf meinem Lokus in Ruhe zu lassen.

Als ich noch kleiner war, war die Bank am Esstisch mein Lieblingsversteck. Da hab ich mich manchmal auch beim Essen einfach runterrutschen lassen. Dann hab mich zusammengerollt und alles nur noch von ganz weit weg gehört. Es hat etwas Beruhigendes. Du hörst alle, aber du musst sie nicht direkt ertragen. Wenn es jemandem auffällt, dass du nicht mehr dabei bist, denken sie halt, du bist aufs Klo. Dass du nicht mehr wiederkommst, merkt keiner so schnell. Die haben alle genug mit sich selbst zu tun. Essen war bei uns schon immer eine Art Überlebenskampf, und gekämpft wurde vorzugsweise in Dezibel. Mama hat immer irgendwelche Regeln angemahnt, aber da keiner außer ihr und Klara etwas davon hielt, hörte sowieso keiner hin im Eifer des Gefechts. Melli ist zum Beispiel immer die erste und letzte am Topf gewesen. Da sie nicht nachnehmen durfte, ehe der letzte den Teller leer hatte, schaufelte sie sich immer Unmengen auf. Die kriegte sie auch immer als erste verdrückt, obwohl eigentlich keiner anfangen durfte, ehe nicht alle was auf dem Teller hatten. Klara hat sich zwar immer als Mamas Hilfssheriff aufgespielt, aber Melli hatte einfach die lauteste Klappe. Nur Line konnte sie manchmal übertönen, wenn sie ihren schrillen Diskant einsetzte, um endlich auch mal was abzukriegen. Allerdings bewies sie oft lange Geduld, weil sie sowieso anderweitig beschäftigt war. In der Regel klingelt bei uns das Telefon mindestens viermal während des Essens, und mindestens dreimal davon ist es für Line. Meist kommt sie schon mit dem Telefon am Ohr an den Tisch. Wenn Mama meckert, dann geht es garantiert gerade um ganz wichtige Hausaufgabenfragen, die nur jetzt sofort geklärt werden können und müssen, weil die jeweilige Freundin offensichtlich den ganzen Nachmittag unaufschiebbare Termine hat. Handys sind sowieso tabu bei uns. Mama sagt, bevor wir kein eigenes Einkommen haben, kommt ihr so was nicht ins Haus, die Telefonrechnung wär schon hoch genug.

In unserer Familie haben die wenigsten die Sinnhaftigkeit von Tischmanieren eingesehen. Wozu braucht man zum Beispiel Gabel und Messer? Große Bissen kann man schließlich von der Gabel abbeißen und der Daumen ist eine prima Ergänzung. Obwohl Mama sich immer aufgeregt hat, dass sie keine Lust hat die Hosen zu waschen, an denen die Daumen dann abgewischt werden. Von Servietten hat auch noch nie jemand was gehalten.

In solchen Diskussionen konnte Robert schon immer prima auftrumpfen. Er hat geschnallt, dass Bildung prima geeignet war, alle anderen, insbesondere seine älteren Schwestern und Mama in Schach zu halten. Daher hat er sich auf so exotische und schlecht überprüfbare Wissensgebiete wie die Kulturgeschichte der Tischsitten gestürzt und sich damit einen Autoritätsvorsprung verschafft, den Melli nicht überbrüllen und gegen den Mama auch nicht an konnte. Zum Beispiel hat er sich ein Repertoire an mittelalterlichen Sprüchen zugelegt. Damit konnte er als einziger Melli ausbremsen, wenn sie so geschlungen hat: „Ez dünket mich groz missetat, an sweme ich die unzuht sihe, der daz ezzen in dem munde hat und die wile trinket als ein vihe.“ Melli wurde dann fuchsteufelswild, weil ihr klar war, dass Robert sich über sie lustig machte, ohne dass sie verstand, was er genau sagte. Wenn sie dann lautstark eine Übersetzung forderte, legte Robert nach: „Der beide reden und ezzen will, diu zwei werc miteinander tuon, und in dem slaf will reden vil, der kann vil selten wol geruon.“ Oder wenn sie den Suppenteller ausschlürfen wollte, dozierte er: „Mit der schüzzel man niht sûfen sol, mit einem lefel, daz stât wol.“

Er schaffte es damit immer, einem das Gefühl zu geben, dass er viel besser wusste, was gute Manieren sind, auch wenn es nur darum ging sein eigenes schlechtes Benehmen zu verteidigen. Mama kriegte immer einen über sich, wenn er mit seinen Schmatz-, Schlürf- und Rülpsorgien loslegte. Aber wenn sie dann meckerte, berief er sich auf Martin Luther: „Warum rülpset und furzet ihr nicht? Hat es euch nicht geschmacket?“ Da musste Mama lachen und ist eingeknickt. Überhaupt konnte sie einfach nicht böse sein, keinem von uns. Oder jedenfalls nicht lange.

Wem überhaupt nie irgendjemand jemals böse war, das ist Lucia. Sie ist einfach immer nur lieb. Wenn sie laut wird, dann nur weil sie wie kein anderer lachen kann. Ich beneidete sie darum manchmal und wünschte, ich könnte auch alles einfach nur komisch finden, statt schrecklich. Daher mag sie auch jeder gut leiden. Mich fanden alle immer ein bisschen komisch. Aber das war mir ja egal, solange sie mich bloß in Ruhe ließen. Eigentlich hatte ich immer wieder das Gefühl, ich sei der einzig Normale in diesem Irrenhaus. Und Lucia vielleicht. Ich dachte oft, wir beide gehörten gar nicht wirklich hier hin. Wir hätten eigentlich ganz woanders geboren werden müssen, in einer anderen Zeit und vor allem in einer anderen Familie.

Wenn ich mich nach dem Abendessen auf Roberts Zimmer geschlichen hab, hat er mir schon mal Lektionen in Sachen Mittelalter gegeben, zumindest was er davon kannte. Keine Ahnung, wieso, aber ich wollte halt immer alles darüber wissen. Die Sprüche hab ich mir gut eingeprägt und sie gelegentlich Alexander aufgesagt, wenn ich mit ihm auf dem Klo allein war. Er nickte dann immer verständnisvoll, wie er überhaupt immer alles verstand, was ich ihm erzählte. Eigentlich war es ja gar nicht nötig, dass ich es ihm erzählte, er verstand auch so alles, dachte ich immer. Schließlich war er ja selbst aus dem Mittelalter und sowieso immer dabei. Den Namen Alexander hatte Robert ihm übrigens noch verpasst, weil sein damaliger bester Freund im Kindergarten so hieß.

Als Robert mir Alexander überließ, wurde er als erstes entwaffnet, weil Mama die Warnungen der Firma Playmobil vor Kleinteilen, an denen Kinder ersticken können, sehr ernst nahm. Für mich war er aber auch ohne Schwert immer ein richtiger Ritter. Robert hat mir später erklärt, dass ein Ritter, der knapp an Waffen ist, Knappe genannt wird. Ich trug jedenfalls den Knappen Alexander immer in irgendwelchen Hosen- oder Jackentaschen mit mir, teilte mit ihm das Bett, und wenn ich in die Schule ging, kam er in meinem Ranzen mit. Als ich auf die weiterführende Schule kam und einen Rucksack kriegte, musste es einer sein, der eine Außentasche für Alexander hatte.

Auf dem Klo las ich ihm die Stellen aus meinen Büchern oder Heften vor, die mich beschäftigten. Und erzählte ihm, was mir sonst so durch den Kopf ging. Da es sonst keinen in meiner Familie interessierte, weil alle sowieso immer schon alles besser wussten, musste er halt dran glauben. Er hörte sich alles geduldig an und gab auch schon mal seinen Senf dazu. Er selbst hatte ja auch keinen außer mir, der sich mit ihm beschäftigte, daher passte es eigentlich ganz gut. Auch wenn ich ihm manche Dinge immer wieder erzählte, vor allem alles, was mir total auf den Zwirn ging. Als der richtige Alexander mich später damit genervt hat, dass er hundertmal die gleiche Geschichte erzählt hat, fiel mir erst auf, dass es anscheinend ganz schön entlastend sein kann, Dinge, die man meint eh nicht ändern zu können, anderen vor zu jammern. Aber dass es einen auch nicht die Spur weiterbringt.

Der Playmobil-Alexander war jedenfalls das einzige Spielzeug, das bei uns am Esstisch erlaubt war. Erstens, weil er mein Freund und kein Spielzeug war, und zweitens, weil eine Regel ohne Ausnahmen keine Regel ist, wie Robert Mama belehrte, die Alexander irgendwann doch verbannen wollte, als er ins Kartoffelpüree gefallen war. „Bei den Rittern ist das so üblich, dass man aus der Schüssel isst“, versuchte er Alexanders Unfall zu erklären, „und unsere Schüssel ist halt ein bisschen groß für ihn! Wie soll der arme Luca ihm das denn beibiegen?“

Mama hat geseufzt und mich mit diesem Blick angeguckt, der mir immer so unter die Haut geht. „Manchmal hab ich den Eindruck, diese Welt ist für unseren Luca einfach auch noch ein bisschen groß“, sagte sie. „Es wird Zeit, dass er allmählich aus seinen Geschichten raus und auf den Boden der Tatsachen kommt.“

Aber dann wurde es erst richtig schlimm und das kam so: Ich hatte unten auf dem Lokus gehockt und in einem Asterix-Band geblättert. Dabei bin ich über einen Spruch gestolpert, den ich ein paar Mal vor mich hin gesprochen hab, weil er mir so gut gefiel: Timeo danaos et dona ferentes. Ich mochte den Klang einfach: I-E-O, A-A-O, E-O-A, E-E-E. Alexander hatte ich auf dem kleinen Waschbecken abgesetzt. Er hörte mir aufmerksam zu und sagte schließlich: „Ich fürchte die Griechen, auch wenn sie Geschenke bringen? – Gar nicht so dumm. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.“ Er kratzte sich mit einer Hand nachdenklich am Kinn.

„Hey, was soll das?“, gab ich zurück. Es war nichts Besonderes, dass er mit mir sprach. Aber dass er Lateinisch konnte, wunderte mich doch. Von mir konnte er es jedenfalls nicht haben. „Das kannst du doch gar nicht wissen, ich hab dir die Übersetzung doch noch gar nicht vorgelesen“, sagte ich.

Alexander stand auf und verschränkte die Arme vor der Brust. Er wollte sich offensichtlich wichtig machen. „Ihr Klugschieter meint wohl, dass wir überhaupt nichts mitgekriegt haben! Ihr meint, wir haben im dunklen Zeitalter gelebt, in dem keiner lesen und schreiben konnte und schon gar keine Fremdsprachen kannte!“

„Kannst du denn lesen? Bisher hab ich dir doch immer vorlesen müssen“, fragte ich.

„Na gut“, meinte er etwas kleinlaut, „lesen nun gerade nicht. Wozu sollte das auch gut sein? Man kann auch ohne das Ritter werden. Aber wir sind viel rumgekommen. Wir haben schließlich die Kreuzzüge gemacht.“

„Du bist ein Dummschwätzer“, sagte ich, weil es mir doch ein bisschen bunt wurde. „In Wirklichkeit bist du eine Plastikfigur und darüber hinaus eine Halluzination.“

Im gleichen Moment wurde ich furchtbar übellaunig. Irgendwie war das doch ein Eigentor. Wenn Alexander eine schlichte Plastikpuppe und eine Halluzination war, hatte ich offensichtlich selbst einen an der Klatsche.

Alexander sagte nichts mehr, und von oben hörte ich in dem Moment Melli brüllen: „Eeeeessen!“

Ich war so wütend über mich selbst, dass ich raus ging und Alexander am Waschbecken stehen ließ. Das war mir, glaube ich, nie vorher passiert, jedenfalls ganz bestimmt nicht extra. Ich stieg widerwillig die Stufen nach oben und stand vor der verschlossenen Esszimmertür. Offensichtlich war ich mal wieder der letzte. Das kam immer gut. Am liebsten wäre ich gleich wieder umgekehrt, aber dann hörte ich hinter der Tür ein vielstimmiges: „Luuuuca! Wo bleibst du?“, und drückte die Klinke runter. Ich muss einer Salzsäule alle Ehre gemacht haben, denn alle am Tisch drehten sich zu mir rum und brachen in lautes Gelächter aus, als sie meinen Gesichtsausdruck sahen. Das Esszimmer war nicht mehr das Esszimmer, das ich kannte. Die Wände waren aus groben Hölzern, der Boden aus dunklen Bohlen, der Tisch rustikal gezimmert und drum herum standen Hocker statt Bank und Stühlen. Aber das Verrückteste waren die Menschen, die um den Tisch saßen. Es war eine Gallierfamilie, genau wie in den Asterix-Heften, nur aus Fleisch und Blut. Mitten auf dem Tisch thronte ein fetter Wildschweinbraten, den eine dicke Frau mit hochgesteckten Zöpfen und mächtigem Busen gerade anschnitt. Teller gab es nicht, aber Becher. Ein großer Gallier mit einem kräftigen Schnauzbart sagte jetzt etwas grimmig: „Kannst du mir mal sagen, wo du immer steckst, wenn wir anfangen wollen?“ Er sprach mit Roberts Stimme! Ich rieb mir die Augen, und als ich sie wieder öffnete, saß da meine Familie am Tisch und alles war wie immer. Ich hab versucht mir nichts anmerken zu lassen und bin schnell an meinen Platz.