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Eine Multikulti-Metropole wie Köln eröffnet vielseitige Krimi-Settings, etwa solche mit historischen Bezügen - römischen, französischen, preußischen, jüdischen - oder »et hillije Kölle« in Person der Stadtpatronin Ursula. Neben dem Tatort Rhein bieten sich die Medien- und Museumslandschaft oder die Schwulenszene an. Auch das »Jeföhl« kommt nicht zu kurz: Karneval, Komödiantenkultur, Kölschen Klüngel und den FC Köln verwebt Schleheck in elf bitterbösen und schwarzhumorigen Liebeserklärungen an ihre Heimatstadt.
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Seitenzahl: 281
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Regina Schleheck
Wer mordet schon in Köln?
11 Krimis und 125 Freizeittipps
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2016
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Mr. Nico / photocase.de,
© Torsten Lorenz / Fotolia.com
ISBN 978-3-8392-5180-5
Oma ist das Allerletzte. In der letzten Zeit geht in ihrem Kopf immer mehr durcheinander, wie es scheint. Und wie sie jetzt vor mir steht, das blutige Fleischmesser im Rücken, und mich mit großen Kulleraugen anguckt, da kann ich ihr trotzdem nicht böse sein!
Sie ist tatsächlich das Allerletzte. Was ich habe, gewissermaßen. Meine Mutter hat sich vor ein paar Wochen vor den Zug geschmissen, Opa ist vor meiner Geburt gestorben, und meinen Vater habe ich nie kennengelernt. Den gab’s schon nicht mehr, als ich geboren wurde. Meine Mutter wollte nie drüber reden. Es wär’ halt so passiert, sagte sie. Ein Fremder. Karneval. Mummenschanz in den Sartory-Sälen 1. Wie das so ist.
Und dann hat sie immer hinzugesetzt: »Reisende soll man nicht aufhalten, merk dir das, Liebelein!«
Sie hat’s ja nicht anders gemacht. Hätt’ ich sie aufhalten können? Ich war in der Schule! Hat meiner Omi gesagt, sie wollte übers Wochenende zu einer Freundin verreisen, ist mit Köfferchen und U-Bahn zum Kölner Hauptbahnhof 2. Als der Intercity herandonnerte, hat sie sich auf die Gleise fallen lassen. Nur dass der Zug auf dem Nachbargleis einfuhr. Da lag sie dann im Schienenbett und hat blöd aus der Wäsche geguckt und die Leute auf dem Bahnsteig auch. Die Bahnpolizisten haben sie gleich mitsamt ihrem Köfferchen einliefern lassen. Zu den Alexianern 3.
Oma war an dem Tag aber auch mächtig neben der Kappe. Als ich von der Schule nach Hause kam, fütterte sie gerade unseren Kohleofen. Mit Klamotten! Ich sah gerade noch, wie sie einen alten Hut, der von Opa stammen musste, in die Klappe stopfte. Es qualmte furchtbar, ihre Augen tränten. Ich fragte, wo meine Mutter sei, und erhielt die knappe Antwort, die wäre mit einer Freundin Eis essen.
Eine Stunde später standen zwei Polizisten vor der Tür. Noch bevor sie ein Wort über die Lippen gebracht hatten, ranzte Oma sie an: »Kommen Sie ruhig rein, meine Herren! Hier gibt’s keine Leiche im Keller. Die ist im Garten.«
Die Männer nahmen wohl an, sie machte dumme Witze, weil sie noch nie mit Polizisten zu tun gehabt hätte. Dabei war Oma lange genug mit einem verheiratet gewesen. Aber das konnten die beiden ja nicht wissen. Vielleicht dachten sie auch, eine Küppers mit Dachschaden reichte.
Ich kam dazu, sie stellten sich vor, und dann haben sie das mit meiner Mutter erzählt. Dass sie mit dem Koffer auf den Bahnsteig gegangen und aufs Gleis gesprungen sei.
»Vonmir hat sie das nicht«, sagte Oma entrüstet.
»Was meinen Sie?«, fragte der eine Polizist.
»Na, das in dem Köfferchen«, sagte Oma.
Die beiden hatten es ziemlich eilig, und das war wohl allen ganz recht.
»Tsts«, machte Oma.
Ich war sauer. »Wieso hast du mir gesagt, dass Mama mit ihrer Freundin Eis essen gefahren ist, wenn sie doch verreisen wollte?«
»Wenn Ulrike zu einer Freundin fährt, dann ist durchaus davon auszugehen, dass die beiden miteinander Eis essen werden, oder?«, gab Oma würdevoll zurück.
»Oma«, sagte ich, »warum schmeißt sich Mama vor einen Zug? Was ist los?«
»Deine Mutter hat schon immer zur Schwermut geneigt. Seit dem Tod ihres Vaters«, meinte Oma. Und da hatte sie nicht ganz unrecht. Ich meine, was die Schwermut anging. Das mit Opas Tod konnte ich nicht beurteilen.
»Wen wollte sie denn überhaupt besuchen?«, hab ich gefragt.
Oma schüttelte den Kopf: »Sie war ein bisschen durcheinander.«
Ich sagte lieber nichts, denn ganz offensichtlich traf das nicht nur auf meine Mutter zu.
Am nächsten Tag fuhr ich gleich nach der Schule ins Alexianer. Mama war ganz aufgekratzt. Sie fände es ganz schick da. Warum nicht mal eine kleine Auszeit? Ein paar Wochen, hätte man ihr angeboten, könnte sie dableiben, um ihren Burnout auszukurieren. – Burnout? War mir irgendwas entgangen? Klar hatte meine Mutter schon mal gejammert, dass im Büro so viel zu tun sei. Aber dass es so schlimm wäre …
Sie mache jetzt Yoga, habe angefangen zu malen und was die da so Nettes anböten. Nur zum Reden kriegten die sie niemals, das sollte ich meiner Oma ausrichten, hat sie mir beim nächsten Mal gesagt. Sie wollte ihre Ruhe haben und keinen Psychoscheiß.
Vielleicht war das ja Absicht gewesen, und sie hatte ganz genau gewusst, auf welchem Gleis der Zug kam? Auf meine Frage, warum sie das gemacht hätte, kriegte ich keine Antwort.
Es war zum Glück glimpflich ausgegangen, daher machte ich mir nicht allzu lange Gedanken. Meiner Mutter schien es wieder gut zu gehen. Karneval stand vor der Tür. Danach Abitur. Unendliche Freiheit! Bald neun Jahre lang hatte der bronzene Ikarus am Haupteingang unserer Schule 4 uns gezeigt, wo die Gefahr lauerte: jottwedee, wie der Kölsche sagt, janz wigg drusse. Da, wo man ganz tief stürzen konnte.
Also ein letztes Mal die Sau rauslassen!
Weiberfastnacht bin ich mit den Mädels zum Alter Markt 5 gezogen. In voller Montur. Wir waren zu fünft aus dem Kunstkurs, alle in Malerüberzügen, die wir kunterbunt vollgekleckst hatten. Auf den Köpfen Farbdosen, gelöchert und mit Kordeln festgebunden, aufgefädelte Pinsel um Hals und Hüften – beim Tanzen gab das den Josephine-Baker-Effekt, alles schwang und wippte, wunderbar. Wir standen direkt unter dem Kallendresser 6 in unmittelbarer Nähe des Gaffel 7, vis-à-vis von Platzjabbeck 8 und Jan von Werth 9. Der schwedische Reitergeneral verschwand schier unter den Jecken, die an ihm hochkletterten, um sich den besten Ausblick zu sichern. Irgendjemand hatte ihm einen Cowboyhut übergestülpt und eine rote Schaumstoffnase aufgesetzt. Das Wetter war großartig. Wir lagen uns in den Armen, schunkelten, sangen, reichten die Kölschstangen 10, die der Köbes 11 in Kränzen aus dem Gaffel heranschleppte, weiter, stießen an, tranken, ließen es uns gut gehen. Wie das so ist. Karneval halt.
Als er auf einmal neben mir stand, fiel er mir gleich auf, weil er so schwer bepackt war. Er trug einen krempigen schwarzen Hut, eine Cordweste, weiße Hosen und hatte sich eine Art Tasche umgehängt, auf die er einen Schlafsack geschnallt hatte. Wahrscheinlich war er frisch angereist. Sein Lächeln flashte mich.
»Kommst du vom Bahnhof?«, rief ich gegen die Lautsprecher und das Geschrei der anderen an. Er schüttelte den Kopf und zeigte vage in Richtung Rhein. Es war mir im Grunde scheißegal, woher er kam. Ich wollte nur, dass er blieb. »Alaaf«, rief ich, hakte ihn unter und wirbelte zur Musik im Kreis. Er ließ sich mitziehen, strahlte mich an und schrie etwas, das wie »Walzer« klang. Ach, ich liebe Jecke! Dieser war ein Prachtexemplar! Ich zog ihm das Gepäck von der Schulter, und wir drehten uns im Dreivierteltakt. Okay, das »Humba-Täterä« aus den Lautsprechern passte nicht ganz, aber die anderen folgten unserem Beispiel und grölten: »Que sera, sera, whatever will be, will be, the future’s not ours to see, que sera, sera, what will be, will be …«
Er hatte mich fest im Griff, schob mich mit Schwung in die Drehungen – und steuerte im genau richtigen Moment wieder gegen. Ein Mann, der führen konnte! – Was stellte er eigentlich dar? Django? Irgendwie dem Wilden Westen entsprungen … Ich tippte auf die Reihe golden glänzender Knöpfe vor mir – eine Uniform-Weste? »Was bist du?«, brüllte ich.
»Ein Fremder!«, brüllte er zurück.
Ja, danke! Dass er fremd war hier, hatte ich mir fast gedacht. – War das ein bayerischer Einschlag?
Er versuchte es noch mal: »Ein Fremdgeschriebener!«, schrie er. Oder jedenfalls hab ich das verstanden. Oder vielmehr: verstanden hab ich das natürlich nicht. Fremdgehen kennt man ja. Aber Fremdschreiben?
Wieder setzte er an, und ich verstand nur: »Kluft!«
Hä? Was für eine Kluft sah er zwischen uns?
Dann zeigte er auf meine Pinsel: »Maler!«
Na, meine Verkleidung erkannte ja wohl ein Blinder mit dem Krückstock! Als er dann noch etwas von »Schacht!« schrie, war gewissermaßen Schicht im Schacht bei mir. Er hatte einen Knall, und ich war hoffnungslos verknallt.
Ich zerrte ihn von den Mädels weg in die nächste Kneipe und orderte zwei Kölsch. Na, und da hat er mir dann alles in Ruhe erklärt. Er kam tatsächlich aus Bayern, aus irgendeinem Kaff, das er nun schon im dritten Jahr weiträumig umkreiste, weil er auf der Walz war. Als sogenannter Fremder oder Fremdgeschriebener, also jemand, der sich für drei Jahre seinem Heimatort nur auf 60 Kilometer nähern durfte. Deshalb auch seine komische Kluft. Es handelte sich um die zünftige Kleidung. Was von seiner Handwerkerzunft herrührte. Er war Maler und gehörte einer Schacht an, das war der Verein, der die Handwerker auf Wanderschaft schickte. Drei Jahre lang heute hier, morgen dort, mit nix als dem Bündel, das er sich umgehängt hatte, von Stadt zu Stadt ziehen – Ich fand’s ja schon aufregend. Aber wo blieb das Happy End? »Dann bist du morgen wieder weg, oder was?«, fragte ich.
»Je nachdem«, meinte er. »Ich guck mal, ob ich was finde. Vielleicht verbringe ich den Rest der Zeit hier. Ihr Kölner habt, wie’s ausschaut, einen ziemlichen Knall. Ich mag ja komische Vögel.«
Mir wurde ganz warm im Mittelbau. »Äh, was genau suchst du denn?«
»Arbeit. Eine Übernachtungsmöglichkeit. Und zuallererst euren Bürgermeister. Es hieß, dass hier irgendwo das Rathaus 12 ist.«
Also eine Option fehlte mir da noch. Aber okay, Männer, die mit dem Holzhammer flirten, konnte ich noch nie ab. Ich klappte nacheinander drei Finger aus: »Erstens: Bei uns um die Ecke ist ein Malereibetrieb. Ich fang im Sommer da an, weil ich Bühnenmalerei machen will an den Städtischen Bühnen 13. Dafür brauch ich die Ausbildung. Ist cool da. Super-Team.«
»Schee!«, sagte er.
Ich verstand zwar nicht, was daran scheel sein sollte, aber mir wurde eine Stufe wärmer.
»Zwotens: Bei uns ist vorübergehend ein Zimmer frei. Meine Mutter ist verreist. Für ein paar Tage sicher kein Ding. Du musst dich nur mit meiner Oma arrangieren. Die ist ein bisschen bekloppt.«
In seinen Augen blitzte es. »Wie du?«
Ich zeigte ihm den Mittelfinger. »Mit dem Bürgermeister können wir gerade überhaupt nicht dienen. Der hat die Schlüsselgewalt abgegeben für die tollen Tage 14. Vor Aschermittwoch läuft da nix.«
»Jo, himmisakra«, meinte er. »Was mache ich denn die ganze Zeit?«
»Feiern, was sonst?«
»Fasching?«
»Nix da. Karneval!«
Darauf stießen wir erst mal an.
»Was willst du überhaupt vom Bürgermeister?«, fragte ich. Er zog eine Kladde aus der Tasche. Schickes Ding, in Leder, mit einer Art Wappen obendrauf und einem Namen.
»Florian Hinterhuber«, las ich.
»Das bist du?«
Er nickte und hob seine Kölschstange. »Flo.«
»Melle Küppers«, sagte ich und kickte mit ihm an. Bingo! Er hatte den Moment nicht verpasst, in dem er mir tief in die Augen gucken musste. Für das kommende Jahr war guter Sex garantiert.
»Mein Wanderbuch«, sagte er. »Ich muss mir in jeder Stadt beim Bürgermeister das Stadtsiegel abholen.«
Na, das sollte wohl noch ein paar Tage Zeit haben.
»Flitzen wir gleich mal zu uns? Dann kannst du den Püngel schon mal abstellen«, sagte ich.
»Püngel?«
»Na, deinen Kram halt!«
Oma war zum Glück unterwegs. Nicht dass ich Einwände befürchtet hatte. Aber wenn sie mir Flo vergrault hätte – Na, er würde sie schon früh genug kennenlernen.
Er lernte sie am nächsten Tag kennen. Und wie!
Wir waren den ganzen Tag unterwegs gewesen, hatten so richtig abgefeiert – Mein Gefühl hatte mich nicht getrogen. Gute Tänzer haben das mit der Balance zwischen Leidenschaft und sich zurücknehmen raus. Sein Lachen war hochinfektiös. Am Ende des Tages beherrschte er »Schwadlappe« – so viel wie Quatschkopf – und »Stippeföttche« – den Popo-Stupser-Tanz der Rote-Funken-Karnevalssoldaten –, und ich hatte meinen Wortschatz um »Himmiheagodna« – »Himmelherrgott« – und »Hosdmi« – »Hörst du mich?« – angereichert. Natürlich waren wir alle beide nicht mehr nüchtern. Und natürlich bützten – küssten – wir, dass die Balken sich bogen. Aber vor allem haben wir getanzt, bis der Arzt kam. Quasi. Natürlich kam er nicht. Ich meine, der Arzt. Flo am Ende auch nicht. Wir waren dermaßen platt, als wir endlich zu Hause aufschlugen, dass ich ihn nur noch mit letzter Kraft in Mamas Schlafzimmer schob, wo wir seinen Schlafsack deponiert hatten. Dann torkelte ich in mein Bett und schlief noch im Fallen ein.
Als die Sonne mich am nächsten Tag weckte, brauchte ich eine Weile, ehe ich in die Senkrechte fand. Zu der bleiernen Müdigkeit und einem Anflug von Kater kam ein höllischer Namensvetter in den Muskeln. Ich schlurfte wenig katzengleich in die Küche, aus der köstlicher Kaffeeduft waberte.
Oma fuhr herum, als ich eintrat. Sie hatte anscheinend eben abspülen wollen, was sie in der Hand hielt.
Ich rieb mir die Augen.
Es blieb ein großes Fleischmesser, von dem Blut tropfte.
Oma sah meinen Blick und ließ das Messer schnell hinter sich ins Becken fallen, lehnte sich mit dem Rücken an die Spüle und sah sehr blass aus.
»Omi, was ist passiert?«, fragte ich.
Ihre Stimme zitterte.
»Der Kerl in Ulrikes Bett – ich dachte – er ist tot«, krächzte sie und deutete mit dem Daumen in Richtung des Schlafzimmers, in das ich Flo einquartiert hatte. Ich sah, dass auch ihre Hand blutverschmiert war, und verspürte plötzlich den dringenden Impuls, nach nebenan zu rennen und nach Flo zu gucken, gleichzeitig aber eine derart lähmende Angst, dass mir die Knie weich wurden. Ich sank auf einen Küchenstuhl.
»Wer?«, schnappte ich.
Omis Gesichtsfarbe changierte ins Hellgrüne. »Ich musste ihn doch unter die Erde bringen«, ächzte sie.
»Was?« Meine Panik stieg.
»Den Fremden! Den mit dem schwarzen Hut!«
An dem Punkt beschloss ich, dass ich eindeutig zu viel getrunken haben musste. Ich delirierte.
»Du musses was?«, fragte ich. Irgendwie klebte mir die Zunge am Gaumen.
»Ach Gott, mein Mädelchen!« Tränen liefen meiner Omi aus den Augen und holperten über die runzligen Wangen. Als sie sie wegwischte, blieb eine blutige Spur in ihrem Gesicht.
»Ach, Erich, warum nur, warum?«
Lieber Himmel, hielt sie mich für meinen Opa?
»Reichte es nicht, dass du dich vor den Zug geworfen hast?«, wimmerte sie.
Was? Verwechselte sie mich jetzt mit meiner Mutter? Wieso kam die ins Spiel?
»Ach, Melle, dein Opa war doch gestraft genug!«
»Mein Opa?« Gott sei Dank, meine Zunge lebte noch!
»Dein Opa, ja! Nachdem er den Scheißkerl umgebracht hatte …«
Welchen Scheißkerl? Flo? Opa ist doch schon ewig tot! Hielt Oma sich für Opa?
»… der deiner Mutter das angetan hatte.«
»Meiner Mutter?«
Oma ließ sich ebenfalls auf einen Stuhl fallen, schlug die Hände vors Gesicht und weinte herzzerreißend.
Ich weiß nicht, ob irgendein Mensch es nachvollziehen kann. Meine Omi ist zeitlebens für mich da gewesen. Ich hätte immer beide Hände ins Feuer gelegt, dass sie keiner Fliege etwas zuleide tun könnte. Sie musste definitiv vollkommen durchgeknallt sein. Irgendein Dämon hatte von ihr Besitz ergriffen. Kurz und gut: Ich stand auf, ging zu ihr, nahm sie in die Arme und weinte, so über sie gebeugt, ein bisschen mit.
Die Geste schien ihre Zunge zu lösen. Zwischen Schluchzern erzählte sie mir diese unglaubliche Geschichte:
Meine Mutter hatte Karneval vor 16 Jahren im Sartory einen Handwerker auf der Walz aufgelesen, dem sie einen Schlafplatz auf dem Sofa angeboten hatte. Mit Sicherheit, meinte Oma, müsste es da vorher eine Knutscherei gegeben haben. Karneval halt. Der Kerl war in der gleichen Nacht in das Zimmer meiner Mutter eingedrungen – »Vielleicht hatte sie ihn ja ermuntert, wer weiß?«, heulte Omi. »Aber dann hat sie sich gewehrt.« – Mein Großvater war von dem Rumpeln aufgeschreckt und als er seine Tochter schreien hörte, mit gezückter Dienstwaffe in ihr Zimmer gestürzt. Da sei es halt passiert.
Opa sei aus dem Haus gerannt und hätte sich vor den nächsten Zug geschmissen. Was Oma und Mama zu dem Zeitpunkt natürlich noch nicht wissen konnten. Sie hätten in der gleichen Nacht im Rosenbeet eine tiefe Grube ausgehoben und den Leichnam verbuddelt.
Sie sah mich bedeutungsvoll an.
Eine Spur hätte der Kerl denn aber doch hinterlassen.
»Was?«
»Ach, Liebelein, guck mal in den Spiegel«, seufzte Oma.
»Ach, du Scheiße«, sagte ich.
Oma schluchzte.
»Um acht kamen Opas Kollegen. Er muss wohl erst eine Weile an der Hohenzollernbrücke 15 gestanden haben, ehe er sich für den Bahnhof entschied.«
»Ach, du Scheiße«, wiederholte ich. »Und der Typ? Wurde er nicht vermisst?«
»In der Zeitung stand, sie hätten keinen Anhaltspunkt, wo sie ihn suchen sollten.«
Sie lächelte unter Tränen. »Immerhin hat er ein wunderschönes Grab.«
Etwas ratterte in meinem Kopf. »Oma«, sagte ich, »was waren das neulich für Klamotten, die du verbrannt hast? Der schwarze Hut?«
Sie seufzte. »Es war alles so furchtbar. Was mochten seine Eltern durchmachen? Ich hab gedacht, wenn es doch mal rauskommt, dann sollten sie wenigstens seine letzten Habseligkeiten – Ich hatte sie so gut versteckt! Aber dann hat Ulrike sie neulich gefunden! Und da hat sie sich in den Kopf gesetzt, dass sie seinen Eltern das Buch bringen müsste – bevor sie sich am Bahnhof alles anders überlegt hat.«
Was für ein Buch?
Oma sprach weiter, ehe ich fragen konnte. »Weit war sie nicht gekommen. Sie war ja völlig durch den Wind! Und da hab ich gedacht, ich muss die Sachen endlich verschwinden lassen!«
Flos Buch fiel mir ein, und ich schrak zusammen. »Lieber Himmel, was hast du mit …?« Mir schnürte es die Luft ab.
Oma machte Kulleraugen. »Weißt du, was, Melle? Das Buch enthielt exakt sieben Siegel. Ist das nicht verrückt?«
Wenn eines feststand, dann, dass meine Oma vollkommen verrückt war!
Obwohl der Gedanke an Flo mir das Herz zerriss – Wie konnte man ihr böse sein? Nach dem, was sie durchgemacht hatte!
Nebenan rumpelte etwas. Ich zuckte zusammen. Oma fuhr hoch wie von der Tarantel gestochen. »Er ist wiedergekommen«, krächzte sie, kippte vornüber und klammerte sich an mich. Als ihre blutigen Finger nach mir griffen, wurde ich fast ohnmächtig. Flo lebte, wie es schien! Aber meine Omi …
Mein Blick fiel über ihren gekrümmten Rücken in die Spüle. Da lag ein großes blutiges Stück Rindfleisch. Sie hatte einen Braten pariert!
Es klopfte.
Flo streckte einen verwuschelten Kopf herein. »Moing beinand«, rief er, eine Hand im Schritt. »Melle, i muaß dringend auf’s Häusl.«
»Flo!«, schrie ich erleichtert. »Äh – rechts. Neben dem Schlafzimmer.«
Krachend fiel die Badezimmertür zu.
Omi und ich guckten uns an. Wir weinten und lachten abwechselnd und schüttelten die Köpfe.
»Ach, Melle«, meinte meine Oma schließlich. »Mach dich bloß nie verrückt damit, dass du versuchst, dich davor zu hüten, verrückt zu werden. Ich bin ja reif für Alzersheimer. Aber dir steht das ganze Tollhaus noch offen!«
»Hm«, ich kratzte mich am Kopf.
»Vielleicht versuchen wir es erst mal mit einem Kaffee?«
1 Mummenschanz in den Sartory-Sälen
Seit über 60 Jahren gehören die Sartory-Säle in der Friesenstraße 44–48 in 50670 Köln zu den wichtigsten Veranstaltungszentren in Köln. Auf den Trümmern des Varietés »Groß-Köln«, das aus der 1896 gegründeten Brauerei »Cölner Bürgerbräu« entstanden war, ließ Carl Sartory Senior das Festhaus bauen, geplant von Wilhelm Riphahn, dem berühmten Kölner Architekten, der auch für die Bastei, das British Council sowie die Oper und das Schauspielhaus 13 verantwortlich zeichnet. 1948 fand die Eröffnung statt. Heute finden hier Kongresse, Ausstellungen und Konzerte statt, es werden Betriebsfeste und Karneval gefeiert, man tanzt auf Galas und festlichen Bällen und amüsiert sich bei Musicals und Boxkämpfen. Der Mummenschanz im Sartory gehört zu den traditionellen Karnevalsbällen.
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