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Eine »ganz eigene Geschichte«, »wunderschönes Märchen für Kinder und Erwachsene«, »rätselhaft, mystisch und spannend ohne Grobschlächtigkeit«, das »viele der in Fantasy-Storys typischen Klischees ignoriert«. (Rezensionen) Zwei Kinder, die fern der Zivilisation in einem idyllischen Tal inmitten des gigantischen Aponunglabaumwalds aufwachsen, liebevoll betreut von einer Mutter, einem Falken und merkwürdigen Wasserwesen – das ist der Ausgangspunkt dieser Fantasyerzählung. Wie es den beiden gelingt, mit viel Mut und ein wenig Magie allen Widrigkeiten zum Trotz nicht nur zurück zu den Menschen zu finden, ist in der »Weissagung des Drachen« vorgegeben. Der Drache, dem sie auf ihrem Weg mehrfach begegnen, entpuppt sich nacheinander als heimtückisches Hindernis, weiser Mentor und schließlich als tödlicher Feind. Nur indem Cora und Tim ihrem Herzen folgen, können sie alle Herausforderungen bewältigen, das Geheimnis ihrer Herkunft und die Verstrickung ihres Schicksals in einen folgenschweren dramatischen Konflikt aufdecken und die Weissagung in einem furiosen Finale auf überraschende Weise erfüllen.
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Seitenzahl: 155
Regina Schleheck
Außer der Reihe 69
Regina Schleheck
DIE WEISSAGUNG DES DRACHEN
Außer der Reihe 69
Überarbeitete Neuausgabe des 2014 als E-Book im 110th Verlag erschienenen Werkes
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© dieser Ausgabe: Juli 2022
p.machinery Michael Haitel
Titelbild: Regina Schleheck
Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda
Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel
Herstellung: global:epropaganda
Verlag: p.machinery Michael Haitel
Norderweg 31, 25887 Winnert
www.pmachinery.de
ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 292 8
ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 811 1
Coras Name war eigentlich Coraggia, was so viel heißt wie tapfer. Ihre Mutter Fiora hatte sie so genannt, weil sie schon gleich nach der Geburt so anhaltend und wütend schreien konnte, wenn ihr etwas nicht passte, und ebenso zielstrebig und energisch deutlich machen konnte, was sie wollte. Am meisten liebte sie gute Speisen. Cora war eine ausgesprochene Feinschmeckerin. Das war auch sehr verständlich, denn da, wo sie aufwuchs, hatte das Leben nicht viel zu bieten.
Tim hingegen hieß mit richtigem Namen Timido, der ›Ängstliche‹, weil er, als Coras Mutter ihn bekam, so jämmerlich gewinselt und so erbärmlich gezittert hatte, dass Fiora gar nicht anders konnte, als ihn in die Arme zu schließen und mit ihrem überreichlichen Milchsegen hochzupäppeln.
Dass sie so viel Milch hatte, war aber nur Cora zu verdanken. Sie saugte so energisch an der mütterlichen Brust, dass die Milch heftig einschoss und Tim sich auf der anderen Seite trotz seines zaghaften Nippens regelmäßig verschluckte.
Fiora, Tim und Cora lebten nach Fioras Berechnung schon zehn Jahre in einer völlig unzugänglichen Schlucht mitten in dem riesigen Aponunglabaumwald, der sich über viele, viele Tagereisen südlich von Fioras Heimatdorf erstreckte. Der Wald war so groß und undurchdringlich, dass Fiora noch von keinem Menschen gehört hatte, dem es gelungen war, ihn zu durchqueren und heil wieder zurückzukommen.
Wie sie dort hingekommen waren, das wussten die Kinder nur aus Fioras Erzählungen. Manchmal hatte auch Akeo, der alte Nöck, der sich regelmäßig nach ihrem Wohlergehen erkundigte, ein paar Bemerkungen dazu fallen gelassen. Aber die Nöcks waren Wasserwesen und im Allgemeinen sehr wortkarg. Insbesondere schienen sie aber darauf bedacht, alles, was mit der Anwesenheit der drei Menschen in ihrem Reich zu tun hatte, im Dunkeln zu lassen. Sie hatten sie aufgenommen und halfen ihnen, soweit es in ihrer Macht stand – aber ziehen lassen wollten sie sie anscheinend nicht.
Wenn Fiora von früher erzählte, dann wurde ihre Stimme brüchig, und sie sah die Kinder nicht an. Es geschah nicht häufig. Nur ganz wenige Male, als sie abends am Feuer vor ihrer kleinen Hütte am Ufer des großen Sees in der Mitte der Schlucht saßen, hatte Fiora die Vergangenheit aufleben lassen. Tim saß dann eng an sie gekuschelt, mit einer Hand in ihren Haaren kraulend. Cora hockte näher am Feuer, stocherte in der Glut, kleine Funkenregen erzeugend, die unter dem Sternenhimmel verglommen. Fioras Blick ging über die Berggipfel, die sich rundherum auftürmten, und verlor sich in der Ferne.
Fiora hatte in einem kleinen Menschendorf dicht am Rand des Aponunglabaumwaldes gelebt. Sie war dort aufgewachsen, und als sie in das Alter kam, in dem die Menschenkinder heiraten, hatte sie den Schmied Albero gewählt, der um sie warb.
»Was ist ein Schmied, Fiora?«, fragten die Kinder dann wohl. Und dann musste sie erklären, was die Menschen da draußen für Künste beherrschten und wie das Leben im Dorf aussah.
»Erzähl uns von Albero«, bat Cora sie. Fioras Stimme wurde weich, wenn sie von ihm sprach.
Albero war der kräftigste junge Mann des ganzen Dorfes gewesen. Und so eigensinnig! Er gab sich nie mit dem zufrieden, was alle anderen auch konnten. Er wollte immer etwas Besonderes schaffen. Seine Hütte lag direkt am Wald, etwas oberhalb des Dorfes.
Aber ihr Glück währte nicht lange. Eines Tages kehrte Albero nicht nach Hause zurück. Das war an und für sich nichts Besonderes. Der Schmied war immer wieder lange Tagesstrecken unterwegs, um östlich des Aponunglabaumwaldes in den Bergen nach Erzvorkommen zu suchen. Er packte sich Proviant und Werkzeug ein und brach auf. Aber diesmal waren mehrere Wochen vergangen. Fiora begann sich zu sorgen, dass ihm etwas zugestoßen sein mochte.
Nach einer Zeit stellte sie fest, dass sie schwanger war. Was sollte sie tun? Sie suchte selbst tagelang in den Bergen nach Albero. Aber sie kehrte jedes Mal mutloser zurück, und ihr Bauch wölbte sich immer höher.
Und eines Nachts hatte sie Cora geboren. Fiora, die bis dahin so verzweifelt Alberos Rückkehr herbeigesehnt hatte, fasste wieder Mut. Sie sorgte für ihr Kind und war täglich aufs Neue entzückt über dieses kleine Geschöpf, die Krönung ihrer Liebe.
Ja, und dann war das Schreckliche passiert, von dem Fiora kaum erzählen mochte.
Die Affenmenschen waren gekommen.
Der Aponunglabaumwald war voll von merkwürdigen Lebewesen, von deren Existenz die Menschen kaum eine Ahnung hatten, weil sie den Wald am liebsten nicht betraten. Die Affenmenschen waren den Dörflern bekannt. Sie waren wüste Gestalten, aber harmlos, wenn auch neugierig. Etwa so groß wie die Menschen, wirkten sie jedoch kleiner, weil sie vornübergebeugt gingen. Wenn sie es eilig hatten, liefen sie auf allen Vieren oder hangelten sich mit ihren langen Armen von Baum zu Baum. Sie waren von Kopf bis Fuß behaart, struppige Wesen mit hässlichen Gesichtern und riesigen Mäulern, in denen lange Zähne bleckten. Aber sie waren auch schreckhaft.
Oh, die Kinder kannten die Affenmenschen! Einmal waren diese zotteligen Wesen in ihre Schlucht eingedrungen. Die Berggipfel zu überwinden, war für die Affenmenschen anscheinend kein Problem. Aber die Wassermänner hatten sie wieder weggeschickt. Mit Akeo an der Spitze watschelten sie auf ihren flossenähnlichen Füßen den Affenmenschen entgegen und hatten eine Weile gestikuliert und verhandelt. Die Nöcks waren wirklich sehr weise. Die Kinder hatten sich oft gewundert, dass sie anscheinend in der Lage waren, sich mit allen Lebewesen zu verständigen und in Frieden mit ihnen zu leben.
»Ich hatte die Affenmenschen mittags schon gesehen«, erzählte Fiora, »ein paar dieser hässlichen Fratzen lauerten am Waldrand und kamen bis dicht an unsere Hütte. Aber dann waren sie wieder weg. Als du mich am späten Abend noch einmal geweckt hast, weil du gestillt werden wolltest, Cora, da stand auf einmal einer im Eingang. Ich schrie ihn gleich an: ›Verschwinde!‹ Normalerweise ließen sie sich so verscheuchen. Aber dieser nicht. Er kam auf mich zu, und ein paar andere drängten hinterher. Der erste streckte seine Arme nach dir aus und wollte dich mir entreißen. Ich hielt dich mit aller Kraft an mich geklammert und schrie ganz laut. Da packten sie mich an Armen und Beinen und trugen mich mit dir auf dem Arm aus dem Haus und in den Wald.
Sie liefen tief ins Dickicht hinein, weiter, als ich je vorgedrungen war. Ich konnte aber auch kaum wahrnehmen, wohin es ging, so sehr war ich damit beschäftigt, dich festzuhalten, während sie mich an allen Gliedern hinauf und hinunter zerrten. Sie bewegten sich die meiste Zeit etwas oberhalb des Erdbodens vorwärts, auf den ineinander ragenden Ästen der Aponunglabäume. Und es waren viel mehr geworden, merkte ich, nicht nur die paar, die mich aus der Hütte geholt hatten. Die anderen mussten im Wald auf sie gewartet haben. Sie wechselten sich beim Tragen ab. Es schien alles wie abgesprochen, als wenn sie genau wüssten, was sie taten, wo sie hinwollten und was sie mit uns vorhatten. Kein Zögern, keine Verständigung, alle schienen Bescheid zu wissen. Das erfüllte mich mit Angst.«
Erst nach Stunden, so schien es Fiora, hatte die Horde ein Lager aufgesucht, hoch in den Bäumen. Es dämmerte bereits. Die Affenmenschen brachen Zweige ab und machten sich damit kleine Nester in Astgabeln, auf denen sie sich niederließen.
Fiora taten alle Glieder weh, als die beiden, die sie zuletzt getragen hatten, sie losließen. Man hatte sie auf einem sehr hohen Baum abgesetzt. Der Affenmensch, der in der Hütte zuerst auf sie zu getreten war, setzte sich dicht zu ihr, ohne sie allerdings zu berühren. Sie war sich ziemlich sicher, dass er es war. Er war besonders massig und hatte eine sehr dunkle Gesichtsfärbung, ganz schwarz eingerahmte Augen, mit denen er sie unausgesetzt beobachtete. Dennoch hatte er nichts Bedrohliches an sich. Er riss Zweige ab, mit denen er eine Lagerstatt machte, und bedeutete ihr, dass sie sich hinlegen solle. Dann griff er mit seinen langen Armen nach einer reifen Aponunglabaumfrucht, pflückte sie und bot sie ihr an.
Aponunglabäume tragen das ganze Jahr über. Daher findet man auf ihnen immer gleichzeitig Blüten, unreife und reife Früchte und vergorene, aufgeplatzte und übel riechende Reste. Die Früchte sind sauer, aber sehr saftig und können daher sowohl sättigen als auch Durst löschen.
Fiora aß sie dankbar, während sie ihren Säugling stillte. Sie spürte, wie gut die Nahrung ihr tat. Alle Schmerzen und Ängste, die sie ausgestanden hatte, wichen einer wohligen Müdigkeit. Cora war völlig ausgehungert und empört. Sie hatte sich unterwegs schon mehrmals lauthals beschwert, war aber bei den Affenmenschen auf taube Ohren gestoßen. Jetzt trank sie in heftigen Zügen, aber unterbrach sich immer wieder, um ihren Unmut kundzutun. Erst allmählich beruhigte sie sich.
Obwohl Fiora sehr müde war, schlief sie kaum während der Rast. Sie hatte Angst, dass Cora herunterfallen könnte, und hielt sie daher fest umklammert. Jedes Mal, wenn Fiora wegnickte, lockerte sich ihr Griff, und sie schreckte wieder auf. Außerdem war es furchtbar feucht-schwül, und es wimmelte von allen möglichen Insekten, die auf ihnen herumkrabbelten, um sie herumflogen und -sirrten. Und die Geräusche, die sie in der Dunkelheit vernahm!
Aber am schlimmsten war die nagende Sorge: Was hatten diese Wesen mit ihnen vor? Sie hatte nie gehört, dass Affenmenschen Fleisch verzehrten. Aber wenn es so wäre, hätten sie sie doch spätestens, als sie lagerten, getötet. Vielleicht wollten sie sich erst an einem bestimmten Ort über sie hermachen? Sie strebten anscheinend irgendeinem Ziel zu. Vielleicht gehörte es zu ihren Bräuchen, zu bestimmten Gelegenheiten Menschen zu entführen und zu töten? Was wusste sie schon von diesen merkwürdigen Lebewesen, halb Mensch, halb Tier, aber den Menschen doch weniger vertraut als manche Tiere?
Und dennoch – ihr großer Bewacher sah zwar abstoßend aus, und sie konnte seinen strengen Geruch nach schweißigem Fell kaum aushalten, aber er selbst flößte ihr eigentlich weniger Angst ein als ihre eigenen Fantasien über das, was man möglicherweise mit ihnen vorhatte.
Als die Horde sich am Nachmittag bereit machte, wieder aufzubrechen, deutete ihr massiger Aufpasser auf sein breites Kreuz und stieß kehlige Rufe aus. Fiora begriff, dass sie auf seinen Rücken klettern und sich festhalten sollte. Sie wickelte Cora, so fest es ging, in ihre Kleidung. Dann stieg sie widerwillig, aber ergeben, dem Affenmenschen auf den Buckel. Mit den Händen hielt sie sich an seinen Schulterzotteln fest, während sie sich bemühte, Cora in der Höhle zwischen ihrem Bauch und dem Rücken ihres Lasttieres nicht zu sehr zu quetschen, aber doch sicher zu halten. Cora gefiel diese Position gar nicht. Sie konnte nichts sehen. Aber für Fiora war die Weiterreise so wesentlich angenehmer als das Gezerre der vergangenen Nacht. Und als die Kleine eine Weile im Dunkeln geschaukelt worden war, schlief sie auch wieder ein und verschlief den größten Teil der Reise.
Die Affenmenschenhorde legte mehrmals in der Nacht und an den folgenden Tagen Pausen ein. Dann tranken sie an Quellen und aßen die Früchte des Waldes. Der Aponunglabaumwald hatte seinen Namen von den riesigen Aponunglabäumen, die dort überall ineinander wuchsen und alle anderen Bäume und Pflanzen überragten. Daneben aber gab es in dem Wald eine unglaubliche Fülle von Bäumen, Sträuchern, Schlingpflanzen und anderen Gewächsen, die in allen Farben und Formen blühten, alle Arten von Düften ausströmten und vielfältige Früchte trugen. Fiora kannte nur wenige von ihnen. Aber sie vertraute darauf, dass das, was die Affenmenschen aßen, für sie auch genießbar sein musste. Manches spuckte sie zwar gleich wieder aus, weil der Geschmack ihr so fremd war, aber sie fand doch immer genug, um satt zu werden.
Ihr dunkelgesichtiger Träger blieb die ganze Zeit bei ihnen. Fiora hatte ihn für sich Nero getauft. Ihre Furcht vor den Affenmenschen schwand allmählich, weil sie sich überwiegend freundlich gebärdeten, auch wenn sie sich nicht groß um sie und ihr Kind zu scheren schienen.
Am vierten Tag merkte sie, dass es mit einem Mal steil bergan ging. Sie konnte nicht viel sehen, weil die Baumkronen immer noch ein undurchdringliches Dach nach oben hin bildeten, aber es wurde allmählich lichter, und der Grund war karger und steiniger. Die Affenmenschen bewegten sich auf den Felsen genauso gewandt wie in dem Wald. Die Bäume wurden kleiner und standen vereinzelt, und jetzt konnte Fiora sehen, dass sich ein gewaltiges Bergmassiv vor ihnen auftat.
Als die Affenmenschen nach ihrer nächsten Rast wieder aufbrachen, blieb der größte Teil der Horde zurück. Nur Nero und vier andere der größten Hordenmitglieder erklommen nun den Berggipfel. Sie legten immer häufiger kleine Pausen ein und wechselten sich dabei ab, Fiora und Cora zu tragen. Fioras Ängste wurden wieder wach. Es war ihr klar, dass jetzt bald irgendetwas Entscheidendes passieren würde, und wenn sie hinunterblickte, dann wurde ihr immer schwindeliger. Warum wollten sie sie dort hinaufbringen? Wollten sie sie vom Gipfel stoßen? Was war hinter den Bergen?
Es dauerte bis zur Dämmerung, ehe die kleine Gruppe den Bergkamm erreichte. Der Abendhimmel hatte sich schon blutrot gefärbt, als die Affenmenschen die höchsten Felsbrocken erklommen. Sie hielten schnaufend inne und ließen die Menschenfrau absteigen. Fiora verschlug es schier den Atem, als sie sah, was sich hinter dem Gipfel auftat.
Vor ihr lag ein wunderschönes Tal, in dessen Mitte ein großer See von der Sonne in glitzerndes Rot getaucht wurde. Drumherum wuchsen Bäume und Sträucher, blühten Blumen und plätscherten kleine Bäche, die eben noch von den Felsklüften herabgestürzt waren, um sich in der Ebene mäandernd zu vereinigen. Die Berge ragten an allen Seiten so steil in die Höhe, dass Fiora sich nicht vorstellen konnte, wie man heil in diese Schlucht hinuntergelangen konnte.
Nero richtete sich hoch auf, legte beide Hände trichterförmig an den Mund und stieß mehrere gellende Schreie aus, die von den gegenüberliegenden Bergen zurückhallten.
Im Wasser des Sees und an der Böschung am Rand geriet etwas in Bewegung. Erst sah Fiora nur heftige Wellen in der Nähe des ihnen zugewandten Ufers, dann erschienen einige Köpfe wie von großen Fischen. Die Köpfe wurden mehr, und dann kletterten viele Gestalten an Land, zu denen sich andere gesellten, die anscheinend unter den Büschen am Ufer gehockt hatten. Fiora konnte sie aus der Entfernung nur undeutlich erkennen, aber sie hatte solche Lebewesen auch nie zuvor gesehen. Sie schienen etwa die Größe von Menschen zu haben, aber sie waren grünlich, das konnte man von oben auf dem Berg erkennen, und hatten einen watschelnden Gang.
Als sie diese grünen Gestalten sich zusammenrotten und allmählich in ihre Richtung näher kommen sah, fiel Fiora ein, dass in den Geschichten, die die Menschen im Dorf sich gerne abends erzählten, manchmal von seltsamen Wassermenschen die Rede war, die die Alten Nöcks nannten. Das mussten diese Wesen sein.
Aber die Affenmenschen ließen ihr nicht viel Zeit zu Betrachtungen. Nero forderte sie auf, wieder auf seinen Rücken zu steigen, und dann begannen sie mit dem Abstieg.
»Wo?«, unterbrach Cora die Erzählung ihrer Mutter. »Wo genau? Zeig uns die Stelle, Fiora!«
Fiora wies mit der Hand nach Norden, wo der Höhenzug, der das Tal umgab, tatsächlich etwas weniger schroff abzufallen schien. Offensichtlich hatte es dort einmal einen Erdrutsch gegeben, sodass sich vom Horizont bis mehrere hundert Meter in die Schlucht eine Geröllhalde auftat, die, zumindest von unten betrachtet, die Felsen etwas gleichmäßiger ansteigen ließ. Aber selbst vom Seeufer aus konnten die Kinder deutlich einige riesige Felsüberhänge erkennen, die einen Auf- oder Abstieg auch an dieser Stelle völlig unmöglich erscheinen ließen.
»Erzähl weiter, Fiora!«, bat Tim und drückte sich schaudernd dichter an sie heran. Er kannte die Geschichte nur zu gut, denn sie verfolgte ihn immer wieder in seinen Alpträumen, seit er sie das erste Mal gehört hatte. Daher wollte er die Einzelheiten gar nicht hören, sondern schnell zum Ende kommen, während Cora an den spannenden Stellen immer alles ganz genau wissen wollte.
Fiora klammerte sich in verzweifelter Angst an Neros Rücken fest und wagte kaum, den Kopf zu wenden, denn jetzt ging es so steil hinunter, dass die Affenmenschen über weite Strecken nur an ihren langen haarigen Armen über dem Abgrund hingen und sich abwärts hangelten. Hätte Cora jetzt angefangen zu strampeln und wäre ins Rutschen gekommen, dann hätte Fiora sie wahrscheinlich nicht halten können, denn wenn sie eine Hand gelöst hätte, wären sie alle beide unweigerlich abgestürzt und auf den Felsen unter ihnen zerschmettert. Aber Cora, die kleine widerspenstige Cora, war in dieser bedrohlichen Situation mucksmäuschenstill und rührte sich nicht.
Als Nero sie endlich heruntergleiten ließ und Fiora wieder festen Boden unter ihren Füßen spürte, kam sie das Schluchzen an, so angespannt war sie von diesem schrecklichen Abstieg. Nero beachtete sie nicht weiter. Er schien selbst erschöpft von dem Klettern mit seiner schweren Last zu sein. Sein Augenmerk war auf die Wassermenschen gerichtet, die ihnen schon ein ganzes Stück entgegengekommen waren. Die Affenmenschen gingen nun aufrecht dem Tal zu, und Fiora taumelte hinterher. Sie wusste kaum noch, wie sie ihre eigenen Füße gebrauchen sollte.
Sie näherten sich den Nöcks, die ihrerseits der Gruppe der Affenmenschen näher kamen. Allmählich konnte Fiora sie nun besser erkennen. Die Nöcks waren über und über mit Schuppen bedeckt. Ihre Köpfe waren tatsächlich fischähnlich. Sie hatten Glupschaugen, fast keine Nasen, aber in Höhe der Ohren kiemenartige Furchen, die sich rhythmisch bewegten. Hände und Füße wiesen Schwimmhäute zwischen den Gliedern auf. Die Füße waren ausgesprochen groß und platt, was zu dem watscheligen Gang der Nöcks beitrug.
Fiora, die sich mittlerweile bei den Affenmenschen einigermaßen aufgehoben fühlte, suchte sich hinter deren breiten Rücken zu verstecken, als die beiden Gruppen aufeinandertrafen. Nero und der Anführer der Nöcks hatten einen kurzen Wortwechsel, den der Affenmensch mit seiner rau bellenden Stimme begann. Der Nöck antwortete in einem näselnden Ton. Fiora verstand überhaupt nichts, aber es war ihr klar, dass es um sie ging. Sie flehte alle guten Geister um Beistand für sich und ihr Kind an.
Als die Affenmenschen schließlich beiseitetraten und der erste Nöck sich ihr näherte, war sie auf vieles gefasst, aber nicht auf das, was ihr jetzt geschah.
Der Nöck musterte sie prüfend und sprach sie dann in ihrer eigenen, der Menschensprache an:
»Du wirst sehr erschöpft sein, du und dein Kind«, sagte er, und es klang arg verschnupft und quäkend, aber sie verstand doch deutlich, was er sagte. »Man hat euch übel mitgespielt. Aber wir brauchen dringend deine Hilfe. Dieses Kind braucht dringend deine Hilfe.«
Mit diesen Worten reichte er ihr ein kleines Bündel.