Mörderisches vom Niederrhein - Regina Schleheck - E-Book

Mörderisches vom Niederrhein E-Book

Regina Schleheck

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Beschreibung

Die Landschaft am Niederrhein ist flach - und hochspannend. Menschenschlag, Natur, Landwirtschaft, Industrie, Freizeitmöglichkeiten, Geschichte und Mythen bieten eine Fülle an kriminellen Möglichkeiten mit gelegentlich tödlichen Lösungen. Entführung, Totschlag, Mord: Regina Schleheck schickt in 12 Kurzkrimis ein vielfältiges Figurenensemble von Erkelenz bis Emmerich, Heinsberg bis Hamminkeln, Kaiserswerth bis Kevelaer quer durch die Niederungen des Rheins - und der Gefühle.

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Regina Schleheck

Mörderisches vom Niederrhein

Krimis

Zum Buch

Niederungen am Rhein Wer mit dem Niederrhein Spargelanbau, Windräder, Kopfweiden und viel Gemüt assoziiert, wird dank der idyllischen Bilder das hochgefährliche Potenzial der Region vermutlich übersehen. Geografisch, historisch-politisch und kulturell eint die Gegend vor allem eins: nichts. Die Mischung aus Abgrenzung und Überschneidung sorgt für brisante Konfliktstoffe, die Regina Schleheck in 12 spannenden Kurzkrimis mit verschiedensten Protagonisten an unterschiedlichsten Schauplätzen auf bitterböse, schwarzhumorige und berührende Weise eskalieren lässt, bis die Niederungen der Gefühle für Aufruhr zwischen Rhein, Niers und Rur sorgen. Weil Gemüt noch lange nicht Gemütlichkeit garantiert. Und flach nicht platt ist am Niederrhein.

Regina Schlehecks Biografie fand in ihrer Bibliografie Niederschlag: Wuppertal, Köln, Aachen, Herford, Leverkusen. In allen Lebensstationen besuchte sie den benachbarten Niederrhein. Heute lebt die hauptberufliche Oberstudienrätin, freiberufliche Autorin, Herausgeberin, Referentin und fünffache Mutter an der Grenze von Rheinland, Bergischem Land und Niederrhein. Seit 2002 veröffentlicht sie Kurzgeschichten, Hörspiele und Romane, unter anderem den biografischen Kriminalroman »Der Kirmesmörder – Jürgen Bartsch«. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, darunter mit dem Deutschen Phantastik Preis sowie dem Friedrich-Glauser-Preis in der Sparte Kurzkrimi. Der »Mörderische Niederrhein« ist ihr vierter Kurzkrimi-Band im Gmeiner-Verlag.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Katja Ernst

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Frank Kimpfel / shutterstock.com

ISBN 978-3-8392-6956-5

 

 

Keine Hexerei

Im Grunde war es Käthes Schuld. Frauen können einfach nicht mal ruhig zusammensitzen. Da muss immer gequasselt werden, und wenn es gerade so richtig gemütlich wird, muss eine – wie sagt man auf Neudeutsch? – Challenge her. Irgendwelche Spielchen, vorzugsweise muss man sich – auch wieder neudeutsch – outen, also sich irgendwie blamieren. Ich meine, die Käthe ist eigentlich ganz okay. Für eine Frau. Sonst hätten wir sie ja gar nicht an unseren Tisch eingeladen. Eine tolle Kollegin, die zupacken kann, nicht nur Spaß, sondern außerdem was von Autos versteht – ein Kumpel halt.

Unser Stammtisch war keine geschlossene Veranstaltung, wir hingen, wenn wir von unseren Touren zurückkamen, im hauseigenen Biergarten ab, Jan, Ricky und ich. Haben ein, zwei, drei Alt gekippt und gefuttert, was die Brotkiste noch hergab. Wenn die Stimmung gut war, sind wir in den letzten Jahren, wenn Boltens Picknick Biergarten um zehn die Schotten dichtgemacht hat, zum »Brauhaus zum goldenen Handwerk« in der Korschenbroicher Innenstadt gestiefelt. Na ja, und gespielt haben wir immer schon ganz gern. Also Karten. Anfangs, als wir zu dritt waren, Skat. Dann kam Käthe dazu, und Ricky hat uns Doppelkopf beigebracht, weil er keinen Bock hatte, dauernd auszusetzen. Heute hat keiner mehr Bock auf Skat. Doppelkopf ist viel spannender. Das ist kein Kräftemessen einer gegen zwei, sondern der Reiz liegt darin, dass man mit einem Partner spielt, aber wer das ist und wie stark der ist, erfährt man manchmal erst zum Schluss. Man muss halt gut beobachten, mitkriegen, was für ein Blatt die anderen haben, strategisch spielen. Und sich nicht verplappern. Das war das, was Käthe ein bisschen nervte dabei. Die hätte am liebsten jeden Spielzug ausdiskutiert. Dabei dreht sich alles um die Frauen. Sie geben den Ausschlag. Also die beiden Kreuz-Damen. Wer sie hat, gehört zur »Re«-Fraktion, die anderen sind »Contra«. Es kann aber durchaus passieren, dass einer die beiden Kreuz-Damen hat, der muss gegen die drei anderen spielen. Das ist erst recht nicht leicht zu durchschauen, außer man ist eben der mit den zwei Damen. Natürlich kann man auch Ansagen machen, aber dann ist ein bisschen die Spannung raus. Und wenn man zu viel getankt hat und nicht aufpasst, schnallt man nicht nur selbst nicht mehr, wer eigentlich gegen wen spielt, sondern man kann seine Mitspieler ganz schön in die Irre führen. Weil es bei uns vor allem darum ging, nach einem anstrengenden Arbeitstag runterzukommen und Spaß zu haben, hat das allerdings nie jemand krummgenommen.

Bis wir Manni kennenlernten. Im »Goldenen Handwerk«. Er saß allein am Nebentisch und hatte wohl schon eine Weile zugehört, wie wir spielten und uns unterhielten. Beugte sich irgendwann zu uns rüber und meinte: »’tschuldigung, darf ich Sie mal was fragen?«

Die Frage an sich ist ja schon der größte Blödsinn. Man tut’s ja, während man fragt, ob man’s darf. Ich meine, klar, es ist eine Floskel. Aber im Nachhinein fragt man sich ja immer, woran es gelegen hat. Wie es gekommen ist. Es war halt von Anfang an was an ihm, was ein bisschen – na ja, genervt hat. Mich zumindest.

Ob er es richtig mitgekriegt hätte, dass wir Kollegen seien, wollte er wissen. Also Auslieferungsfahrer. Für die Privatbrauerei Bolten?

Und als wir bestätigten: er auch! Also nicht für Bolten-Bier, sondern für die König-Brauerei in Duisburg-Beeck. – Was für ein Zufall!

Wie das so ist, wenn man überraschend angesprochen wird. Man guckt natürlich als Erstes in das Gesicht von dem, der einen anspricht. In dem Moment, als er das sagte mit der König-Brauerei – ich schwöre! –, schwenkten unser aller Blicke auf das Glas, das vor ihm stand. Ein Pils. Klar, das war ja irgendwie zu erwarten gewesen. Wir sahen uns an und mussten lachen. Ein bisschen peinlich berührt.

Natürlich haben wir ihn zu uns an den Tisch eingeladen. Kollege! Prost! Ihm das Du angeboten.

Ich glaube, er hatte unser Lachen falsch verstanden. Weil er sich als Erstes erkundigte, was wir denn trinken wollten, die Runde gehe auf ihn. Was für eine Frage! Er sah doch, was da vor uns stand. Wir haben dann mit Boltens Alt gegen Köpi angestoßen und uns unseren Teil gedacht. Was soll man da diskutieren? Klar hat er sich anschließend von uns allen einen ausgeben lassen. Und gekostet. Und es stehen gelassen. In dem Punkt waren wir allerdings stur. Wir bestellten konsequent Alt-Runden. Er bedankte sich, orderte jedes Mal ein Pils hinterher und schob sein Alt entweder Ricky oder Jan zu, die neben ihm saßen. Oder in die Mitte. Irgendwer erbarmte sich schon.

Köpi!

Ich meine, dazu gibt es eigentlich nichts zu sagen, weil es ist, wie es ist. Am Niederrhein trinkt man Alt. Punkt. Der Rest der Welt mag untergärige Biere trinken, wie er will. Meine Mutter sagte immer: »Und wenn der Rest der Welt aus dem Fenster springt, bist du trotzdem nicht so bekloppt und springst hinterher.« Natürlich bricht sich niemand ein Bein, wenn es mal gar nichts anderes gibt als Pils. Aber doch nicht freiwillig.

Es ist nicht nur eine Frage des Geschmacks. Da steckt eine Geschichte hinter. Obergärige Biere sind die, die unseren Breitengeraden entsprechen. Bei gemäßigten Temperaturen, 15 bis 20 Grad Celsius, verbindet sich die Hefe beim Brauvorgang, wird von der Kohlensäure nach oben gedrückt und arbeitet da. Es ist die Methode, wie früher alle Menschen Bier gebraut haben, weshalb es eben auch Altbier heißt. Im Winter oder da, wo es ganzjährig Eis gab, hat man untergärig gebraut. Hier am Niederrhein haben wir nun mal keine Gletscher. Weshalb es im Sommer gar keine Alternative zum Alt gab. Im Winter, wenn es der Hefe zu kalt ist, bei vier bis neun Grad Celsius, kann sie sich nicht verbinden und treibt nicht auf, sondern die Partikel sinken nach unten. Da braucht es länger zum Gären. Das untergärige Bier ist dafür weniger anfällig für Pilze und Mikroben und länger haltbar. Weshalb es auch Lager- oder Exportbier genannt wird. Man kann es größere Strecken transportieren, ohne dass es verdirbt. Klar, dass alle Brauereien mit der Erfindung der Kühlschränke auf untergärige Biere umgestiegen sind. Moderne Denke. Eine Frage des Profits. Hier am Niederrhein hält man an Traditionen fest. Und was den Geschmack angeht: Bei Obst oder Gemüse ist es ja nicht anders: Frisch schmeckt es super. Heute gibt es alles tiefgekühlt und in Konservendosen – leckerer wird es dadurch nicht. Wo in Deutschland kriegt der Verbraucher noch Altbier? Der gemeine Biertrinker wurde von den Brauereien und dem Handel längst umkonditioniert. Frische Ware ist heute überall Luxus.

Es ist nicht so, als wären wir am Niederrhein die letzten Sturköppe. Natürlich soll jeder trinken, was er mag. Aber damit macht er es sich nicht gerade leicht, wenn er bei uns Anschluss finden will. Worauf Manni es offensichtlich anlegte.

»Wie kommt es, dass du dich heute Abend in Korschenbroich rumtreibst?«, wollte Käthe wissen.

Er übernachte bei seiner Tante, verriet er uns. Die gleich um die Ecke in einem schnuckeligen Fachwerkhäuschen lebe, niemand mehr habe als ihn, und da würde er halt immer mal nach ihr gucken, wenn er auf seinen Fahrten in Korschenbroich vorbeikäme. Morgens früh habe er es nicht weit von hier zur Arbeit. Er überlege sowieso, sich umzuorientieren. Das wäre ja eigentlich eine ganz schöne Gegend, nicht so eine Industriestadt wie Duisburg, nicht so viele Zuwanderer und was das alles so nach sich zöge: No-Go-Areas, Familienclans, Bandenkriminalität, man traute sich da ja abends gar nicht mehr auf die Straße. Und ein Job ließe sich doch bestimmt auch irgendwo finden.

Dabei guckte er uns an, als ob er fragen wollte, ob wir nicht morgen ein gutes Wort für ihn einlegen könnten.

Ricky klopfte geräuschvoll mit den frisch gemischten Karten auf den Tisch. »Wie sieht es aus? Nächste Runde?«

Ehe Jan oder ich es verhindern konnten, fragte Käthe: »Kannst du Doppelkopf?«

Manni nickte freudig: »Gerne, wenn ich darf.«

Wir guckten uns an.

»Okay, ich setz’ dann mal aus«, sagte ich. »Muss eh Bier wegbringen.«

Als ich zurückkam, hatten die anderen nach dem Austeilen der Karten gerade erst geklärt, dass und wieso wir mit Neunen spielten. Herrjemine. Nichts entzweit Menschen mehr als unterschiedliche Spielregeln.

»Spielen, richtig verstanden, ist etwas Wunderschönes«, meinte Ricky.

»Es kann gerade für junge Menschen eine gute charakterliche Schulung sein«, ergänzte Jan.

»Äh, und was ist Trumpf?«, fragte Käthe kichernd.

Manni wirkte verwirrt. »Damen, Buben, Karo und die Herz Zehn, oder wie spielt ihr das?«

Wir lachten.

»Das sind Zitate«, klärte ich ihn auf. »Es gibt einen Sketch von Loriot, der heißt ›Skat‹, da reden die so.«

»Aber wir spielen doch Doppelkopf.« Manni war immer noch verwirrt.

»Genau. Und du kommst raus«, mahnte Käthe.

Zwischen den Spielen versuchte sie, Stimmung zu machen und ein Gespräch in Gang zu bringen. So richtig klappte es nicht. Im Wesentlichen beschränkte sie sich darauf, Manni Fragen zu stellen, die der bereitwillig beantwortete. Nach seiner Familie – seine Eltern lebten in Duisburg, keine Geschwister, keine Frau, keine Kinder –, der Tante, dem Häuschen. Mir kam der Gedanke, ob Käthe nach ihrer Scheidung vor zwei Jahren etwa auf der Suche war. Aber ausgerechnet so ein – na ja. Ich guckte mir die Kollegen an. Der Lack war ab. Auf dem Koppe zu wenig, am Bauch zu viel. Dafür knackige Oberarme, breites Kreuz. Mit Manni konnten wir mithalten. Was er um die Hüfte weniger hatte, fehlte ihm auch obenrum.

Ich meldete mich als Erster ab und registrierte mit einer gewissen Genugtuung, dass die anderen ebenfalls ihre Deckel zahlten.

Etwas über eine Woche später trafen wir Manni wieder. Er hatte sich – ganz schön dreist – an unseren Tisch gesetzt und winkte uns freudig zu, als wir eintraten.

»Oh nein.« Das war Jan.

»Was habt ihr denn?« Käthe winkte zurück.

»Ich setze nicht aus«, kündigte Ricky an.

»Hallo, Kollegen«, begrüßte uns Manni und hielt das Doppelkopfspiel hoch, das der Wirt an unserem Tisch deponiert hatte. »Diesmal ohne Neunen?«

»Diesmal ohne dich«, raunte Ricky. »Hallo, Manni!«, sagte er.

»Wir können ja mal was anderes spielen«, schlug Käthe vor.

»Was denn?« Jan hatte das Kartenspiel schon an sich genommen.

»Ein Trinkspiel.«

»Was soll das sein?« Jan mischte das Blatt.

»Einer denkt sich Fragen aus. Wenn man sie richtig beantwortet, muss der Fragensteller ein Bier exen, wenn nicht, derjenige, der die Frage nicht beantworten konnte.«

Jan teilte die Karten aus. »Wunderbar, dann kannst du ja gleich aussetzen und dir Fragen überlegen, während wir spielen. Mit Neunen.«

Tatsächlich besorgte Käthe sich Papier und Stift und schrieb etwas auf, während Ricky ein Damensolo ankündigte und – nachdem wir mit Manni die Regeln geklärt hatten – schlussendlich gewann.

»Jetzt aber noch ein richtiges Spiel«, quengelte Jan. »Solo ist doof.«

»Macht ihr nur.« Käthe lächelte. »Ich denk’ mir gerade was aus. Mal testen, wie viel ihr von Bier wisst. Vom Niederrhein.«

Jan mischte eifrig. »Nur hier oder auch auf der Günnekant?«

»Günnekant?« Manni runzelte die Stirn.

Ich gab den Erklärbär: »Da, wo du herkommst. So sagen sie jedenfalls hier im Norden. Im Süden heißt es ›Schäl Sick‹. Düsseldorf, Duisburg, Wesel, Emmerich. Die andere Rheinseite halt.«

»Du bist zuerst dran, Manni«, neckte Käthe. »Wenn du auf unsere Seite ziehen willst, »musst du erst zeigen, dass du dich auskennst.«

»Schöne Idee«, pflichtete Ricky bei. »Und wenn jemand verliert, ist er noch mal dran. So lange, bis er eine richtige Antwort schafft.«

»Gut. Dann spielt mal ruhig die Runde zu Ende. Ich lass mir noch was einfallen. Aber es wird nicht nur um Bier gehen. Alles mit Schluckfaktor.«

Sie zückte ihr Smartphone, googelte, notierte etwas, googelte wieder.

Wir spielten die Runde zu Ende. Nachdem wir das Solo gegen Ricky verloren hatten, gewann der erst ein Spiel mit mir, danach zweimal mit Jan, das letzte entschieden Jan und ich für uns. Obwohl ich es Ricky nicht gönnte, fühlte es sich am Ende okay an. Nur Manni guckte ein bisschen blöd aus der Wäsche.

Käthe orderte eine Runde Alt. Schob ein Glas vor Manni. »Alles klar?«

Der nickte. Wir lehnten uns zurück.

»Wann erhielt Heinrich der Brauer das Recht, auf dem damaligen Kraushof Bier zu brauen, woraus die Privatbrauerei Bolten entstand?«

Manni stöhnte. »Was für eine Frage! Woher soll ich das denn wissen?«

»Ich geb’ dir drei Zahlen zur Auswahl: 1266, 1566 oder 1766?«

»1566?«

Wir lachten und hoben die Gläser. »Prost, Manni!«

»Das ist nicht fair! Ihr wisst das doch alle!«

»Klar«, sagte ich. »Und du musst es lernen, sonst kriegst du hier keine Schnitte: 1266. Die älteste Brauerei am Niederrhein!«

Der Blick, mit dem er das Alt ansah! Er hob das Glas an, trank es in einem Zug leer und wischte sich mit dem Ärmel den Mund ab.

»Okay. Nächste Frage: Ein Destillateur aus Antwerpen begann 1876 in Heinsberg mit der industriellen Herstellung welches heute noch beliebten Getränks für seinen Kolonialwarenladen: Genever, Eierlikör oder Vugelbeertroppn?«

»Wo ist denn da ein Bier?«, protestierte Manni.

»Ich sollte mir ja noch mehr ausdenken. Also los!«

»Sind Vogelbeeren nicht giftig? Ich sage: Genever.«

»Nix da. Eierlikör. Verpoorten.«

»Die sind doch in Bonn!«

»Dahin umgezogen. Willst du lieber einen Eierlikör?«

»Wenn das geht.« Manni winkte der Kellnerin. Bestellte und exte tatsächlich einen Eierlikör. Lieber als ein Alt!

»Das schaffst du jetzt aber«, sagte Käthe. »Was unterscheidet Altbier von Kölsch? Es ist obergärig? Sein Ausstoß ist doppelt so hoch? Der Röstvorgang?«

»Viel zu einfach!«, rief Jan.

»Es ist obergärig«, sagte Manni.

Wir klopften uns auf die Schenkel vor Lachen.

Manni schien verwirrt. »Hä? Was soll denn daran falsch sein? Kölsch und Alt sind beide obergärig!«

Käthe frohlockte: »Das war nicht meine Frage. Ich wollte wissen, was sie unterscheidet.«

»Ach so! Ja klar, der Röstvorgang! Der Ausstoß stimmt nicht. Das Kölsch ist beliebter. Aber das ist unfair! Ich hab die Frage falsch verstanden. Ich wusste die Antwort!«

Den Kommentar zum Kölsch hätte er sich sparen können, fand ich. »Falsch beantwortet ist falsch beantwortet«, sagte ich und rief in Richtung Theke: »Noch ein Alt, bitte!«

Das ließ Manni nicht auf sich sitzen. »Käthe hat nicht gesagt, dass es ein Alt sein muss.«

»Stimmt«, sagte Käthe.

Manni rief: »Kein Alt! Ein Köpi!«

Erst als es vor ihm stand, fiel ihm auf, dass es ein 0,33-Liter-Glas war, während das frisch gezapfte Alt nur 0,2 Liter betrug.

»Leute, das muss ich aber nur halb trinken«, sagte er.

»Du wolltest ein Köpi. Also mach es leer«, ordnete ich an.

Er tat’s tatsächlich, rülpste, stand auf. »Muss mal kurz in die Keramik.«

»Wieder fit im Schritt?«, erkundigte sich Käthe, als er zurückkam.

Er hielt den Daumen hoch.

»Wann wurde die Brauerei Schlüffken in Krefeld gegründet? 2002, 2013 oder 2018?«

Er strahlte. »Die hab ich neulich erst beliefert. 2018.«

»Na, höchste Zeit. Mein Alt war schon fast schal.« Käthe hob das Glas, kippte es runter und orderte ein neues.

»Weiter im Uhrzeigersinn! Peter!«

»Aye, aye, Sir!«

»Heißt das in dem Fall nicht Siri?«, warf Ricky ein.

»Nix da.« Käthe wedelte mit ihrem Zettel. »Ich bin für die Fragen, nicht die Antworten zuständig.«

»Mach hinne«, forderte ich sie auf. »Ich hab Durst.«

»2002 wurde die Krefelder Rhenania-Brauerei geschlossen. Mitarbeiter übernahmen, und seitdem heißt die Brauerei: Hülsener, Königshof oder Krefelder Alt?«

»Die Regel lautet aber nicht, dass ich nicht trinken darf, wenn ich es weiß?«

»Trinken kannst du immer. Nur nicht auf ex. Also nur, wenn du willst.«

»Königshof. Prost, Käthe.« Wir leerten beide das Glas.

»Jan. Welcher niederrheinische Ort ist für seine Zigarrenproduktion bekannt? Rheinberg-Orsoy? Hommersum? Duisburg-Essenberg?«

»Orsoy. Prost, Käthe.«

Nachdem sie mit frischem Alt versorgt war, kündigte Käthe an: »Das ist mein vorletztes. Mehr schaff’ ich nicht. Also sei kein Spielverderber, Ricky.«

»Ich geb mir Mühe«, versprach der.

»Dafür wird’s jetzt süß. Welcher Süßwarenproduzent hat in Viersen seine deutsche Zentrale: Mars? KitKat? Ferrero?«

»Puh. KitKat?

»Prost. Mars.«

»Endlich!« Während Ricky trank, winkte er schon der Kellnerin, die ihm ein neues Bier brachte.

»Immer noch süß: Welche Nascherei wird in Kempen produziert? Storck? Eszet? Nappo?

»Äh. Wer frisst den so ’n Zeuch? Eszet!«

»Falsch. Nappo.«

»Hast du auch was Anständiges auf Lager?«, wollte Ricky wissen, nachdem er sich den Schaum abgewischt hatte. Was frisches Herbes?«

»Was ist an Herpes anständig? Von mir aus. Aber ohne Antwortmöglichkeiten: Die Neusser Skihalle hieß bis vor ein paar Jahren?«

»Jever Fun! Ich geb’ die nächste Runde!«

Käthe exte und wiederholte: »Das war mein vorletztes. Wenn Manni die nächste richtige Antwort hat, ist Schluss mit lustig.«

Jeder bekam ein frisches Alt. Manni schob seins nicht beiseite. Hatte er die Größe des Glases zu schätzen gelernt? Biere, die schnell kippen, muss man schnell kippen, entsprechend klein sind die Gläser, in denen obergäriges Bier serviert wird.

»Es geht um die Wurst«, versicherte Käthe. »Pass auf: In Straelen wurden Mitarbeiter eines Lebensmittelunternehmens mit einer Statue geehrt. Der unbekannte Spargelstecher? Der Bofrost-Mann? Der Wilke-Wurstmaxe?«

»Wenn du schon so fragst: der Wurstmaxe.«

»Bedaure. Der Bofrost-Mann.«

»Aufs Glatteis geführt!« Ricky freute sich.

Manni schwieg und trank.

»Wenn du statt Alt eine Empfehlung für einen Kurzen willst, hilft vielleicht die nächste Frage: Ein Kempener Kräuterlikör heißt: Kempenkraut? Thomas Bitter? St. Hubert?«

»St. Hubert?«

»Bedienung! Einen Thomas Bitter für den Herrn hier!«, schrie ich. »Den spendiere ich dir!«

Was blieb Manni übrig, als sich zu bedanken und zu schlucken, was ihm vorgesetzt wurde?

»Wo wir schon mal dabei sind: Wo befindet sich das Underberg-Palais, Stammhaus der Spirituosenfamilie? In Schwalmtal? Brüggen? Rheinberg?«

»Was du für Leute kennst«, stöhnte Manni. »Schwalmtal?«

Käthe lachte. »Rheinberg! Der geht auf mich!« Sie winkte der Kellnerin und prostete Manni zu, als er den Underberg anhob und rülpste.

»Lieber wieder eine Brauerei-Frage? Seit 1878 hat sie ihren Sitz in Issum …«

»Diebels!«, schrie Manni triumphierend.

»Okay, das wars!« Käthe exte ihr Bier.

»Oooooh«, grölten wir alle, während Manni schon wieder die Toilette aufsuchte. »Wir haben doch erst eine Runde geschafft!«

Als Manni zurückkam, stand vor jedem Platz außer Käthes wieder ein Alt. Ich hielt den Zettel hoch, den Käthe mir anvertraut hatte. »Wir haben uns geeinigt. Käthe ist raus. Ich bin der neue Spielleiter und hab die nächste Runde geschmissen. Damit ich endlich auch mal zum Trinken komme.«

Manni sagte nichts.

»Jan. Etwas für die unter uns, die sich am liebsten von Haxe ernähren: Die Gemüsefirma Bonduelle hat ein Werk in Wachtendonk? Kerken? Straelen?«

»Leck mich«, kommentierte der. »Von mir aus, wo der Pfeffer wächst.«

»Wo nämlich?«

»Wachtendonk.«

»Mein Gott, bist du verstrahlt! Straelen, was sonst? Da steht das grüne Sofa!«

»Ich kenn’ nur meinen Stuhl. Und der ist braun«, maulte Jan und kippte sich sein Alt hinter die Binde. »Die Firma dankt.«

»Okay. Für den Tierliebhaber und damit die Günnekant auch mal zu ihrem Recht kommt: Welches ist die älteste der folgenden drei Düsseldorfer Brauereien: Füchschen? Uerige? Zum Schlüssel?«

»Bleib mir wech mit solchen Zaunpfählen! Damit kann Käthe Manni ködern, mich kannst du nicht vereimern!«

»Also?«

»Füchschen natürlich!«

Ich erhob mein Glas auf ihn und trank es leer. Als das neue vor mir stand, fuhr ich fort: »Ricky, sag du mir mal: Der Berliner Lebensmittelhersteller Kühne, Hoflieferant von Kaiser Wilhelm I., ist auch am Niederrhein vertreten – in Rheurdt, Straelen oder Kerken?«

»Irgendwann ist mal Schluss mit Straelen. Kerken!«

»Von wegen. Auf Straelen! Prost, Ricky!«

Ricky leerte sein Glas ohne Widerworte. Ließ das nächste kommen.

»Es geht weiter: ›Gulasch Alt‹ ist der Name eines traditionellen Gulaschrezepts aus Voerde? Eines Biers einer Brauerei in Düsseldorf-Oberkassel? Einer rustikalen Gaststätte in Wegberg-Watern?«

»Bestimmt die drei. Was keiner kennen kann.«

»Sorry. Das Bier.«

»Alles gut. Ich trinke gern. Mit euch. Auf euch.« Ricky tat’s und orderte.

»Los, jetzt bin ich aber wieder am dransten damit: ›Eier mit Speck‹ heißt eine Rockband aus Kamp? Ein Viersener Musikfestival? Eine Kultkneipe in Xanten?«

»Da war ich schon! Sehr cool. Da gibt’s morgens gegen den Kater Eier mit Speck. Das Festival natürlich.«

Ich ließ mir das kühle Bier in die Kehle rinnen. Wandte mich Manni zu.

»Und wieder unser Niederrhein-Fachmann. Wir sind gespannt, was er zu sagen hat. ›Muurejubbel‹ ist ein Name für Möhrenerntehelfer? Möhreneintopf? Möhrentransportkisten?«

Er stierte nachdenklich ins Bier. Riet schließlich: »Erntehelfer.«

»Sorry, es ist der Eintopf. Der Kandidat hat null Punkte! Darf sich aber den Abend schöntrinken. Wohl bekomm’s!«

Manni gehorchte. Glücklich sah anders aus. Das nächste Glas wurde vor ihm abgestellt. »Leute, ich muss morgen zur Arbeit«, sagte er lahm.

»Um Mitternacht schmeißen sie uns eh hier raus. Also reiß dich noch ein bisschen zusammen. Das weiße Gold vom Niederrhein, Manni: Kalk? Spargel? Champignons?«

»Kalk?«

»Menno, wie kann man so blöd sein, Manni! Ich hab gesagt, alles mit Schluckfaktor! Kannst du Kalk essen oder trinken?« Käthe konnte sich nicht mehr zurückhalten. »Außerdem wird in der Gegend gar kein Kalk abgebaut. Aber vor allem ist hier eins der größten Spargelanbaugebiete!«

Manni rülpste.

»Das Alt da vor dir, das hat Schluckfaktor. Und zwar ohne abzusetzen!«

Unter Käthes strengen Blicken trank er’s.

Ich hakte die Liste ab. »Wir machen jetzt den Countdown, Manni. Nur noch drei Fragen. Also drei Chancen, dich als zukünftiger Niederrheiner zu beweisen.«

Manni nickte beduselt. Die Kellnerin stellte das nächste Alt vor ihm ab.

»Es wird wieder süß: Wo werden Katjes produziert? In Niederkrüchten? In Grevenbroich? In Emmerich?«

Manni hickste.

Jan hielt die Hand hinters Ohr. »Kannst du das bitte wiederholen? Ich hab dich nicht verstanden.«

»Niederkrüchten!«, rülpste Mann.

»Mannomann, Manni! Ich glaube, wir müssen mit deiner Tante reden, dass sie dich umgehend enterbt.« Ricky drohte mit dem Finger. »In Emmerich natürlich!«

»In Emmerich wird nicht enterbt!«, stellte Jan fest. »Nun hört mal auf, den armen Jung zu ärgern. Komm, Manni, dein nächstes Alt geht auf meinen Deckel.« Er gab entsprechende Signale an die Kellnerin, die für Nachschub sorgte.

Manni sah zwischen dem Bier und Jan hin und her.

»Hallo! Hier spielt die Musik«, erinnerte ich. »Ich bin dein Quizmaster! Und ich frage dich, oh, Manni: Die niederrheinische Spezialität Flönz ist als Herkunftsbezeichnung EU-geschützt seit 1983? 2001? 2016?«

Manni schwieg.

»Komm schon! Vorletzte Frage: 1983? 2001? 2016?«

»Manni, probier’s«, rief Käthe.

»Ja, versuch dein Glück!« Das war Jan.

»Manni! Manni!«, skandierte Ricky, und wir anderen fielen ein: »Manni, Manni!«

»Sssweitausend…« Manni stockte.

»Na was? Sssweitausendeins oder -sechzehn?«, hakte ich nach.

Manni stierte mich blöde an. »Einssss«, sagte er, und alle johlten los.

»Sorry, 16 wär’ Ihr Preis gewesen«, sagte ich, als endlich wieder Ruhe einkehrte. »Also, dein vorletztes Bier. Die allerletzte Runde geht wieder auf mich. Wer will noch?«

Manni hatte Mühe, das Glas zu halten. Ricky musste helfen, damit er es nicht zwischendrin absetzte. Als er fertig war, stemmte er sich mühsam hoch und torkelte in Richtung Toilette. Er brauchte lange. Schließlich ging Jan ihm nach und kehrte kurz darauf zurück, den Arm um Manni gelegt, den er zu seinem Platz führte.

»Okay«, sagte ich. »Letzte Frage. Trommelwirbel bitte!«

Alle trommelten mit den flachen Händen auf den Tisch, dass das Alt überschwappte. Ich gebot Ruhe. »Manni! Wofür steht in der Sevelener Region der Begriff »hexen«? Jemanden bestechen? Die Zeche prellen? Sich betrinken?«

Manni stierte mich an.

»Los, ich will endlich auch mal was trinken!«

»Schbinbetrinken«, lallte Manni.

»Na, das war ja jetzt echt keine Hexerei!«, rief Jan.

»Endlich!« rief ich. »Prost, ihr Lieben!« Hob mein Boltens Alt an und kippte es herunter. Wer ein Bier vor sich hatte, tat es mir gleich.

Bis auf Manni. Der beugte sich über sein Glas und erbrach sich mitten auf den Tisch.

Wir hörten monatelang nichts von ihm. Was wir schon ein bisschen schäbig fanden. Schließlich hatten wir eine ganze Weile damit zu tun gehabt, den Wirt zu beschwichtigen und Manni nach Hause zu befördern, wo wir seine Tante aus dem Bett klingelten und ihr den Rest überließen.

An einem warmen Frühherbstnachmittag, als ich meine Tour beendet hatte und zum Picknick-Biergarten stiefelte, sah ich ihn unverhofft mit Käthe und Jan an einem der Tische sitzen.

»Oh, wie kommt es, dass du uns hier gefunden hast?«, fragte ich.

Er strahlte. »Ich hab mal angeklopft, ob sie bei euch nicht einen Fahrer brauchen. Hab nächste Woche ein Vorstellungsgespräch.«

»Oh.« Ich guckte Jan und Käthe an. Die guckten weg.

Zum Glück stieß in dem Moment Ricky dazu. »Hey, Leute!« – Sein Blick fiel auf Manni. »Oh, Manni! Auch wieder im Lande?« Er bestellte ein Bier und setzte sich.

»Wo hast du dich die ganze Zeit rumgetrieben, Mann?«, fragte ich.

Käthe sah mich an und schüttelte den Kopf.

Mannis Lächeln war verschwunden. »Ich hatte ein bisschen Urlaub.«

»Unbezahlt«, warf Jan ein.

»Wie! Wieso das denn?«

Käthe mischte sich ein. »Er hat’s uns gerade erzählt. Sie haben ihn an dem Morgen nach unserer Sauferei angehalten. Zu viel Restalkohol im Blut. Drei Monate Führerschein weg. Es war nicht das erste Mal.«

»Oha!«, sagte ich. »Konnte ja keiner ahnen, dass du so wenig verträgst.«

»Ich musste zur MPU«, sagte Manni.

»Was ’n das? Kann man das essen?«

»Demnächst machen wir mal so ein Quiz mit dir, Käthe«, sagte ich. »Dann geht es um die wirklich wichtigen Dinge. Medizinisch-Psychologische Untersuchung, Menno. Der Idiotentest.«

»Und, bestanden?«, fragte Jan interessiert.

»Ich hab den Lappen zurück. Und hab mich qualifiziert. ECO-Fahrsicherheitstraining.« Es klang stolz. »Da lernt man noch mal viel über Fahrphysik, Sicherheitstechnik, alle möglichen Bestimmungen und so. Ich darf jetzt die neueste Modellreihe fahren, die wir haben. Hab eurem Chef gerade nahegelegt, dass er euren Fuhrpark auf den aktuellen Stand bringt.«

»Oh, da hat der sich bestimmt gefreut«, meinte ich. »Das will er dann sicher mit dir vertiefen bei dem Vorstellungsgespräch.«

»Echt?«, fragte Ricky. »Du hast ein Vorstellungsgespräch bei unserem Chef?«

Manni nickte.

»Ich freue mich ja, wenn wir topmoderne Lieferfahrzeuge kriegen«, meinte Jan. »So mit Nasszelle und Sauna und 3-D-Kinoleinwand …«

»Also bei Fernfahrern gibt es das ja teilweise schon«, meinte Manni. »Da kann der Fahrer sowieso die meiste Zeit chillen, der LKW regelt alles von allein. Ich meine, der Trend zu selbstfahrenden Autos ist ja nicht aufzuhalten.«

»Ich spüre gerade irgendwie einen unaufhaltsamen Trend zu einer fetten Haxe«, meinte Jan. »Was meint ihr? Verlegen wir unseren Standort in Richtung ›Goldenes Handwerk‹?«

Unterwegs schwärmte uns Manni weiter von seinem Lieferwagen vor. Mit Pilotassistent, Einparkassistent, Spurhalteassistent und allem möglichen Assi-Schrumms mehr.

»Wenn der das meiste doch jetzt von selbst macht«, sagte ich, »dann dürfte das mit dem Alkohol am Steuer ja bald kein Problem mehr sein.«

Da widersprach er heftig. Ich glaube ja, dem hatten sie bei dieser MPU gehörig das Gehirn gewaschen.

Beim Essen wurde noch ein bisschen gefachsimpelt. Aber eigentlich waren alle gut drauf. Irgendwo denkt man ja schon manchmal selbst, dass es nicht immer so nett ist, wie man mit anderen umgeht. Also mit solchen. Also speziell mit Manni. Ja, es beschäftigt mich immer noch. Warum? Warum nerven einen Leute dermaßen, die doch einfach nur ein bisschen blöd sind. Und aufdringlich. So ein Typ Mensch, der sich an andere ranwanzt, obwohl die nur ihre Ruhe haben wollen. Der auf das Häuschen seiner Tante scharf ist … Wer hat schon eine Erbtante? Und kriegt trotzdem nichts gebacken im Leben. Versager durch und durch. Und ausgerechnet so jemandem schmeißen die alles nach. Jemand anderes mit einem Lieferjob wäre bei einem Fahrverbot sofort hochkant rausgeflogen. Und der? Kriegt die neue Modellreihe unter den Arsch. Okay, das mit dem unbezahlten Urlaub … ändert nichts am Armleuchter.

Irgendwann fiel das Stichwort »Hexerei«. Vielleicht war es das, was das Ganze wieder – auf Neudeutsch – getriggert hat. »Überhaupt keine Hexerei dabei«, sagte Manni. »Nur Technik, alles Algorithmen.« So ein selbstfahrendes Auto wäre tausendmal rationaler als ein menschlicher Fahrer. Der wäre unaufmerksam, unbeherrscht, würde sich über- und Situationen falsch einschätzen …

Ich bin mir sicher, diese Sprüche sind jedem von uns an die Nieren gegangen. Wir sind alle Eins-a-Fahrer. Beherrschen das Auto und kritische Situationen aus dem Effeff und haben, was früher mal »siebter Sinn« hieß. Man muss ein Gespür entwickeln im Verkehr. Ich wette, man könnte ein Auto von oben bis unten vollpumpen mit Chips, und das käme niemals an uns dran. Und das ist genauso wenig Hexerei. Das ist Erfahrung, Verstand, Kombinationsgabe und Instinkt. Wenn man sich besäuft, klar, dann schaltet man das aus. »Sich betrinken« heißt nicht umsonst »hexen« hierzulande.

Ja, und Käthe hat das mit ihren Fragen immer weiter angeheizt. Ob das Auto das kann und das kann. Bis der Manni irgendwann sagte, er könne mit verbundenen Augen fahren. Sich voll auf seinen Assi verlassen. Er würde es uns beweisen. Ein Stückchen raus aus Korschenbroich, da an der L 382, dem Zubringer zur A 52, Richtung Düsseldorf, eine Strecke von vier Kilometern, also die Willicher und Korschenbroicher Straße. Wir könnten gerne in zwei Wagen vorneweg und hinterherfahren. Dann würde sein Assi – also der Abstandshalteassi – sich an dem vorausfahrenden Fahrzeug orientieren und automatisch das Tempo drosseln, was normalerweise durch den Tempomat so eingestellt wäre, wie es gerade erlaubt ist zu fahren, Landstraße halt 100 Stundenkilometer. Und der Fahrspurassi, der würde sich an den Seitenstreifen orientieren. Und er, Manni, säße mit verbundenen Augen in seinem Lieferwagen so sicher wie in Abrahams Schoß.

Na ja, und das haben wir schließlich tatsächlich gemacht. Jan und Käthe in Jans Auto vorneweg. Dahinter der Manni mit seinem tollen Töfftöff. Als Schlusslicht ich mit meinem Büschen und Ricky. An dem Weinhaus hinter der Bahntrasse haben wir am Straßenrand angehalten und nach dem Manni geguckt. Der hat aus dem Verbandskasten das große Dreieckstuch geholt und sich hinterm Steuer damit die Augen verbunden. Der Jan hat geprüft, ob der Knoten sitzt, und schon ging’s los. Ganz brav im Konvoi. Bis zu der Stelle, etwa auf der Mitte der Strecke, wo die die Asphaltdecke gerade erneuert hatten. Da gab’s halt keine Fahrbahnmarkierung. Und genau dort ist der Jan einem Feldhasen ausgewichen, das war nur ein kurzer Schlenker, die Käthe kann es bezeugen. Na, und dann haben diese blöden Assis sich ihr Teil gedacht. Jedenfalls haben wir uns das später so erklärt. Also der eine, der den Abstand zu Jans Auto einhalten wollte, hat halt auch eingeschlagen. Und weil der Jan das Steuer gleich wieder rumgerissen hat, hat der Abstandsassi gedacht: Oh, cool, Strecke frei, ich brauch gar nicht mehr zu bremsen. Und hat das Tempo aufgedreht. Der Seitenstreifenassi hat sich gedacht: Wo ist denn der Seitenstreifen? Keiner da? Also fahr ich einfach mal geradeaus. Mit 100 Stundenkilometern. Der Laster ist also volle Pulle ins Feld gerast. Über die Böschung gehoppelt und dann war da der Fluitbach. Und weil das die letzten Tage so richtig fett geregnet hatte, war darin verdammt viel Wasser. Nachdem der LKW sich einmal überschlagen hat, ist der sozusagen mit der Nase im Wasser gelandet. Wir haben natürlich ein bisschen gebraucht, ehe wir aus den Autos raus und da hingerannt waren. Im Stockdunkeln. Aber die Käthe hat uns mit der Smartphone-Taschenlampe den Weg geleuchtet. Bis zu dem LKW, kopfüber im Bach. Das komplette Fahrerhaus unter Wasser. Wir haben noch versucht, da ranzukommen. Der Jan ist echt ins Wasser gestiegen, obwohl man doch rein gar nichts sehen konnte und den Wagen nur mit schwerem Gerät hätte bergen und öffnen können. Plötzlich hat die Käthe wie am Spieß geschrien, bis der Jan ihr einen tüchtigen Schwall Wasser ins Gesicht gespritzt hat. Wir anderen haben gar kein Wort rausgekriegt vor Schreck. Wir haben uns angeguckt und schließlich hat Ricky gesagt: »Scheiße. Was erzählen wir bloß der Polizei?«

Dazu wussten wir schon gar nichts zu sagen.

Bis der Jan gemeint hat: »Wieso Polizei? Von dem Unfall hat doch keiner was mitgekriegt. Und uns hat niemand gesehen. Und dem Manni ist eh nicht mehr zu helfen.«

Und das haben wir eine Weile sacken lassen, haben uns umgeguckt, sind zu den Autos und weg.

Seitdem denke ich darüber nach, dass der Manni an dem Tag die Tour über die andere Rheinseite gefahren war. Also die Günnekant runter bis Köln, danach über die A 1 und A 59 nach Grevenbroich und weiter hoch. Das heißt, er war die Strecke von Korschenbroich nach Düsseldorf an dem Tag nicht gefahren und konnte nicht wissen, dass sie die L 283 an der Stelle neu asphaltiert hatten. Wir anderen wussten es aber. Und als der Manni uns von dem Seitenspurassistenten erzählt und die Strecke vorgeschlagen hat, da hätten wir es ihm sagen können.

Hat aber keiner.

Warum wohl?

Königswette

Wir hatten gewettet. Wer von uns es weiter über den Rhein schaffte. Natürlich wusste ich, dass es saugefährlich war. Deswegen hatte ich ja gerade gewettet – und das Beiboot organisiert. Ich wollte, dass er kapiert, was er sich da vorgenommen hatte. Immerhin war Lars, der es fuhr, nicht ganz so besoffen wie Leander, aber immer noch deutlich mehr als ich. Das wurde mir spätestens in dem Moment ziemlich übel bewusst, als ich nach kaum einem Drittel der Strecke schlappmachte und Lars das verabredete Zeichen gab: Peace, Bruder. Ein V mit dem rechten Zeige- und Mittelfinger, die ich mit letzter Kraft aus dem Wasser streckte. Der Dödel winkte fahrig zurück, grinste blöd, beugte sich über die Reling, erbrach sich und fiel seinem Verdauungsgut gleich hinterher. Der Wellengang war wohl zu viel für ihn gewesen. Immerhin schaffte er es, sich an der Bordwand festzuklammern.

Diese Strömung! Man kann sich gar nicht vorstellen, was da für Kräfte an einem ziehen! Es riss mich immer weiter weg. Ich kämpfte darum, den Kopf über Wasser zu halten. »Lars, du Arsch!«, schrie ich. Aber erstens war es sowieso für den Arsch, und zweitens machte es alles nur noch schlimmer, weil das Brüllen mich viel Kraft kostete. Was für eine idiotische Idee zu glauben, es bis ans andere Ufer zu schaffen! Für mich gab es jetzt ein einziges Ziel: in der Nähe des Bootes zu bleiben, dessen Motor ausgesetzt hatte, sodass es mitsamt seinem Bootsführer flott flussabwärts trieb. Und Leander? Als wenn ich mich in dieser Lage um den hätte kümmern können!

*

Gewettet hatten wir von klein auf. Lars und ich. Eigentlich war das Erwins Schuld. Lars lernte Erwin erst nach der Grenzöffnung kennen. Bis dahin hatte es immer geheißen: »Frag nicht.« Über die Großeltern erfuhr er immerhin, dass er ein Mitbringsel von der Abschlussfahrt seiner Mutter nach Berlin war. Zehnte Klasse. Nach einer Lehre als Verkäuferin ließ sie sich vom Abteilungsleiter schwängern, heiratete und zog bei den Großeltern aus. Der Stiefvater adoptierte Lars, und als der schon fast vergessen hatte, dass er mal unter einem anderen Namen firmiert hatte, saß ein fremder Mann am Küchentisch und seine Mutter sagte: »Gib deinem Vater die Hand.«

Erwin hatte in Ost-Berlin Schlosser gelernt, war über eine Leiharbeitsfirma an eine Duisburger Werft gekommen und holte Lars am Wochenende zu Ausflügen ab. Da Lars und ich alles zusammen machten, kam ich mit. Wir saßen auf den Rheinbuhnen, ließen flache Steine titschen, wetteten, wie oft sie auf der Wasseroberfläche auftrafen, angelten, wetteten, welcher Art und wie schwer der Fisch war, der anbiss, stromerten mit Metallsonden am Ufer und auf dem Gelände hinter der Werft herum und wetteten, sobald sie anschlugen, worum es sich handelte. Abenteuer pur.

Dabei nahm uns Erwin gleich doppelt aus: Wir verloren einen Großteil unseres Taschengelds beim Wetten. Und waren billige Arbeitskräfte: Er sammelte Metallschrott, den er vertickte. Auch der Fischfang landete komplett in seiner Kühltasche, weil es ja seine Angeln und Detektoren waren. Uns war das herzlich egal.

Am Tag nach der Abifeier klingelte es bei mir Sturm. Ich öffnete die Tür meines Einliegerappartements und bat Lars in die Küche, wo ich zwei Flaschen Alt und einen Eisbeutel aus dem Kühlschrank klaubte und mich an die Frühstücksbar lehnte.

Lars ignorierte meinen verkaterten Zustand geflissentlich. Er knallte etwas auf die Theke, das sich bei näherer Betrachtung als Sparbuch entpuppte. Jemand hatte es gelocht und mit mehreren Schnitten versehen. Ich klappte es auf und registrierte regelmäßige monatliche Eingänge über die Jahre 1990 bis ’94 von um die 500 Euro – und einen Betrag von knapp 20.000 Euro, letzte Woche abgehoben, woraufhin das Sparbuch aufgelöst worden war. Ich blätterte zurück: Erwins Name.

»Und?«, fragte ich.

Lars schnaubte. »Mein Geld. Er hat es mir immer wieder gezeigt und gesagt, er zahlt meinen Unterhalt da ein. Ich dürfte es meiner Mutter nicht verraten, der gegenüber er behauptete, er könnte nichts für mich abdrücken. Er wollte nicht, dass sie es sich unter den Nagel reißt. Mir stattdessen damit das Studium finanzieren.«

»Und jetzt?«

»Ich hab ihm wie vereinbart das Zeugnis gezeigt, und er hat mir das Sparbuch ausgehändigt. Es täte ihm leid, aber er hätte das Geld selbst dringend gebraucht.«

»Wofür?«

»Meinst du, das hätte ich gefragt?«, meinte Lars. »Der hat mich jahrelang beschissen – wie er meine Mutter beschissen hat. Und ich hab ihn gedeckt und ihm sogar dabei geholfen – du genauso!«

»Hä?«

»Überleg mal, was wir für den aus dem Boden geholt haben! Der hat das samt und sonders versilbert. Und mir erzählt, dass er es für mich anlegt!«

All die Jahre haben wir uns weiterhin getroffen. Und gesoffen. Und gewettet. Soweit es ihn selbst anging, ließ Lars sich dadurch nicht herausfordern. Er hat nie studiert. Seine Ausbildung nicht beendet. Aber auch wenn unsere Welten auseinanderdrifteten – er blieb mein bester Kumpel.

*