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Paranormale Romance Livia und Asgard sind durch das Zeittor gereist, um die Intrige gegen Roga und Santuin aufzuhalten. Während sich Asgard der Häscher-Garde von Sacre Nuit anschließt, wird Livia in den Kreis des Lykaner-Clans MacFist auf Drumrig Castle aufgenommen. Beide müssen erkennen, dass Seelenbande oft stärker sind als Zeit und Raum und Intrigen an jeder Ecke lauern. Freund und Feind sind kaum mehr voneinander zu unterscheiden. Dabei läuft ihnen allmählich die Zeit davon, denn die Hitze des Sommermondes ist nah und ihre Gegner haben längst noch nicht alle Trümpfe ausgespielt. Kann ihre Liebe stärker sein als alle Widrigkeiten und am Ende selbst den Tod überwinden?
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Inhaltsverzeichnis
Rückkehr
Trennung
Geheimnisse
Wiedersehen
Konflikte
Erkenntnis
Bedrohung
Hoffnung
Wahrheit
Wagnis
Schicksal
Epilog
Danksagung
Die Autorin
Kostenloses Exemplar
Tanya Carpenter
LYCANIC MOON
Sommermond-Dilogie
Band 2
Impressum
© by Ashera Verlag 2018
Ashera Verlag GbR
Alisha Bionda & Annika Dick
Hauptstr. 9
55592 Desloch
Covergrafik: iStock (www.istockphoto.com) & Fotolia (www.fotolia.com )
Innengrafiken: Fotolia (www.fotolia.com)
Coverlayout: Atelier Bonzai
Lektorat & Satz: TTT
Originalausgabe.
Alle Rechte vorbehalten
www.ashera-verlag.net
ISBN: 978-3-948592-06-6
Für Merlin – in Erinnerung
Januar 1707, Sacre Nuit, Schottland
Der Wind zerrte an ihrer Kleidung, als wolle er ihnen diese vom Leib reißen. Die Burg war von einer dicken Schicht Eis und Frost überzogen und die Luft roch nach Schnee. Die Wälder ringsherum, soweit Livia es durch ihre zusammengekniffenen Augen erkennen konnte, waren kahl und weiß. Wenigstens hatte der Zeittunnel ihnen nicht das Bewusstsein genommen. Angenehm war aber weder die Reise noch die Ankunft.
Diese Passage hatte sie nicht in die Sicherheit der Höhlen unter der Burg gebracht, sondern direkt auf ihre Zinnen. Nicht in die Hitzeperiode kurz vor dem Sommermond, sondern in eine gefühlte Eishölle. Livia musste zugeben, dass ihr Baumwollshirt hier nicht geeignet gewesen wäre. So ungewohnt das schottische Kleid und der wollene Umhang auch waren, diese Kleidungsstücke trotzten immerhin halbwegs erfolgreich der beißenden Kälte. Sie wusste nur nicht, wie lange das so sein würde. Außerdem sah der Plan vor, möglichst rasch das Innere der Burg aufzusuchen und dort einen passenden Platz zu finden, um sich in die Ereignisse einzufügen.
„Die Winterstürme“, rief Asgard gegen die Böen an. „Sie sind rau und hart. Aber immerhin verschafft uns das ein recht großes Zeitfenster.“
Genau genommen spielte ihnen dieses Wetter gleich mehrfach in die Hände, denn niemand – nicht einmal die Wachen – befand sich draußen auf den Burgzinnen oder auch nur im Innenhof. Alle hatten sich vor dem scheußlichen Wetter ins Innere von Sacre Nuit verzogen. So fiel ihre Ankunft nicht auf und sie konnten sich ungesehen in die Burg schleichen.
Asgards Kenntnis der Anlage kam ihnen auch dieses Mal zugute. Mit gesenkten Köpfen, damit ihnen der beißende Wind nicht den Atem nahm, kämpften sie sich voran, benutzen eine uralte Treppe, die sichtlich in Vergessenheit geraten war, um an eine kleine Holztür zu gelangen, durch die sie einen ruhigen Abschnitt der Burg betreten konnten. Livia atmete auf, als Asgard die Tür schloss und damit Eis und Sturm aussperrte. Er musste sich mit aller Kraft gegen die Naturgewalt stemmen, die mit dem morschen Holz umging, als sei es nur ein Stück Papier. Aber endlich gelang es ihm, den Riegel vorzuschieben und sie waren fürs Erste im Trockenen. Kalt war es dennoch. Livia zitterte und rieb sich über die Arme. Ihre Zähne klapperten aufeinander.
„Niemand benutzt diesen Zugang mehr. Darum sind hier keine Fackeln. Und die Wärme der Kaminfeuer dringt nicht bis hierher.“ Asgard verzog entschuldigend das Gesicht. „Ich fürchte jedoch, dass dir auch in den anderen Bereichen der Burg kalt sein wird, denn die Mauern speichern kaum Wärme und man ist sparsam mit dem Feuerholz. Mit der behaglichen Wärme moderner Zentralheizungen ist es leider nicht zu vergleichen.“
Das hatte sie auch nicht erwartet. Dennoch graute es ihr bereits, wenn sie daran dachte, wie lang der Winter womöglich noch anhielt. Der wollene Umhang, den Nyxara ihr mit dem Kleid überreicht hatte, wärmte nur spärlich, und noch immer kämpfte Livia mit den Nachwehen der Vergiftung. Aber sie biss die Zähne zusammen und bemühte sich um ein tapferes Lächeln. Sie wollte Asgard nicht auch noch mit ihrem Unbehagen belasten, wenn man daran sowieso nichts ändern konnte.
„Es geht schon.“
Er küsste sie innig und zog sie fest an sich. Einen Augenblick wärmten sie einander, ehe Asgard sie weiter in die Burg führte. Gottlob wurde es tatsächlich wärmer, als sie in die mit Fackeln erhellten Bereiche kamen.
An einem Treppenaufgang blieb er schließlich stehen und fasste sie bei den Schultern. Sein Blick war ernst, Livia spürte einen Kloß in ihrer Kehle, obwohl – oder gerade, weil – sie ahnte, was jetzt kam.
„Auch wenn ich verstehen kann, dass du nach der letzten Erfahrung garantiert nicht sehr begeistert davon bist, werden wir uns wieder trennen müssen.“
Sie wollte widersprechen, doch er legte ihr einen Finger an die Lippen und lächelte ermutigend.
„Zweifle nicht an dir. Du hast es das letzte Mal sehr gut gemacht. Für das, was im Festsaal geschehen ist, trägst du keine Schuld. Wir dürfen nicht zu eng beisammenbleiben, wenn wir keinen Verdacht erregen wollen. Vergiss nicht, dass es hier und heute ungewöhnlich ist, wenn ein Vampir und eine Werwölfin wie ein Paar auftreten.“
„Das ist es in unserer Zeit erst recht.“
Er lächelte und strich ihr das Haar zurück. „Ich weiß. Aber dort sind wir sowieso Ausgestoßene. Hier dürfen wir kein Misstrauen erwecken, sonst gefährden wir unser Vorhaben.“
„Ich finde mich ohne dich aber nicht zurecht“, wandte sie ein und klang selbst in ihren eigenen Ohren jämmerlich. Sie hatte Angst, mehr denn je.
„Das musst du auch nicht. Keiner der Werwölfe kennt sich in Sacre Nuit besonders gut aus. Du fällst also in deiner Unwissenheit nicht auf und kannst dich unbesorgt durchfragen, wenn du irgendwohin willst. Als Gäste waren die Lykaner zum jetzigen Zeitpunkt nicht selten. Und als Frau wird man dir glauben, dass du lediglich deinen Mann oder deinen Vater begleitet und dich dann in der Burg verlaufen hast, während er hier seinen Geschäften nachging. Wenn du in eine Situation gerätst, wo es gefährlich wird, dich durchzufragen, musst du dich eben auf deine gute Nase verlassen.“ Er tippte ihr neckend an selbige. „Hab keine Angst. Es wird schon alles gut gehen. Sobald wir uns einen Überblick verschafft haben, finde ich dich. Und ich versuche, ein geeignetes Versteck für uns zu finden. Die Zeremonie ist erst in einigen Monaten. Bis dahin droht dir kaum Gefahr. Wir sollten versuchen, so viel wie möglich herauszufinden. Jedes Detail kann wichtig sein.“
Sie wusste, dass er nach wie vor Cordova verdächtigte, aber bei allen Argumenten, die Asgard vorbrachte, konnte sich Livia das nicht vorstellen. Er würde doch nicht seine eigene Familie derart in Gefahr bringen. Nur kam ihr ein anderer Täter bisher auch nicht in den Sinn. Sie musste an den jungen, verwirrten Vampir denken, der sie zum Festsaal gebracht hatte. Vielleicht fand sie ihn ja wieder und konnte ihn behutsam ausfragen. Irgendwie wurde sie das Gefühl nicht los, dass er mehr wusste, als er preisgegeben hatte.
Auch wenn es ihr schwerfiel, ließ sie Asgard schließlich gehen. Unschlüssig blieb Livia stehen, blickte sehnsüchtig in die Richtung, in der Asgard verschwunden war und in die entgegengesetzte. Schließlich atmete sie tief durch und nahm all ihren Mut zusammen.
Es war leichter als erwartet. Auch wenn sie sich mit der Sprache nach wie vor schwertat, begegneten ihr sowohl Vampire als auch Lykaner mit weniger Misstrauen als beim letzten Mal. Vielleicht lag es an ihrer Einstellung. An ihrer Haltung, die – jetzt in angemessener Kleidung und nicht länger genötigt, ihre Weiblichkeit zu verbergen – aufrecht und souverän wirkte. Wie es in ihr aussah, ahnte ja niemand.
Livia fühlte sich unsicher ohne Asgard an ihrer Seite. Das gesamte Gemäuer jagte ihr Furcht ein. War Feindesland. Noch dazu weit entfernt von dem Zeitalter, in dem sie sich auskannte. Dreihundert Jahre weit entfernt. Sie fühlte, wie ihr Herz bei diesem Gedanken zu rasen begann. Das Bewusstsein, dass sie hier in diesem Jahrhundert noch nicht bis aufs Blut mit den Vampiren verfeindet war, nutzte ihr wenig. Zu tief saß ihre Ausbildung, der jahrelange Drill und die eingepflanzten Dogmen. Sie spürte die Blicke der Vampire, die ihr begegneten, wie Pfeile, glaubte jedes Mal einer Prüfung unterzogen zu werden und fürchtete, man könne sie einfach gefangen nehmen und einsperren. Oder Schlimmeres. Die äußere Fassade von Ruhe und Gelassenheit aufrechtzuerhalten, kostete sie mehr Kraft, als gut für sie war.
Die wenigen Lykaner, die ihr über den Weg liefen, grüßten sie freundlich, aber zu ihrem Glück verwickelte sie niemand in ein Gespräch. Egal, was man sie fragen oder was man sagen würde, Livia sah sich außerstande zu antworten, ohne Zweifel bei ihrem Gegenüber zu erwecken, da sie ja keinerlei Wissen über das Leben hier besaß.
Auch die Gerüche machten sie wahnsinnig. Sie war den scharfen Gestank nach Urin und Exkrementen nicht gewohnt. Den sauren Schweiß, der davon zeugte, dass es hier keine luxuriösen Badewannen mit wohlriechenden Zusätzen gab. Die Steine waren feucht, das Stroh, mit dem man die Gänge ausgelegt hatte, stank nach Ratten und deren Hinterlassenschaften. Aus der Küche drangen Essensgerüche herauf, die dieses Mal alles andere als appetitlich waren. Am Tag der Hochzeit war alles sauber und ordentlich gewesen. Vermutlich frisch gereinigt wegen der vielen Gäste und der Feierlichkeit an sich. Aber dies hier war Alltag und Livia bekam einen deutlichen Eindruck davon, dass das Leben Anfang des 18. Jahrhunderts schmutzig und alles andere als keimfrei war.
An einigen Stellen kämpfte sie mit aufsteigendem Brechreiz. Sie begriff, dass sie sich dann jeweils in der Nähe eines Aborts befand. Gerade als sie wieder solch einen Bereich passierte und sich den Ärmel ihres Kleides vor Mund und Nase hielt, um sich nicht an Ort und Stelle zu übergeben, rannte sie einem Mann in die Arme.
Erschrocken taumelte Livia zurück und rang nach Luft, was sie sogleich bereute, da eine weitere Welle der Übelkeit sie überrollte. Sie murmelte eine Entschuldigung und verfluchte sich dafür, dass sie nicht aufgepasst hatte, wo sie hinlief. Doch zu ihrer Überraschung, fing der Fremde ob ihrer Verlegenheit an zu lachen.
Sie hob den Blick und ihre Augen wurden groß. Es war ein Lykaner, mit dem sie zusammengestoßen war. Doch nicht irgendeiner. Ihr Herz setzte einen Schlag aus.
„Oh verzeiht, Mylady“, entschuldigte er sich für sein unhöfliches Benehmen. „Da bringe ich Euch in Verlegenheit und vergesse doch tatsächlich, mich vorzustellen. Ich bin Santuin MacFist, aus dem Fürstengeschlecht der MacFist.“
„Ich weiß.“ Die Worte waren ausgesprochen, ehe Livia hatte nachdenken können. Sie biss sich auf die Lippen, als ihr klar wurde, welchen Fehler sie damit begangen hatte. Santuin runzelte augenblicklich die Stirn. Verständlich, denn da er sie nicht kannte, musste es für ihn sehr verwunderlich sein, dass sie wusste, wer er war.
„Ich glaube, ich muss Euch erneut um Verzeihung bitten, Mylady, denn wenn wir einander bereits vorgestellt wurden, dann gestehe ich zu meiner Schande ein, dass ich Euren Namen vergessen habe.“
Livia räusperte sich und überlegte fieberhaft, wie sie sich herausreden sollte. Schließlich entschied sie sich für eine Halbwahrheit, die hoffentlich auch einiges andere erklären konnte.
„Wir sind einander noch nicht vorgestellt worden, da kann ich Euch beruhigen. Ihr seid mir lediglich von einem Bild bekannt. Ich bin erst vor wenigen Tagen hier angekommen. Meine Reise führte mich über den Ozean.“
Freudige Überraschung machte sich auf Santuins Miene breit. „Ihr kommt aus den Kolonien? Seid Ihr zur Hochzeit angereist?“
Erleichtert griff Livia den Faden sofort auf. „Ja. Stellvertretend für unsere Familie.“
Er grinste breit. „Dann weiß ich auch, von welchem Bild Ihr sprecht. Dieses unsägliche Porträt von mir und meiner Braut. Mein Onkel bestand darauf, obwohl ich es völlig unsinnig fand. Und meine arme Schwester hat sich dafür die Finger wund malen müssen.“
Sie fiel in sein Lachen mit ein und war dankbar, dass ihre Lüge aufgegangen war.
„Nun ja, immerhin seid Ihr gut getroffen, sonst hätte ich Euch nicht sogleich erkannt.“
Ein schelmisches Zwinkern war seine Antwort. „Dass Ihr zu meiner Familie gehört, hätte ich mir gleich denken können. Und Eure ungewöhnliche Sprache erklärt sich nun auch, wenn ihr aus Amerika angereist seid. Aber sagt, ist es nicht recht ungewöhnlich und riskant, dass eine Frau allein diese weite Reise antritt? Oder sind Euer Gatte oder Vater hier irgendwo in der Burg?“
Sie hob beschwichtigend die Hände. „Ich muss Euch Recht geben, üblich ist es sicher nicht. Und in der Tat bin ich allein gereist. Doch in der neuen Welt sind wir Frauen weitaus selbstständiger. Und es ließ sich nicht anders regeln. Mein Vater ist leider kürzlich verstorben und meine Mutter von kränklicher Natur, weshalb sie die lange Reise nicht antreten konnte. Unsere finanziellen Mittel sind begrenzt, daher ist es mir unmöglich, einen Diener oder eine Zofe als Begleitung zu entlohnen.“
Die Worte kamen mit einem Mal erfreulich leicht über ihre Lippen. Die altertümlichen Worte gingen ihr schneller als gedacht in Fleisch und Blut über.
Mit ihrer erwählten Lüge erklärte sich ihre Unwissenheit ebenso wie ihr Akzent. Dann musste sie nicht länger fürchten, deswegen anzuecken. Santuin sprach nicht in diesem seltsamen Singsang, den man, wie Asgard ihr erklärt hatte, Gälisch nannte. Das war ihr schon im Wald aufgefallen. So war es leichter für sie, sich mit ihm zu unterhalten. Nach dem ersten Schock der Begegnung mit dem Lykanerprinzen wagte sie zu hoffen, dass diese womöglich ein Glücksfall für sie wurde, wenn sie jetzt keinen Fehler mehr machte.
„Es tut mir sehr leid für Euch und für Eure werte Frau Mutter. Bitte erlaubt mir, Euch meine Dienste anzubieten. Es soll Euch an nichts fehlen, solange Ihr hier seid.“
Livia errötete. Dieses Angebot durfte sie wohl kaum ablehnen. Doch wie sollte sie dann hier in Sacre Nuit bleiben, wenn Santuin wieder auf seine eigene Burg zurückkehrte?
Dennoch nickte sie. „Das ist sehr freundlich von Euch.“ Immerhin war der langfristige Plan ohnehin gewesen, sie zur Burg der Lykaner zu bringen.
Santuins Lächeln war voller Wärme und Freundlichkeit. „Es ist mir eine Ehre. Nachdem Ihr solche Mühen auf Euch genommen habt, um an meinem glücklichsten Tag zugegen zu sein.“
Plötzlich runzelte er die Stirn, was Livia sofort wieder alarmierte.
Dann fragte er jedoch nur. „Bevor ich eine dritte Unhöflichkeit begehe, wärt Ihr so freundlich, mir Euren Namen zu nennen?“
Nun musste Livia lachen. „Ich denke, die Unhöflichkeit liegt in diesem Fall wohl eher auf meiner Seite. Ich bin Livia. Livia Duprés.“
Diesen Namen hatte sie in Kanada schon einmal angenommen. Die erdachte Geschichte dahinter ließ sich leicht in die jetzige Zeit übertragen.
„Ich kann nur wiederholen, es ist mir eine Ehre Lady Livia.“
Er verbeugte sich galant und Livia machte einen höflichen Knicks, auch wenn sie nicht wusste, ob das tatsächlich so üblich war. Santuin bot ihr seinen Arm und nachdem sich Livia untergehakt hatte, setzte Santuin seinen Weg gemeinsam mit ihr fort.
„Ich war gerade auf dem Weg zum Speisesaal. Wolltet Ihr auch etwas essen?“
Essen klang verlockend, daher nickte Livia rasch.
„Ich nehme an, Ihr seid wegen des Sturmes auf Sacre Nuit eingekehrt, statt direkt nach Drumrig Castle zu reiten. Wo hat Lord Darwin Euch vorübergehend untergebracht?“
Es durchzuckte Livia wie ein Schlag, dass sie nicht bedacht hatte, hier kein Zimmer für die Übernachtung zu haben. Hastig grübelte sie, wie sie sich herausreden konnte.
„Oh, ich habe noch kein Zimmer, ich … ich bin erst heute Morgen angekommen.“
Hoffentlich tobte der Sturm nicht schon seit mehreren Tagen derart heftig.
„Sagtet Ihr nicht eben, ihr wäret vor einigen Tagen angekommen.“
Dieses Mal schaltete sie schneller. „Ja, das sagte ich. Damit meinte ich, hier in Schottland. Sacre Nuit erreichte ich heute und suchte hier Zuflucht vor dem Wetter. Ich hatte jedoch gehofft, rasch weiterreisen zu können und kein Zimmer zu benötigen.“
„Ja, der Sturm ist scheußlich. Obwohl er seit gestern schon milder geworden ist. Die Tage zuvor waren die reinste Winterhölle. Nun, ich würde fast sagen, dann ist es wohl Schicksal, dass wir uns begegnet sind. Denn eigentlich wollten wir schon gestern abreisen, dieser entsetzliche Sturm hat uns hier festgehalten. Nun wird es mir eine Ehre sein, Euch nach Drumrig Castle zu geleiten, Lady Livia, sobald das Wetter es zulässt.“
Asgard kämpfte mit seinem schlechten Gewissen, weil er Livia erneut sich selbst überließ. Es war nicht so, dass er ihr nicht zutraute, ohne ihn zurechtzukommen, aber sie war gesundheitlich immer noch geschwächt. Er musste unbedingt ein gutes Versteck finden. Vielleicht konnte sie dann dort bleiben, während er sich umhörte. Sie musste ja nicht sofort nach Drumrig Castle. In ein paar Tagen fühlte sie sich bestimmt sicherer. Weniger besorgt, Fehler zu machen.
Die Sache mit dem verrückten Jungen ging ihm nicht aus dem Kopf. Er war so lange auf Sacre Nuit gewesen, aber ihm war keiner begegnet, den man als verwirrt oder irre bezeichnet hätte. Verärgert gestand er sich ein, dass er Livia nach dem Aussehen dieses Burschen hätte fragen müssen. Vielleicht wäre ihm dann jemand eingefallen, auf den die Beschreibung passte. Das musste er umgehend nachholen.
Jetzt aber war es wichtig, dass er selbst einen Platz in der Burg fand, den er für die nächsten Wochen ohne Risiko einnehmen konnte. Die Garde war am Naheliegendsten, nicht nur, weil Nyxara ihm die entsprechende Kleidung gegeben hatte. Sich als Gregario auszugeben, hatte schon einmal funktioniert, und damit erhielt er auch fast überall ungehindert Zugang. Außerdem redeten die Soldaten untereinander viel über das, was innerhalb der Mauern vor sich ging oder was sie in den umliegenden Wirtshäusern aufschnappten. Solche Informationen konnten nützlich sein.
Asgard entschied, sich am Haupttor zu melden. Ganz so, als sei er frisch der Wache zugeteilt worden und warte nun auf seine Order.
Auf seinem Weg durch die Burg konnte er sich gut vorstellen, wie diese Welt auf Livia wirken musste, die ihr ganzes Leben in wesentlich zivilisierteren und vor allem saubereren Verhältnissen zugebracht hatte. Er selbst hatte fast vergessen, wie es hier roch. Wie viel Getier und Ungeziefer durch die Gänge huschte. Und wie schmutzig es war. Ein trockenes Lachen entschlüpfte seiner Kehle. Fließendes Wasser war eben ein unschätzbarer Luxus. Aber wenn es ihnen nicht gelang, das Unheil aufzuhalten, das sich hier anbahnte, würde genau das für die Lykaner zur Todesfalle werden.
Als er das Eingangstor erreichte, das hinaus auf den Innenhof führte, zog sich Asgard die Kapuze seines Umhangs über den Kopf, um gegen den gerade wieder einsetzenden Eisregen gewappnet zu sein. Es dauerte nur Sekunden und die dichte Wolle hing schwer und nass von seinen Schultern herab. Ein solches Unwetter hatte er hier noch nie erlebt. Hagelkörner wehten ihm ins Gesicht und kratzen über seine Wangen. Durch den dichten Vorhang aus Eis, Schnee und Hagel war kaum etwas zu erkennen. Der Boden unter seinen Füßen war tückisch und schlüpfrig, die Pfützen an einigen Stellen so tief wie ein kleiner Tümpel. Es war kaum jemand zu sehen. Nur ein paar Stallknechte, eine Handvoll Krieger und eine Magd, die gerade vom Hühnerstall zurückkehrte und sich bemühte, mit ihrer Schürze voller Eier nicht auszugleiten und die kostbare Fracht zu verlieren.
Asgard erreichte das Haupttor, ohne von jemandem angesprochen oder gar aufgehalten worden zu sein. Erst als er unter dem steinernen Bogen Schutz gefunden hatte, schob er seine Kapuze wieder herunter. Seine Haare darunter waren dennoch feucht und klebten ihm an Kopf und Wangen fest.
„Dia daoibh!“, begrüßte er die Wachmänner, die in der kleinen Stube neben dem Tor um ein Feuer herum saßen, auf Gälisch.
„Tráthnóna maìth a garsún“, antwortete der Älteste der Gruppe, ein breitschultriger Kerl mit roten, zotteligen Haaren und einem ebensolchen Bart, der bereits deutlich ergraut war. Er hatte den Rang eines Immuno und war somit derjenige, der das Kommando dieser Wache innehatte.
„Ich soll mich hier zum Dienst melden“, erklärte Asgard.
Ein zustimmendes Raunen ging durch die Reihe. „Mhm!“, machte der Rothaarige. „Gesagt hat man mir nichts, aber einen guten Mann können wir immer gebrauchen.“
Er spuckte ins Feuer und nahm danach einen tiefen Schluck von seinem heißen Tee, der ein verdächtiges Aroma nach Whiskey verströmte.
„Teufel auch, die einzigen Informationen, die hier noch zuverlässig weitergegeben werden, drehen sich um diese verdammte Hochzeit.“ Er lachte herzhaft. „Aber wenn wir diesen Pakt gegen den mit den Sassenachs eintauschen können, soll’s mir recht sein.“
Asgard hob unmerklich eine Braue. Auch auf Seiten der Vampire war man also nicht so angetan von den politischen Entwicklungen und dem Act of Union. Eigentlich hätte es ihm klar sein müssen, doch so, wie sich die Dinge entwickelt hatten, hatte er sich darüber nie Gedanken gemacht. Schließlich gingen auf Sacre Nuit auch regelmäßig Engländer ein und aus.
„Ich bin Corvin.“ Der Immuno reichte Asgard seine prankenartige Hand. Sein Griff war fest, die Handflächen rau. „Hast ein echt grausiges Wetter erwischt für deinen ersten Dienst, mo cara.“
Asgard zuckte die Schultern. „In der Stube ist es warm und trocken. Bei dem Wetter wird kaum jemand kommen, auf den wir ein Auge haben müssten.“
Der Alte lachte erneut und klopfte ihm auf die Schulter. „Da hast du wohl recht.“ Er erhob sich ächzend, nahm einen leeren Becher aus einem Regal und füllte ihn mit dem Tee, den sie alle tranken. Asgard hoffte, dass der Whiskey ihn nicht gleich aus den Schuhen warf, und nahm den Becher dankend entgegen. Nachdem er sich gesetzt hatte, grüßten auch alle anderen am Tisch ein weiteres Mal und prosteten ihm zu.
„Ist momentan echt nur mit dem Zeug zu ertragen. Sonst friert man sich den Arsch ab. Oben auf den Zinnen ist es besonders schlimm“, maulte ein jüngerer Soldat mit einer Narbe auf der Wange und kurzem braunen Haar.
„Ah Dan, beschwer dich nicht. Wir könnten’s schlimmer haben.“
Der junge Mann, der das gesagt hatte, erinnerte Asgard an jemanden. Vielleicht hatte er ihn während seiner Zeit auf Sacre Nuit einmal gesehen. Er lächelte ihm freundlich zu und machte eine vage Geste in Richtung des Narbigen, mit der er wohl andeuten wollte, dass Dan sowieso immer schlechte Laune hatte. Egal bei welchem Wetter.
„Ich bin Milan“, stellte er sich vor. „Und selbst erst seit ein paar Wochen bei diesem verrückten Haufen.“
Milan! Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Der Centurio seiner Sucherschule, Darwins Vertrauter in gut hundert Jahren, der Mann, der Livia im Wald mit dieser neuartigen Munition angeschossen hatte. Ihm wurde heiß und kalt zugleich.
„Aye!“, sagte der Rothaarige. „Aber noch nicht lange genug, um so vorlaut zu sein.“ Er gab Milan einen derben Knuff in die Seite, lachte aber dabei.
„Wo hast du vorher Dienst getan?“, fragte Milan neugierig.
Beinah hätte sich Asgard verplappert und eine Sucher-Schule benannt. Im letzten Moment mahnte er sich selbst, dass es diese in der Form ja noch nicht gab.
„Patrouillenritte“, sagte er stattdessen. „Meine Ausbildung ist noch nicht lange abgeschlossen.“
„Na“, meinte Corvin, „dann wundert es mich nicht, dass du es hier drin gemütlich findest. Besser als bei Sturm und Schnee durch die Wälder zu reiten ist es allemal.“
Asgard nickte und nahm einen Schluck von dem alkoholisierten Tee. Er musste an sich halten, um nicht sofort loszuprusten. Das Zeug bestand aus mehr Whiskey denn Tee und brannte in seiner Kehle wie Feuer. Verstohlen blickte er zu Milan hinüber.
„Wo bist du ausgebildet worden?“, wollte Dan wissen.
„Bei Lord Aleridge“, log Asgard. Es war die einzige Burg, die ihm auf die Schnelle einfiel, die zu dieser Zeit ebenfalls über ein Ausbildungscamp für Häscher verfügte und weit genug weg lag, dass er nicht sofort befürchten musste, aufzufliegen.
„Der alte Seumas.“ Corvin lachte. „Dieser Halsabschneider ist selbst schon ein halber Engländer, so tief kriecht er denen in den Arsch. Kannst froh sein, von da wegzukommen. Der gibt seinen Leuten Pisse zu saufen und Dreck zu fressen und macht sich selbst die Taschen voll. Lord Darwin täte gut daran, dem einen Riegel vorzuschieben, solange er noch kann. Einer wie Aleridge wird schnell zum Verräter, wenn es sich für ihn lohnt.“
Offenbar war seine Wahl wohl doch nicht die Beste gewesen, stellte Asgard fest. Doch nun war es zu spät, also hieb er selbst in die gleiche Kerbe wie seine neuen Kameraden und ließ an dem Lord kein gutes Haar. Er war froh, als sich die Themen schließlich um weniger verfängliche Dinge drehten. Schließlich war die Nachtwache vorbei und ihre Ablösung kam gerade rechtzeitig, um mit ihnen zusammen warmen brochan – ein Haferbrei so zäh, dass er am Gaumen klebte – als Frühstück zu verspeisen. Danach zogen sie sich in ihre Quartiere zurück und überließen den Neuankömmlingen die Stube.
„Hast du schon ein Quartier?“, fragte Milan.
Asgard presste kurz die Lippen aufeinander. Eine weitere heikle Frage. Es war unglaubwürdig zu sagen, dass er gestern erst angekommen sei. Dann hätte Milan ihn während der Wache sehen müssen. Aber er konnte auch nicht sagen, dass er bereits eine Kammer hatte. Wenn Milan ihn dort besuchen wollte, würde er ebenso zwangsläufig auffliegen.
„Ich bin ja erst ein paar Tage da und tue mich schwer, Kontakte zu knüpfen.“ Er lächelte gequält. „Darum hab ich erst mal im Stall geschlafen. Ich wusste nicht, wen ich fragen sollte und bei Aleridge hab ich auch eine Kammer über den Pferden gehabt.“
Seine Hoffnung, dass Milan nicht weiter fragen würde, erfüllte sich zum Glück. Mehr noch, der junge Mann bot ihm sogar an, seine Kammer mit ihm zu teilen. Es löste gemischte Gefühle in Asgard aus, doch das Lächeln des jungen Gregario war so herzlich und offen, dass sich seine Sorge schließlich verflüchtigte.
„Die meisten Soldaten teilen sich eine Kammer. Ich bewohne meine bisher allein. Ich könnte auch weiterhin bei meinen Eltern leben, aber mein Vater meint, zu einem richtigen Soldaten gehört auch, dass er in den Quartieren seiner Kameraden schläft.“
Jetzt dämmerte Asgard etwas. Hatte Lord Darwin am Abend der Hochzeit nicht mit einem Centurio gesprochen und dessen Sohn Milan gelobt? Was für eine Laune des Schicksals. Während er darüber grübelte, merkte er, dass Milan noch immer dastand und ihn fragend ansah, weil er auf eine Antwort wartete.
„Oh, ja, entschuldige, ich war gerade in Gedanken. Ja, es wäre schön, hier einen Freund und Kameraden zu haben. Das Stroh ist nicht sehr gemütlich. Aber nur, wenn es dir wirklich nichts ausmacht.“
Milan grinste breit. „Absolut nicht. Dann ist es nicht mehr so einsam. Mir fällt zuweilen fast die Decke auf den Kopf.“
Zusammen gingen sie an den Wirtschaftsräumen und der Küche vorbei zu den Quartieren der Garde. Milan blieb vor einer kleinen Kammer stehen. Die Tür war so niedrig, dass sich Asgard bücken musste, um einzutreten. Doch das Innere sah durchaus gemütlich aus. Zwei schmale Pritschenbetten, ein Schrank, ein Tisch mit drei Stühlen, seitlich ein Vorhang, der zu einem kleinen Abort führte. Ein regelrechter Luxus in dieser Zeit.
Auf einer Anrichte direkt neben der Tür stand ein Krug Wasser und eine Schale. Milan wusch sich Gesicht und Arme, Asgard tat es ihm gleich.
„Ich werde dir noch eine zweite Decke besorgen, es wird recht kalt hier drinnen, obwohl die Küche nicht so weit entfernt ist. Die hinteren Kammern sind ungemütlicher.“
„Ich komme schon klar“, gab Asgard zurück und zog sich die Stiefel aus. Er wollte in Ruhe nachdenken, wie es jetzt weitergehen sollte und wie er möglichst wenig Gefahr lief, sich zu verraten. Daher hoffte er, wenn er sich sofort zum Schlafen niederlegte, würde Milan dasselbe tun und ihn mit Fragen vorerst verschonen.
Es tat ihm ein wenig leid, als er sah, wie der junge Mann, der ihn so freundlich aufgenommen hatte, verloren in der Mitte des Raumes stehen blieb. Sicher hatte er auf kurzweilige Gespräche gehofft, aber im Augenblick war Asgard das Risiko zu groß. Schließlich legte sich auch Milan nieder und bald darauf war es in der Kammer still. Nur der gleichmäßige Atem der beiden Männer war zu hören.
Asgard schloss die Augen und dachte an Livia. Hoffentlich fühlte sie sich nicht allzu verloren. Es war ihr bisher nichts passiert, das hätte er gespürt. Sein Versprechen, sie später aufzusuchen, konnte er nun nicht einlösen, denn Milan hätte es sicher bemerkt, wenn er sich aus der Kammer schleichen wollte. Und was sollte er dann als Grund nennen?
Vielleicht am Nachmittag. Es würde sich schon eine Möglichkeit finden, sich für einige Stunden zu entfernen. Ansonsten morgen. Mit diesen Gedanken ließ er sich in den Schlaf gleiten. Er brauchte seine Kräfte und einen wachen Verstand. Womöglich war dies die einzige Chance, die ihnen noch blieb. Sie durften kein weiteres Mal versagen.
„Ich denke, jetzt können wir es wagen. Das Wetter sollte nicht mehr schlechter werden und so weit ist der Ritt nach Drumrig Castle nicht.“
Seit sich Livia und Asgard getrennt hatten, waren nur vier Tage vergangen. Einmal hatte sie Asgard von Weitem gesehen, wie er mit anderen Häschern hinüber zur Wachstube ging. Offenbar hatte er sich einen Platz in der Garde erworben, was sicher nicht die schlechteste Idee war. Doch es zerrte an ihren Nerven, dass sie nicht mehr miteinander gesprochen hatten und sie beinah das Gefühl hatte, dass er ihr sogar aus dem Weg ging. Vielleicht zu ihrer beider Sicherheit, doch der leise Stich im Herzen blieb.
Santuin hatte sich in den letzten Tagen rührend um Livia gekümmert und war seit ihrer Begegnung nicht mehr von ihrer Seite gewichen. Es war ihr unangenehm. Vor allem Roga gegenüber, doch die Vampirin war die Freundlichkeit in Person und behandelte Livia bereits wie eine gute Freundin. Den ersten Abend hatte sie ihr Fragen über Amerika gestellt, was sehr anstrengend für Livia gewesen war, da sie sich immer wieder in Erinnerung rufen musste, nicht von Dingen zu sprechen, die es in dieser Zeit noch nicht geben durfte. Spät in der Nacht waren sie zu Bett gegangen und Livia bekam die Kammer direkt neben Roga. Sie war versucht gewesen, noch einmal nach draußen zu schleichen, um Asgard zu suchen, aber die Müdigkeit hatte sie schließlich überwältigt. Bei jedem Mann, der den großen Saal betrat, hatte sie gehofft und war jedes Mal enttäuscht worden. Auch am folgenden Morgen hatte sie ihren Geliebten nirgendwo entdecken können.
Zwei weitere Tage waren so verstrichen, bis sie Asgard am gestrigen Abend flüchtig bei seinen neuen Kameraden gesehen hatte. Aber ein Kontakt war dennoch nicht möglich gewesen. Sie konnte wohl kaum zur Wachstube gehen und um ein Gespräch unter vier Augen bitten.
Santuins Verkündung, in Kürze aufzubrechen, rief Unruhe in ihr hervor. Wie sollte sie Asgard finden oder er sie, wenn sie auf unterschiedlichen Burgen untergebracht waren? Außerdem schlich sich Sorge in ihr Herz, dass ihm etwas zustoßen könne und sie ihn womöglich nie wiedersehen würde. Was sollte dann aus ihr werden? Würde sie für immer in dieser Zeit festsitzen? Ohne Einfluss auf das, was sich in wenigen Monaten ereignete?
Sie durfte nicht zu sehr darüber nachgrübeln, sonst verlor sie noch den Verstand.
„Was für ein Pferd reitest du? Dann lasse ich es von einem der Stallknechte satteln.“
Livia zuckte unter Santuins Worten zusammen. Ein Pferd? Ein Pferd! Verflucht, daran hatte sie bis jetzt nicht gedacht. Es gab kein Pferd. Sie konnte auch nicht reiten. Aber zu Fuß konnte sie wohl kaum hierhergekommen sein. Sie musste Santuin wohl oder übel eine weitere Lüge präsentieren und beten, dass sie halbwegs glaubhaft war und er sie ihr abnahm. Zumindest die hochroten Wangen waren nicht gespielt. Sie hoffte, dass er darin nicht ihre Scham erkannte, sondern Verlegenheit.
„Ich … ich habe kein Pferd. Ich meine … ich hatte zwar eines, aber es gehörte mir nicht. Ein Händler hat mich vom Hafen aus mitgenommen und mir eines seiner Pferde geliehen. Aber er ist sofort weitergeritten, als ich hier um Unterschlupf bitten wollte.“
Die Geschichte klang sogar in ihren eigenen Ohren unglaubwürdig. Aber jetzt war es zu spät, sich etwas Besseres zu überlegen.
Santuin runzelte die Stirn, weshalb Livia schon damit rechnete, dass er fragte, ob sie ihn für dumm verkaufen wolle. Doch stattdessen wunderte er sich nur über den Händler.
„Der Kerl war wohl nicht recht bei Trost. Und seine Manieren halte ich ebenfalls für äußerst fragwürdig. Dich erst durch dieses Unwetter reiten zu lassen und dich dann mutterseelenallein hier abzusetzen. Hoffentlich hat ihm der Eisregen das Fell gegerbt. Ein Wahnsinn, in einem solchen Unwetter weiterzureiten. Und eine Schande, eine junge, hilflose Frau im Stich zu lassen.“
Livia hätte beinah aufgeseufzt vor Erleichterung, dass Santuin ihr ohne Zögern glaubte. Doch ein Problem blieb. Ohne Pferd würde es schwierig werden, nach Drumrig Castle zu gelangen. Zum Laufen war der Weg zu weit. Dann würden sie nicht vor Einbruch der Dunkelheit ankommen.
„Ich sehe mich im Stall nach einem geeigneten Pferd für dich um. Lord Darwin hat so viele Pferde, dass er sicherlich eines entbehren kann.“
Sie biss sich auf die Lippen. „Das ist sehr nett von dir, Santuin, aber ich fürchte, das geht nicht. Ich habe kein Geld mehr. Ich könnte es nicht bezahlen.“
Er lächelte sie nachsichtig an. „Aber Livia. Du gehörst zu meiner Familie. Und nach der Hochzeit sogar zu Darwins. Da wirst du sicherlich nicht zu Fuß laufen müssen, nur weil die lange Reise, die du auf dich genommen hast, deine Ersparnisse aufgezehrt hat.“
Santuin gab Livia keine Gelegenheit mehr für Gegenworte oder Einwände. Ihr wurde heiß und kalt. Sie würde sich bis auf die Knochen blamieren, wenn man sie zwang, sich auf ein Pferd zu setzen. Da sie das nicht sagen konnte, fehlten ihr jegliche Argumente dagegen.
Nachdem Santuin Roga von dem unmöglichen Händler und Livias Not erzählt hatte, stand für Lord Darwins Tochter sofort fest, dass Livia eines ihrer Pferde als Geschenk annehmen musste. Auch das kleinlaute Geständnis, dass sie keine allzu geübte Reiterin sei, änderte daran nichts. Im Gegenteil, Roga beruhigte Livia, dass sie gewiss ein ruhiges, braves Pferd für sie finden würden. Sie nahm Livia bei der Hand, hakte sich bei Santuin unter und zu dritt suchten sie in den Stallungen von Sacre Nuit nach einem geeigneten Reittier.
Wenn es nach Livia gegangen wäre, hätte es eines der Ponys getan. Da kam der Fall wenigstens nicht allzu tief. Doch Roga riet ihr davon ab, da die Ponys stur und oft schwierig im Charakter seien. Livia brauche ein Pferd, auf das sie sich verlassen könne, das auf seine Reiterin achtete und gleichzeitig selbstständig genug war, um deren Schwächen auszugleichen. Schließlich hielten sie vor einer Box, in der ein mächtiger brauner Wallach stand.
„Das ist Aldir“, sagte Roga, drehte sich lächelnd zu Livia um und wies voller Stolz auf das riesige Tier.
Livia schluckte und machte große Augen vor Ehrfurcht. „Ich … wie soll ich da hochkommen?“
Roga lachte. Ein kameradschaftliches Lachen. „Keine Sorge, wir bekommen dich schon hinauf. Die Hauptsache ist, dass Aldir eine Seele von Pferd ist. Er wird keinen falschen Schritt machen und dich mit all seiner Kraft schützen, wenn es nötig wird. Er ist ein guter Bursche.“
Sie schob den Riegel vor der Box beiseite und öffnete die Tür. Unvermittelt machte Livia einen Schritt zurück. Das Tier war ihr nicht geheuer.
„Keine Angst“, sagte Roga mit sanfter Stimme und hielt Aldir ihre Hand hin, damit er daran schnuppern konnte. Das Pferd gab ein tiefes Brummeln von sich und stupste Roga mit seinen weichen Nüstern an. Als sie ihm über die dichte schwarze Mähne strich, senkte er den Kopf und schloss halb die Augen.
„Komm, streichle ihn, damit er dich kennenlernen kann.“
Livias Hilfe suchender Blick zu Santuin wurde nur mit einem ermutigenden Nicken beantwortet. Zögernd trat sie näher an den Wallach heran, der daraufhin seine Nase vorreckte, die Ohren aufstellte und sie aufmerksam betrachtete.
„Ich glaube, er mag dich“, meinte Roga. In ihrem Blick war so viel Liebe, dass sich Livia fragte, ob die Vampirbaroness ihr eines ihrer Lieblingspferde zum Geschenk machte. Ihre Kehle wurde eng vor Verlegenheit. Sie fühlte sich schuldiger denn je für ihre Taten als Jägerin.
Eine gute Stunde später brachen sie bereits auf. Noch immer hatte sie nicht das leiseste Zeichen von Asgard erhalten.
Roga half ihr in den Sattel und erklärte ihr, wie sie am leichtesten mit Aldir zurechtkommen würde. Livia nahm ihre Worte nur unbewusst wahr. Die innere Unruhe, die sie quälte, war zu stark. Immer wieder wanderte ihr Blick unstet über den Hof und an den Burgmauern empor, ob sie Asgard irgendwo entdecken konnte. Vergeblich.
Der Wallach spürte die Anspannung seiner Reiterin und tänzelte einige Schritte zur Seite. Sofort griff Livia reflexartig in die Zügel, aber Roga beruhigte sie.
„Das ist nicht nötig. Er wird dir keine Schwierigkeiten machen. Sei einfach entspannt. Aldir spürt deine Unerfahrenheit. Er wird alles richtig machen. Wenn du ihm vertraust, wird alles gut gehen.“
Sie lächelte Livia ermutigend zu.
„Wenn du das sagst.“ Ihr Lächeln fiel gequält aus.
Viel mehr Zeit zum Überlegen blieb ihr ohnehin nicht, denn schon gab einer der Lykaner-Soldaten das Zeichen zum Aufbruch.
Santuin deute Livia, vor ihm herzureiten. „Ich passe auf dich auf. Hab keine Angst.“
Er beugte sich noch einmal zu Roga hinab und gab ihr einen flüchtigen Kuss, dann reihte er sich hinter Livia ein und sie verließen die Sicherheit der Burgmauern.
Oh Asgard, wo steckst du nur?, dachte Livia und hoffte inständig, dass er ihre Gedanken vernahm.
Asgard hatte am Turmfenster gestanden und ihnen nachgesehen, wie sie durch das Tor verschwanden. Es versetzte seinem Herzen einen Stich, Livia mit Santuin davonreiten zu sehen, obwohl er wusste, dass dies die beste Lösung war und Murdock auch dazu geraten hatte, Livia auf die andere Seite des Tales in die Burg der MacFists zu bringen. Dort konnte sie sich frei bewegen und kam leicht an Informationen. Er hingegen fiel hier auf Sacre Nuit am wenigsten auf. Sie hatten ein knappes halbes Jahr Zeit, um das Vertrauen von Santuin, Roga und deren engstem Kreis zu gewinnen und der Intrige auf die Spur zu kommen, die zu dem Unglück führen würde. Er hoffte, dass Livias Angst nicht zu groß war. Dass die Gegenwart ihrer eigenen Art ihr Kraft und Mut schenken würde. Von Zeit zu Zeit würde er Vorwände finden, um ebenfalls auf die andere Seite des Tals zu reiten und mit ihr zu sprechen. In den vier Tagen, seit sie hier angekommen waren, war ihm dies leider nicht gelungen.
Seine neue Stellung vereinnahmte ihn stark. Meist wurden er und Milan zur Nachtwache eingeteilt. In den frühen Morgenstunden krochen sie dann nach dem üblichen Frühstück müde in ihre Betten und standen erst gegen Mittag wieder auf.
Asgard hatte noch nie in seinem Leben so viel Schlaf gebraucht. Vermutlich, so gestand er sich ein, lag das auch am Alkohol, der in rauen Mengen floss und den er nicht gewohnt war. Darüber hinaus verspürte er eine vertraute Schwäche. Es wurde Zeit, zu trinken. Er musste auf die Jagd. Aber irgendwie wurde er Milan kaum länger als ein paar Minuten los. Der junge Mann schien einen Narren an ihm gefressen zu haben, warum auch immer. Sie verstanden sich gut, keine Frage, doch auch er war einer der Gründe, warum Asgard nicht mehr mit Livia hatte sprechen können, und nun war sie fort. Der Himmel wusste, wann er die Gelegenheit bekam, sie wiederzusehen.
„Asgard?“ Milans Stimme schallte den Gang hinunter. Stöhnend schloss Asgard die Augen. Jetzt nicht. Er hatte keinen Nerv für seinen neuen Freund. In seinem Kopf schwirrten tausend Gedanken, seit Livia seinen Blicken entschwunden war. Er brauchte Zeit für sich – und Ruhe.
Auch wenn es wenig kameradschaftlich war, antwortete Asgard Milan nicht. Stattdessen schlich er sich lautlos nach draußen. Vielleicht konnte er die Burg unbemerkt verlassen und seinen Durst stillen. Oder einfach irgendwo ein stilles Örtchen suchen, um in sich zu gehen. Dass er Milan auswich, hatte nichts mit dem Schuss auf Livia zu tun, obwohl er anfangs noch darüber nachgedacht hatte. Doch zwischen seinem Kameraden und dem Centurio, der die Waffe abfeuerte, lagen Welten – und ein Ereignis, das zu verhindern ihn hierhergeführt hatte. Er konnte ihm das nicht vorwerfen – und er tat es auch nicht.
Im Innenhof herrschte wie immer reges Treiben. Jetzt, wo der Wintersturm vorübergezogen war und das Wetter einige Tage Sonnenschein versprach, drängten sich hier Bauern und Händler, um ihre Waren feilzubieten. Neben den Gerüchen von sauer eingelegtem Gemüse und geräuchertem Fleisch, von Lederwaren und dem Metall der Schwerter vernahm Asgard überdeutlich den Blutduft der Menschen, die sich hier tummelten. Er musste hier raus. Es erschien ihm unvorstellbar, innerhalb der Burgmauern zu jagen, obwohl er nicht zu sagen vermochte, ob man dies als normal ansehen würde oder nicht.
Seltsamerweise konnte er nahezu keine Hybriden entdecken. Zwei oder drei waren ihm vereinzelt aufgefallen. Aber bei Weitem nicht die Menge, die sich in seiner Zeit hier tummeln würde.
Wie konnte das sein? Wandelte sich das Verhalten, die Regeln der Vampire, derart schnell? In nur hundert Jahren würde eine andere Mentalität herrschen – gegenüber den Lykanern ebenso wie gegenüber den Menschen. Selbst bei den Vampiren untereinander.
Asgard wurde sich in diesem Moment bewusst, dass er keine Ahnung hatte, welche Regeln hier galten. Wie die Versorgung mit Blut sichergestellt wurde, das sie zum Überleben brauchten. Wie viel die Menschen überhaupt wussten, über die Natur des vampirischen und lykanischen Adels. Er verfluchte sich im Stillen. All dies hätte er wissen müssen. Als Sucher dürfte er eine solche Wissenslücke nicht haben. Doch dies hatte für Lord Darwin keine Rolle gespielt. Solche Schriften waren den Suchern nicht zum Studium gereicht worden. Wie sehr doch der Wille und die Besessenheit eines Einzelnen Einfluss darauf haben konnten, was andere erfuhren oder nicht.
Es half nichts, wenn er keine Fehler machen wollte, musste er sich ein sehr genaues Bild davon machen, wie er sich zu verhalten hatte, und zunächst äußerst vorsichtig vorgehen, wenn er seinen Hunger stillte.
Auf den ersten Blick lebten die Vampire auf Sacre Nuit ein völlig normales Leben und waren von Menschen nicht zu unterscheiden. Sie aßen, tranken, schliefen, sie gingen ihrer Arbeit nach, pflegten Kontakte und unterhielten sowohl freundschaftliche wie auch sinnliche Beziehungen. Dennoch waren sie anders. Alterten kaum, besaßen körperliche und geistige Kräfte, die für einen Menschen schier unvorstellbar waren. Konnten die Menschen das tatsächlich übersehen?
„Sie wissen nichts“, erklang eine sanfte Stimme hinter ihm. Er drehte sich um und wäre beinah vor Schreck zurückgewichen. Vor ihm stand Roga. „Du hast seltsame Gedanken, Gregario.“ Er hörte ihre Stimme, doch ihre Lippen bewegten sich kaum. Sie wollte nicht, dass irgendjemand ihrem Gespräch lauschen konnte. „Warum haderst du damit, dass sie unwissend sind? Es ist nicht ihr Schaden, es ist zu ihrem Schutz. Sie könnten es nicht begreifen. Es würde sie ängstigen. Doch wozu? Unter unserer Obhut geschieht ihnen kein Leid. Es geht ihnen gut. Wir sind streng aber gerecht. Und wenn wir trinken, dann im Verborgenen und nur so wenig, dass es für den Spender keinerlei Bedeutung hat.
Sie trat langsam an seine Seite und blickte ebenfalls über die Vampire und Menschen im Hof. „Wir nähren sie, ohne dass sie es bemerken. Das gibt ihnen Kraft. So können sie ihre harte Arbeit besser verrichten, was auch uns zum Vorteil gereicht. Jeder gewinnt bei diesem Arrangement. Es gibt keinen Grund, daran etwas zu ändern oder mehr preiszugeben.“
„Was ist mit den Hybriden? Ich sehe sie leiden. Und sie verstehen es nicht.“
Rogas Blick war aufmerksam, aber gleichzeitig seltsam kühl. „Sie sind ein Versehen. Etwas, das selten geschieht, obwohl es eigentlich nicht geschehen sollte. Eine Laune der Natur. Wir kümmern uns um sie. Sie sind unsere Fehler und wir lassen sie nicht im Stich. Aber mehr können wir nicht tun und dafür besteht auch kein Grund. Ich verstehe, dass du Mitleid mit ihnen hast, doch andere Menschenkinder können ebenfalls mit einem Leiden zur Welt kommen. Nicht nur die Mischlinge. Es ist ihr Schicksal. Manch eine Seele bekommt ihre Prüfung in diesem Leben. Die Gründe dafür kennt Gott allein.“
Sie wandte ihm ihr Gesicht zu und sah ihn lange an. Asgard schluckte. Er fühlte Angst, dass sie in seinen Gedanken las. Dass sie bereits alles gesehen hatte, was ihm in den letzten Minuten durch den Kopf gegangen war. Wie würde sie darüber denken? Was würde sie tun?
Es vergingen quälende Sekunden, in denen er um die Antwort auf diese Fragen bangte, noch mehr aber darum, weiter im Ungewissen zu bleiben. Fast hätte er erleichtert aufgeatmet, als sie lauter sagte: „Du musst noch sehr jung sein, so unerfahren, wie du bist. Aber es gibt keinen besseren Ort, zu lernen, als hier.“
Ihr Lächeln war echt. Die Röte ihrer Wangen mochte nicht allein von der Kälte herrühren.
„Ich bin bereit. Wenn Ihr mich lehren wollt, werde ich ein offenes Gefäß sein, in das Ihr Euer Wissen ausgießen könnt.“
Es war vermessen, was er da sagte, doch die Worte waren bereits gesprochen, ehe er sich darüber im Klaren war. Zu seinem Glück belustigte es Roga lediglich; sie nahm es ihm nicht übel.
„Asgard!“
Rogas Kopf ruckte bei dem Ruf herum. Asgard brauchte nur den Blick zu heben, um den Urheber zu entdecken. Milan kam winkend und über das ganze Gesicht strahlend auf sie zu. Offenbar war er froh, ihn endlich gefunden zu haben. Obwohl er Milan mochte und seine Freundlichkeit schätzte, fand Asgard ihn gerade jetzt besonders störend. Mehr noch als vorhin, wo er praktisch vor ihm geflohen war.
„Hier bist du. Ich habe dich schon überall gesucht. Ich dachte fast, du hättest dich in Luft aufgelöst.“
„Wie schade, dass das nicht geht“, murmelte Asgard kaum hörbar.
Neben sich hörte er Roga kichern, kam aber nicht mehr dazu, sie zu fragen, was so lustig sei. Er hoffte nur, sie hatte seine Worte nicht gehört. Milan erreichte sie und machte eine weitere Unterhaltung unmöglich. Als der junge Gregario jedoch erkannte, mit wem Asgard gesprochen hatte, wurde er puterrot im Gesicht und geriet ins Stottern.
„Oh … ich … ich hatte nicht gesehen … ich meine … Lady Roga … verzeiht … ich … seid gegrüßt, Mylady.“
So unsicher hatte Asgard seinen Zimmerkameraden noch nie erlebt, was ihn aber nicht weiter wunderte. Im Grunde war eher sein eigenes Verhalten ungewöhnlich, indem er mit Roga – der Tochter ihres höchsten Lords – sprach, als seien sie einander ebenbürtig. Doch genau das empfand er. Er fühlte sich Roga nah, ihr verbunden. Vielleicht, weil er so oft in Santuins Haut geschlüpft war, wenn er in dessen Aufzeichnungen las, und ein Teil seines Herzens mit dem Lykanerprinzen fühlte.
„Es tut mir leid, aber du wirst einige Stunden auf deinen Freund verzichten müssen, Gregario“, erklärte Roga frei heraus und überraschte damit Asgard nicht minder als Milan. „Ich habe ihn gerade darum gebeten, mich auf einen Ausritt zu begleiten. Als Beschützer.“
Ungläubig und mit offenem Mund starrte Milan zwischen den beiden hin und her. Asgard überkam das ungute Gefühl, dass es mehr als ungewöhnlich war, wenn ein Gregario spontan zur Leibgarde der Baroness erhoben wurde. Aber es wäre wohl ein noch größerer und vor allem unverzeihlicher Fehler gewesen, diese Ehre abzulehnen.
Verlegen trat Asgard von einem Fuß auf den anderen. Er wusste nicht, was er sagen sollte, weder zu Roga noch zu Milan. Zumindest dem ging es ähnlich. Roga hingegen schien regelrecht Spaß daran zu haben, dass es den beiden jungen Gardisten die Sprache verschlug.
„Nun komm schon. Wenn wir uns beeilen, können wir Prinz Santuin vom Hügel aus noch sehen. Ich möchte meinem Verlobten gern zum Abschied winken.“
Sie fasste Asgard an der Hand und zog ihn mit sich fort. Milan blieb verdattert zurück. Entschuldigend zuckte Asgard die Achseln und stolperte hinter der lachenden Roga her.
Im Stall war es dämmrig. Leises Schnauben erklang aus den Boxen. Im hinteren Bereich waren zwei Burschen damit beschäftigt, die Boxen zu säubern. Der Stallmeister kam aus der Futterkammer und schob eine Karre mit Hafer vor sich her, um die Pferde zu füttern. Als er die Baroness erblickte, stutzte er.
„Alec, sattle bitte Brega für mich und für meine Leibgarde Usar.“
Der Mann nickte, musterte Asgard kurz skeptisch und raunte dann: „Aye, Mylady. Usar, ja?“
Rogas Grinsen hätte Asgard warnen sollen.
„Du kannst doch reiten, Gregario, oder?“, fragte sie herausfordernd.
„Aye!“, antwortete er gedehnt und hob fragend die Braue, ohne dass er eine Erklärung erhalten hätte.
Das ungute Gefühl in Asgards Bauch verstärkte sich noch, als der Stallmeister einen tänzelnden Apfelschimmel heranführte. Das Tier war sehr groß und massig und dabei sichtlich nervös. Für einen kurzen Moment hoffte Asgard noch, dass dies Rogas Pferd war, mit dem sie vermutlich auch bestens zurechtkam, doch da trat die Baroness bereits an eine andere Box heran und streichelte einer Fuchsstute über die Stirn.
„Na, mein Liebling. Es ist schon viel zu lange her, nicht wahr?“
Die Stute schnaubte leise und stieß ihre Nase gegen Rogas Schulter. Asgard schluckte. Also war der verrückte Schimmel tatsächlich für ihn gedacht. Warum tat die Baroness ihm das an?
Er war durchaus schon oft geritten, aber in den letzten Jahren nicht mehr. Und ein derart unruhiges Pferd hatte er noch nicht unter dem Sattel gehabt. Dennoch war er nicht bereit, die Wahl der Baroness infrage zu stellen oder sich herauszureden. Das ließ sein Stolz nicht zu. Er würde sich keine Blöße geben, und irgendwie war auch diesem Ross beizukommen. Vor allem aber wollte er nicht die Gelegenheit verpassen, herauszufinden, warum Roga ihn mit zu diesem Ausritt nahm. Sie schien irgendetwas zu bezwecken. Vielleicht war es ein Test. Vielleicht machte sie sich lediglich einen Spaß auf seine Kosten. Dann wollte er ihr gern beweisen, dass er sich nicht so leicht zum Hofnarren machen ließ.
Beim Satteln und Trensen benahm sich der Schimmel zumindest manierlich, was sicherlich auch daran lag, dass der alte Alec wusste, was er tat und wie er mit dem Burschen umzugehen hatte. Geduldig wartete der Graue an seinem Anbindeplatz, bis auch Rogas Stute Brega gesattelt und gezäumt in der Stallgasse stand. Die Ruhe vor dem Sturm.
„Komm. Wir müssen uns beeilen“, drängte Roga.
Sie sprang noch im Stall in den Sattel und trabte auf den Hof hinaus. Asgard nahm den schnaubenden Usar von dem Stallmeister entgegen und zweifelte mit einem Mal, ob er überhaupt in den Sattel kommen würde, geschweige denn, sich oben halten.
„Lass ihm nichts durchgehen. Er will nur sehen, wer der Herr ist. Wenn du ihn einmal im Griff hast, wird er sanft wie ein Lamm.“
Falls die Worte ihm Mut machen sollten, so musste Asgard Alec leider enttäuschen. Der Alte hielt den Hengst fest, bis sich Asgard in den Sattel gezogen hatte, doch kaum, dass er oben war, rannte der Schimmel schon nach draußen. Mit flauem Magen sah Asgard, dass Roga das Tor bereits hatte öffnen lassen und vor seinen Augen hinausgaloppierte. Das blieb auch Usar nicht verborgen. Er richtete sich auf die Hinterbeine auf und schoss im nächsten Moment hinter Brega und Roga her, als wäre der Teufel hinter ihm her. Sein Glück, dass Asgard damit gerechnet hatte.
„So viel also dazu, dir zu zeigen, wer der Herr ist“, raunte er und musste sich beherrschen, die Beine nicht fest gegen den Pferdeleib zu drücken. Auch wenn ihm das mehr Halt gegeben hätte, wäre es für diesen Dämon von einem Pferd sicher nur weiterer Antrieb gewesen.
Er packte die Zügel fester, lehnte sich weit über den Pferdehals und ließ den Schimmel erst einmal rennen.
Dann kühle dein Gemüt, sprach er ihm gedanklich zu. Wer weiß, wie lange man dich schon eingesperrt und deinen Freiheitsdrang unterdrückt hat.
Das Tier nahm seine Worte für bare Münze und legte noch an Tempo zu. Der Versuch, seinen Reiter loszuwerden, blieb aus. Statt an den Zügeln zu reißen, versuchte Asgard mit einigen gälischen Worten, die er sich von einem Schmied angeeignet hatte, Usars Temperament unter Kontrolle zu bekommen.
Roga war indes bereits ein beachtliches Stück vor ihnen, eine Wolke aus Eis und Schnee hinter sich aufwirbelnd. Sie ritt nicht auf den Wald zu, sondern Richtung Berge. Gefährliches Terrain. Ein falscher Schritt und ein Pferd stürzte mitsamt seinem Reiter in den Abgrund. Von der Gebirgskuppe aus konnte man in ein kleines Tal blicken, das die Schar um Santuin passieren würde, sobald sie aus dem Wald herausritten. Asgard hoffte inständig, dass Roga ihr Tempo drosselte, sobald sie felsiges Gebiet erreichten. Er wusste nicht, ob er seinen Schimmel über dieses schwierige Gelände lenken konnte. Auf jeden Fall konnte er dort nicht ausdiskutieren, wer das Sagen hatte.