Macabros 011: Das Phantom - Dan Shocker - E-Book

Macabros 011: Das Phantom E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Bearbeitete Original Romane Macabros 21 - Abraxas, Fluch des Magiers Der neue Star am Himmel der Zauberer ist Abraxas, der Meister der Illusionen. Seine Tricks und Darbietungen sind neu und atemberaubend. So interessieren sich eine Menge Leute für diese Tricks; unter anderem der Autor Glen Robinson, der für ein Buch über Zauberer recherchiert und alles über Abraxas erfahren möchte. Aber auch die Konkurrenz ist interessiert und entführt Jutta und Ruchena Stokanova; Frau und Tochter von Karel Stokan, wie Abraxas mit bürgerlichem Namen heißt. Und auch Björn Hellmark möchte mehr über den Zauberer erfahren, hörte er doch vom Autor Robinson, dass dieser sich eines blutroten Edelsteins bedient. Ein weiteres Auge des Schwarzen Manjas? Leider misslingt die Entführung und durch unglückliche Umstände kommen Jutta und Ruchena dabei ums Leben. Da läuft Zauberer Abraxas Amok und tötet alle Menschen, die sich ihm in den Weg seiner Rache stellen. Macabros 22 - Phantom aus dem Unsichtbaren Durch das von dem Zauberer Abraxas (siehe MAC Nr. 21) erhaltene schwarze Auge des Manjas erweitert Orlok, der selbsternannte Herrscher der vergessenen Stadt der Toten seine Macht, in dem er sich von der Erde ganze Häuser samt Bewohner in sein Reich zieht. Dies geschieht zuerst in Finjas, einem kleinen spanischen Ort, in dessen Nähe aus das Hünengrab steht, welches einen Zugang zur vergessenen Stadt verbirgt. Durch die plötzlichen Umstände gelangt Hellmarks Zweitkörper Macabros in diese trostlose Stadt und erlebt dort das Grauen. Doch Orlok spielt vorerst noch mit seinem Kontrahenten und will Björn leibhaftig in seinem Reich haben, um ihn dort zu töten. Und Hellmark macht sich auf den Weg zu einem scheinbar aussichtlosen Kampf in der vergessenen Stadt. Kurzbeschreibung

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Seitenzahl: 326

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DAN SHOCKERS MACABROS

BAND 11

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Fachberatung: Gottfried Marbler

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-711-5

Dan Shockers Macabros Band 11

DAS PHANTOM

Mystery-Thriller

Abraxas, Fluch des Magiers

von

Dan Shocker

Prolog

Glen Robinson stand am Fenster des vierstöckigen Hauses in der King's Road und blickte nach unten.

Der Besucher kam mit einem silberfarbenen Rolls-Royce.

Wie eine Statue wirkte Robinson hinter dem Vorhang und hielt den Atem an. Ein großer Augenblick in seinem Leben! Es hatte sich gelohnt, das andere zu verschieben und auf die Ankunft dieses Mannes zu warten. Der würde ihm nicht alles, aber doch vieles sagen, was für Robinson wichtig war.

Zwei Minuten später stand er dem Ankömmling gegenüber und begrüßte ihn.

»Ich freue mich, dass Sie gekommen sind.« Glen Robinson lächelte. Man sah ihm seine Erregung an. Die konnte er nie verbergen. Er ärgerte sich darüber.

Der andere erwiderte das Lächeln. Robinson sah ihn nicht zum ersten Mal. Dieser Mann war ein Eingeweihter und begleitete Abraxas, den weltbekannten Magier und Illusionisten, wie ein Schatten überallhin. Der Besucher war Sekretär, Manager und Werbefachmann des Magiers. Und da er sich für alles brennend interessierte, was mit Abraxas' geheimnisvollem Leben zu tun hatte, war er froh, mit jemand sprechen zu können, der dem rätselhaften Mann nahestand.

Das würde seinem Buch den letzten Schliff geben.

»Bitte, treten Sie näher!« Robinson ging zur Seite.

»Sind Sie allein?«, fragte der andere.

Robinson schätzte ihn auf höchstens achtundzwanzig Jahre. Damit war der Besucher halb so alt wie er, schwarzhaarig und von großem Wuchs. Eine sportliche Erscheinung, die den Sachbuchautor um Haupteslänge überragte.

»Selbstverständlich – wie es abgesprochen war.«

Es sollte keine Zeugen der Begegnung geben. Und das aus gutem Grund! Robinson dachte da anders als sein Besucher. Aber das sollte er erst drei Minuten später merken. Und da war es schon zu spät ...

Er bot seinem Gast einen Drink an, doch der lehnte dankend ab.

»Wenn ich fahre, nie.«

»Auch nicht einen einzigen Tropfen?«

»Nein, auch nicht einen einzigen Tropfen. Das ist ein Prinzip.«

»Ich habe auch mein Prinzip«, grinste Robinson und goss sich einen französischen Cognac ein. »Abends um diese Zeit immer. Da wird es doch erst gemütlich, und der Geist gerät in eine Art Schwingung. Nicht zu viel von dem Zeug, das ist ungesund.« Er schwenkte das Glas leicht vor seiner Nase hin und her.

»Sie wissen nicht, was Ihnen da entgeht. Ein Dreißigjähriger, den gab's schon, als an Sie noch niemand gedacht hat.«

»Meinen Sie?« Der schwarzhaarige Gast sah ihn mit merkwürdigem Blick an. Für den Bruchteil einer Sekunde beobachtete Robinson in den Augen seines Gegenübers ein kaltes Glitzern.

Ein seltsamer Mann, ging es ihm durch den Kopf, und ihn fröstelte. In diesem Moment fühlte er sich gar nicht mehr so wohl dabei, in der großen Wohnung mit dem Fremden allein zu sein. Vielleicht kam der andere, um ihn zu hintergehen? Vielleicht ein Betrüger? Er wollte auf der Hut sein, schalt sich aber im Stillen gleichzeitig einen Narren, dass ihm solche Gedanken durch den Kopf gingen.

Der silbergraue Rolls-Royce war Statussymbol für Abraxas alias ... ja, kein Mensch kannte seinen zivilen Namen. Glen Robinson war nicht so vermessen, anzunehmen, dass er durch den Sekretär des Illusionisten davon Kenntnis erhielt. Er wollte froh sein über einige Anmerkungen, die ihm weiterhalfen. Zusätzliches erwartete er durch eine Demonstration der Darbietungen Abraxas', der sich derzeit in London aufhielt und insgesamt an drei aufeinanderfolgenden Tagen in einem exklusiven Theater auftrat.

Für heute Abend hatte Robinson dort Karten, aber die Tatsache, dass durch die Kontaktaufnahme mit dem Sekretär des Magiers dieses Treffen zustande kam, veranlasste ihn dazu, den ersten Teil der Vorstellung nicht zu besuchen.

Gablisczek – so nannte sich der Sekretär, und Robinson vermutete, dass es sich um einen Polen handelte – hatte darauf bestanden, um diese Zeit mit dem Autor zusammenzutreffen, weil er dann am wenigsten Gefahr lief, dass Abraxas Verdacht schöpfte. Der war um diese Zeit voll beschäftigt.

Glen Robinson war erstaunt über die merkwürdige Frage seines Gastes. Er lächelte. »Nun, Sie sind doch noch keine dreißig? Ich schätze Sie auf sechs-, höchstens achtundzwanzig.«

»Wer weiß, Mister Robinson. Vielleicht bin ich auch schon dreihundert oder dreitausend Jahre alt. Man sieht es mir nur nicht an.«

»Das ist ein guter Witz.« Robinson führte das Glas an seine Lippen. »Ich darf nicht vergessen, dass Sie Tag für Tag mit einem Mann zusammen sind, von dem die Fachkritiker behaupten, er könne mehr als nur Illusionen vermitteln. Er könne wirklich zaubern und verfüge über übernatürliche Gaben.«

Er führte Gablisczek in sein Arbeitszimmer. Auf dem Weg dorthin fuhr er fort:

»Vielleicht hat Abraxas Sie verhext, und Sie sehen nur so jung aus.«

Lachend betraten sie den Raum mit den wertvollen alten englischen Möbeln. Die Vorhänge bestanden aus dunkelgrünem Samt. Direkt vor dem verhangenen Fenster stand der Schreibtisch. Der war über und über mit Papieren beladen. Es war ein Wunder, dass Robinson sich auf Anhieb dort zurechtfand.

»Das sind die Kapitel über das, was ich bisher über Abraxas weiß oder vermute«, sagte er. Er griff nach einem Stoß Papier. Es mochten etwa fünfzig engbeschriebene Schreibmaschinenbögen sein. »Es ist nicht viel. Im Gegensatz zu anderen Zauberkünstlern oder Illusionisten kommt man an Abraxas nicht heran. Eine Deutung des Phänomens ist mir bisher nicht gelungen.«

»Es wird Ihnen auch nie gelingen«, erwiderte Gablisczek. Robinsons Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Hatte er richtig gehört?

Zeit, darüber nachzudenken, gab es nicht mehr für ihn.

Gablisczek sah nicht mehr so aus wie eben. Ein völlig Veränderter stand vor ihm. Das Gesicht war rundlich und aufgequollen, und zwischen den aufgeworfenen Lippen war eine dicke, dunkelgraue Zunge zu sehen.

Die Augen sahen gefährlich und blutunterlaufen aus, und aus der Kehle des so schrecklich veränderten Gablisczek drangen knurrende Laute, die an einen Wolf erinnerten.

»Aber ...« Robinson prallte zurück. Er war kreidebleich. Etwas zischte durch die Luft.

Der Sachbuchautor, der über das Leben außergewöhnlicher Menschen schrieb, konnte nicht mehr zurückweichen. Er hatte den Schreibtisch im Rücken und fiel nach hinten. Narrte ihn ein Spuk? Seine Gedanken drehten sich wie ein Karussell.

Wie durch einen Schleier nahm er die dämonenhafte Fratze wahr, und es kam ihm so vor, als hätte sich sein Besucher weiter verändert. Sein Kopf war nun wie eine aufgespaltene Kugel, grau und wie ein Erdklumpen, der lange Zeit unbarmherzig der Sonne ausgesetzt gewesen war. Die Sinnesorgane waren mehr zu ahnen als zu sehen. Wild hingen strähnige, steife Haare in die flache, rissige Stirn.

Es brannte wie Feuer auf Robinsons Gesicht, als die furchtbare Klauenhand seine Haut aufriss.

Er glaubte, sie würde ihm in Streifen vom Gesicht geschält.

Er schrie gellend auf, und sein Schrei hallte durch die große Wohnung. Zu einem zweiten Aufschrei kam er nicht mehr. Klauenhände umspannten seine Kehle. Er gurgelte dumpf und schnappte vergebens nach Atem.

Blut lief über seine Augen und ließ ihn alles wie durch einen Schleier sehen.

Tausend Fragen stürmten glühendheiß in sein Bewusstsein, wie eine Flut kochender Lava. Sein Herz pochte, als wolle es die Brust sprengen. Der Körper war in Schweiß gebadet, als mache er einen schlimmen Alptraum durch.

Mit fahrigen Fingern griff er um sich und bohrte seine Fingernägel in das Gesicht des schaurigen Gegners. Aber die Fingernägel brachen ab, als würde er sie in einen Felsblock krallen. Sein Körper bäumte sich auf. Warum? Warum ... er? Was ging hier vor?

Sterben? Warum sollte ... musste er sterben? Todesangst ergriff ihn. Der harte, mumifizierte Schreckensleib vor ihm gab nicht auf. Er wollte alles zu einem Ende bringen. In Robinsons Ohren rauschte es. In seiner Panik und Verzweiflung wusste er nicht, was er noch tun sollte. Schwer wie Blei fühlte sich sein Körper an. Die Haare standen ihm zu Berge. Er schlug einfach um sich, ohne zu wissen, wohin er traf, ohne ein Gefühl dafür zu haben, was er tun musste, um dem grausamen Mörder zu entgehen.

Seine Hände verkrampften sich. Da spürte er einen harten, runden Knopf in der zitternden, schweißnassen Handinnenfläche.

Wie ein elektrischer Schlag durchfuhr es ihn.

Die Schreibtischschublade! Darin lag ein Revolver! Seine zitternde Hand riss und zerrte daran. Er musste sie öffnen. Er hatte eine Chance, damit diesem Wahnsinnigen zu Leibe zu rücken. Hoffentlich schaffte er es ... die Zeit ... die Zeit verrann, zu schnell ... Er sah, hörte und fühlte kaum noch etwas. Er stand dicht davor, das Bewusstsein zu verlieren, und er wusste, dass es aus dieser Bewusstlosigkeit kein Erwachen mehr geben würde.

Die Schublade rutschte nach vorn. Drei Millimeter, einen halben Zentimeter. Zu wenig, die Finger hineinzustecken und die Waffe zu ergreifen.

Weiter ... Wie im Traum handelte er.

Jetzt war er in der Schublade, fühlte das Metall, umspannte es und zog es heraus.

Er drückte einfach ab. Es krachte dumpf, und wie ein Echo kehrten die donnernden Schläge in sein umnebeltes Bewusstsein zurück.

Es musste doch etwas passieren!

Die Hände müssten sich lockern, die Gestalt zu Boden fallen.

Nichts von alledem!

Mit ihm ging es zu Ende. Die Waffe entfiel seinen bleichen Händen, sein Atem und sein Herz standen still.

Robinson sah nicht mehr, dass er den Leib des dämonischen Wesens dreimal durchlöchert hatte, dass die Kugeln durchgeschlagen waren wie durch morsches, sprödes Gewebe.

Schwer stürzte er zu Boden und riss einen Teil der auf dem Schreibtisch liegenden Papiere mit sich.

Darunter befand sich kein Blatt mehr, das etwas über den Lebensweg oder die Persönlichkeit des ungewöhnlichen Abraxas ausgesagt hätte. Diese Manuskriptblätter nahm Gablisczek mit sich.

Fünf Minuten später lief ein adrett gekleideter junger Mann mit dunklem Haar, etwa achtundzwanzig Jahre alt, die Treppe hinunter, stieg in den Rolls-Royce und ließ das Haus Nr. 126 in der King's Road hinter sich.

1. Kapitel

Die Menschen hielten den Atem an.

So etwas hatten sie noch nie gesehen. Was Abraxas da vorn für ein Feuerwerk an Tricks abrollen ließ, war einmalig.

Das Theater war bis auf den letzten Platz besetzt. Im dunklen Zuschauerraum konnte man eine Stecknadel fallen hören.

Abraxas stand in beschwörender Geste mitten auf der Bühne. Ein einziger, dunkelrot glühender Scheinwerfer war auf ihn gerichtet und schuf eine dämonische Atmosphäre, in die dieser Mann in seiner ganzen Aufmachung, mit seinem Aussehen einfach hineinpasste.

Er war fast zwei Meter groß und breitschultrig. Mit seinem roten Stehkragen, der voluminös die ganze Schulter ausfüllte und von dem aus der dunkle, bodenlange Umhang herabfiel, sah er aus wie ein Besucher aus einer anderen Welt, beinahe wie Mephisto. Ein scharfgeschnittenes Gesicht, tiefe Furchen um die schmalen, zusammengepressten Lippen sowie eine kühn geschwungene Adlernase waren Attribute, die sofort ins Auge stachen.

Über den großen, dunklen Augen zeigten sich buschige Brauen, die den teuflischen Ausdruck nur noch verstärkten. Das schwarze Haar hing starr über die Ohren und war strohig wie eine schlechte Perücke.

Abraxas' Finger bewegten sich wie kleine Schlangen. Er machte Zeichen und Schleifen durch die Luft, und wo er seine Hände zurückzog, bildeten sich kleine Rauchfahnen, die schnell davonwehten, und knisternde Funken sprangen durch die Luft.

Manchmal bildeten diese Funken eine Figur. Ein menschenähnliches Wesen, ein Tier, flammende Augen, die kurz aufglühten und wieder erloschen, als würde man durch eine Geisterbahn fahren.

Abraxas verstand es, seine Show abzuziehen.

Man konnte ihm auf die Finger sehen, so sehr man wollte, man sah nicht, wie er das machte. War der nachtschwarze Hintergrund bespannt mit zahllosen hauchdünnen Drähten, an denen er elektrische Kontakte auslösen konnte?

Jeder machte sich seine Gedanken über das Phänomen Abraxas. Viele Zuschauer waren dabei, die die großen magischen Shows im Olympia in Paris gesehen hatten, wo Zauberer aus aller Herren Länder ihre einmaligen Tricks hatten ablaufen lassen.

Auch Björn Hellmark kannte diese Darbietungen. Der blonde Mann mit den blaugrauen Augen achtete wie kein anderer aufmerksam auf jede Bewegung, auf jeden Handgriff des Magiers. Hellmark war extra nach London gekommen, um hier in diesem exklusiven Theater den Auftritt des ungewöhnlichen Mannes zu beobachten.

Viel wurde über ihn erzählt, aber Genaues wusste niemand.

Etwas aber war vor kurzem durch einen puren Zufall an die Öffentlichkeit gedrungen: Abraxas sollte mit Hilfe eines rotglühenden, magischen Steins arbeiten.

Das hatte den jungen Deutschen hellhörig gemacht.

Die Beschreibung erinnerte ihn lebhaft an das Auge des Schwarzen Manja, an jenen geheimnisvollen, ausgestorbenen Vogel, der in grauer Vorzeit auf der nicht minder geheimnisvollen Insel Xantilon existiert hatte und als heilig verehrt worden war. Dieser Vogel sollte insgesamt sieben Augen besessen haben, Augen, die im Laufe der Jahrtausende hart wie Diamant geworden waren und in alle Winde verstreut wurden.

Seit kurzer Zeit galt Hellmarks Interesse besonders diesen Augen. Zwei davon hatte er bereits in seinem Besitz. Fast wäre er auch an das dritte gekommen, doch ein übermächtiger Dämon hatte ihn überlistet und den Stein in einer jenseitigen Welt in Sicherheit gebracht. Es war ihm nach seiner Rückkehr von den Philippinen nicht möglich gewesen, den Eingang zu jener Welt zu erfahren, und er fragte sich, ob das unheimliche Reich mit den Blutgärten Sodoms völlig vernichtet worden war. In diesem Fall würde auch das nach dort geholte Auge des Schwarzen Manja ausgelöscht worden sein.

All dies beschäftigte ihn, während er den Magier mit den mephistohaften Zügen nicht aus den Augen ließ.

Feuer und Rauch waren die Lieblingselemente. Er holte sie überall hervor. Aus mit Wasser gefüllten Bechern und Behältern, aus verschlossenen und fabrikfrisch versiegelten Whisky- und Sherry- oder Brandy-Flaschen.

Die atemlos starrenden Zuschauer sahen, wie die roten und schwarzen Vorhänge an der Seite Feuer fingen, und einige sprangen schon entsetzt auf – aus Angst, dem Zauberkünstler könne ein Malheur passiert sein.

Mit scharfer, dröhnender Stimme rief Abraxas in den Saal, dass niemand sich zu fürchten brauche. Er hätte das Feuer unter Kontrolle.

Es stimmte.

Die Flammen erstickten, und die Vorhänge zeigten sich unversehrt.

Abraxas schnippte mit den Fingern. Aus der Dunkelheit der Bühne hinter ihm schwebte eine von innen her beleuchtete Weltkarte heran.

Der Magier stellte sich seitlich, deutete mit einem langen Stab auf die verschiedenen Kontinente und Inselwelten und sagte: »Zum Abschluss des ersten Teils, meine sehr verehrten Damen und Herren, möchte ich Ihnen ein Schauspiel besonderer Art gönnen. Ich werde vor Ihrer aller Augen einen Menschen erscheinen – und wieder verschwinden lassen! Sie werden sagen: Das ist nichts Besonderes, das haben auch schon andere getan. Richtig! Nur mit einem Unterschied: Es waren Assistentinnen der betreffenden Illusionisten, mit denen diese Tricks vorgeführt wurden. Ich bin kein Illusionist – ich bin ein Magier. Das ist ein Unterschied. Ich arbeite ohne Hilfskräfte, ohne Assistenten. Uneingeweihte, Nichtsahnende sind es, die in den magischen Zirkel hineingezogen werden, den ich hier entstehen ließ und der über Länder und Meere hinweg wirksam werden wird. Ob hier aus London, ob aus Paris, Berlin oder Wien, ob aus den Vereinigten Staaten, ob aus den Dschungeldörfern Afrikas und Südamerikas, ob aus den Strohhütten auf Borneo oder Neu Guinea, ob aus Papeete, Tahiti oder den Neuen Hebriden: aus allen Winkeln der Erde kann ich die Menschen rufen, und sie werden hier erscheinen! Sie können sich vorstellen, dass es unmöglich ist, einen solchen Mitarbeiterstab von Assistenten und Assistentinnen ständig bereitzuhalten und sie in Kisten oder Kästen oder hinter Vorhängen zu verstecken ...«

Leises Lachen kam auf.

»Sie selbst – einer aus Ihren Reihen – soll bestimmen, wer hier erscheinen soll. Sie können Rasse, Alter und Geschlecht angeben, und ich werde Ihnen beweisen, dass mein Ruf über Länder und Meere hinweg hallen und denjenigen rufen wird, wo immer er sich auch befindet. Bitte, machen Sie Ihre Angaben auf kleinen Zetteln. Aus der Masse werde ich einen herausgreifen, und der Schreiber soll sich melden ...«

Was er sich da vorgenommen hatte, war mehr, als selbst die besten Kenner magischer Kunststücke bisher erlebt hatten. Er machte ein Handzeichen. Aus der Finsternis hinter ihm trat eine Gestalt mit einem glitzernden Gefäß in der Hand, das an einen kleinen Eimer erinnerte.

»Er wird Ihre Zettel einsammeln, verehrte Damen und Herren, und ich möchte einen aus Ihrer Mitte bitten, dann ein solches Los zu ziehen, auf das Sie Ihre Wünsche geschrieben haben.«

Der Mann, der von hinten kam, lächelte. Er war ein sympathischer junger Mann, höchstens achtundzwanzig Jahre alt, mit dunkelgelocktem Haar. Es war der Pole Gablisczek.

Auch Björn gab seinen Zettel ab.

Der Deutsche spielte noch mit dem Gedanken, sich als derjenige zu melden, der das Los ziehen wollte, aber eine üppige Blondine mit aufregenden Kurven kam ihm zuvor.

Sie trug ein schwarz-silbernes Kleid und rauschte auf die Bühne.

Abraxas, der den kleinen Eimer von Gablisczek entgegengenommen hatte, reichte ihn der Blonden.

Die strahlte, als wäre ihr eine Perlenkette umgehängt worden. Für alle sichtbar steckte sie ihre Hand in die Öffnung, fingerte zwischen den Zetteln herum und nahm eines der Röllchen heraus. Sie zeigte es in die Runde, als hätte sie für diesen Auftritt geübt, und Abraxas nahm es lächelnd entgegen.

Er rollte es auseinander. Der rote Scheinwerfer war auf seinen Oberkörper gerichtet. Man konnte jede Bewegung seiner Finger und sein Gesicht genau sehen. Ein harter Zug lag um die schmalen Lippen des Magiers, in seinen Augen glitzerte es wie Eis. Er las vor. Seine klare Stimme hallte durch den großen, dunklen Saal.

»Ich wünsche mir ein Tahitimädchen, vierundzwanzig Jahre alt, und sie soll nicht mehr als einen Lendenschurz tragen.« Alles lachte.

Abraxas blickte in den dunklen Zuschauerraum.

»Ein ausgefallener Wunsch! Ich gehe sicher nicht fehl in der Annahme, dass der Schreiber männlichen Geschlechts ist.« Erneutes Lachen.

»Nun, welcher Herr war es? Ich möchte, bevor ich zu seinem Wunsch komme, gern eine Frage an ihn richten.«

In der fünfzehnten Reihe erhob sich ein untersetzter, jüngerer Mann.

Sofort schwenkte der Scheinwerfer herum und tastete sich wie ein riesiger Finger in die Dunkelheit. Die rote Farbe verschwand, und helles Licht gleißte auf. Der Mann war nun deutlich zu sehen. Er hatte borstiges Haar, eine kleine, spitze Nase, Pausbacken wie ein Baby und strahlte übers ganze Gesicht. Björn Hellmark schätzte ihn auf Anfang dreißig. Dieser Besucher machte auf ihn den Eindruck, dass er zu Scherzen aufgelegt sei, was er durch seinen Wunsch auch eindeutig zum Ausdruck gebracht hatte.

Um Abraxas' Lippen zuckte es.

»Eine Frage, Sir: Haben wir uns schon jemals irgendwo getroffen?«

»Nein!«

»Würden Sie bitte den anwesenden Herrschaften bestätigen, dass dieser Text von Ihnen erst vor wenigen Augenblicken geschrieben wurde, dass wir uns zuvor nicht abgesprochen haben und dies in Ihrem – wie in meinem Leben – die ersten Worte sind, die wir miteinander wechseln?«

»Ja. Ich kann bestätigen, dass es so ist.«

»Würden Sie mir bitte noch Ihren Namen sagen?«

»Jake Fuller.«

»Sie stammen aus London, Mister Fuller?«

»Nein. Ich bin hier zu Besuch. Bei Freunden. Ich lebe in Hull.« Alles klang echt und überzeugend. Nur die wenigsten glaubten, dass es doch eine geheime Absprache zwischen Fuller und dem Zauberkünstler gab.

Aber wie sollte das geschehen sein?

Sie alle hatten gesehen, dass die Dinge sich vor aller Augen abspielten, dass der Behälter zuvor leer gewesen war und die Blondine dabeigestanden hatte, als der Magier die Rolle herausnahm.

»Ein Tahitimädchen, Mister Fuller? Sie bestehen darauf? In der von Ihnen angegebenen Form?«

»Hm, nun ja, wenn sie einen BH trägt, dann macht's auch nichts.« Die Zuschauer lachten. Einige wischten sich die Tränen aus den Augen. Die Schau, die hier unfreiwillig abgezogen wurde, amüsierte. Björn Hellmark konnte sich der allgemeinen Heiterkeit ebenfalls nicht entziehen. Er war gespannt, wie Abraxas das gestellte Problem lösen würde. Die Bühne war wieder leer. Der Mitarbeiter des Zauberkünstlers war in der Dunkelheit der Kulisse untergetaucht, und die Blondine mit den aufregenden Formen trippelte durch die Stuhlreihen und nahm ihren Platz wieder ein.

Abraxas spreizte in beschwörender Manier die Hände.

Feuerkugeln schwirrten auf der Bühne hin und her, als würden sie an unsichtbaren Fäden gezogen.

Flammenzungen leckten über seinen Körper und hüllten ihn ein. In dem flackernden Licht- und Schattenspiel sah er aus wie der leibhaftige Satan. Sein Gesicht glühte; hart wirkten die Schatten auf seinem ausdrucksstarken, energischen Gesicht.

Mit dem Feuer hatte er überhaupt gern zu tun. Die Funken sprangen knisternd über, und man fühlte die Wärme, die einem von der Bühne entgegenschlug, und besonders die Zuschauer in den ersten Reihen spürten es. Bei diesem Feuerwerk müsste normalerweise ein Brand ausbrechen, aber nichts geschah. Die Illusionen, die Abraxas vermittelte, waren perfekt.

Der Magier hob die Arme und breitete sie aus, als wolle er den flackernden, unterhalb der schwarzen Drapierung glühenden Flammenhimmel herunterreißen.

»Ich werde es rufen, Ihr Mädchen aus Tahiti, Mister Fuller. Und sie wird so sein, wie Sie sie sich gewünscht haben.« Alle starrten gespannt nach vorn.

Moorea war eine der kleinen verträumten Inseln in der Südsee mit weißem Strand, Palmen und einem herrlichen Sonnenmorgen.

Pierre Carnol hatte nicht geglaubt, dass es so etwas gab. Diese Nacht war wie ein Traum gewesen. Seit drei Tagen befand er sich auf der Insel, und er wähnte sich im Paradies. Er hatte für diese Reise seit Jahren gespart und sich jeden anderen Wunsch versagt, um die Inselwelten kennenzulernen.

Mit dem Flugzeug war der Zweiunddreißigjährige nach Papeete gekommen und von da aus nach Moorea weitergereist. Diese Insel, so hatte er sich sagen lassen und gelesen, sollte noch schöner und romantischer sein als Tahiti. Dort verkehrten schon zu viele Touristen, und vieles war kommerziell geworden. Der Massentourismus zeigte seine ersten Auswirkungen, und in wenigen Jahren, davon war der junge Franzose überzeugt, würde eine Flut von Fremden aus aller Herren Länder hier einbrechen, und es würde sich das wiederholen, was an der Costa del Sol, an der Algarve und an der Südküste seines Heimatlandes bereits stattgefunden hatte.

Schreckliche Betonklötze, in denen Hunderte und Aberhunderte von Hotelzimmern untergebracht waren, würden wie die Pilze aus dem Boden schießen und diese herrliche Natur verschandeln.

So wie es jetzt noch war, schien die Zeit seit den Tagen James Cooks und der anderen großen Seehelden stehengeblieben zu sein. Daran dachte er, als er mit Saionan, einem hübschen Inselmädchen, am Strand lag und ihren braunen, formvollendeten Körper liebkoste.

Das Mädchen lächelte ihn an. Wie Perlen schimmerten ihre Zähne. Er küsste sie. Saionan trug einen langen geschlitzten Rock und ein buntgemustertes Tuch, das sie wie einen BH um ihren Busen geschlungen hatte.

Pierre Carnol war in dieser Nacht nicht in dem kleinen Hotel gewesen, und er hatte die Absicht, auch in der kommenden Nacht nicht dorthin zurückzukehren.

Hier im Palmenhain, unter freiem Himmel, hatte er die Nacht mit Saionan verbracht. Die Insulanerinnen waren schnell zu erobern. Was Sex und Liebe anbetraf, dachten sie freizügiger als ihre Geschlechtsgenossinnen in Dänemark, Schweden oder Frankreich.

»Saionan«, flüsterte Pierre zärtlich. Sie sah ihn aus großen, unergründlichen Augen an. Wimpern wie aus Seide gesponnen, eine Haut wie Sahnekaffee.

Seine Rechte glitt über ihren geschmeidigen Körper, der sich lautlos und elastisch wie eine Raubkatze bewegte. Langsam öffnete er den lockeren Knoten des Brusttuches. Seine Lippen liebkosten die heiße Haut. Das Inselmädchen streichelte seinen Nacken.

Ihr Tuch fiel, und er zog es zur Seite; seine Lippen näherten sich ihrem festen Busen. Sie drängte sich an ihn, und ein leiser Seufzer entrann ihren Lippen. Seine Hand näherte sich dem hochgeschlitzten Rock, aber plötzlich griff er ins Leere.

Pierre fuhr erschrocken zusammen, und seine Augen weiteten sich. »Saionan?«, fragte er entsetzt. Doch sie war weg, verschwunden, als hätte der Boden sie verschluckt!

Das Mädchen warf den Kopf herum. Was war geschehen? Das vertraute Blätterdach, durch das stellenweise der blaue Himmel schimmerte, war mit einem Mal verschwunden. Es herrschte tiefe Dunkelheit, als wäre der Mond auf die Erde gestürzt und hätte alles ausgelöscht.

Wie ein Sog packte es sie. Das Mädchen aus Moorea glaubte, in einen endlosen Schacht zu fallen, und ihr eigener Schrei hallte gellend in ihren Ohren.

Nur den Bruchteil einer Sekunde lang dauerte dieses Gefühl der Zerrissenheit, als würde sich ihr Körper in Myriaden von winzigen Partikeln auflösen, um an anderer Stelle wieder zusammengefügt zu werden.

Ein leises Flackern traf die Augen. Die Umgebung war verändert. Völlige Schwärze zunächst. Dann ein flackerndes Licht.

Saionan schrie, und fünfhundert Besucher des Exclusive Theatre am Londoner Strand hörten es.

Abraxas stand nicht mehr allein auf der Bühne. Im flammendroten Licht des Scheinwerfers sahen es alle. Eine Halbnackte! Schwarz und wellig fiel das dichte Haar auf samtene, braune Schultern. Die Brüste wippten leicht, das hochgeschlitzte Tuch war verrutscht und ließ die langen, festen Schenkel sichtbar werden.

Björn Hellmark bemerkte den überraschten, erschrockenen Ausdruck auf dem Gesicht der schönen Fremden.

»Ein Mädchen aus Tahiti, Mister Fuller«, sagte Abraxas mit dröhnender Stimme. »Genau wie Sie sich's gewünscht haben. Jung und barbusig! Was wollen Sie mehr?«

Es ging alles sehr schnell. Rundum waren die zuckenden Flammen, die nichts in Brand gesetzt hatten, erloschen.

Nur Abraxas und die schöne Fremde, der eine rote Hibiskusblüte im Haar steckte, standen mitten auf der Bühne.

Beifall brandete auf. Abraxas machte eine theatralische, umfassende Handbewegung. Es wurde leiser. Deutlich war zu hören, was er fragte: »Gefällt sie Ihnen, Mister Fuller?«

»Ja, sehr.« Der Untersetzte, der zu jedem Spaß aufgelegt schien, klatschte wie besessen in die Hände.

Björn hielt den Atem an.

Etwas gefiel ihm nicht, und zwar das Verhalten des Inselmädchens. Es war erschrocken, fast entsetzt. Das war kein Auftritt nach ihrem Geschmack.

Assistentinnen von Zauberkünstlern und Illusionisten pflegten anders aufzutauchen oder in der Versenkung zu verschwinden. Sie lächelten und unterstrichen durch ihre Person den zauberhaften Ablauf des Geschehens. Sie freuten sich über das Gelingen oder taten zumindest so.

Von alledem war in diesen Sekunden nichts zu spüren. Björn registrierte es, aber es ging alles viel zu schnell, um die Gedanken weiter in diese Richtung zu lenken, die Sinne zu schärfen. Innerhalb von drei Sekunden war alles zu Ende.

»Wunderbar. Wollen Sie sie haben?«, fragte Abraxas.

Jake Fuller hielt das – wie alle anderen hier im Saal – für einen Scherz. Aber er ging darauf ein. »Geschenkt?«

»Ja.«

»Dann nichts wie her mit ihr!« Fuller zwängte sich durch die Reihe. Bereitwillig wurde Platz gemacht. Ein dunkelhaariger Mann klopfte ihm anerkennend auf die Schultern, und die meisten konnten hören, was er sagte: »Sie sind ein Glückspilz. Hoffentlich löst er das Mädchen nicht in Rauch auf. Beeilen Sie sich!«

Er hatte die Lacher auf seiner Seite. Die Stimmung im Exclusive Theatre war hervorragend.

»Bleiben Sie, bleiben Sie!«, rief da Abraxas. Es ging alles rasend schnell. »Ich schicke sie Ihnen!«

Er riss beide Arme hoch. Sein großer, innen mit roter Seide gefütterter Umhang wirkte wie Flügel, die er plötzlich entfaltete, als wolle er fliegen. Heiß, wie der Atem eines unsichtbaren Ungetüms, blies es plötzlich trocken und fauchend über die Bühne. Der Umhang blähte sich auf und flatterte.

Die Insulanerin gab einen spitzen Aufschrei von sich. Im gleichen Augenblick erhob sie sich und löste die nackten Füße vom Bretterboden der Bühne. Blitzartig wurden ihr die Arme auseinandergerissen, als wolle sie sie wie Flügel zum Flug spreizen.

Alle sahen es und hielten den Atem an. Abraxas, der Welt größter Magier, zog sie in seinen Bann, und niemand konnte sich ihm entziehen.

Das Mädchen von der fernen Insel stürzte auf die Zuschauerreihen zu.

Sie würde von der Bühne fallen ...

Erschrocken sprangen einige Zuschauer in der ersten Reihe auf und liefen nach vorn.

Unter ihnen auch Björn Hellmark. Er war Saionan in dieser Sekunde am nächsten.

Er sah in dieses von Zweifeln und Ängsten geplagte Menschenantlitz, hörte den spitzen, entsetzten Schrei aus nächster Nähe, sah den schwarzen, massiven Schatten, der wie eine riesige Hand aus der Düsternis von oben herabkam, sie einhüllte und verwandelte.

Das Mädchen wurde zu einem riesigen schreienden Vogel, der tief über die erschrockenen und sich duckenden Theatergäste hinwegstrich, die Luft knatternd mit den gezackten Schwingen zusammenschlug und wie ein Pfeil auf Jake Fuller zujagte.

Der Mann stand wie erstarrt.

Er duckte sich und riss gleichzeitig instinktiv die Hände empor, um sein Gesicht vor den messerscharfen Krallen zu schützen.

Der schwarze Riesenvogel stieg steil und zentimeternahe vor ihm empor und flog wie ein Albatros durch die stickige Theaterluft über die den Atem anhaltenden Menschen hinweg zur rückwärtigen Wand.

Ein Zischen ...

Der Vogel wurde zu einem durch die Lüfte wirbelnden Mädchenkörper. Der lange geschlitzte Rock zerriss von oben bis unten, und das Tahitimädchen löste sich auf in einen Schatten, der verging.

Sekundenlang Totenstille ...

Der Vorhang fiel. Da löste sich die Starre, der Bann. Hände rührten sich.

»Bravo«, rief eine Männerstimme. Beifall brandete auf. Nur ein Trick, eine Illusion? Der Spuk war vorbei.

In der Pause ging man ins Foyer oder in das angegliederte kleine Restaurant.

Nach zwanzig Minuten wollte Abraxas weitermachen. Dann kam der zweite Teil des Abends. Die Menschen waren begeistert. In Gruppen standen sie beisammen und unterhielten sich flüsternd.

»... wie ist so etwas nur möglich?«, fragte eine ältere, elegant gekleidete Dame und zupfte ihre mit Silberfäden durchwirkte Stola zurecht. Der Mann an ihrer Seite zündete sich eine mit einer rot-blau-gold gestreiften Bauchbinde verzierte Zigarre an. Das Ehepaar, mit dem sie sich unterhielten, war nicht viel jünger, auch etwa Mitte fünfzig.

»Taschenspielertricks«, knurrte der mit der Zigarre. »Spiegelungen ...«

»Aber ich habe den Luftzug gespürt. Ganz deutlich«, flüsterte seine bessere Hälfte. Das andere Paar war mehr oder weniger auf die Seite des Zuhörers abgeschoben. Es äußerte sich nicht.

»Auch ein Trick ... oder was denkst du? Glaubst du wirklich, er hätte die Kraft, aus Tahiti – Hokuspokus – ein Mädchen zu holen und durch Gedankenkraft hierherzurufen?« Der Zigarrenraucher paffte und winkte ab, als ließe sich das alles leicht erklären.

»Sie sah so erschrocken aus, Henry.«

»Na und?«

»Gerade so, als hätte er sie aus dem Bett oder vom Strand geholt ...«

»Sie musste die Überraschte und Erschrockene mimen. Sonst stimmt doch das ganze Theater nicht ...«

Wie das Gespräch weiterging, konnte Björn nicht verfolgen. Wortfetzen von anderen, die sich unterhielten und das Phänomen Abraxas zu erklären versuchten, drangen an sein Ohr.

»Unglaublich ...«

»Ich bin richtig ängstlich geworden«, sagte eine junge Frau. »Ich habe die Flügelschläge über meinem Kopf gespürt ...«

»Der Mann ist phänomenal. Ich war noch nie so fasziniert, ...«

»Der Bursche steht mit dem Teufel im Bund.«

»Dem muss ich mal meine Schwiegermutter schicken. Vielleicht kann er den Trick wiederholen ...«

Hellmark war zwar fasziniert aber gleichzeitig aufs höchste beunruhigt. Er versuchte das Geschehen zu analysieren. Das war nicht einfach. Einem Gefühl konnte er sich nicht verschließen: Angst und Grauen hatte er gespürt, als das Mädchen auftauchte, zu einem Vogel wurde und schließlich, zum Schatten werdend, auflöste.

Eine Massensuggestion? Möglich.

Wenn nur Glen Robinson gekommen wäre! Für heute Abend waren sie hier verabredet gewesen. Der Sachbuchautor hatte zuerst den Hinweis gegeben, dass Abraxas mit Hilfe eines verhexten Riesendiamanten arbeitete, mit dem er das Grauen und die Macht der Hölle heraufbeschwören konnte.

Robinson, der bisher ausschließlich über erstaunliche und außergewöhnliche Phänomene in dieser Welt berichtet hatte, war zum Auflagenmillionär geworden. Seine bisherigen Bücher waren in fünfundzwanzig Sprachen übersetzt worden.

Nachdem er den Wunderheilern, Hellsehern und angeblich außerirdischen Besuchern dieser Welt auf den Leib gerückt war, sah er nun den weltberühmten Zauberkünstlern und Magiern auf die Finger. Wie arbeiteten sie? Was war das Geheimnis ihres Erfolges? Gab es wirklich Menschen, die über außersinnliche Kräfte und magische Fähigkeiten verfügten? Woher nahmen sie diese Kräfte?

Über alle diese Fragen wollte er sich mit Glen Robinson unterhalten. Der Gesprächspartner aber war nicht gekommen. Sie hatten die Plätze nebeneinander gehabt, aber der Platz neben Björn Hellmark war leer geblieben.

Der blonde Mann zog auch jetzt noch die Blicke der Damenwelt auf sich. Obwohl Abraxas' Darbietung sie alle beschäftigte. Hellmark wurde beobachtet, als er das Exclusive Theatre verließ und eine Weile draußen blieb, um frische Luft zu schnappen und nach Glen Robinson Ausschau zu halten. Er kannte den Autor durch Bilder, war ihm persönlich jedoch nie begegnet.

Robinson kam nicht.

Hellmark lief die fünfzig Schritte zur nächsten Telefonzelle und rief von dort aus die Wohnung des Mannes an, mit dem er sich treffen wollte. Er ließ es endlos lange klingeln, doch niemand hob ab.

War Robinson aufgebrochen und noch unterwegs, oder war ihm etwas dazwischengekommen, das ihn veranlasste, dem Treffen fernzubleiben? Auch darüber machte Björn Hellmark sich Gedanken.

Unverändert ernst verließ er die Telefonzelle.

Unruhe und Ratlosigkeit erfüllten ihn. Für kurze Zeit war es im Theater vorhin so gewesen, dass er das leise Grauen fühlte, das von der Bühne herabwehte.

Er kannte dieses Gefühl. Es verhieß nichts Gutes.

Die gleiche, unerklärliche Unruhe fühlte er immer dann, wenn sein Erzfeind Molochos und die Dämonenschergen in der Nähe weilten, wenn sie eine neue Gemeinheit ausheckten, um ihm den Garaus zu machen.

Genauso war es auch heute wieder.

Unmittelbar nach seinem Auftritt suchte Abraxas die Garderobe auf. Er ging etwas gebeugt, war müde und erschöpft und steuerte sofort die breite Liege an, um sich dort ein wenig auszuruhen.

Schweiß stand auf seinem Gesicht, und er wirkte abgespannt und älter. Sein Auftritt hatte Kraft gekostet.

Er schloss die Augen und atmete tief durch.

Seine Hände zitterten, als er mit einem Tuch über seine noch immer feuchte Stirn fuhr.

Langsam wurde er ruhiger. Er brauchte diese Viertelstunde der Ruhe und Sammlung, ehe er den zweiten Teil seiner Vorführung folgen ließ.

Er setzte sich aufrecht. Neben ihm auf einem flachen Tisch standen eine Karaffe mit Wasser und ein frisches Glas. Er schenkte es voll und trank in tiefen Zügen.

Die dunklen Augen des Mannes mit dem Mephistogesicht waren auf einen imaginären Punkt gerichtet.

Seine Spannkraft kehrte wieder; die Haut, die faltig und grau gewirkt hatte, wurde wieder glatt, und Glanz kehrte in die Augen zurück.

Ein tiefer Atemzug hob und senkte die Brust des Magiers.

Er wandte den Blick. Erst jetzt nahm er den Mann wahr, der auf einem Sessel in der Ecke des halbdunklen Zimmers saß, die Beine auf einem Tisch und um die Lippen ein zynisches Lächeln. Abraxas schluckte. Dieser Gast war ihm kein Unbekannter. Er war immer bei ihm. Gablisczek! »Fühlen Sie sich wieder besser?«, fragte er mit dumpfer Stimme.

Abraxas antwortete nicht. Er starrte vor sich hin und hatte noch nicht wieder seinen alten Zustand erreicht. Er deutete auf das Telefon. »Würden Sie es mir bitte mal herüberreichen?«, fragte er matt. »Ich möchte im Hotel anrufen. Meine Tochter hat sich heute Abend nicht so wohl gefühlt. Ich möchte wissen, wie es ihr geht.«

»Ich bin nicht Ihr Diener«, war die Entgegnung aus der dunklen Ecke. »Ich habe den Auftrag, Sie zu bewachen. Das ist etwas anderes.«

Der Magier stemmte sich in die Höhe, ging zwei Schritte und stand am Telefon. Er wählte, und schon nach dem ersten Klingelzeichen meldete sich der Portier des Huston Hotels.

»Mrs. Stokan, bitte«, sagte er leise.

»Sofort, Sir.«

Es klickte. Gleich darauf war eine andere Stimme in der Leitung. »Ja?«

»Hallo, Jutta! Ich möchte gern wissen, wie es unserem Sonnenschein geht. War der Arzt schon da?«

»Ich erwarte ihn jede Minute, Karel. Ruchena hat Fieber.«

»Sehr hoch?«

»Unverändert, ja.«

»Hoffentlich ist es nichts Ernstes.«

»Sie ist trotz allem recht munter, und ich musste sie überreden, im Bett zu bleiben. Wir werden bald mehr wissen.«

Er wechselte mit seiner Frau noch ein paar Worte und gab an, dass er gegen Mitternacht im Hotel sei. Es lag nicht weit entfernt vom Exclusive Theatre. Ein Fußweg von drei Minuten. Er hätte seine Pause bequem dort einlegen können, aber nach dem Auftritt brauchte er jede Minute Ruhe.

Abraxas legte auf. Er nahm seinen Platz auf der Liege wortlos wieder ein.

Er genehmigte sich ein zweites Glas Wasser, trank es aber nicht sofort. Aus einer verschlossenen Ledertasche nahm er einen flachen Metallbehälter, in dem mehrere getrocknete Pflanzenstängel lagen.

Er holte einen heraus und schwenkte ihn im kühlen Wasser, das sich sofort trübte. Ein grünlicher, wolkiger Nebel verbreitete sich darin.

Den feuchten Pflanzenstängel legte Abraxas wieder wie ein zerbrechliches, kostbares Etwas in die Metallschachtel zurück. Dann trank er die Brühe und verzog das Gesicht. Das Wasser schmeckte bitter wie Galle. Tapfer schluckte er.

Das Glas auf die Tischplatte zurückstellend warf er einen Blick auf seine Uhr. Noch fünf Minuten hatte er, Zeit genug, letzte Kräfte zu schöpfen. Seine Gesichtshaut nahm wieder eine frische Farbe an. Das geheimnisvolle Elixier, das er getrunken hatte, wirkte in Sekunden.

Die Viertelstunde war um, und Abraxas verließ die Garderobe wieder mit dem elastischen Schritt wie zu Beginn des ersten Teils.

Gablisczek sah, wie er mit harter Hand die Tür hinter sich zuzog. »Er baut ab«, murmelte er. »Und er merkt es nicht. Abraxas, der Welt größter Magier, ist nur eine Marionette. Und niemand weiß es ...«

2. Kapitel

Jutta Stokan trat vom Fenster zurück. Endlich fuhr der Wagen vor. Der Arzt kam. Es war auch höchste Zeit. Seit einer Stunde wartete sie auf ihn.

Sie bedauerte es, bei diesen Dingen trotz der besonderen Fähigkeiten ihres Mannes immer wieder auf andere Hilfe angewiesen zu sein. Karel war ein ungewöhnlicher Mensch, und sie wusste, dass er wirklich über außergewöhnliche Kräfte verfügte, die außer ihm niemand besaß. Aber er war kein Wunderheiler.

Das hieß: Ein einziges Mal hatte er sich als solcher erwiesen, aber nur ein einziges Mal; und da hatte er sie vor dem sicheren Tod bewahrt.