Macabros 012: Schreckensmarionetten - Dan Shocker - E-Book

Macabros 012: Schreckensmarionetten E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Bearbeitete Original Romane Macabros 23 - Gefangen im Totenmaar Als der Geologe Rudi Czernin sich auf einer Feier nach einem Schwächeanfall auflöst und verschwindet, klemmt sich der Reporter Rolf Burghardt, der Zeuge des Geschehens wurde, hinter dieses Mysterium. Auch Björn Hellmark kümmert sich um den rätselhaften Mann, als er von Al Nafuur einen dementsprechenden Hinweis erhält. Scheinbar ist jener Czernin einer der wenigen Personen - wenn nicht gar die einzige - die aus dem Totenmaar, einer Nebendimension aus einem Zeitstarrenetz, in der Lebewesen erstarren und trotzdem weiterleben müssen, entkommen konnte. Als dann ein Pärchen im nahe gelegenen Wörther See verschwindet und Rolf Burghardt am See tot aufgefunden wird, rudern Rani und Björn auf den See und landen in der gestellten Falle des Dämons Kopah, welcher dem Schwarzen Priester Yron dient. Doch irgendetwas geht schief und nur Rani wird im Totenmaar gefangen. Björn hingegen erlebt als Kaphoon noch einmal den Niedergang des Volkes Daiss und ihrer Anführerin Bailea, der Geliebten Kaphoons. Macabros 24 - Marionetten des Schreckens Nach den Strapazen der letzten Wochen gönnen sich Björn, Carminia, Rani und Pepe eine Luxusschiffskreuzfahrt beginnend in der Karibik. Allerdings geschehen eigenartige Dinge: eine Passagierin wird tot aufgefunden, die Motoren des Schiffes setzen aus und das Schiff wird von Nebel verhüllt. Als Björn dann den Geschäftsmann Poul Hardy kennenlernt, der auf dem Schiff eine Dämonin gesehen haben will, welche ihm Tage zuvor jede Menge Geld abgenommen hatte, weiß er, wer seine Gegnerin ist: Phantoma, die Tochter der Finsternis. Er will sich ihr stellen, merkt leider aber viel zu spät, dass alles - sogar die plötzliche Entführung von Pepe - nur zur Ablenkung diente. Phantoma will Björn nämlich endgültig zur Strecke bringen un

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DAN SHOCKERS MACABROS

BAND 12

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Fachberatung: Gottfried Marbler

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-712-2

Dan Shockers Macabros Band 12

SCHRECKENSMARIONETTEN

Mystery-Thriller

Gefangen im Totenmaar

von

Dan Shocker

Prolog

Er nahm an der Party teil, und niemand sah ihm an, dass etwas Besonderes mit ihm los war. Er wusste es selbst nicht, obwohl ihn eine düstere Ahnung erfüllte, die er jedoch nicht wahrhaben wollte.

Seine Freunde und Bekannten und auch die meisten Fremden, die ihm vorgestellt worden waren, wussten, dass Rudi Czernin längere Zeit nicht in seinem Haus am Wörther See gewesen war, das er von einem reichen Onkel geerbt hatte, der ohne Nachkommen verstorben war. Viele neugierige Fragen waren gestellt worden, aber bis zur Stunde hatte er niemandem seinen Aufenthaltsort verraten. Eines Tages war er stillschweigend und unerwartet ebenso wieder aufgetaucht, wie er zuvor verschwunden war.

»Nun, mein lieber Czernin«, sagte Paul Gerauer mit dröhnender Stimme. Er war der Gastgeber. In seinem exklusiven Haus in Wien, einer alten Villa aus der Zeit der Jahrhundertwende, der sich ein knapp viertausend Quadratmeter großes Grundstück anschloss, gab er eine Abschiedsparty vom Alltag, wie er es nannte.

Gerauer war wohlhabender Juwelier, Mitte Vierzig, und hatte den Entschluss gefasst, sich zur Ruhe zu setzen. Seinen Laden in Wien sowie eine Filiale in Salzburg und eine zweite in Innsbruck hatte er verkauft. Mit dem ihm eigenen Geschäftssinn hatte er notariell festlegen lassen, dass die Geschäfte weiterhin unter dem eingeführten Namen liefen, und dadurch hatte er einen noch bedeutend höheren Preis erzielt.

»Wollen Sie wenigstens mir verraten, wo Sie sich aufgehalten haben, hm?« Gerauer deutete mit einer kaum merklichen Geste in die Runde. Sie standen in einer Art Säulenhalle, von der aus eine breite, freitragende Marmortreppe mit einem schweren, roten Teppich nach oben auf eine Galerie führte. Die Türen zu sämtlichen Zimmern standen offen, und überall war etwas los. Man hörte Stimmen, Lachen, Musik. Gläserklirren und Lachen kamen auch aus dem Keller. Dort unten, wo die Weinfässer lagen, hatte sich Gerauer eine gemütliche Bar einrichten lassen. Rund hundert Gäste waren geladen. Sie verteilten sich in dem großen Haus. »Hier sind wir ganz unter uns, Czernin. Spucken Sie's aus! Sie sind Geologe. Haben Sie 'ne geheime Goldader gefunden, von der kein Mensch etwas ahnt?«

Rudi Czernin lächelte nur. Sein bleiches Gesicht, schmal, die Haut wie Pergament, ließ ihn etwas kränklich erscheinen. Er drehte verlegen sein Champagnerglas in der Hand und schüttelte den Kopf.

»Kein Gold? Czernin! Sie haben eine ganz große Entdeckung gemacht! Irgendetwas geht in Ihnen vor. Lernen Sie mich die Menschen kennen!« Wenn Gerauer ein Geschäft witterte, dann ließ er nicht mehr los. Er war ein typischer Erfolgsmensch. Was er sich vornahm, bekam er. »Diamanten? Ist es das, was Ihnen Kopfzerbrechen macht? Sie müssten investieren, nicht wahr? Sie könnten Millionen scheffeln – aber Ihnen fehlt das Startkapital. Hab' ich recht?«

»Nein, das haben Sie nicht.« Die tiefliegenden Augen des bleichen Czernin begegneten dem Blick seines Gegenübers. Gerauer sah um zehn Jahre älter aus. Verlebt. Er rauchte wie ein Schlot, trank wie ein Bierkutscher, und es ließ sich nicht mehr abzählen, mit wem er schon alles geschlafen hatte. Was andere in sechzig oder siebzig Jahren hinter sich brachten, hatte er in der Hälfte der Zeit geschafft. Man sah es ihm an.

Czernin fuhr fort: »Und selbst wenn es so wäre, Gerauer, haben Sie noch immer nicht genug?« Es klang weder beleidigend noch zynisch. Es war eine Feststellung.

Gerauer grinste. Er strich mit dem Zeigefinger über sein pechschwarzes Lippenbärtchen. Sein Haupthaar war schon recht grau. Es wurde gemunkelt, dass sich Gerauer Augenbrauen und Lippenbarthaare einfärben ließ. »Geld«, sagte der Juwelier, die Stimme senkend. »Geld kann man nie genug haben. Ob drei, vier oder fünf Millionen – es kann immer noch weiter aufwärtsgehen.«

»Aber man kann nur essen und trinken.«

»Es gibt noch eine ganze Reihe anderer schicker Sachen auf dieser Welt, Czernin. Sie reisen durch die Welt und freuen sich an alten Steinen und der Bodenbeschaffenheit der Erde – und ich bin zufrieden, wenn ich einen Blick auf meinen Kontostand werfe und feststelle, dass die Stellen vor dem Komma weiter nach links gerückt sind. Und je weiter sie nach links rücken, desto größer die Freude.«

Sie lachten beide. Juwelier Gerauer prostete seinem Gesprächspartner zu und leerte sein Glas in einem Zug. Czernin nippte nur an seinem Champagner.

»Na, nicht zu zaghaft, mein lieber Czernin. Schlucken Sie das Zeug runter! Beste Exportqualität aus Frankreich. Einen derart feinen Tropfen kriegt man nicht jeden Tag. Nutzen Sie das aus!«

»Eben weil es ein so hervorragender Champagner ist, genieße ich ihn um so bewusster.«

Paul Gerauer beugte seinen quadratischen Schädel ein wenig nach vorn. »Ich will, dass Sie einen Schwips bekommen, Czernin. So ein Stöffchen löst die Zunge. Da habe ich noch immer die Hoffnung, dass Sie gesprächiger werden ...« Er wollte noch etwas hinzufügen, unterließ es aber. Oben auf der Treppe tauchten zwei Damen in langen Kleidern auf.

»Das ist ein Abend zum Feiern, Paul«, rief die größere Dunkelhaarige. Ein gewagter Ausschnitt legte Erfreuliches bloß. »Ihr steht da rum wie die Ölgötzen und führt ellenlange Gespräche.«

Paul Gerauer winkte mit beruhigender Geste ab. »Bei rund fünfzig Damen, Charlotte, ist es ein bisschen schwierig, alle vor Mitternacht zu bedienen.«

Die Angesprochene lachte hell auf und nahm einen Schluck aus ihrem Glas. Den Rest des goldenen Champagners kippte sie kichernd über die Brüstung der Galerie. Unten vor dem Treppenbogen stand eine steinerne Statue, eine Art Venus mit üppigen Brüsten und klassisch geformten Beinen, die im Verhältnis zum Körper wohlproportioniert waren. Die Statue hatte ein Gesicht. Lieblich und verträumt war der Ausdruck. In der Rechten hielt die steinerne Schöne eine flache Schale, in der ein farbenprächtiges Blumenarrangement steckte. Man erzählte sich, dass ein Bildhauer, mit dem Gerauer befreundet war und der heute Abend ebenfalls an der Party teilnahm, eine von den Lieblingsfreundinnen des Juweliers auf diese Weise verewigt hatte. Champagner fiel in die Blüten, das kostbare Nass hing daran wie Tautropfen.

»Stell dir vor, es wäre Salzsäure«, meinte die junge Dame mit dem Dekolleté. »Dann wären die schönen Blümchen jetzt hin. Ich kann mir das direkt illustriert vorstellen. Die liebliche Venus mit ein paar ausgefransten Blüten in der Blumenschale.« Sie kicherte. Man merkte ihr an, dass sie mehr als ein Glas Champagner getrunken hatte. »Nun komm schon, Paul! Herr Czernin – wie ist es mit Ihnen? Sie sind auch dauernd verschwunden.«

Czernin lächelte süßsauer. Er war perfekt gekleidet, machte einen scheuen Eindruck und schien irgendwie nicht in diese fröhliche Umgebung zu passen. Er war ständig in Gedanken, etwas beschäftigte ihn. »Das Haus ist so groß, gnädige Frau, dass man sich darin verlaufen kann.«

»Wie wär's mit einem Tänzchen?«, fragte die andere Dame, die einen Kopf kleiner war, einen kurzen Haarschnitt und ein trägerloses Kleid trug. Ihre Bräune deutete darauf hin, dass die Besucherin gerade erst von einem längeren FKK-Urlaub an der Adria-Küste oder Korsika zurück war.

»Gern. In ein paar Minuten. Ich wollte eigentlich einen kleinen Spaziergang durch den Park machen. Herr Gerauer hat mich hier unten abgefangen.«

»Wollte er mit Ihnen ein Geschäft tätigen?«, reagierte die silberhelle Stimme der Dunkelblonden. »Ich traue ihm das alles zu. Selbst wenn's ums Vergnügen geht, kann er sich von geschäftlichen Dingen nicht loseisen.«

Alle lachten.

Paul Gerauer stieg die breiten Marmorstufen hinauf. Der dicke rote Teppich schluckte seine Schritte, man hörte keinen Laut. Oben wurde er von den beiden Damen in Empfang genommen. Gerauer hakte sich bei ihnen ein.

Unten aus dem Keller kam ein Pärchen, verließ durch die breite Holztür die Halle und ging hinaus in den gepflegten Park. Die großzügige Terrasse war von den bunten Lichtern der Lampions erhellt. Die Spazierwege waren mit kleinen rotglühenden Stäben markiert. Alles war sehr geschickt und einfallsreich gemacht. Für solche Dinge hatte Gerauer eine Schwäche.

Aus allen Himmelsrichtungen waren die Geladenen gekommen. Manche hatten einen Anreiseweg von zweihundertfünfzig Kilometern hinter sich. Es war Samstag. Die meisten würden bis Sonntag früh durchfeiern und dann auch hier im Haus bleiben, um ihren Rausch auszuschlafen. Zwar standen nicht für alle hundert Personen Betten zur Verfügung, aber Notliegen und Matratzen waren herbeigeschafft und in die oberen Räume des riesigen Hauses transportiert worden. Außerdem hatte sich Paul Gerauer bereit erklärt, in seinem superbreiten Bett, das nach eigenen Angaben extra für ihn von einer großen Firma angefertigt worden war, mindestens fünf Gäste zu übernehmen. So wurden fünf Schlafplätze schlagartig frei. Er hatte sich allerdings auserbeten, dass dieser Schlafraum nur fünf Damen zur Verfügung stehe.

Gerauer war ein merkwürdiger Mensch. So richtig klar über den Charakter des anderen wurde sich Czernin nicht. Er kannte den Juwelier auch nur flüchtig.

Vor Jahren hatte der Mann Urlaub am Wörther See gemacht, nur eine Steinwurfweite von Czernins Haus entfernt. Die hervorragende Lage des Czerninschen Hauses reizte den Wiener ungemein, und eines Tages sprach er dort vor und sagte klipp und klar, dass er das Haus gerne kaufen wolle. Czernin liebte die Umgebung und die Geräumigkeit des Hauses, obwohl er selbst sehr bescheiden lebte und für sich nur drei Räume benötigte. Eine eigene kleine Wohnung gehörte einer alleinstehenden älteren Frau, die ihm den Haushalt führte und sich um alles kümmerte. Czernin hatte nie geheiratet. Alle Räume des Hauses am Wörther See erinnerten an ein Museum. Seltene Steine und andere erdgeschichtliche Funde waren dort fein säuberlich in Regalen und Glaskästen untergebracht, nummeriert und katalogisiert. Czernin sah keinen Grund, sich von seinem Besitz zu trennen. Paul Gerauer wollte ein gutflorierendes Hotel daraus machen. Bei diesem Gespräch hatten sie sich kennengelernt. Czernin hatte abgelehnt, aber Gerauer hoffte noch immer, eines Tages eine Zusage zu erhalten ...

Rudi Czernin stellte sein leeres Glas auf eine marmorne Fensterbank und ging dann hinaus in die Nacht. Die Luft war kühl und erfrischend. Durch den alten Baumbestand wurden die Straßengeräusche ferngehalten. Ein leises Raunen erfüllte die Nacht.

In der großen Villa ging es hoch her. Sämtliche Fenster waren erleuchtet, viele geöffnet. Wie Schattenrisse zeichneten sich die Silhouetten der Gäste ab.

Czernin atmete tief durch. Die Ruhe im Park tat ihm wohl. Er kam an einer Bank vorbei. Ein Pärchen saß darauf. Sie wechselten ein paar Scherzworte mit dem einsamen Spaziergänger und fragten ihn, ob er eine lauschige Ecke suche oder sich von der Schlacht am kalten Büfett erholen wolle. Czernin gab, wie er glaubte, eine witzige Antwort und ging weiter.

Seltsam, dass er immer wieder die Einsamkeit suchte. Dabei war er ein ganz anderer Mensch. Er liebte Geselligkeit und Kontakte. Nur nicht allein sein ...

Das hatte sich geändert. Plötzlich war die Angst wieder da, und Czernin stand wie erstarrt. Das Fremde war ganz in der Nähe. Schon lange hatte er es nicht mehr so intensiv gespürt.

Er wurde beobachtet!

Ein eiskalter Schauer jagte ihm über den Rücken. Blitzschnell wirbelte er herum. Die Bäume schienen plötzlich von geisterhaftem Leben erfüllt. Alle Schatten begannen zu kreisen, rundum geriet alles in Bewegung, und der sternenübersäte Nachthimmel schien auf ihn herabzufallen.

Rudi Czernin taumelte nach vorn. »Hilfe!«, gurgelte er kraftlos. Ein Schwächeanfall packte ihn. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten, wankte auf eine uralte Eiche zu und stützte sich.

Wie durch einen dichten, wogenden Schleier sah er zwei Gestalten auf sich zukommen. Das Pärchen, das auf der Bank gesessen hatte? Rudi Czernin konnte es nicht genau erkennen. Nur schemenhaft waren die Umrisse der beiden Menschen wahrzunehmen. Er öffnete den Mund und wollte schreien. Nur ein heiseres Krächzen kam über seine Lippen. »Helft ... mir ... bitte!«

Er griff nach vorn. Die Gestalten kamen ihm so nahe vor. Seine Hand stieß ins Leere, und er stürzte der Länge nach auf den weichen Boden.

Der junge Mann und seine Begleiterin bemerkten ihn zu spät. Als er schon fiel, wollte Joachim Tenner noch den Sturz verhindern. Er schaffte es nicht mehr.

Seine Begleiterin schrie erschrocken auf. »Was ist denn jetzt passiert?« Sie lief auf den Freund zu, der neben dem Gestürzten in die Hocke gegangen war.

»Wahrscheinlich hat er zu tief ins Glas geschaut«, meinte Tenner. Sein dunkles Haar duftete nach Pomade. »Hier draußen in der Luft hat es ihn dann umgehauen.«

Er drehte Czernin langsam auf den Rücken. Der Geologe hatte sich das Gesicht aufgeschlagen. Schürfwunden an den Backen- und Stirnknochen. Sein Gesicht war mit krümliger Erde bedeckt. Tenner tupfte mit einem sauberen Taschentuch vorsichtig das Gesicht ab.

Der Gast vom Wörther See atmete flach. Seine Augenlider zuckten.

»Wie fühlen Sie sich?«, fragte der junge Mann, als er erkannte, dass der andere das Bewusstsein nicht völlig verloren hatte. Er schlug ihm leicht auf beide Wangen.

Czernin wollte etwas sagen. Er fand nicht die rechten Worte und lallte. Unartikulierte Laute drangen aus seiner Kehle.

»Haben Sie Schmerzen?«, fragte Tenner. »Können Sie stehen?«

Er wollte den Gestürzten aufrichten, schaffte es mit dem Oberkörper und lehnte Czernin gegen einen Baum.

»Lauf zurück ins Haus und sag Gerauer Bescheid«, raunte Joachim Tenner seiner Freundin zu und gab ihr mit einem Kopfnicken zu verstehen, dass sie sich beeilen solle.

Sie lief los und tauchte in der Dunkelheit unter.

Czernins Lippen zuckten. Er hatte die Augen halb geöffnet und nahm sein Gegenüber verschwommen wahr. »Entschuldigen Sie!« Endlich zwei deutlich wahrnehmbare Worte; der andere erholte sich.

»Entschuldigen? Mann, was soll ich entschuldigen? Kann doch jedem mal passieren. Man trinkt, stößt mit diesem an, mit jenem, und merkt nicht, was man alles schluckt – und dann haut es einen um. Sie sind nicht der erste.«

Czernin hob die Lider. Seine Augen blickten glanzlos. Nicht einmal das Licht der Sterne spiegelte sich darin. Tenner glaubte, in leere, ausgebrannte Höhlen zu starren, und es lief ihm eiskalt über den Rücken. »Es ist ... nicht der Alkohol ... junger Freund ... es ist ... etwas anderes ... das Totenmaar ...«

»Totenmaar?« Gegen seinen Willen wiederholte Joachim Tenner dieses Wort. »Nie davon gehört.«

»Seien Sie froh ... junger ... Mann!« Czernin lächelte kränklich.

Sein Atem ging flach, und Tenner wurde es angst und bange. Der Gedanke, dass dieser Mann da vor ihm möglicherweise aus irgendeinem unerfindlichen, geheimnisvollen Grund sterben könne, erfüllte ihn plötzlich mit Panik und machte ihn nüchtern.

Gerauer erfuhr von Czernins Sturz durch Anka, die charmante Blondine aus Salzburg, die Tenner mitgebracht hatte.

Der Juwelier, gerade im Gespräch mit einem männlichen Gast, Rolf Burghardt, einem Reporter einer großen Wiener Zeitung, machte sich sofort auf den Weg zur Unfallstelle. Burghardt begleitete Gerauer. Der Reporter überragte den etwas fülligen Villenbesitzer um zwei Köpfe, war hager und rank wie eine Tanne. An seinem Körper gab es kein Gramm Fett zu viel, und Burghardt konnte mit Stolz und Recht von sich behaupten, dass er das Attribut des ›Rasenden Reporters‹ wie kein anderer verdiente. Vor seiner Einstellung in der Redaktion hatte er mit Leidenschaft Sport getrieben und einem Verein angehört, dem er viele Preise und Ehrungen einbrachte. Er hatte die hundert Meter in 10, 3 Sekunden geschafft. Dann reizte ihn der Laufsport nicht mehr, und er hatte sich aufs Fußballspielen verlegt und den Beweis erbracht, dass ein guter Läufer auch ein guter Stürmer sein konnte. Gereizt hatte ihn aber immer eine journalistische Tätigkeit. Und nach vielen Umwegen war er auch dazu gekommen. Seine Berichte waren interessant und informativ, und seine Auftraggeber waren zufrieden. Unter einem Pseudonym schrieb er außerdem für eine Wochenzeitschrift Artikel, von denen niemand in der Redaktion seines Hausblattes etwas wusste.

Burghardt musste sich merklich bremsen, um Gerauer nicht davonzulaufen.

Sie erreichten die Stelle, wo Tenner noch immer in der Hocke neben Czernin saß, dem der kalte Schweiß auf der Stirn perlte.

»Czernin«, sagte Gerauer mit gutmütig klingender Stimme. »Mann, Sie machen vielleicht Sachen. Sie trinken kaum etwas, und das haut Sie noch um. Sind Sie krank? Müssen wir einen Arzt rufen? Ist etwas Besonderes mit Ihnen?«

Schwach schüttelte der Gefragte den Kopf. Er war bleich. »Ein Arzt ... nützt hier nichts ... ich habe es geahnt ... seit einiger Zeit schon spüre ich ihre Nähe – sie haben mich gefunden ...«

Die drei Männer blickten sich irritiert an. Keiner verstand, was Rudi Czernin mit diesen Worten sagen wollte.

»Violette Berge ...«, sagte er plötzlich, und sein Gesicht verzerrte sich, als leide er unter unsäglichen Schmerzen. Sein Atem ging stoßweise. »Spitz wie Nadeln ... die glühende Hitze ... die Wüste der Toten, aber das ist nicht alles – das Totenmaar – die Steine ...«

»Ich glaube, wir holen doch einen Arzt.« Paul Gerauer war das Ganze nicht geheuer.

Czernin redete wirr und hatte kaum etwas getrunken. Verlor er den Verstand, oder litt er unter Bewusstseinsstörungen? Nahm er Drogen?

»Joachim«, fuhr der Juwelier fort, sich dem jungen Gast zuwendend. »Das könntest du für mich erledigen.«

Wortlos hatte sich Rolf Burghardt neben Rudi Czernin niedergelassen.

»Es sieht aus, als ob er Fieber hätte.« Er legte seine Hand auf die Stirn des Zusammengebrochenen. Sie fühlte sich eiskalt an.

»Totenmaar ... glühende Hitze ... ich möchte nicht wieder dahin! Lasst mich doch in Ruhe!«, brüllte er plötzlich. Niemand tat ihm etwas. Und er meinte auch nicht die, welche gekommen waren und sich um ihn kümmerten. Er phantasierte und sah Dinge, die andere gar nicht registrierten. Ein leichtes Vibrieren lief durch seinen Körper. Wenn man die Hand auf seinen Arm, seine Schultern, seine Beine oder den Kopf legte, pflanzte sich dieses Vibrieren auf den anderen fort.

»Gerauer«, entfuhr es Burghardt in diesem Augenblick, und die Stimme des Reporters klang erschrocken. »So sehen Sie doch – um Himmels willen, was passiert mit ihm?«

Sie wichen zurück und konnten nicht fassen, was sie sahen. Czernins Körper wurde durchsichtig wie eine hauchdünne Folie. Der Baum hinter seinem Körper wurde plötzlich sichtbar.

Der Geologe war nur noch ein nebelhaftes Gebilde, das sich auflöste.

Rudi Czernin – war unsichtbar geworden.

1. Kapitel

Sie glaubten, die Welt um sie herum stürze zusammen.

Gerauer stand da wie ein Ölgötze. Joachim Tenner verharrte in der Bewegung, und ihm stockte der Atem. Burghardt fühlte sein Herz bis zum Hals schlagen. Er starrte wie hypnotisiert auf die Stelle vor dem Baum. Noch war das heruntergedrückte Gras zu sehen, die Spur, die eindeutig bewies, dass dort jemand gesessen hatte. Der Reporter wischte sich mit der Rechten über die Augen, presste sie fest zusammen und öffnete sie wieder in der Hoffnung, dass dies nur eine Halluzination wäre, dass Czernin in Wirklichkeit noch dort saß und der Spuk beendet sei.

Nichts änderte sich.

»Das gibt es nicht.« Gerauer schluckte. Burghardt, schon des Öfteren Gast im Haus des Juweliers, hatte diesen massigen Mann, den nichts auf der Welt zu erschüttern schien, noch nie so fassungslos gesehen.

»Er ist fort – einfach verschwunden – hat sich in Luft aufgelöst ...« Ein heiseres Lachen schloss sich seinen Worten an, das völlig deplatziert war. Gerauer verstand die Welt und sich selbst nicht mehr.

Burghardt schluckte. »Haben Sie zuletzt in seine Augen gesehen?« Der Reporter, weitgereist und erfahren, war der einzige, der schnell einen kühlen Kopf zurückgewann und nach einer logischen Erklärung suchte.

»In seine Augen?«

»Da war – ganz zum Schluss, ehe er sich auflöste, etwas zu sehen.«

»Was haben Sie denn gesehen?«

»Sein Blick veränderte sich. Seine Augen waren, als wir kamen, dunkel und glanzlos. Für den Bruchteil eines Augenblicks aber, als ich mich zu ihm herabbeugte und er die letzten Worte über seine Lippen brachte, sah ich ihn mir genau an. Seine Augen wirkten plötzlich wie Glas, wie ein Fenster in eine andere Welt. Ich glaubte, in einen feurigen, hitzeglühenden Kosmos zu sehen. Ein orangefarbener Himmel spannte sich über eine flirrende Wüste, und ich sah wildflackernde Sternenfeuer, wie ich sie nie zuvor gesehen habe ...«

Das Geschehen stellte sie alle vor ein unlösbares Rätsel.

Langsam gewann der Juwelier seine Fassung wieder. Zumindest erweckte er den Anschein. »Macht die Pferde nicht scheu«, sagte er rau und warf jedem einen kurzen Blick zu. »Schweigt über das, was ihr hier erlebt habt! Es würde uns sowieso niemand glauben.« Er zuckte die Achseln. »Niemand wird auffallen, dass Czernin fehlt. Bei einer solchen Party kommt und geht jeder, wie es ihm passt, und nicht jeder verabschiedet sich von jedem, denn die meisten kennen sich untereinander nicht mal. Czernin ist gegangen, damit basta! Burghardt, ich möchte morgen in Ihrer Zeitung keine Schauergeschichte lesen.« Er legte beide Hände an den Kopf, als hätte er große Schmerzen und wollte damit gegen einen ungeheuren Druck ankämpfen. »Polizei in meinem Haus, alles wird durchsucht. Viele Fragen. Keiner wird verschont. Ich möchte nicht, dass meine Party so ausklingt. Bitte, habt Verständnis dafür!«

Joachim Tenner nickte. Burghardt, der Reporter, ebenfalls, aber er sagte: »Sie können sich auf mich verlassen, Herr Gerauer. Eins allerdings können Sie nicht verhindern.«

Gerauers Miene wurde finster. »Was kann ich nicht verhindern?«

»Dass ich der Sache auf den Grund gehe! Etwas Geheimnisvolles ist geschehen. Wir finden keine Erklärung dafür. Wir würden uns lächerlich machen, sprächen wir darüber. Ich aber will es genau wissen. Die Sache lässt mir keine Ruhe.«

»Seien Sie vorsichtig«, warnte der Juwelier.

»Wieso? Wissen Sie etwas?«

»Wissen ist zu viel gesagt. Ich habe eine Vermutung.«

»Sprechen Sie sie aus!«

Gerauer druckste herum. Dann: »Czernin war lange Zeit weg. Er hat nie über seine Abwesenheit gesprochen. Vielleicht hängt es damit zusammen.« »Vielleicht. Ich werde es herausfinden.«

Wenn Rolf Burghardt das sagte, stimmte es. Wie eine Klette klebte er stets an Vorgängen, die anderen viel zu mühsam waren, um ihnen nachzugehen.

Unter dem Siegel äußerster Verschwiegenheit wurde doch das eine oder andere in dieser Nacht und auch am darauffolgenden Tag gemunkelt. Viele Partyteilnehmer erfuhren von dem gespenstischen Ereignis, taten aber so, als wüssten sie nichts.

Die breite Öffentlichkeit erfuhr nichts davon. Burghardt hielt sein Versprechen. Die Presse schwieg.

Und doch erfuhr ein Mann davon, der weder an der Party teilgenommen hatte noch einen der Teilnehmer kannte.

Al Nafuur machte sich bemerkbar. »Du solltest mal wieder eine Reise machen!«

Diese Worte erreichten Björn Hellmark zu einem Zeitpunkt, als er faul an seinem Swimming-Pool lag. Neben ihm stand ein flacher Tisch mit eisgekühlten Getränken. Carminia Brado und Pepe, der Adoptivsohn Hellmarks, planschten im Wasser.

»Du tust gerade so, als hättest du Urlaub nötig«, klang es nicht gerade sehr freundlich in ihm auf.

Hellmark schluckte. »Ganz schön aggressiv heute wieder, was? Ist dir eine Laus über deine unsichtbare Leber gelaufen?« Björn öffnete die Augen. Der Himmel draußen war trüb. Das durchsichtige Kuppeldach, das er nach Belieben in der Versenkung verschwinden lassen konnte, hielt den kühlen Wind ab, der vom Genfer See herüberwehte.

Hier im Innern der Kuppel herrschte eine Temperatur von fünfundzwanzig Grad. Infrarotstrahler, verdeckt angebracht, sorgten für diese angenehme Wärme. »Ich bin gerade seit zwei Tagen zu Hause«, dachte Hellmark, und sein Erlebnis in Spanien und vor allem in dem geheimnisvollen Jenseitsreich des Phantoms hatte ihn so viel Kraft gekostet, dass er dringend eine Ruhepause einlegen musste.

Den ersten Tag hatte er auf Marlos, der unsichtbaren Insel, verbracht, die laut einer Prophezeiung sein Eigentum war und zum Schlupfwinkel für Verfolgte und Gefährdete werden sollte. Auf Marlos, zwischen Hawaii und Galapagos gelegen, herrschte ewiger Frühling. Gern wäre Björn noch dort geblieben, aber auf Drängen Carminias hatte er nachgegeben. Pepe, der vierzehnjährige mexikanische Junge, der sowohl einen Privatlehrer hatte als auch zwischenzeitlich in eine ganz normale Hauptschule ging, um Lesen und Schreiben zu lernen, hatte sich darüber beschwert, dass Björn meistens außer Haus war, und wenn er dann schon in dem Bungalow weilte, sollte er auch für ihn da sein. Pepe hatte immer viele Fragen. Seit er bei Hellmark aufgenommen worden war, hatte er viel gelernt, und es machte Freude, die Fortschritte dieses sympathischen kleinen Kerls, der das Herz und den Mund auf dem rechten Fleck hatte, zu verfolgen.

»Kommst du nicht auch ins Wasser?«, rief der Junge.

»Ich bin müde«, knurrte Björn.

Ein Wasserstrahl aus dem Becken war die Antwort. »Das macht dich bestimmt munter!«

»Die paar Tropfen nicht, sie sind zu warm.«

»Mit wem redest du eigentlich? Was soll das Durcheinander?«, beschwerte sich Al Nafuur.

»So kann es einem ergehen, wenn er sich mit zwei Personen gleichzeitig unterhalten muss«, dachte Björn. »Der eine plärrt einem die Ohren voll, der andere das Hirn.«

»Das musst du mir mal genauer erklären«, dröhnte Al Nafuurs markante Stimme wieder in seinem Bewusstsein. »Ich habe bisher nicht gewusst, dass ich plärre. Du hast manchmal eine merkwürdige Art, einem etwas plausibel zu machen.«

»Aber du hast dich doch gestern schon den ganzen Tag auf Marlos ausgeruht!«, maulte Pepe. »Wie kann ein Mensch nur so viel herumliegen wollen? Bewegung ist gut, besonders Schwimmen. Ich kann das nicht verstehen.«

Anstelle einer Antwort aus Björns Mund geschah etwas Merkwürdiges. Unmittelbar neben dem Jungen plätscherte es lautstark, als ob ein schwerer Stein ins Wasser klatsche.

Allen Naturgesetzen zum Trotz stieg ein breiter Wasserstrahl empor und schoss dem Jungen genau ins Gesicht, der gerade den Mund öffnete, um etwas zu sagen. Pepe schluckte eine volle Ladung, gurgelte und warf sich zur Seite.

»Das ist gemein!«, brüllte er, sich über das triefende Gesicht wischend. Der Junge schnappte nach Luft. »Was hast du denn ins Wasser geworfen? Das ging ja so schnell ... na, warte!«

Die Rache folgte auf dem Fuß. Und zwar mit Pepes eigenen Mitteln. Der Junge verfügte über parapsychische Anlagen. In der ersten Zeit war es oft so gewesen, dass er seine unbewussten Kräfte nicht richtig zu steuern vermochte. Das kam jetzt nur noch ganz selten vor. Nun konnte er diese Kräfte schon bewusst und gezielt einsetzen.

Jetzt nutzte er seine Fähigkeit, um Björn eins auszuwischen, im Glauben, er wäre es gewesen, der ihm den Wasserstrahl ins Gesicht gelenkt hatte, ohne darüber nachzudenken, dass das überhaupt nicht möglich gewesen war.

Es ging blitzschnell.

Das Cocktailglas auf dem Abstelltisch geriet plötzlich in Bewegung, als würde eine unsichtbare Hand es zur Seite schieben. Das Glas kippte um – der gesamte Inhalt ergoss sich über Hellmarks Brust.

Mit einem Satz sprang er in die Höhe, als die Eiswürfel über seinen Bauch rollten.

Pepe lachte, riss die Arme hoch, warf den Kopf zurück und drehte sich herum, um schnellstens davonzuschwimmen. Da tauchte ein Kopf im Becken neben dem Jungen auf. Und erst jetzt war zu sehen, dass sich eine dritte Person im Swimming-Pool befand.

Rani Mahay, vom einen Ende des Beckens bis fast zum anderen herübergeschwommen, drückte Pepe in die Tiefe. »Komm, du Wasserratte«, sagte der Mann aus Bhutan, »es ist besser, du tauchst unter, bevor du die ganzen Ziegel vom Dach wegdeckst und auf unseren guten Björn fallen lässt. Unter Wasser wird dein hektischer Geist hoffentlich gebremst.«

Pepe kam zu keiner Antwort. Sein Kopf tauchte unter – und mit ihm Mahay.

»Herrlich, diese Stille«, freute sich Al Nafuur.

Björn wusch sich Brust und Bauch am Becken und lächelte zu Carminia hin, die am anderen Beckenende stand. Die braunhäutige Schöne trug einen Tanga, sonnenblumengelb mit winzigen bunten Blüten.

»Da sieht man doch mal, wie schnell man sich Respekt verschaffen kann! Was so ein kräftiger Spritzer ausmacht! – Du bist nicht bei der Sache«, beschwerte sich Al Nafuur. »Du siehst sie an – und denkst schon wieder an Sex.«

»Ist das ein Wunder?«, dachte Hellmark. »Bei den vielen Reisen, die ich unternehme, komme ich kaum dazu, sie zu sehen, geschweige denn mit ihr zu schlafen. Außerdem, mein Lieber, gibt es da einen gewaltigen Unterschied zwischen Sex und Erotik. Da hast du was verwechselt. Nur Sex ist eine verdammt mühevolle Geschichte. Bei der Erotik spielen schon andere Schwingungen mit. Es geht um Seelentiefe und nicht um Akrobatik. Die Zeiten haben sich geändert. Man trägt wieder Herz! Das haben führende Sexualwissenschaftler festgestellt. Aber wahrscheinlich hat sich das dort, wo du bist, noch nicht herumgesprochen. Und wie das im alten Xantilon bei euch war, darüber hast du ja noch kein Wort verloren. So ganz ohne werdet ihr ja auch nicht gewesen sein.«

Björn grinste breit. Carminia bezog das auf sich. Sie winkte fröhlich, stieß sich von der Kachelwand ab und kam mit ruhigen Schwimmbewegungen auf ihn zu.

In Björns Hirn entstand Unruhe. Das waren nicht seine Gedanken. Es war, als ob Al Nafuur nach Worten suche. So etwas wie ein schwacher Protest entstand, den er jedoch kaum registrierte. So ganz wollte der Unsichtbare mit der Sprache nicht heraus. Deutlich zu vernehmen war schließlich nur noch die Bemerkung: »Darüber sprechen wir ein andermal. Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt.«

»Na, dann bin ich mal gespannt, was mich in der nahen Zukunft in dieser Hinsicht erwartet«, feixte Björn. Er hatte Al Nafuur noch nie so fassungslos erlebt. »Vielleicht fällt dir auch die Erinnerung an diese Dinge schwer. Das kann ich mir gut vorstellen. Als Unsterblicher in einem Zwischenreich zu existieren, das mag ganz amüsant sein. Da hat man keinen Körper. Man braucht ihn nicht mehr. Hier sieht das ein bisschen anders aus. Wohin soll's gehen?«, fragte er in Gedanken, jetzt ernst und besonnen, ohne dass seine fröhliche Miene sich gemindert hätte.

»Nach Österreich.«

»Das liegt gleich nebenan. Da lauf' ich zu Fuß hin.«

»Ich weiß, dass du die Dinge oft zu leicht nimmst. Aber vielleicht ist das ganz gut so.« Al Nafuur schien diesmal viel Zeit zu haben. Die ganze Zeit der Ewigkeit stand diesem unsichtbaren Unsterblichen zur Verfügung, und doch kam es in der Regel nur zu äußerst knappen geistigen Begegnungen. Das lag daran, dass sich Al Nafuur vor den Beobachtern und Lauschern aus den jenseitigen Schattenreichen in acht nahm, die zum größten Teil von Molochos, dem Dämonenfürsten, und seinen satanischen Dienern beherrscht wurden.

Björn hatte herausgefunden, dass es bestimmte Zeiten gab, da Al Nafuur sich überhaupt nicht meldete, manchmal nur unter größten Schwierigkeiten und andererseits wieder ausgedehnt und breit, als gäbe es keine Barrieren zwischen den Welten, die so verschieden voneinander waren.

Al Nafuur berichtete eingehend von den Ereignissen, die sich vor drei Tagen im Haus und im Park des Juweliers Gerauer aus Wien zugetragen hatten. Zum ersten Mal hörte Björn den Namen Rudi Czernin, erfuhr dessen Anschrift in Velden am Wörther See und die Art und Weise seines geheimnisvollen Verschwindens.

»Vielleicht solltest du dich mal mit ihm in Verbindung setzen, Björn«, bemerkte der Mann aus Xantilon ernst. »Er verfügt über ein Wissen, das dir nützlich sein kann.« So direkt hatte Al Nafuur selten einen Vorschlag unterbreitet.

Björn wurde nachdenklich. Eine Sache stand in klarem Widerspruch zu dem, was geschehen war und dem, was Al Nafuur sagte. »Czernin ist verschwunden! Niemand weiß, wo er ist. Und du behauptest ...«

Der Unsichtbare fiel in seine Gedankengänge ein. »Er ist zurückgekommen. Das weiß noch niemand. Er hält sich in seinem Haus am Wörther See auf. Geh zu ihm, bevor es zu spät ist!«

Zu einer weiteren Frage kam es nicht. So unerwartet Al Nafuur in seine Gedankenwelt eingebrochen war, so unverhofft hatte er sich wieder zurückgezogen.

Björn hockte noch am Beckenrand. Carminia tauchte vor ihm auf und umfasste mit ihren nassen Händen seine Armgelenke. Sie lächelte. »Keine Lust?«, fragte sie nur.

»Kommt ganz darauf an, worauf«, entgegnete er.

»Darüber können wir uns im Wasser einigen.« Sie ließ sich einfach zurückfallen, ließ aber nicht los, und Björn verlor das Gleichgewicht.

Er klatschte ins Becken. Pepe krähte wie von Sinnen, warf die Arme hoch wie im Triumph und brüllte: »Juchhuuu!«

Björn tummelte sich wie die Freunde im Becken, war gelöst und vergnügt und schien mit seinen Gedanken ganz bei ihnen zu sein. Doch der Eindruck täuschte.

Sie alle wussten, dass er an zwei Orten zur gleichen Zeit sein, sich verdoppeln konnte, aber sie ahnten nicht, dass das genau in diesem Augenblick der Fall war.

Während er mit ihnen tollte, hielt er sich gleichzeitig einige hundert Kilometer weiter entfernt auf. In einem anderen Land – als Macabros.

Burghardt gab sich immer erst dann zufrieden, wenn er eine Sache voll begriffen hatte.

Seit einem Tag hielt er sich in Velden auf. Er informierte sich über das Haus des Geologen und mietete sich in einer nahen Pension ein. Mit Blick zum See. Der kleine Balkon, der von seinem Zimmer aus einen hervorragenden Blick ermöglichte, lag so günstig, dass er von hier auf das etwas schräg zu ihm stehende Haus des Geologen sehen konnte.

Man merkte, dass die Hauptsaison ihrem Ende zuging. Hier, wo es sonst von Touristen wimmelte, war es ruhig geworden. Es bereitete keine großen Schwierigkeiten, ein Zimmer zu bekommen, und der See, auf dem sonst reges Leben herrschte, machte an diesem Mittag einen etwas trostlosen Eindruck. Die Boote schaukelten im Wind an ihren Vertäuungen, einzelne Spaziergänger schlenderten am Ufer entlang, durch die geschlossenen Fenster der nahen Cafés und Restaurants sah man die Gäste, die lieber drinnen blieben, Kaffee und Tee tranken und die Stille genossen.

Das alles bekam er am Rande mit. Sein Hauptaugenmerk richtete er auf das Haus Czernins. Burghardt konnte es sich nicht erklären, aber es war eine Tatsache: Seit dem gespenstischen Ereignis in Gerauers Villengarten beschäftigten ihn die Dinge in einem solchen Maß, dass er an nichts anderes mehr denken konnte.

Was war mit Czernin geschehen? Was war allem vorangegangen? Ein Mensch konnte sich doch nicht einfach in Luft auflösen?

Wo hatte Czernin sich in den letzten Monaten und Jahren herumgetrieben? Auch diese Frage bohrte in ihm.

Der Reporter führte das Fernglas an die Augen und stellte es scharf ein. Er glaubte, unmittelbar vor dem Haus des Geologen zu stehen. Er sah die Holzmaserung der Balkonverkleidung und die Rüschen an den Vorhängen.

Im Zimmer bewegte sich ein Schatten. Eine Frau hielt ein Staubtuch in der Hand, putzte über den Tisch und dunkle Möbel, nahm Ziergegenstände zur Hand, um sie abzuwischen. Burghardt erkannte sogar, dass sie eine buntgemusterte Schürze trug, darunter einen dunklen Rock und eine beigefarbene Bluse. Czernins Haushälterin war schätzungsweise fünfzig. Ihr dunkles Haar hatte sie zu einer fülligen Frisur hochgesteckt. Das ließ sie zwar streng, aber auch jugendlich erscheinen. Ihre Bewegungen waren flink.

Jetzt kam sie an die Balkontür. Die war nur angelehnt, und sie brauchte sie nur zurückzuziehen.

Die Frau trat heraus.

Burghardt sah jede einzelne Pore in ihrem Gesicht. Ein kräftiges Gesicht, rosige Haut, eine leicht gebogene Nase, die Brauen und Augenlider waren schwarz.

Die Haushälterin schüttelte den Staublappen aus, verweilte einen Augenblick auf dem Balkon und ließ ihren Blick über die leicht gekräuselte Oberfläche des Sees schweifen. In der Mitte des Wörther Sees glitt ein größeres Boot mit einem weiß-rot gestreiften Segel dahin. Die Frau wandte den Kopf. Ihre dunklen Augen begegneten in dieser Sekunde genau dem Blick des Reporters. Burghardt hatte das Gefühl, dass er nur die Hand auszustrecken brauchte, um in dieses Gesicht greifen zu können. Er durfte sich nicht zu auffällig benehmen, drehte den Kopf und blickte hinaus auf den See, als beobachte er dort das Segelboot. Mit einem Auge jedoch kontrollierte er den Balkon des Czernin-Hauses. Und dort geschah in diesem Moment etwas Merkwürdiges.

Die Frau wandte sich um. Erstaunen kennzeichnete ihre Miene. Burghardt riss sofort das Fernglas herum. Deutlich erkannte er, dass die Frau sprach. Im Zimmer, wo sie noch eben Staub gewischt hatte, tauchte eine Person auf. Die Frau schüttelte den Kopf. Ihre Lippen bewegten sich schnell. Burghardt konnte nicht von ihrem Mund ablesen, was sie sagte, aber es musste irgendetwas Kritisches, Vorwurfsvolles sein.

Eine dunkle Gestalt kam aus dem Zimmer. Es war ein Mann. Er trug einen dunkelblauen Morgenmantel.

Die Gestalt war etwas schwach auf den Beinen, als käme sie gerade nach längerem Kranksein aus dem Bett. Burghardt sah das Gesicht des anderen, der Anblick traf ihn wie ein Schock. Der Mann mitten im Zimmer dort drüben – war niemand anders als Rudi Czernin!

Hatte er alles nur geträumt?

Ein Mann verschwand, wurde unsichtbar – und tauchte zwei Tage später wieder in seinem Haus auf? Der Reporter schluckte. Er presste die Augen zusammen, wischte darüber und setzte dann das Glas erneut an.

Der Eindruck blieb.

Dort drüben stand tatsächlich der Verschwundene. Oder ein Doppelgänger, vielleicht – sein Bruder?

Burghardt war fassungslos. Aber nur drei Sekunden lang. Er konnte sich schnell einer Situation anpassen und verhielt sich dementsprechend. Hier geschah wieder etwas, wofür er keine natürliche Erklärung fand. Daraus zog er die Konsequenzen. Er beobachtete die beiden Gestalten drüben im Zimmer noch eine Weile. Die Balkontür stand offen. Jetzt hätte er dort drüben hinter dem Mauervorsprung, der als Windschutz und im Sommer als Schattenspender diente, stehen wollen, um zu hören, was gesprochen wurde.

Die Frau redete heftig auf Czernin ein. Der nickte, wandte sich ab und verließ das Zimmer. Der Raum dahinter war ein Schlafzimmer.

Czernin war krank.

Rolf Burghardts Lippen bildeten einen schmalen Strich in seinem angespannten Gesicht. Er wollte es genau wissen, und zwar sofort. Er griff nach dem Jackett am Türhaken, schlüpfte hinein und verließ sein Zimmer, mechanisch die Tür abschließend. Unten im Empfang, in dem niemand anwesend war, hängte er die Schlüssel an das Brett und verließ die Pension. Zu Czernins Haus waren es nicht einmal zwei Minuten. Burghardt ging direkt am See entlang, stand kurz darauf vor der Haustür des Geologen und betätigte die Klingel.

Er musste eine volle Minute warten, ehe sich im Haus etwas rührte. Er achtete auf jedes Geräusch, als könne er daraus seine Schlüsse ziehen.

Schritte kamen von oben und näherten sich der Tür. Sie wurde geöffnet. Die Frau stand vor ihm und musterte ihn. »Ja, bitte? Sie wünschen?«, wurde er gefragt.

»Mein Name ist Rolf Burghardt«, stellte sich der Besucher vor und lächelte. Er konnte sich gut verstellen und ließ sich nicht anmerken, dass er in Wirklichkeit völlig verwirrt war. So etwas war ihm schon lange nicht mehr passiert. »Ich bin Mitarbeiter einer Zeitschrift. Vor einiger Zeit hatte ich die Gelegenheit, Herrn Czernin kennenzulernen. Er bat mich, einmal vorbeizuschauen, wenn ich hier in der Gegend sei. Ich halte mich zufällig hier auf und möchte ihm gern einen Besuch machen.«

»Da muss ich Sie leider enttäuschen, Herr Burghardt. Herr Czernin ist nicht da.«

»Nun, das macht nichts. Ich kann gern später noch mal wiederkommen. Ich werde drei, vier Tage hier am Wörther See bleiben.«

»Das wird auch nichts nützen. Es tut mir leid, aber es ist kaum anzunehmen, dass Herr Czernin in der nächsten Zeit hier auftaucht.«

»Hat er eine größere Reise unternommen?«

»Ja.«

»Darf man erfahren, wohin?« Burghardt war zäh. Er ließ sich nicht so schnell abwimmeln. Dass dieses Gespräch allerdings eine solche Richtung nahm, hätte er sich nicht träumen lassen. Czernin ließ sich verleugnen?

Die Haushälterin zuckte die Achseln. »Da bin ich leider überfragt. Tut mir leid! Ich bin nicht Frau Czernin, ich führe hier nur stundenweise den Haushalt. Herr Czernin weiht mich nicht in seine Pläne ein.«

Dagegen gab es kein Argument. Das war klar und eindeutig. »Schade.«

»Ja, das ist schade«, sagte die Fünfzigjährige, ehe er fortfahren konnte. »Aber vielleicht kann ich etwas hinterlegen. Es könnte auch sein, dass er zwischenzeitlich mal anruft. Ich richte ihm gern Ihre Grüße aus oder auch eine Nachricht, wenn Sie eine solche für ihn hätten ...«

Burghardt hörte gar nicht richtig zu. Er war in Gedanken versunken und sagte: »Ich war vorhin unten am See ... habe einen Spaziergang unternommen ... und hätte schwören können, dass ich einen Moment lang Rudi Czernin im dem See zugewandten Zimmer gesehen habe!«

Die Frau zuckte leicht zusammen. »Nein, das ist ganz unmöglich! Herr Czernin befindet sich nicht im Haus. Sie haben sich getäuscht.«

Es klang nicht überzeugend, und als er sie ansah, wurde er das Gefühl nicht los, dass diese Frau von einer Angst erfüllt war, die sie nur mühsam verbarg.