Macabros 014: Der Schattenfürst - Dan Shocker - E-Book

Macabros 014: Der Schattenfürst E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Bearbeitete Original Romane Macabros 27 - Totenbarke nach Xantilon Nach seinem Motorradunfall überlebt Fred Reedstone nur soeben dank der Hilfe guter Ärzte. Allerdings bekommt er eines Tages Visionen, die ihm nicht geheuer sind. Er wendet sich an Dr. Samuel Warlock, der Fred operierte und ihm auch nach der Operation hilfreich zur Seite stand. Fred ahnt nicht, dass seine Visionen ein Produkt von Versuchen des Doktor Warlock und seinem Kollegen Dean Jackson ist. Allerdings haben diese wohl nicht vorausgesehen, dass Freds Fähigkeiten, in die Vergangenheit zu schauen, sich noch erweitern. Macabros 28 - In der Falle des Schattenfürsten Kaphoon, der Namenslose - wie Björn Hellmark sich nur ohne Erinnerung an sein eigenes Ich nun in der vergangenen Zeit in Xantilon nennt - freundet sich mit dem Einzelgänger und Krieger Varok an, da dieser ihm zumindest ein Ziel innerhalb seiner Gedächtnislosigkeit verschaffen kann. Durch dessen Wissen ergeben Kaphoons Erlebnisse der letzten Tage einen Sinn. Denn in diesen wurde er regelmässig von Cynthia Moreen aus der Zukunft besucht, die ihm von ihren Alpträumen berichtet, in denen sie gemeinsam mit einem Wächter jede Nacht eines von sieben Felsentore öffnet, die den unterirdischen Schatten den Zutritt zu dieser Welt versperren. Da Varok ihm aber berichtet, dass die Schatten grausame Gestalten sein sollen, machen sich die beiden auf den Weg auf das Plateau, um die Öffnung des siebten und letzten Felsentores zu verhindern. In der bizarren toten Stadt, durch die sie wandern müssen, wird Kaphoon alias Björn aber in eines der Gebäude gezogen, in dem er von dem Schattenfürsten Haophylkontromtetcoilak die eigentliche Wahrheit über die Schatten offenbart bekommt. Diese sollen nämlich der Menschheit helfen, wenn die Schatten nur erst frei kämen. Und der Schattenfürst bietet Kaphoon Unterstützung bei seinen Problemen an. Alles nur Blendwerk, auf das Björn hereinfällt? Kurzbeschreibungen: © www.gruselromane.de

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DAN SHOCKERS MACABROS

BAND 14

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Fachberatung: Gottfried Marbler

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-714-6

Dan Shockers Macabros Band 14

DER SCHATTENFÜRST

Mystery-Thriller

Totenbarke nach Xantilon

von

Dan Shocker

Prolog

Fred Reedstone war dreiundzwanzig, als es ihn erwischte. Er gehörte zu jenen jungen Leuten, die ihren Wagen auch dann noch fuhren, wenn sie ein paar zu viel getrunken hatten und stolz darauf waren, wenn die Polizei sie nicht erwischte.

Im Fall Reedstone aber war kein Auto im Spiel, sondern eine schwere Honda.

Von einer Nachtbar nach Hause fahrend, kam Reedstone auf regennasser Straße ins Schleudern und krachte gegen einen Laternenpfahl. Das Mädchen auf dem Sozius, achtzehn Jahre jung, war auf der Stelle tot.

Reedstone brach sich den Schädel und wurde in bedenklichem Zustand in ein Unfallkrankenhaus gebracht.

Schwere Zeiten und mehrere Operationen in einer Spezialklinik folgten. Niemand glaubte daran, dass Fred Reedstone noch einmal davonkäme. Als er nach vier Wochen noch immer in tiefer Bewusstlosigkeit lag, zweifelten auch die größten Optimisten an seiner Genesung. Und diejenigen, die annahmen, dass es Reedstone mit seiner Bärennatur eventuell doch noch schaffen konnte, waren überzeugt, dass der junge Mann dann verrückt oder körperlich ein Krüppel sein würde.

Niemand hatte recht!

Dr. Samuel Warlock, ein weit über die Grenzen des Landes hinaus bekannter Gehirnchirurg, schaffte nach der fünften Operation das schier Unmögliche: Reedstones Hirn arbeitete normal, es hatte keine Schäden davongetragen. Nach weiteren drei Monaten war der junge Mann so weit wieder hergestellt, dass er entlassen werden konnte. Zu diesem Zeitpunkt schon war zwischen dem jungen Patienten, der dem Tod ein Schnippchen geschlagen hatte, und dem großartigen Chirurgen eine Verbindung gewachsen, die man fast freundschaftlich nennen konnte. Warlock zeigte außerordentliches Interesse an Reedstones Schicksal, was wahrscheinlich damit zusammenhing, dass Reedstone einen wirklichen Sonderfall darstellte. Ein Mensch, der solche Verletzungen davontrug, konnte eigentlich nicht mehr leben.

Als Fred Reedstone entlassen wurde, ließ Warlock ihn noch einmal auf sein Zimmer kommen, um sich persönlich von dem Patienten zu verabschieden. Er gab ihm gute Ratschläge, und es schien, als ob sie auch auf fruchtbaren Boden fielen. Reedstone war reifer geworden und nicht mehr so ein Dickschädel. Er sah die Dinge und das Leben in einem anderen Licht.

»Ich habe eine Bitte an Sie, Fred.« Warlock hatte sich angewöhnt, Reedstone mit dem Vornamen anzureden. »Ich möchte Sie gerne noch ein bisschen beobachten – allerdings nur, wenn es Ihnen recht ist. Ich möchte sehen, wie das weitergeht mit Ihnen. Es ist alles so gut geworden, dass ich es selbst kaum fassen kann. Diesen Erfolg möchte ich Ihnen – und nicht zuletzt mir – erhalten!«

Bei diesen Worten fuhr sich Samuel Warlock durch das schüttere Haar, das nur noch in einem schmalen Kranz wuchs, der rund um den Kopf lief. »Wenn Sie mal Sorgen haben sollten oder sich bei Ihnen gesundheitlich eine Änderung ergibt, Fred, lassen Sie es mich wissen. Ich bin immer für Sie da und stehe Ihnen mit Rat und Tat zur Seite ...«

»Danke, Doktor!« Fred Reedstone drückte die dargebotene Rechte. »Ich werde daran denken.«

Es gab nicht viele Menschen, zu denen Reedstone so viel Vertrauen hatte, und er war froh, dass es überhaupt jemanden gab, der sich für ihn interessierte und sich so für ihn eingesetzt hatte. »Ich weiß, was ich Ihnen schuldig bin, Doc. Man verdankt einem Fremden nicht jeden Tag sein Leben. Ich werde nie vergessen, was Sie für mich getan haben. Auch ich würde mich freuen, wenn wir uns mal wieder sehen würden. Das klingt jetzt aus meinem Mund banal, aber ich möchte Sie gern mal zu einem Drink einladen. Aber dass wir uns aus beruflichen Gründen nochmal wiedersehen, das hoffe ich doch nicht ...«

Er irrte. Vier Monate später war es soweit. Ende November, an einem trüben Tag, an dem sich Schnee ankündigte, läutete es in Samuel Warlocks Privatwohnung.

Das Hausmädchen des Chirurgen, das um diese Zeit noch anwesend war, meldete sich. »Ja, bitte? Wer ist da?«, fragte sie in die Sprechanlage.

»Fred Reedstone. Ich möchte gern zu Doktor Warlock.«

Sie sagte Bescheid. Warlock gab die Erlaubnis, den Besucher einzulassen.

Als er Reedstone gegenüberstand, erschrak er. Die Augen des jungen Mannes waren eingefallen, sein Gesicht war grau, und er machte einen übernervösen, wenn auch gefassten Eindruck.

»Ich muss Sie unbedingt sprechen, Doc«, kam es tonlos über Reedstones Lippen. »Unter vier Augen. Es ist wichtig!«

Warlock bat Reedstone in sein Arbeitszimmer, bot seinem Besucher einen Platz an und setzte sich ihm gegenüber. »Wo drückt der Schuh, Fred?«

»Etwas geht mit mir vor, Doc«, begann Fred Reedstone. »Ich bin nicht mehr so wie früher.«

»Wie meinen Sie das?«

»Dass ich anders bin, dass mein Gehirn – anders reagiert! Ich möchte es Ihnen genau erzählen. Eines will ich gleich vorausschicken, Doc. Ich spinne nicht ... Ich habe nicht getrunken und keine Drogen genommen. Ich bin so normal wie jeder andere auch – und doch bin ich anders. Ich empfange Botschaften.«

»Botschaften, Fred? Woher?«

Reedstone atmete tief durch. Je länger er Warlock gegenübersaß, desto ruhiger wurde er. Seine Stimme gewann an Festigkeit. »Ich kann es Ihnen genau sagen: Botschaften aus einer anderen Zeit. Ich sehe Bilder, höre Stimmen – und begreife alles. Ich kann Ihnen von Menschen erzählen, die existieren, die jetzt leben und atmen – und doch in einer anderen Zeit zu Hause sind. Ich kann Ihnen sogar Namen nennen ...«

»Ich begreife Sie nicht, Fred.«

»Ich begreife es selbst nicht, Doc. Aber ich weiß, dass ich mich nicht irre und dass ich nicht träume.«

»Was für Menschen sind das? Was für Bilder sehen Sie?«

»Einer nennt sich Björn Hellmark. Er ist mit einem Zeitschiff in die Vergangenheit geschleust worden. Dieser Mann stammt aus unserem Jahrhundert, lebt jetzt und heute – und ist doch nirgends aufzufinden, weil er mehr als vierzehntausend Jahre überbrückt hat.«

Warlock blieb ruhig. Er sagte nichts und ließ Reedstone sprechen.

»Anfangs war ich erschrocken, als die ersten Bilder kamen.«

»Die – gleichen?«, fragte der Arzt.

»Nein! Es sind immer andere. Ich sehe die Dinge wie in einem Film, der abläuft, in dem die Handlung ständig vorantreibt. Ich weiß von Arson. Er kommt aus der Zukunft, Doc. Er lenkt das Zeitschiff. In der Zukunft hat man die Tachyonen, die in unserer Zeit vermutet wurden, tatsächlich entdeckt. Die UFO-Sichtungen in früheren Zeiten – das waren keine militärischen Geheimwaffen irgendwelcher irdischer Mächte, das waren keine Besucher aus dem Weltall – das sind wir selbst. Die Menschheit selbst hat das Geheimnis der Zeit enträtselt, und der alte utopische Traum von den Reisen durch die Zeit ist ebenso wahrgeworden wie das Unterseeboot, die Beherrschung der Atomkraft oder der Mondflug Wirklichkeit geworden sind, Doc!«

Die Art und Weise, wie er sprach, zeigte dem Zuhörer, dass Reedstone einen gewaltigen Sprung in seiner Entwicklung gemacht hatte und sich mit Dingen befasste, an die er früher offenbar nicht einmal im Traum gedacht hatte. Auch die Worte, die er wählte, zeigten Reedstone in bestem Licht.

Was er sagte, klang absurd. Aber wie er es sagte, das klang glaubwürdig. »Da sind Kima, der Mann aus Xantilon, den sie kennengelernt haben, ein Inder und ein kleiner, etwa vierzehnjähriger Junge, die an der Reise teilnehmen. Und da gibt es auch noch Amina und Taaro. Namen, die Ihnen nichts bedeuten, mit denen ich aber sehr viel anzufangen weiß.«

»Was sind das für Menschen, Fred?«

»Menschen, die das Schicksal bunt zusammengewürfelt hat. Menschen, die Leid und Unglück erleben, an deren Schicksal ich teilhabe, an dem ich doch nichts ändern kann.« Reedstones Stimme klang ruhig und ganz normal.

»Wann hat es angefangen?«

Reedstone zuckte zusammen. »Warum sagen Sie es, Doc? Ich bin nicht verrückt. Ich weiß genau, was ich sage, auch wenn Ihnen das noch so irrsinnig vorkommt. Es mag schwer für Sie sein, mich anzuhören. Aber Sie sind der einzige Mensch, zu dem ich Vertrauen habe, dem ich diese Dinge mitteilen kann, der mich – vielleicht – versteht. Und der mir eventuell helfen kann. Es muss mit der Operation zusammenhängen, mit meinem Gehirn, Doc. Was haben Sie damit gemacht?«

»Ich habe operiert und getan, was getan werden musste. Ich könnte Ihnen das eine oder andere erklären, wenn Sie das gerne möchten, aber es würde zu weit führen. Sie müssten die notwendige medizinische Vorbildung mitbringen. Dennoch könnten wir es versuchen. Aber erst zu Ihrer Geschichte, Fred! Die interessiert mich! Was hören Sie? Was sehen Sie? Und wann hat es angefangen – darauf haben Sie mir immer noch keine Antwort gegeben.«

»Vor drei Wochen hatte ich die ersten Visionen. Jedenfalls bezeichnete ich sie so. Dann merkte ich, dass sie Wirklichkeit waren, dass ich in eine andere Zeit hineinsehen konnte, um es mal so auszudrücken. Am Anfang war ich erschrocken. Aber dann sagte ich mir, dass ich das nicht brauchte, und seltsamerweise machte ich mir von da an keine Sorgen mehr. Ich nahm es einfach hin, wie man es hinnimmt, dass man atmet, dass man sieht, hört und fühlt.«

»Aber jetzt kommen Sie trotzdem zu mir?«

»Ja. Aus einem besonderen Grund. Ich brauche Ihren Rat. Was ich sehe und höre, ist eine Botschaft. Wenn es möglich ist, Bilder und Geräusche aus der Vergangenheit zu empfangen, muss es doch auch möglich sein, welche nach drüben zu schicken!«

»Und warum wollen Sie das, Fred?« Warlocks Stimme klang gleichmäßig ruhig, obwohl dies das seltsamste Gespräch war, das er je geführt hatte.

»Um vielleicht Hilfe zu schicken, einen Gedanken, einen Hinweis zu geben.«

»Ich komme nicht mit. Erzählen Sie mir alles der Reihe nach!«

Fred Reedstone lehnte sich zurück. »Die Bilder kommen nicht immer, und sie treten vor allen Dingen auch nicht zu bestimmten Zeiten auf. Manchmal sind sie in der Nacht da, manchmal am Tag. Es genügt, wenn ich die Augen schließe. Dann ist mir, als ob ich von einem gigantischen Sog gepackt und in eine unendliche Tiefe gezerrt würde. Ich sehe die Menschen in ihren Handlungen und erkenne die fremdartig bizarre Landschaft, in der sich Geister und Dämonen verbergen und darauf lauern, diesen Menschen den Garaus zu machen.« Er schloss die Augen.

Dr. Samuel Warlocks Lippen bildeten einen schmalen Strich in seinem glattrasierten, geröteten Gesicht. »Was sehen Sie, Fred? Sehen Sie – jetzt auch etwas?«

Reedstone schluckte. Feiner Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. »Ja«, murmelte er. »Ja, da ist wieder etwas. Eine karge Landschaft, ein düsterer Himmel. Es ist eine Zeit, die noch vor der Urzeit unserer Erde liegt. Ich erkenne zwei Menschen. Eine Frau, einen Mann – nein, es sind drei Menschen. Ein kleiner Junge läuft zwischen den großblättrigen Büschen, er hat einen Lockenkopf. Das ist Taaro. Mein Blick geht in die Vergangenheit, Doc. Ich will Ihnen erzählen, was geschehen ist – und Sie sollen mit an dem teilhaben, was diese Menschen erleben, was sie denken, fühlen und leiden, woran sie glauben – und vor allen Dingen, was sie erleben. Es ist wie ein Abenteuer, ein großartiges, faszinierendes Abenteuer, das Sie miterleben können, weil ich Ihren Blick durch das Fenster einer unvorstellbaren Welt lenke, Doc.«

1. Kapitel

Tage der Finsternis lagen hinter ihnen ... Tage der Finsternis vor ihnen.

Sie konnte sich schon nicht mehr erinnern, wie ein Sonnentag aussah. Hier, in dieser Welt der Vergangenheit, in einem versunkenen Sagenreich, wo sich eine neue Apokalypse ankündigte, schien die Sonne nicht mehr. Menschen, die mit den Mächten der Finsternis, dem Horrorreich der Geister und Dämonen einen Pakt abgeschlossen hatten, waren dafür verantwortlich zu machen, dass sich die Dinge ereigneten, die menschliches Leben und menschlichen Lebensraum vernichteten.

Amina konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Die schöne junge Frau mit der hellbronzefarbenen Haut vermochte schon nicht mehr zu sagen, wie lange sie unterwegs waren. Sie klagte nicht. Das war noch das Geringste, das sie ertragen musste.

Schreckliches lag hinter ihr. Sie und ihr kleiner Sohn waren von Dämonen entführt worden. Taaro, fünf Jahre alt, lief an ihrer Seite, nachdem sie ihn wieder einige Kilometer weit getragen hatte. Es war erstaunlich, dass der Junge diese Strapazen durchhielt.

Ihr Leben bestand aus Furcht und Flucht.

Nach ihrer Ankunft in der Vergangenheit, in die sie von den übermächtigen Dämonen gestoßen worden waren, war es ihnen dennoch gelungen, dem weiteren Zugriff der Geister zu entkommen. Gute Menschen hatten sich ihrer und Taaro angenommen, und sie hatten Unterkunft bei Warnak, dem Kräuterzüchter, gefunden. Doch nur kurze Zeit war ihnen dort Geborgenheit und Ruhe vergönnt. Warnak, der wie ein Prophet die Zeichen der Zeit zu lesen verstand, ging ihr mit kraftvollen Schritten voraus. Dieser alte Mann mit dem glutroten Gewand beschwerte sich nicht und zeigte keine Zeichen der Schwäche, obwohl auch gerade er viel durchgemacht hatte.

Finstere Dämonen machten ihren Unterschlupf im Haus des Kräuterzüchters ausfindig. Warnak handelte schnell und entschlossen. Ehe die feindlichen Kräfte in das Haus einfielen, traten sie die Flucht an. Seither hielten sie sich in Freiheit und im Freien auf.

Sie nächtigten unter freiem Himmel, im Schutz riesiger Bäume, im Schatten der Ruinen fremder Burgen und Schlösser, deren Herren tot, vertrieben oder geflüchtet waren. Schwarze Priester und dämonengewordene Menschen, finstere Magier, die das Gebot der Stunde nutzten und ihre Kräfte ausbauten, hatten hier ihre Hände im schmutzigen Spiel.

Amina kannte die Geschichte. Sie kam aus einer anderen Zeit der gleichen Welt. Arson, ihr Mann, der sich zur Aufgabe gemacht hatte, das Werk der Dämonen in Raum und Zeit zu erforschen und durchsichtig zu machen, um einem geheimnisvollen Kämpfer gegen die Kräfte der Finsternis und der Magie für seine ungeheuer schwierige Aufgabe in der Gegenwart Hilfe und Unterstützung zukommen zu lassen, hatte sie in alles eingeweiht.

Die schlanke Frau mit dem rötlich schimmernden Haar und den großen grünen Augen konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Das halbdurchsichtige Gewand verdeckte kaum noch ihre weiblichen Formen, ihre zarte Haut. Der weiche Stoff hing in Fetzen an ihrem Körper.

Der Junge sah nicht besser aus. Das einstmals weiße, rockartige Gewand hing zerschlissen an ihm und wurde nur noch von einem braunen, schillernden Ledergürtel gehalten.

Man sah ihnen allen die Entbehrungen und Strapazen an.

Niemand sagte ein Wort.

Totenstille einer fremden, sich verändernden Welt hüllte sie ein. Der steppenartige Boden unter ihren Füßen war hart. Große und kleine Steine von den nahen, bizarren Felsen lagen herum. Vor ihnen breitete sich eine finstere Schlucht aus. Leise säuselte der Wind und schien mit jedem Schritt, den sie der Schlucht näherkamen, stärker zu werden.

Warnak blieb plötzlich stehen. Er wartete, bis Amina und Taaro auf seiner Höhe ankamen. Er ging ihnen stets vier, fünf Schritte voraus.

Amina ließ sich sofort auf dem Boden nieder. Weiches Moos wuchs wie ein Polster am Rand des Pfades, den sie gekommen waren.

Sie befanden sich auf einer kleinen Anhöhe. Vor ihnen breitete sich eine seltsame Landschaft aus, die sie nur schemenhaft wahrnehmen konnten.

Vor dem Eingang der Schlucht, der noch einige hundert Meter weiter nördlich lag, standen kleine verkrüppelte Bäume. Niedriges, breitblättriges Gras wuchs zwischen kahlem, nacktem Gestein. Nur wenige Schritte unterhalb der Anhöhe lagen die bleichenden Knochen irgendwelcher Kreaturen, die hier aus unbekanntem Grund ihr Leben ausgehaucht hatten.

Ein riesiges Skelett, das hoch war wie ein Baum, türmte sich zwischen zwei bleistiftdünnen Felsen auf, hinter denen sich wieder ein bizarrer, breiter Felsenturm erhob, der aussah, als wäre er von einem Giganten aus riesigen Quadern aufgeschichtet worden.

Eine beklemmende Atmosphäre ...

Der Hauch des Todes wehte sie an.

Amina fröstelte und zog unwillkürlich den Knaben an sich, der sich wortlos gegen ihre Hüften lehnte. Er war so müde, dass ihm auf der Stelle die Augen zufielen. Zärtlich streichelte die Frau über das lockige Haar des Jungen.

Zwischen den aufragenden, bleichenden Knochen flackerten winzige grüne Lichter, als würden sich Glühwürmchen tummeln.

In dem menschengroßen Schädel des verendeten Ungetüms, der breit und wuchtig zwischen den verrotteten Klauen lag, flackerte es ebenfalls phosphoreszierend, so dass es aussah, als würde in den erloschenen Augenhöhlen der riesigen Bestie neues Leben erwachen.

»Es ist unheimlich hier«, murmelte Amina.

»Es ist anders als sonst, ja.« Der bärtige alte Mann stützte sich auf seinen langen Stock und starrte hinab in das sanfte Tal mit den verkrüppelten Bäumen und den bleichenden Knochen.

»Warnak«, sagte die Frau und hob den Blick. »Ich weiß nicht mehr, wie lange wir unterwegs sind. Ich kann die Stunden, die Tage nicht zählen. Hier geht weder die Sonne auf, noch der Mond. Es ist, als ob die Welt den Atem anhalte. Sie wissen, woher ich komme und welches Schicksal man mir zugedacht hat. Dass es bisher nicht so weit gekommen ist, habe ich Ihrer Kraft, Ihren Kenntnissen und vor allen Dingen Ihrem Mut zu verdanken.«

»Es ist nicht der Rede wert, meine Tochter«, warf der Kräuterzüchter ein. So nannte er sie immer. »Ich habe dir versprochen, dich nach Xantilon zu bringen oder dir wenigstens die Möglichkeit zu geben, die Stadt zu erreichen. Ich werde mein Versprechen halten, so lange das in meiner Macht liegt.«

»Sie haben mir mal gesagt, dass Xantilon nicht weit entfernt liege.«

»Das ist richtig, aber die Zeiten, da man den direkten Weg gehen kann, sind vorbei. Abtrünnige Krieger und Schergen der Schwarzen Priester kontrollieren das Land zwischen dieser Einöde und der Stadt. Früher wurden hier die Felder bestellt, früher gab es hier kleine Städte und Dörfer, waren die Straßen und Gassen von Leben erfüllt. Die Städte und Dörfer, die Straßen und Gassen sind verschwunden, und nur die einsamen, verlassenen Schlösser der Burgherren und Magier zeugen noch von dieser Zeit. Die Macht der Dämonen wächst! Als ich ein Junge war, gab es keine Ungeheuer mehr. Die Knochen der Kreatur, die du da vor uns siehst, weisen auf ein Ungetüm hin, das von Dämonen gerufen wurde oder selbst ein Dämon war, der von einem tapferen Krieger besiegt wurde. Aber meine Gedanken schweifen ab. Ich will dir nicht von der Vergangenheit erzählen, als ich noch glücklicher war als heute, als es nur Minuten dauerte, um mit einer raketenschnellen Bahn direkt nach Xantilon zu gelangen, als man noch mit Flugzeugen fliegen und mit Schiffen und Motorfahrzeugen fahren konnte. Das alles liegt erst fünfzig Jahre zurück, und doch kommt es mir vor, als wüsste ich es nur vom Hörensagen und hätte es selbst nie erlebt. In fünfzig Jahren kann sich die Welt verändern. In fünfzig Jahren? Nein!« Er verbesserte sich selbst. »Von heute auf morgen kann es gehen, wie das Beispiel Xantilons beweist. Wir haben die Technik beherrscht und Einblick genommen in die Welt des Atoms. Wir machten uns zu Herrschern über diese Technik. Wir vergaßen unsere Götter, die uns vor unserem Ehrgeiz warnten. Wir wandten uns von ihnen ab, während eine Gruppe der Priester, die nach der Unsterblichkeit suchte, gleichzeitig gefährliche okkulte Studien trieb und die Schatten der Vergangenheit, aus denen alles Leben einmal gekommen ist, rief, um die Macht der Götter, die uns die ehernen Gesetze gaben, zu zerbrechen. Die Weiße Magie geriet in Verruf. Die Schwarzen Priester, aus dem gleichen Geschlecht hervorgegangen wie wir alle, glaubten, die absolute Macht gefunden zu haben. In Wirklichkeit werden sie selbst beherrscht, aber das ahnen sie nicht. Sie setzen das Leben eines Volkes, die Existenz eines Erdteils aufs Spiel. Viele Menschen, die wichtige Funktionen ausübten, sind gestorben. Die Flugzeuge und Schiffe, die mit atomarer Kraft und mit Motoren angetrieben wurden, sind verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. Die Wissenschaftler und Forscher, die Fachleute und Techniker – es gibt sie nicht mehr. Niemand auf Xantilon weiß mehr, wie welches Gerät bedient wird. So begann die Vernichtung! Die Welt der Dämonen und Geister, die immer einen Platz in unserem Denken einnahm, schickt sich an, uns zugrunde zu richten. Diese Welt steckt voller Widersprüche. Sie geben und sie nehmen ... Ich bin mir ganz sicher, dass die überdimensionalen, epochalen Erfindungen auf Xantilon, die Perfektion des Wissens und der Technik, durch finstere Mächte gesteuert wurden. Das machte die Menschen überheblich – und schuf den Boden für ihr weiteres Eingreifen. Die Technik wurde vernichtet und mit ihr der Mensch, der damit umgehen konnte. Wer nicht durchblickt, wer die alten Bücher, die Gesetze und das Wissen um die Mächte der Finsternis nicht studiert hat, der weiß nichts. Derer gibt es viele in und auf Xantilon. Sie werden – ohne es zu wollen – zu Helfershelfern der geweckten Kräfte. Diejenigen nämlich machen die Kaste der Weißen Priester verantwortlich, dass alles so gekommen ist. Seltsame Verwicklungen, nicht wahr, meine Tochter?«

Er wandte sein wettergegerbtes Gesicht der schönen Frau zu. Tiefliegende, dunkle und gütige Augen blickten sie an. Warnak hatte die Kapuze nach hinten gestreift. Sein langes, mit grauen Fäden durchwirktes Haar war dicht und berührte wellig die schmalen Schultern.

Er wollte seinen Worten noch etwas hinzufügen, zuckte aber plötzlich zusammen.

Ein Geräusch!

Amina hielt den Atem an. Zum ersten Mal seit ihrer gelungenen Flucht aus dem Haus des Kräuterzüchters vernahm sie einen solchen Laut.

Es klang, als ob sich Berittene näherten.

Der Boden dröhnte.

Dann erfolgte ein Rumpeln, ein vielstimmiger Aufschrei. Sekunden später klirrten Schwerter aufeinander.

Warnak, trotz seines Alters von erstaunlicher Beweglichkeit, eilte den Abhang hinunter.

Amina folgte, Taaro auf den Armen. Hinter den vorspringenden Felsen verbargen sie sich.

Warnak ließ die schöne Frau durch eine stumme Geste wissen, dass sie sich ganz ruhig verhalten sollte.

Kampfgeräusche und Schmerzensschreie von Verwundeten erfüllten dröhnend die Luft und ließen sie erzittern. Der Zusammenstoß zwischen zwei rivalisierenden Gruppen musste genau hinter der hohen Felswand erfolgt sein, die die Steppe wie eine bizarre Mauer teilte.

Schwerter klirrten, Pferde schnaubten und wieherten, Menschen schrien getroffen auf. Man hörte, wenn ein Körper zu Boden plumpste oder ein Schwerthieb sein Ziel verfehlte und gegen den Felsblock krachte.

Funken sprühten ...

Warnak schob sich etwas vor und spähte um den vorspringenden Felsblock.

Der Kräuterzüchter zuckte zusammen. Totenbleich zog er seinen Kopf zurück. »Um Himmels willen«, entrann es seinen Lippen, und er musste heftig schlucken. Seine Stimme klang so erschrocken, dass Amina das Gefühl hatte, eine eiskalte Hand würde ihren Rücken hinabgleiten. »Die ... Kugelköpfe.«

Die schöne Frau sah ihn aufgeregt an. »Die ... Kugelköpfe? Wer oder was ... ist das?«

»Wilde Horden«, presste Warnak aufs äußerste erregt hervor. Seine Lippen zitterten. »Niemand weiß, wer sich hinter den Masken versteckt. Sie tauchen überall auf und fallen mordend, plündernd und brandschatzend über Alleinreisende und Gruppen her.« Er flüsterte. Seine Stimme war wie ein Hauch.

Amina presste sich unwillkürlich enger an die Felswand. Der schwarze Schatten hüllte sie völlig ein. Über das Gestein rankte ein efeuähnliches Gewächs mit großen, klebrigen Blättern. Sie berührten ihre Köpfe.

Das Schnauben der Pferde, ein kehliges, mehrstimmiges Lachen, das Geräusch, das entstand, wenn Schwerter in die Scheiden zurückgeschoben wurden ...

Amina trat einen Schritt vor. Angst und Neugierde hielten sich die Waage.

Warnak fasste die junge Frau am Oberarm. »Vorsicht!«

Amina nickte. Sie streckte den Kopf nur einige Millimeter vor.

Der Geruch von Blut und Tod wehte durch die Luft. Die Atmosphäre war angefüllt mit Beklemmung und Grauen, dem man sich vergeblich zu entziehen versuchte. Das Fremdartige, das in ihrer unmittelbaren Nähe geschah, strahlte Unruhe und Furcht aus, die sie körperlich spürte.

Amina sah die Unheimlichen und glaubte, im gleichen Augenblick gewürgt zu werden.

Es waren fünf. Sie saßen auf nachtschwarzen Pferden, die sich kaum von der Dunkelheit abhoben. Die Oberkörper der Reiter waren nackt und glänzten ölig, ihre Köpfe rund wie Kugeln und glatt. Dunkle Löcher glosten rötlich anstelle der Augen; darunter befand sich ein breites, zähnefletschendes Maul, so dass es aussah, als würde dieses Gesicht, in dem es sonst keine weiteren Sinnesorgane gab, in schauriger Weise grinsen. Oberhalb des glatzköpfigen Schädels lief ein starrer Kamm wie bei einer Echse in Längsrichtung zum Nacken, bis über den Rücken hinweg.

Die Kugelköpfigen waren mit langen, breiten Schwertern bewaffnet und trugen nur einen dunkelbraunen Lendenschurz.

Am Boden lagen drei tödlich Verletzte mit bloßen Oberkörpern und Lendenschürzen. Offenbar hatten sie den Kugelköpfigen aufgelauert und waren vorzeitig entdeckt worden. Das dichte Buschwerk war von den Pferdehufen niedergetrampelt und von den Schwerthieben zerfetzt worden. Die Toten lagen in ihrem Blut.

Außer einem. Dem hatte ein Schwerthieb die Schulter aufgeschlitzt. Er war zu Boden gestürzt und richtete sich jetzt wieder auf. Er war der vierte der Unberittenen. Tapfer hielt er nochmals sein Schwert in die Höhe; die zitternde Hand umspannte fest den dunklen Griff. Auf dem Gesicht dieses Mannes glänzte eine dicke Schweißschicht.

Am liebsten hätte Amina diesen mutigen Krieger davor gewarnt, sich auf diesen sinnlosen Angriff einzulassen. Aber ihre Kehle war wie zugeschnürt, und sie wusste, dass auch ein Warnschrei nichts an der Lage der Dinge ändern würde, weil sie damit nur die Kugelköpfigen mit dem starren Hornkamm auf Warnak und sich aufmerksam gemacht hätte. Nein, sie hatten ebenso wenig eine Chance wie der tapfere Verletzte, der es nicht einmal schaffte, das Schwert so weit in die Höhe zu bringen, dass er dem nächsten Gegner damit gefährlich werden konnte.

Einer der Kugelköpfe gab einen wilden Kampfschrei von sich. Gleichzeitig riss er sein Schwert hoch und warf es von sich wie einen Speer. Es traf genau, durchbohrte die Brust des Tapferen, und der Getroffene kippte ohne einen Laut von sich zu geben nach vorn. Damit stieß er sich die Waffe noch tiefer in den Leib.

Amina stöhnte dumpf. Das wurde ihr erst bewusst, als die fünf Berittenen beinahe gleichzeitig ihre Reittiere herumrissen und in Richtung der efeubewachsenen Felswand starrten, hinter der sie sich verbargen!

Namenloses Grauen packte sie, und das Mark gefror ihr in den Knochen. Amina wurde von harter Hand zurückgerissen.

»Flieh! Schnell!« Schweiß perlte von Warnaks Stirn und fing sich in seinem struppigen Bart. Seine Augen glänzten wie im Fieber.

»Ich kann nicht!«

»Du ... musst!«

»Nicht ... ohne Sie, Warnak!«

»Flieh, meine Tochter!« Er versetzte ihr kurzerhand einen Stoß in den Rücken, dass sie über den harten, steinigen Untergrund hinweg nach vorn taumelte. »Zögere keine Sekunde! Ich bin nicht wichtig. Einem alten Mann werden sie nichts tun! Aber ich wage nicht, mir auszumalen, was mit dir geschehen wird, wenn sie auf dich aufmerksam werden!«

Er stieß diese Worte hastig und leise hervor. Sie verstand nur die Hälfte, konnte sich das andere aber zusammenreimen.

Sie eilte in die Dunkelheit, duckte sich und tauchte unter dem über die zerklüftete Wand ragenden Gewächs hinweg. Es kam ein Spalt, ein Loch in der Wand. Hier verharrte Amina nicht, sondern torkelte weiter und vermied jedes unnötige Geräusch.

Aber da waren andere Geräusche, die ihre Schritte und das Rascheln ihrer Kleider, wenn sie sich an der Felswand und dem Gestrüpp entlangpresste, übertönten.

Die hornigen Hufe der Pferde stießen gegen das Gestein. Die Kugelköpfigen preschten um die Felswand herum.

Der alte Kräuterzüchter löste sich von der Wand und hob die Hand, als wolle er die Ankömmlinge grüßen. Dabei entfiel ihm sein langer Stock. Scheppernd schlug er auf den steinigen Untergrund.

Warnak bückte sich danach.

Im gleichen Augenblick erhielt er einen Stoß gegen die Brust. Er konnte sich nicht abfangen und taumelte mit dem Rücken gegen die Felsmauer. Hart und spitz waren die Steine und rissen sein rotes Gewand auf.

»Nicht!«, rief er laut. »Ihr braucht mich nicht zu fürchten ... ich habe mit ihnen ...«, damit wies er die Felswand entlang und meinte die toten Krieger, »... nichts zu tun ...«

Er griff nach seinem Stab, zog ihn an sich und wollte sich darauf stützen.

Ein Schwert zischte wie ein Blitz durch die Luft. Die messerscharfe Klinge spaltete das dunkle Holz des armdicken Stabes. Es krachte und splitterte. Der Alte, im Aufstehen begriffen, verlor erneut das Gleichgewicht.

Die wie Geister aus einem jenseitigen Reich auftauchenden Kugelköpfigen fragten nicht danach, was er hier suchte, was er wollte und wer er war. Sie handelten einfach.

Das Schwert des vordersten Reiters stach zu. Die Spitze bohrte sich oberhalb des Herzens in den Körper des Unglücklichen. Blut sprang wie aus einer frischgeöffneten Quelle hervor.

Warnak sog scharf die Luft ein. Dann kippte sein Kopf langsam nach vorn, und seine Hände, die den in der Mitte gespaltenen Stab hielten, spannten sich hart und wie im Krampf um das runde Holz, als wollten sie es nie wieder loslassen.

Die Kugelköpfigen verharrten und blickten sich mit glosenden Augen in der Düsternis um. Da war nichts, was darauf schließen ließ, dass es außer dem bärtigen alten Mann noch jemanden gab, der sich hier versteckt hielt.

Amina sah von ihrem Versteck aus die gespenstischen Reiter und hielt den Atem an. Wenn man sie fand, dann waren Taaro und sie verloren.

Die Hufe der Pferde klapperten über den steinigen Boden.

Wenn nur die Tiere nichts witterten. Sie sah die glühenden Augen der schwarzen Hengste, als würden darin alle Feuer der Hölle lodern.

Das Hufgeklapper entfernte sich.

Amina schluckte. Plötzliches Glücksgefühl durchrieselte sie.

Geschafft?

Ja, es sah so aus! Die Unheimlichen ließen sich offenbar täuschen! Sie nahmen an, dass nur Warnak sich in der Nähe aufgehalten hatte. Das war kein Gegner für sie. Er war unwichtig in ihren Augen. Aber für sie bedeutete er das Leben. Dieser Mann allein kannte den Weg zu dem Schloss des Magiers, von dem aus sie ihre Flucht nach Xantilon fortsetzen wollte.

Sie selbst hatte verlangt, unbedingt nach Xantilon gehen zu wollen. Ein unerklärliches Gefühl, eine intuitive Ahnung zwangen sie dazu. Dort – dessen war sie sich ganz sicher – würde sie vielleicht die Chance erhalten, alles in die Wege zu leiten, um gerettet zu werden.

Xantilon selbst war ein markanter Punkt.

Amina wusste, dass Arson, der mit seinem Zeitschiff die geheimnisvollen, unenträtselten Welten von Raum und Zeit durchquerte, alles daran setzen würde, Taaro und sie zu retten. Xantilon zur Zeit des Untergangs war für einen Zeitreisenden wie Arson unmöglich zu verfehlen. Und Amina war sicher, dass Arson alle Möglichkeiten ausschöpfte, um ihren derzeitigen Aufenthaltsort ausfindig zu machen.

Sie wartete, bis die Geräusche verklungen waren. Dann richtete sie sich halb auf, starrte durch das große, ausgefranste Loch des riesigen Tierschädels, der eng an der Felswand anlag und in dessen Inneren sie Zuflucht gesucht hatte.

Taaro lag auf der Erde und rührte sich nicht. Tiefe Atemzüge hoben und senkten die Brust des Knaben. Es war gut, dass er von allem nichts mitbekommen hatte.

Vorsichtig schritt Amina aus dem dunklen, knöchernen Verlies. Sie setzte ihren Fuß auf den vermoderten, fauligen Unterkiefer des Riesenskeletts. Rundum lagen ausgebrochene, stumpfe flache Zähne. Klebrige Lianen hingen wie überdimensionale Spinnenfäden über den Rissen und Spalten in dem Riesenschädel, und ein etwa zwei Meter hoher Felsblock und Myriaden der breiten Blätter des Efeugewächses bildeten einen zusätzlichen Schutz, der sich nun auszahlte.

Die Luft war rein. Kein Geräusch erfolgte mehr.

Offenbar stand Warnak irgendwo in der Dunkelheit, blickte den Davonreitenden nach und blieb still, um sie nicht noch einmal auf sich aufmerksam zu machen.

Amina holte Taaro und nahm den schlafenden Jungen mit. Sie kehrte zu der Stelle zurück, wo sie Warnak zum letzten Mal gesehen hatte. Eine eiskalte Hand krallte sich in ihr Herz, als sie ihn reglos vor der Felswand hocken sah, den in der Mitte durchgeschlagenen Stab mit beiden Händen krampfhaft haltend.

»Warnak! Oh, Warnak!« Ihre Augen wurden feucht. »Diese Mörder! Warum haben sie das getan? Und ich bin schuld, ich ganz allein – weil ich vorhin die Nerven verloren habe ...«

Ihr Schicksal war besiegelt. Ich hätte hierbleiben sollen, hier bei ihm ... der sofortige Tod ist besser als einer auf Raten ... Sie wusste, dass sie ohne diesen Mann verloren war. Allein würde sie es nie schaffen, diese grausame, von Dämonen und Geistern beherrschte Welt zu meistern.

»Amina ... meine ... Tochter«, vernahm sie da die leise Stimme.

Warnaks Lippen bewegten sich kaum merklich.

Noch war ein Lebensfunke in ihm. Sie sah, dass der Kräuterzüchter, der sie bis hierher so sicher geführt hatte, versuchte, die Augenlieder zu heben. Es fiel ihm unendlich schwer.

»Nicht sprechen, Warnak«, sagte sie leise, und ein flüchtiges Lächeln huschte über ihre Lippen.

»Doch ... ich muss sprechen.« Seine Wangenmuskeln zuckten. Leise ging sein Atem, der Puls war kaum noch zu fühlen. Das Blut sickerte aus der Brustwunde. Amina riss kurzentschlossen einen Fetzen aus ihrem Kleid und drückte ihn fest gegen die Wunde, um die Blutung zu stillen.

»Spare deine Kräfte ... auf, meine Tochter! Du wirst sie noch ... nötiger brauchen ...«

»Verzeih mir, Warnak«, sagte sie schnell, ohne auf seine Worte einzugehen.

»Verzeihen ... dir? Warum?«

»Ich bin schuld daran ... ich hätte nicht erschrecken dürfen, als der Kugelköpfige den Verwundeten so brutal niederstach. Ich bin schuld daran, dass du sterben musst ...«

»Unsinn ... mein Tod, was bedeutet er schon? Ich sollte darüber froh sein, dass es ... zu Ende geht ... die Wandlung in dieser Welt ... ich begreife sie nicht mehr ... ich bin schon zu alt ... kämpfen ... eigne mich nicht mehr dazu ... ich bin ... ein Ballast ... mein Aufenthalt im Jenseits wird nur gut sein ... zur Erneuerung ... wenn es den Weißen Magiern gelingt, die Kräfte der Alten zu mobilisieren und die verlorengeglaubten Seelen aus dem Jenseits zurückzufordern, damit sie zum Kampf gegen die Mächte des Bösen antreten ... wird vielleicht noch alles gut werden ...« Es sprudelte plötzlich nur so über seine Lippen, als nähme er noch einmal all seine Kraft zusammen. Er sprach von Dingen, über die er noch nie zuvor gesprochen hatte, und ein rätselhaftes Lächeln spielte um seine Lippen. »Hoffentlich ... hoffentlich dringen sie nicht auch noch ins Reich der Toten ein, um sie für sich zu gewinnen ... aber das braucht nicht deine Sorge zu sein, du brauchst dir ... wegen mir keine Sorgen zu machen. Alles wird gut werden! Nur um dich geht es jetzt ... die Schlucht, die wir beide gesehen haben ... die jenseits der Felsmauer liegt und das Tal in zwei Hälften zu teilen scheint ... durch die musst du gehen! Sie führt direkt zur Burg meines Freundes, einem Mann, dem du dich bedenkenlos anvertrauen kannst. Erzähl ihm dein Schicksal! Ich hoffe, dass er noch frei ist und die Dämonen sein Haus noch nicht beherrschen. Sollte es der Fall sein ... dann passe auf, meine Tochter! Dass die Kugelköpfigen in diesem Tal ... aufgetaucht sind ... gibt mir zu denken ... Vergewissere dich, dass das Haus meines Freundes wirklich noch die Freiheit bietet, die ich dir verspreche! Du erkennst es ganz leicht an folgendem Zeichen: über den Zinnen der bizarren Behausung liegt ein helles, freundliches Licht. Auch die Mächte der Finsternis vermögen es nicht zu löschen. Findest du das Schloss im Dunkeln vor, dann flieh!«

Stille ... Seine Worte verhallten.

»Fliehen, Warnak? Wohin?«

»In das Reich der Toten ...«

»Wo finde ich es?«

»Du musst ...« Sein Gesicht verzerrte sich, die Mundwinkel klappten herab. Man sah seiner Miene die Anstrengung an, die er sich abverlangte, um noch ein paar Silben herauszubringen. Totenbleich war sein Antlitz, seine Hände zuckten. »Der Eingang ... meine Tochter ...« Jetzt war er kaum noch zu verstehen. Er murmelte etwas vor sich hin. Rasch beugte Amina sich vor und berührte mit ihrem Ohr fast seine trockenen, rissigen Lippen.

»... vielleicht sehen wir uns dort wieder«, lauteten seine letzten Worte. Ein glückliches Lächeln blieb auf seinen Lippen zurück.

Warnak war tot.

Sie begriff den Schmerz und ihre Situation nicht, und es blieb ihr nicht einmal Zeit, sich darüber Gedanken zu machen.

Da vernahm sie ein Geräusch – ein leises, hartes Klingen, als ob jemand mit einer Schwertspitze einen Stein berühre.

Die schöne Frau erstarrte. Jemand stand hinter ihr!

»Gut, einverstanden«, sagte Björn Hellmark und nickte. »Dein Vorschlag ist gut und leuchtet uns ein. Wir richten uns ganz nach dir.«

Aller Augen ruhten auf dem jungen, dunkelhaarigen Mann, der sich Kima nannte und nicht mit dem Zeitschiff Arsons in die Zeit des Untergangs Xantilons gereist war, sondern hier auf der Insel lebte und dem Hellmark und Arson ihr Leben verdankten.

Der Plan stand fest: sie würden alle das Zeitschiff verlassen, und Kima würde sie erst zu dem blinden Propheten führen, der das Schicksal der Menschen voraussagen konnte und wissen musste, ob es überhaupt noch Sinn hatte, nach Xantilon zu gehen, oder ob es reiner Selbstmord war.

Alle waren ausgeruht. Der Zeit nach war es Vormittag. Aber dieser Vormittag war als solcher nicht zu erkennen. Die Sonne schien nicht; die dichte Wolkendecke über dem öden, hügeligen Landstrich, in dem das Zeitschiff unbemerkt gelandet war, wollte nicht aufreißen.

»So ist es seit einiger Zeit schon«, murmelte Kima nachdenklich, während er auf die runden Bildschirme blickte, die wie die Glieder einer Kette nebeneinanderlagen und einen Eindruck von der unmittelbaren Umgebung des Schiffes vermittelten. »Wahrscheinlich wird es sich nie wieder ändern.« Er wandte den Kopf und sprach Arson direkt an. »Sie kommen aus einer fernen Zeit, aus der Zukunft, aus einer Welt, die Sie mir geschildert haben und die ich mir dennoch kaum vorstellen kann. Eine Sache beschäftigt mich ständig, Arson. Die Fragen gehen mir nicht aus dem Kopf. Darf ich eine Frage wenigstens an Sie richten?«

»Machen Sie Ihrem Herzen Luft, Kima!«

»Sie haben mir etwas über die Relativitätstheorie, über geschlossene Zeiträume innerhalb des Universums und über Tachyonen erzählt«, begann Kima leise, als müsse er sich erst langsam vortasten. »Ich habe immerhin so viel begriffen, dass ich weiß: die Entdeckung der Tachyonen, die sich in jedem System überlichtschnell bewegen können, und die Tatsache, dass es Ihnen in der Zukunft gelungen ist, Materie vollständig in reine Energie umzuwandeln, sind wichtig und maßgeblich für eine Reise in die Vergangenheit. Sie haben gewissermaßen Ihre eigene Zeit überrundet. Es mag absurd klingen, wenn man einem Außenstehenden das plausibel zu machen versucht. Ich selbst kann Ihren Besuch nicht begreifen, aber ich bin bereit, ihn hinzunehmen, da ich weiß, dass wir in einer noch nicht einmal weit zurückliegenden Vergangenheit selbst eine Technik beherrschten, von der unsere Vorfahren nicht mal zu träumen wagten. Sie kommen aus der Zukunft, in der Hoffnung, hier Ihre Familie zu finden, die von Dämonen entführt wurde. Sie bekämpfen die Dämonen – Sie alle ...« Er ließ seinen Blick in die Runde schweifen. »Sie – wie ich – wissen: nur durch die Überheblichkeit der Schwarzen Priester ist es so weit gekommen, dass Xantilon zum Tummelplatz der bösen Geister wurde. Da ihr aber nun mal hier seid und so viel über die Kräfte der Finsternis, über die Schwarzen Priester und vor allem auch über die Einflüsse aus den jenseitigen Schattenreichen wisst, läge doch eins nahe: ihr könntet die Schwarzen Priester vernichten, Xantilon retten – und damit gleichzeitig einen Riegel vorschieben, damit es zu den grauenvollen Ereignissen, welche euch in der Zukunft erwarten, überhaupt nicht kommen wird!«

Arson lächelte. Nach den Worten des jungen Mannes aus Xantilon herrschte eine Weile absolute Stille.