Macabros 020: Das Foltertal - Dan Shocker - E-Book

Macabros 020: Das Foltertal E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Bearbeitete Original Romane Tal der tausend Foltern Björn setzt seinen Weg nach Tschinandoah fort. Es gibt keinen, der es je geschafft hat, das Tal der tausend Foltern zu durchqueren. In seiner Not kriecht Hellmark in die Puppe des Somschedd, und die Grenzen der Welten verschwimmen endgültig. Al Nafuur hat den Freund gewarnt, denn diese Entscheidung zieht schicksalhafte Folgen für Tschinandoah nach sich! Tschinandoah - wo die Steine leben Danielle de Barteaulieé ist eine Hexe und trägt den Befehl in sich, Björn zu töten. Doch damit beginnen nur neue Probleme. Danielle stellt sich gegen Rha-Ta-N my. - und bald steht sie mit Björn Hellmark vor leeren Marmorgebäuden, vor endlosen, toten Straßen und Zyklopensäulen. Ist dies das gepriesene Tschinandoah? Hades, Hort der Vergessenen Ein anderer Stern, ein anderes Kontinuum - Tschinandoah wurde weit in die Zukunft versetzt. Zavho wird von Molochos Teufelsdienern in der Unterwelt gefangen gehalten, und ihn muss Björn finden, um das Dilemma doch noch zu beenden. Er genießt den Trank der Siaris, und sein Traum führt ihn in den Hort der Vergessenen. Die Horror-Tempel von Skyx Der ahnungslose Björn Hellmark durchstreift in Inneren des Energiewesens D-Dyll-Vh on-Ayy die Weiten des Kosmos. Sein Weg scheint sich endgültig zu verlieren, getrennt von seinen Freunden, die es in andere Dimensionen verschlagen hat ...

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DAN SHOCKERS MACABROS

BAND 20

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Fachberatung: Gottfried Marbler

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-720-7

Dan Shockers Macabros Band 20

DAS FOLTERTAL

Mystery-Thriller

Tal der tausend Foltern

von

Dan Shocker

1. Kapitel

Als das Telefon klingelte, fuhr Spencer Loredge zusammen, als habe ein Peitschenschlag ihn getroffen. Der Blick des dreiundfünfzigjährigen Wissenschaftlers flog nicht zu dem rasselnden Apparat, sondern zur Uhr. Es war wenige Minuten nach zehn Uhr abends. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass in den letzten Jahren jemand nach neun Uhr noch angerufen hatte.

Spencer Loredge war bekannt dafür, dass er es nicht liebte, nach neun Uhr abends gestört zu werden. Jeder in seinem Freundes- und Bekanntenkreis hielt sich daran. Wer konnte jetzt noch anrufen? Loredge erhob sich von der Couch, auf der er im Schlafrock lag und in einem wissenschaftlichen Werk blätterte. Seine Frau saß im Sessel neben der Stehlampe und war eingenickt. Als das Telefon zum dritten Mal anschlug, zuckte auch sie zusammen.

Loredge meldete sich kühl und reserviert. Er war fest überzeugt davon, dass sich jemand einen dummen Scherz erlaubte, oder dass es eine falsche Verbindung war.

»Spencer? Ich bin's. Lee.«

»Lee? Welcher Lee? Ich ...« Da fuhr Spencer zum zweiten Mal zusammen. Diesmal erschrak er. »Lee – Brown?«

»Ja.«

Das konnte nicht wahr sein. Der Kollege war vor über einem Jahr plötzlich spurlos verschwunden. Die Suche nach ihm war eingestellt worden, und jetzt meldete er sich, als sei überhaupt nichts gewesen?

»Wo kommst du her, Lee? Von wo rufst du an?« Die Fragen drängten sich Loredge automatisch auf, ehe sie ihm bewusst wurden.

»Ich komme aus Ägypten, Spencer, und im Moment halte ich mich in meinem alten Arbeitszimmer im Britisch Museum auf.«

»Lee, das ist unmöglich. Wieso ...«

»Wieso ich hier hereinplatze?« fiel Lee seinem Gesprächspartner ins Wort, als dulde das, was er zu sagen hatte, nicht den geringsten Aufschub. »Ich hatte meine Schlüssel noch. Aber die habe ich nicht einmal gebraucht. Wenn wir uns sehen, wirst du schnell begreifen, weshalb ich keine Schlüssel benötige, um hier hereinzukommen. Ich möchte dir einen Vorschlag machen, Spencer: zieh die Hausschuhe aus und komm hierher. Ich habe die Absicht, eine kleine Party zu veranstalten – hier und jetzt. Du hörst richtig. Ich möchte dazu noch Sean und Walter einladen, alle diejenigen, die damals der Gruppe angehörten, welche im Tal der Könige nach dem unterirdischen Grabmal des Somschedd suchten. Du bist der erste, den ich anrufe, Spencer.«

Loredge zog hörbar die Luft durch die Nase. »Aber mitten in der Nacht, Lee? Das ist bestimmt ein Scherz. Du warst sehr lange weg. Erinnerst du dich denn nicht mehr daran? Du wirst Ruhe brauchen. Wir können uns doch auch morgen sehen ...«

»Mitten in der Nacht ist erst in zwei Stunden, Spencer. Mein Anruf ist kein Scherz. Ich weiß sehr genau, was ich tue und was ich will. Dass ich mich jetzt und auf diese Weise melde, ist sicherlich ungewöhnlich. Aber du wirst alles verstehen, wenn du herkommst. Mein Vorhaben duldet keinen Aufschub. Morgen kann es zu spät sein.« Er redete schneller, als es seine Art war. Man hörte seiner Stimme eine starke Erregung an.

Das Ganze kam Spencer Loredge wie ein Traum vor. Da meldete sich ein Kollege, nach dem die Polizei gefahndet hatte wie nach einer Stecknadel im Heuhaufen, und tat, als sei seine Rückkehr überhaupt nichts Besonderes. Mit Lee Brown stimmte etwas nicht. Spencer versuchte, ganz ruhig zu bleiben. »Sieh mal, du bist erst heute Abend zurückgekommen und schon ...«

Wieder fiel Brown ihm ins Wort. »Ich bin seit einer Minute zurück, Spencer, wenn du es genau wissen willst.«

»Das ist ausgeschlossen. Übertreib nicht.« Loredge sprach mit ihm wie mit einem Schüler, den er beim Aufschneiden erwischt hatte. »Allein vom Flughafen benötigst du eine gute halbe Stunde, um nach London reinzukommen, und dann ...«

»Es ist so, wie ich dir sage, Spencer. Ich bin seit einer Minute zurück, und ich habe den Airport nicht benötigt«, fiel Lee Brown dem Wissenschaftler ins Wort. »Aber all das will ich dir nicht hier am Telefon plausibel machen. Deshalb bitte ich dich, herzukommen. Ich möchte dir und den anderen etwas zeigen, was sich schlecht durch Worte erklären und vielleicht auch nicht wiederholen lässt ...«

»Warum so geheimnisvoll, Lee? Was ist los mit dir?«

»Komm, Spencer, und du wirst alles erfahren. Aber komm sofort. Ich werde nämlich noch heute Nacht nach Ägypten zurückkehren.«

»Lee!?«

»Ich rede keinen Unsinn und bin auch nicht verrückt. Ihr könnt dabei sein, wenn Ihr wollt. Deshalb bitte ich euch hierher. Wenn dir die Begegnung mit mir die Sache wert ist, dann zieh dich wieder an, wenn du schon im Schlafanzug sein solltest. All das, was wir bisher wussten oder zu wissen glaubten, ist nichts gegen das, was ihr selbst erleben werdet, Spencer. Ich habe das Geheimnis um den Magier-Priester Somschedd zwar nicht gelüftet, aber ich bin ihm einen großen Schritt nähergekommen. Ich habe Somschedd persönlich gesehen.«

»Unmöglich!«

»Komm her, Spencer, oder lass es bleiben. Wenn du interessiert bist, lässt du keine Sekunde vergehen. Noch eines: komm an den Hintereingang. Ich werde ihn offenhalten. Licht wird nirgends brennen. Das würde auffallen. Ich möchte nicht, dass außer dir, Walter und Sean jemand weiß, dass sich im Britisch Museum jemand aufhält.«

»Lee, du bist betrunken – oder krank. Wie kannst du Somschedd persönlich gesehen haben? Er ist seit über viertausend Jahren tot.«

»Ich habe ihn gesehen. Lebend! Ich komme gerade von ihm.«

An der dunklen Hintertür des Britisch Museum hatten sich drei Männer eingefunden. Sean hatte den kürzesten Anfahrtsweg gehabt und war schon da, als Spencer Loredge mit Walter Gruyter eintraf.

In derselben Sekunde stand Lee Brown plötzlich in der Tür. Er schien mitten aus der Wüste zu kommen. Seine Leinenhose war mit rötlich-braunem Sand bedeckt, ebenso die leichten Schuhe. Er wirkte ruhig, war es aber nicht. Wenn man ihn kannte, spürte man, dass er ein Nervenbündel war. Er redete zu hastig, versprach sich oft.

Die drei wollten wissen, warum er eines Tages ohne eine Nachricht zu hinterlassen, plötzlich verschwunden war. Selbst die Polizei befasste sich mit seinem Verschwinden und kam zu keinem Ergebnis. Familie hatte er nicht, Freunde und Bekannte dafür umso mehr. Doch niemand hatte den recherchierenden Beamten etwas mitteilen können. Die Untersuchungen wiesen darauf hin, dass Lee Brown das British Museum abends nach Dienstschluss überhaupt nicht verlassen hatte! Man nahm an, dass er vielleicht in dem riesigen Gebäude einen Unfall erlitten hatte und irgendwo lag, ohne sich bemerkbar machen zu können. Man durchsuchte sämtliche Räume, die verstaubten Archive ebenso wie die Besucherhallen und die Keller, in denen ungezählte Altertümer lagerten, die noch nicht einmal katalogisiert waren.

Brown blieb verschwunden. Da kam in seinem Bekanntenkreis der Name Somschedd auf. Seit Jahren befasste sich Lee Brown mit dem Studium altägyptischer Hieroglyphen. Dabei war er auf den Namen eines Priesters gestoßen, der nur einmal auf einer einzigen Hieroglyphentafel auftauchte. Hier fand er die Bestätigung dafür, dass der Name des Priesters einst auch auf anderen Tafeln gestanden hatte und nachträglich ausgelöscht worden war. Der Name Somschedd sollte für die Nachwelt in Vergessenheit geraten.

Wer war Somschedd? Was für eine Bedeutung hatte er in seiner Zeit, und warum behandelte man ihn wie einen Ausgestoßenen? Diese Fragen ließen den Ägyptologen Brown nicht mehr los.

Brown durchforstete tage- und nächtelang die gesamte wissenschaftliche Literatur nach dem Namen des Somschedd. Mitten in dieser Arbeit tauchte er unter. Vielleicht war er überarbeitet und hatte nicht mehr gewusst, was er tat. Vielleicht war er aber auch auf eine Spur gestoßen und wollte geheim halten, was er vorhatte.

Die englische Presse füllte einige Tage ihre Spalten mit Vermutungen und Dementis. In der Auslandspresse erschienen nur einmal zwei Zeilen. Für die Welt war Brown nur irgendein wissenschaftlicher Mitarbeiter des British Museum. Nie war er mit Essays hervorgetreten. Populärwissenschaft verabscheute er. Er tat still und bescheiden seinen Dienst. Wenn ein Journalist sich zu ihm verirrte, bekam er nur die Antwort: »Kein Kommentar.«

So hatte auch die Öffentlichkeit keine Notiz davon genommen, dass er eine vierköpfige Gruppe leitete, die in Ägypten im sagenumwobenen Tal der Könige ein Forschungsprogramm durchführte.

Lee Brown wirkte noch hagerer und dünner, als die Freunde ihn kannten. Seine Haut war durchscheinend wie Pergament, seine Augen glänzten fiebrig. Er sah aus, als sei er lange Zeit umhergeirrt.

»Wo bist du gewesen?« wurde er gefragt.

»Kommt mit«, wich er aus und ging ihnen in seiner typisch gebeugten Haltung voran. Die schmutzigen Hosenbeine schlotterten um seine dürren Beine. Er machte nirgends Licht. Die hohen Fenster in dem alten Gebäude ließen verschwommen das Licht der Straßenlaternen durchsickern.

Mit der Hand abgeschirmt, führte Brown eine Taschenlampe mit. Der breitgefächerte Strahl beleuchtete den steinernen Boden und ließ die Schatten der nächtlichen Besucher in dem alten Gebäude zu gespenstischen Schemen werden, die groß und bizarr mit ihnen an Decke und Wänden mitwanderten.

Sie passierten zwei Hallen. Die Statuen schienen unter dem schwankenden Licht zu geisterhaftem Leben zu erwachen. Hohl hallten die Schritte der vier Männer in den endlos wirkenden Sälen wider.

Es ging in den Keller hinunter.

Sie kamen an mehreren massiven Türen vorüber, die verschlossen waren. Der Gang machte endlich einen scharfen Knick und endete vor einer Tür, die weit offen stand. Hier unten roch es modrig und feucht. Die vergitterten Fenster wurden niemals geöffnet.

Der Kellerraum, in den Lee Brown sie führte, enthielt zahlreiche ungeöffnete Kisten, die bis zur Decke aufgestapelt waren. Dies war ein Teil der ägyptischen Sammlung, welche der Öffentlichkeit noch nicht zugänglich gemacht worden war.

Die von Brown zu so ungewöhnlicher Stunde eingeladenen Freunde sahen an der ihnen gegenüberliegenden Kellerwand einen aufrecht stehenden Mumiensarg in Menschengestalt. Die Farben des Sarges waren erstaunlich frisch. Er war größer als alle anderen, die die Wissenschaftler jemals gesehen hatten.

»Was ist das?« fragte Sean O'Hanon interessiert. »Eine Nachbildung?«

»Ein Original«, sagte Lee Brown.

»Unmöglich«, warf Spencer Loredge ein. »Allein die Größe ist so auffallend, dass man sofort an eine Fälschung denkt. Er ist zu hoch und auch viel zu breit.«

»Richtig«, sagte Brown ungerührt. »Es ist auch kein gewöhnlicher Sarkophag. Er ist nie dafür geschaffen worden, eine Mumie aufzunehmen.«

»Das kann ich mir denken«, nickte Spencer Loredge eifrig. Er war zweiundfünfzig, wirkte aber jünger. »Das Ding ist ein Studentenulk. Vielleicht hat es einer auch gebaut, um die Konstruktion eines Sarkophags zu studieren. Vielleicht wollte er sich eines Tages darin begraben lassen.«

Lee Brown fühlte die Blicke der Freunde auf sich gerichtet. Er wusste, was in ihren Köpfen vorging. Sie hielten ihn für verrückt. Was sollten sie auch von einem Mann halten, der vor vierzehn Monaten spurlos aus London verschwunden war und nun in der Nacht wieder auftauchte und so tat, als sei er überhaupt nicht fortgewesen? Er hielt es ja nicht einmal für notwendig, mit einem klärenden Wort auf diese ungewöhnliche Situation einzugehen.

»Auch die Farbe ... sie ist viel zu frisch«, unterstützte Walter Gruyter seinen Kollegen Loredge. »Das sieht ein Laie, dass das Ding kopiert ist.«

»Meint ihr?« Brown blickte sich in der Runde um. »Was würdet ihr wohl sagen, wenn ich behaupte, dass dieser Sarkophag runde viertausend Jahre alt ist?«

Sie sagten überhaupt nichts. Sie lächelten nur mitleidig. In diesen Sekunden dachten sie alle das Gleiche: dass es besser gewesen wäre, wenn sie nach Browns Anruf sofort die Polizei verständigt hätten. Aber Lee hatte ihnen das Versprechen abgenommen, nichts zu unternehmen. Und sie hatten ihm ihr Wort gegeben.

Lee Brown war krank. Er hatte das Gefühl für die Realitäten verloren.

Allem Anschein nach war er monatelang durch das Land geirrt, und niemand wurde auf ihn aufmerksam. Das klang zwar unwahrscheinlich, doch in der heutigen Zeit, wo sich jeder selbst der Nächste war, kam das nicht so selten vor, wie man glauben mochte. Wer redete schon einen an, der durch die Straßen lief und niemanden belästigte? Durch einen Zufall war er nach London zurückgekommen und hatte das British Museum aufgesucht, zu dem er Schlüssel besaß.

»Wie bist du an den Sarkophag herangekommen?« wollte Walter Gruyter wissen. Er betastete den gut erhaltenen Gegenstand, fuhr mit dem Finger über die glatten, leuchtenden Farben.

»Die erste vernünftige Frage«, stellte Lee Brown zufrieden fest. »Eines Tages meldete sich in meinem Hotel ein Mann, der mir seinen Namen nicht nannte. Er wusste, dass ich mich für das Grabmal des Somschedd interessierte. Er wollte mir einen Hinweis geben, wenn ich ihm verspräche, über unsere Begegnung zu schweigen. Er interessierte sich ebenfalls für das Leben Somschedds. Er gab sich als Privatgelehrter aus. Er zeigte mir einen von Steinen und Wüstensand verdeckten Stollen. Gemeinsam mit diesem Ägypter habe ich die Grabkammer Somschedds gefunden. Unter dem Sarkophag, in dem er zur Strafe lebend beigesetzt worden war, befand sich ein geheimer Raum, in dem dieser Sarg stand. Wenn ihr ihn genau anseht, werdet ihr feststellen, dass er nicht aus einem Stück besteht, sondern aus mehreren tausend Einzelteilen, die wie ein Puzzlespiel zusammengesetzt sind.«

Bei diesen Worten richtete er den Strahl der Taschenlampe voll auf den unförmigen Sarkophag. Deutlich waren jetzt die Kanten der handtellergroßen, zusammengesetzten Teile zu sehen.

Brown fuhr fort: »Der Ägypter, der sich mir anvertraute, war schwerkrank. Er wusste, dass er nur noch wenige Monate zu leben hatte. Er war überzeugt davon, dass die Begegnung zwischen uns ein Fingerzeig des Schicksals sei. Der Mann litt an Rückenmarkkrebs. Mit dem Sarg des Somschedd hatte er gehofft, das Schicksal nochmals zu seinen Gunsten zu wenden. Aber was er begonnen hatte, konnte er nicht fortsetzen. So bat er mich inbrünstig, für eine Fortführung der Forschungen zu sorgen. Er war mir insofern behilflich, dass er dafür sorgte, Stück für Stück den Somschedd-Sarg nach England zu verschicken. Er kam in Einzelteilen hier an und ich setzte sie hier unbemerkt zusammen. Was aussieht wie ein Sarkophag, was mir als der Sarg des Somschedd bekannt ist, ist in Wirklichkeit etwas, was niemand für möglich halten wird.«

Er klappte den Deckel nach links, und der große Innenraum, in dem bequem zwei Menschen Platz finden konnten, lag offen vor ihnen.

Sofort fiel ihnen ins Auge, dass die grauen Innenwände mit Symbolen und Zeichen übersät waren. Mit schwarzer Farbe waren Würfel und Zylinder, Ovale und Kreise aufgemalt. Das Ganze sah aus wie eine verwirrende Aufrisszeichnung einer Schaltapparatur, mit der ein Laie nichts anfangen konnte. Auf den ersten Blick war es ein wirres Durcheinander, aber bei genauerem Hinsehen erkannte man ein System von Symbolen und Formen.

»Da scheint irgendein Konstrukteur oder Architekt drin rumgefummelt zu haben«, bemerkte Sean O'Hanon respektlos.

»Kein Architekt, aber ein Konstrukteur und Magier«, nickte Lee Brown ernst, ehe ein anderer etwas sagen konnte. »Die Symbole und die einzelnen zellenähnlichen Gebilde stellen Lageskizzen bestimmter Zeiträume und Zeitströme dar. Der Mumiensarg des Somschedd – ist eine Zeitmaschine ...«

Eine Bombe, die in ihrer unmittelbarer Nähe explodiert wäre, hätte keine größere Wirkung haben können. Im ersten Moment standen die nächtlichen Besucher wie erstarrt.

Dann schlug sich Sean O'Hanon an den Kopf, Spencer Loredge schluckte heftig und Walter Gruyter brach in schallendes Lachen aus, in das die anderen mit einstimmten.

Lee Brown schwieg. Er sah die Freunde gekränkt an und wartete, bis sie fertig waren. Die Lacher spürten seinen Blick. Einer nach dem anderen verstummte. Beschämt senkten sie die Köpfe.

»Habt ihr euch beruhigt? Seid ihr fertig?« Browns Stimme wirkte seltsam spröde.

»Entschuldige«, murmelte der flachshaarige O'Hanon.

»Ich habe nichts zu entschuldigen. Ich habe eure Reaktion vorausgesehen. Mir wäre es nicht anders ergangen. Ihr habt gehört, wo ich mich vierzehn Monate aufhielt: in der Vergangenheit. Somschedd, dessen Name man aus den Annalen der Geschichte strich, hat wirklich gelebt. Er wurde seinem Pharao und der Priesterschaft zu mächtig. Er musste verschwinden. Also beschloss man seinen Tod. Ein grausames Urteil wurde gefällt. Somschedd sollte lebendig begraben werden. Das kam ihm zu Ohren. Seine magische Macht allein genügte nicht mehr, sein Schicksal zu verändern. Priester, die wie er über magische Fähigkeiten verfügten, lähmten seine Kräfte. Mit Hilfe der Zeitmaschine hoffte er, dem Unheil zu entkommen. Er hatte sie so weit entwickelt, dass sie einsatzbereit war. Er kannte zu diesem Zeitpunkt das Urteil und das Totenhaus: seine eigene Pyramide. Er hatte sie nach seinen Plänen erbauen lassen. Sie enthielt eine geheime Kammer mit der als Sarkophag getarnten Maschine, die ohne Motor, ohne Schalter und Apparaturen funktionieren sollte. Somschedd hatte die Gesetze von Raum und Zeit studiert und sie magisch bezwungen. Seine größte Hilfe war dabei ein geheimnisvoller Mann, den die Priesterschaft, der er angehörte, nicht kannte. Ich konnte aufgrund meiner Recherchen in der Vergangenheit herausfinden, dass Somschedd ihn ›den Scharlachroten‹ nannte. Wen er damit meinte, das weiß ich bis zur Stunde nicht. Aber ich werde es herausfinden. Ich habe ja Zeit – die Zeit der ganzen Welt steht mir zur Verfügung. Aber ich will euch nicht mit Theorien langweilen. Ich habe euch herkommen lassen, um euch zu beweisen, dass mein Verdacht damals berechtigt war, dass Somschedd existierte wie Ramses und Moses, wie Nofretete und Tut-Ench-Amun. Am Telefon konnte ich nicht darüber sprechen. Ihr hättet das nächste Krankenhaus angerufen oder das nächste Nervensanatorium und mich in einer Zwangsjacke abholen lassen. Ich bin euch dankbar dafür, dass keiner auf eine solche Idee gekommen ist. Ich habe gewusst, dass ich mich auf euch verlassen kann.«

Er ging in den großen Mumiensarg. Im unteren Ende gab es ein schmales, kunstvoll verziertes Brett, auf das er sich bequem stellen konnte.

Lee Brown lächelte versonnen. »Leider kann ich immer nur einen Begleiter mitnehmen. Ich werde ihn in der Vergangenheit absetzen und wieder zurückkommen, um den nächsten zu holen. Wer hat Lust und Mut, mitzukommen? Denkt daran, dass euch niemand mehr ein solch verlockendes Angebot machen kann, die Vergangenheit aus eigener Ansicht kennenzulernen. Eine Reise durch Raum und Zeit ... Haltet euch vor Augen, was diese Nacht für euch bedeutet. Wir werden England verlassen und im Ägypten des Jahres 4000 vor Christi ankommen, und zwar in der Nacht vor der Verurteilung Somschedds und vor seiner Gefangennahme. Somschedd hatte sich vorgenommen, mit der verborgenen Zeitmaschine in einen anderen Raum und eine andere Zeit zu fliehen, möglicherweise zu dem ›Scharlachroten‹.«

»Aber das konnte er doch nicht«, fiel Spencer ein. »Die Zeitmaschine war doch nicht mehr da.«

Brown kicherte. »Du hast es erfasst. Ich hatte ihm die Zeitmaschine in der Nacht davor entwendet und hierhergebracht. Verrückt, was?«

Die Freunde sahen sich begriffsstutzig an.

»Kommt ihr mit dem Hin und Her von Zeit und Raum zurecht?« fragte Sean.

»Hören wir, was er uns zu erzählen hat«, schlug Spencer vor. »Irgendwann wird uns schon der Knopf aufgehen.«

»Ich darf euch daran erinnern, meine lieben Freunde«, lächelte Brown, »dass ihr euch immer über meine Suche nach Somschedd lustig gemacht habt. Ich musste daher meine Versuche, den geheimnisvollen Mann zu finden, streng geheim halten. Wie ihr seht, ist mir das gelungen. Das Grab Somschedds habe ich vor mehr als drei Jahren gefunden. Nach Wochen entdeckte ich diesen Mumiensarg in der Geheimkammer. Es hat ein Jahr gedauert, bis ich ihn in alle Einzelteile zerlegt und hierher in den Keller des Museums geschafft hatte. Dann verging wieder eine lange Zeit, bis ich ihn wieder zusammengesetzt und die Hieroglyphen und Symbole hier an den Wänden enträtselt hatte.« Er zeigte auf die Kreise, Dreiecke, Parabeln und Symbole auf der grauen Innenwand des Mumiensarges. »Sie haben mir die Antwort gegeben über Zweck und Sinn dieser Zeitmaschine und über die Möglichkeit, sie zu bedienen.«

»Und dann bist du vor vierzehn Monaten gestartet?« fragte Walter.

»Ja«, gestand Lee, »und ich kam im Jahre 4000 vor Christi in der Pyramide des Somschedd an, und zwar einige Tage vor seiner Verurteilung. Er war aber schon in Gefangenschaft, und ich konnte ihn nicht sprechen. Aber ich war doch gekommen, um alles über diesen geheimnisvollen Priester zu erfahren. Was hättet ihr getan?«

»Dumme Frage«, lachte Sean, »du warst doch an der Quelle. Du brauchtest doch nur herumzuhorchen.«

Brown schüttelte den Kopf. »Ich hatte etwas viel Besseres. Ich hatte die Zeitmaschine. Ich habe mich zurückversetzt in Somschedds Kindheit. Dann in seine Jugend, und so durchlebte ich als Zeuge sein ganzes Leben, bis zu dem Tag seiner Verurteilung. Aber ich kam zu spät.«

»War er schon tot?« fragte Walter gespannt.

»Ich kannte ja damals noch nichts von seinen Plänen«, gestand Brown bekümmert. »Ich wusste nicht, dass er sein Grab verlassen wollte, um mit der Zeitmaschine in die Vergangenheit zum ›Scharlachroten‹ zu fliehen. Ohne es zu wissen, hatte ich seinen Plan durchkreuzt.«

Die drei verstanden nicht sofort. Spencer forschte: »Was willst du damit sagen? Wieso zu spät?«

»Als er in die Geheimkammer hinabstieg«, erklärte Brown, »war seine Zeitmaschine nicht mehr da. Ich hatte sie ihm entführt.«

»Aber du konntest sie ihm doch ...«, meinte Sean.

»Ich konnte eben nicht«, unterbrach ihn Lee hart. »Er war verschwunden. Niemand wusste wohin. Aber eines wussten alle: Er hasst mich, ohne zu wissen, wer ich bin. Er wird sich an mir rächen.« Lee richtete sich auf und sah seine Freunde an. »Darum bin ich zurückgekommen. Ich brauche Hilfe. Wollt ihr mir helfen, Somschedd zu suchen?«

Die drei Freunde sahen einander an. In jedem Blick stand der heiße Wunsch, auf dieses Abenteuer einzugehen.

»Ich glaube«, klärte Spencer die Lage, »es geht nur darum, in welcher Reihenfolge wir dich begleiten sollen. Es haben doch immer nur zwei in der Maschine Platz.«

Man einigte sich schnell. Sean sollte den Anfang machen. Lee Brown stellte ihn neben sich auf das Fußbrett in der Zeitmaschine und schloss den Deckel durch einen Handgriff.

Walter Gruyter, der einen Kopf kleiner war als Loredge, blickte seinen Kollegen ernst an. »Wer ist nun verrückter«, flüsterte er, »er oder wir?«

»Was sollen wir tun, Walter?«

»Wir lassen ihm zunächst seinen Spaß. Sobald die Spielerei zu Ende ist, werden wir uns bei ihm für die Zeitreise bedanken und ihn unter irgendeinem Vorwand mitnehmen. Wir müssen den Erfolg begießen ... irgendein Grund fällt uns schon ein.«

Gruyter atmete tief durch. Es war ihm plötzlich heiß. Er fuhr sich über die Stirn. Für den Bruchteil eines Augenblicks war es ihm, als ob die Zeitmaschine des Somschedd vor seinen Augen verschwinde.

»Was ist los, Walter?« fragte Spencer erschrocken, als er das bleiche Gesicht des Freundes sah. »Ist dir nicht gut?« Er griff nach seinem Unterarm, stützte Gruyter.

»Schon gut. Ein kleiner Schwächeanfall. In der letzten Zeit tritt das häufig auf. Wenn man mal über fünfzig ist, marschiert die Pumpe nicht mehr so, wie sie soll. Dumme Kreislaufgeschichte. Mein Arzt kriegt sie nicht hin. Mir wird's hin und wieder schummrig vor den Augen.«

»Ruhig Blut«, besänftigte Spencer, »bis jetzt ist noch nichts passiert. Es hat weder einen Knall gegeben, noch ist ein seltsames Lichtphänomen aufgetreten. Jetzt bin ich nur gespannt, was für eine Geschichte Lee uns auftischen wird.«

Die nachfolgenden Worte blieben ihm in der Kehle stecken.

Der Mumiensarg in Menschengestalt klappte völlig auf, und Lee Brown stand ihnen gegenüber. Er war allein. »Der nächste bitte«, sagte er.

Walter Gruyter stieg ein.

Spencer Loredge fühlte sich verlassen und nicht wohl in seiner Haut, als sich der Deckel zum zweiten Mal schloss. Er starrte angespannt auf den Sarkophag.

Die Formen zerflossen. Loredge hatte das Gefühl, als ob mit seinen Augen etwas nicht stimme. Er konnte das Gehäuse nur noch verschwommen wahrnehmen. Er spürte abermals einen intensiven Wärmestrom, der die Luft in dem kühlen Kellerraum einen Moment lang aufheizte.

Nur eine Zehntelsekunde dauerte der Zustand. Dann sank die Temperatur wieder ab. Mit einem Mal schien auch wieder mehr Sauerstoff zur Verfügung zu stehen, und der Mumiensarg stand wieder deutlich und klar in Form und Farbe vor ihm.

Wie in Trance trat er näher, als Brown den Deckelteil abermals zurückklappte und wiederum allein in dem Sarg stand. »Komm!«

Und Loredge ging. Auch jetzt glaubte er noch nicht an die geradezu irre Geschichte, die Lee Brown zum Besten gegeben hatte. Da war irgendein Trick im Spiel.

Unwillkürlich begutachtete er die Rückwand des Sarges. Sicherlich ließ sie sich ebenso öffnen wie der Deckel. Dahinter gab es einen Durchbruch im Gemäuer – und dann kam man in einem anderen Kellerraum an, von dem Brown einfach behauptete, der sei das Innere einer Pyramide.

Spencer Loredge nahm sich vor, Brown keine Sekunde lang aus den Augen zu lassen. Er stellte sich neben ihn. Seine Muskeln waren zum Zerreißen gespannt.

Lee Brown zog den Deckel zu.

Spencer Loredge hielt den Atem an.

Es wurde stockfinster um sie.

Unwillkürlich presste er seinen Körper dichter an den Browns, um zu merken, welche Bewegungen der machte.

Vielleicht hatte der Irre die Freunde längst ... er dachte den Gedanken nicht zu Ende. Er musste sich korrigieren. Die Zeit zwischen Abfahrt und Rückkehr war zu gering gewesen, als dass Lee Brown irgendwelche Dummheiten hätte machen können.

Spencer lauschte in die Dunkelheit. Er hörte das etwas beschleunigte Atmen seines Partners neben sich.

»Halte dich ganz ruhig. Es ist gleich vorbei. Du wirst einen kurzen, ruckartigen Schmerz spüren, Spencer. Dann sind wir drüben.«

»Okay«, erwiderte Loredge schwach. Da bemerkte er, dass Brown sich bewegte. Die Hände des vor vierzehn Monaten verschwundenen Wissenschaftlers kamen in die Höhe, berührten die seltsamen Flächen und Symbole. Geisterhaft grün leuchteten markante Felder und Zeichen auf.

Aber die schnellen Bewegungen Browns irritierten Spencer Loredge. Er ließ sich zu einer Kurzschlusshandlung hinreißen. Da er das Gefühl hatte, von Brown bedroht zu sein, hob er den rechten Unterarm zur Abwehr.

Brown erschrak. Er schlug mit der Hand nach außen. Dabei berührte er die Vorderwand, und zwei weitere Felder glühten gespenstisch auf.

»Spencer!« gellte Browns sich überschlagende Stimme. »Bist du wahnsinnig? Wie kannst du so etwas tun?«

Ein Ruck ging durch die Wände. Ein unheilvolles Summen drang von irgendwoher an ihre Ohren.

Spencer Loredge wollte sich nach vorn werfen, um das Vorderteil des Sarkophags nach außen zu drücken. Er schaffte es nicht. Ein ungeheurer Druck legte sich auf seine Brust. Die Anziehungskraft der Erde nahm von einer Sekunde zur anderen um ein Vielfaches zu.

In der grün glimmenden Umgebung wirkte Lee Browns verzerrtes Gesicht wie eine Maske. Mit ungeheurer Kraftanstrengung brachte er beide Hände nochmals in die Höhe, verharrte vor seinem Gesicht und starrte mit offenem Entsetzen auf die mehrfach glosenden Felder.

»Ich weiß nicht ... ich weiß es nicht, Spencer ...« brachte er mühsam über die verzerrten Lippen. »So gut kenne ... ich das alles noch nicht. Ich weiß nur eines: es war verkehrt ... grundverkehrt, die Einstellung nochmals zu ändern ...«

Da ließen der Druck und das Stechen in der Brust nach. Sie konnten wieder durchatmen. Das grünliche Glühen verging wie ein Nebel, der sich auflöste.

»Na also«, stieß Loredge hervor. »Was willst du denn, es ist doch alles okay.«

Ein schneller, unruhiger Blick aus fiebernden Augen traf ihn. Dann tastete Lee Brown nach dem hölzernen Griff und drückte den Deckel langsam und vorsichtig nach außen. Er verhielt sich ganz zaghaft, als müsse er sich vergewissern, dass auch wirklich keine Gefahr auf sie lauerte.

Spencer Loredge war auch jetzt noch überzeugt davon, dass Brown sich irgendeinen Unsinn erlaubte. Aber er hatte keine Erklärung dafür, wieso der starke Druck auf seinen Körper erfolgt war.

Der Wissenschaftler blickte in einen düsteren Raum.

Dumpfe Gesänge und Gebetsformeln erfüllten die fremdartige Atmosphäre. Kahl und gewaltig wölbten sich mächtige steinerne Quader rund um sie empor. Die Luft war modrig und nicht sehr sauerstoffreich. Unzählige Fackeln flammten an braunen, kahlen Wänden auf und zeichneten bizarre Schatten, die über die hohe Decke und die Wände tanzten. Und dann ging es schlagartig. »Das ist nicht richtig!« stieß Brown noch hervor, und er packte Spencer Loredge am Kragen, als dieser aussteigen wollte. »Wir sind irgendwann anders angekommen. Der Ort stimmt – aber nicht die Zeit. Als ich Sean und Walter hier absetzte, brannten die Fackeln noch nicht. Wir sind um einige Stunden oder gar um Tage nach ihnen hier angekommen ... um Himmels willen, nein!«

Das letzte Wort wurde zum Schrei.

Schatten tauchten auf.

Vier, fünf, sechs Personen umringten den geheimnisvollen Sarkophag.

Von klauenartigen Händen, die ihm die Haut aufrissen, wurde Loredge herausgezerrt.

Die Angreifer bewegten sich flink und mit gespenstischer Lautlosigkeit. Das waren keine Menschen. Auf braunen nackten Schultern wippten überdimensionale, geierartige Köpfe, Vogelköpfe auf Menschenleibern.

Brown konnte über diese neue Tatsache nicht mehr nachdenken. Ein wuchtig geführter Schnabelhieb warf ihn zu Boden, wo er reglos liegenblieb.

2. Kapitel

Sie standen auf einer Anhöhe und blickten hinab in ein paradiesisches Tal, das sich bis zum Horizont erstreckte. Riesige Bäume, die wie Säulen aussahen, standen dicht an dicht und ragten bis zum blassgrauen Himmel hoch. Die Farbe der Blätter spielte vom hellen Grün bis ins Dunkelviolett und verliehen dem weiten Tal eine phantastische Stimmung.

Es war eine fremde Welt, jenseits von Raum und Zeit.

Zwei Menschen hatte dort das Schicksal zusammengeführt, zwei Menschen aus der Welt der dritten Dimension. Seit zwei Tagen und zwei Nächten war Danielle de Barteauliee mit Björn Hellmark zusammen.

Nachts waren sie unterwegs. Hellmark folgte dem Südstern, der ihm den Weg nach dem verheißenen Tschinandoah wies. Tagsüber schliefen sie. Nach den ersten Stundenmärschen quer durch die Berge war Danielle jedoch so müde gewesen, dass ihr sofort die Augen zufielen.

In der letzten Nacht hatte sie es mit einem Trick versucht. Des Öfteren hatte sie darum gebeten, eine Pause einzulegen, weil sie angeblich zu müde sei, größere Wegstrecken zurückzulegen. Björn Hellmark erwies sich als zuvorkommend und verständnisvoll. Er drängte nicht zur Eile, gönnte ihr die Ruhepausen, obwohl jede Stunde für ihn kostbar war. Gerade die Nachtstunden musste er nutzen, um voranzukommen.

Tagsüber schliefen, aßen und tranken sie. Ihr kurzer Aufenthalt in Caal-Mag, der großen Stadt der Gaafh, in die Ogh sie gebracht hatte, war trotz der vorangegangenen Aufregungen eine gute Sache gewesen. Durch Ogh hatten sie erfahren, welche Früchte und Blattsorten genießbar waren, wo und wie man Wasser fand, und vor welchen Wetterzeichen man sich hüten musste.

Zwei Tage und zwei Nächte ohne Zwischenfall lagen hinter ihnen. Der Richtung nach, die der Südstern ihnen gezeigt hatte, mussten sie eigentlich quer durch das endlose Tal kommen. Lag am Ende dieses Tals Tschinandoah?

Björn suchte eine geschützte Stelle auf der Anhöhe und bereitete unter ausladenden Wipfeln eines orange-violett schimmernden Baumes das Lager.

Nicht weit von der Schlafstelle entfernt sprudelte ein klarer Quell aus der Felswand und bildete wenige Meter weiter unten einen kleinen, in das Tal stürzenden Bach. Sie tranken wortlos.

Björn machte es sich auf dem weichen Moosboden bequem. Nur eine Armlänge von ihm entfernt legte Danielle de Barteauliee sich nieder. Hellmark lächelte ihr zu. Sie antwortete ihm mit einem sanften Lächeln.

»Sehr müde?« fragte er besorgt.

Sie nickte nur.

»Ich hoffe, dass wir's bald hinter uns haben, Danielle. Sie sind sehr tapfer. Sie haben sich bisher gut gehalten. Machen Sie weiter so.«

»Ich werde mich bemühen. Sind Sie sicher, dass in Tschinandoah eine Möglichkeit besteht, diese Welt zu verlassen?«

»Ja, ganz sicher.« Er gähnte hinter der Hand.

Die Morgendämmerung ging schnell in helles Tageslicht über. Der Himmel über dem endlosen Tal, das die Ruhe und die Atmosphäre eines Paradieses ausstrahlte, schimmerte orangefarben mit violetten Schatten. Björn fielen die Augen zu.

Auch Danielle schloss die Augen. Sie fühlte sich weniger abgeschlagen als an den beiden Tagen zuvor. Sie atmete tief und ruhig. Es fiel ihr nicht schwer, wach zu bleiben. Da war es ihr, als ob eine kühle, fordernde Stimme sich in ihrem Bewusstsein rege. »Du hast einen Auftrag, denke daran.« Die Stimme erinnerte sie an die Rha-Ta-N'mys. »Es ist Zeit, dass du es endlich hinter dich bringst.«

»Ich werde es tun. Sobald er fest schläft«, dachte sie intensiv. Aber wohl war ihr bei diesem Gedanken nicht.

Hellmark war immer so nett zu ihr, so rücksichtsvoll. Sie mochte seine ganze Art. Wie er redete, wie er lachte, wie er sie aufmunterte ... Liebte sie ihn etwa? Sie erschrak bei diesem Gedanken. Eine Hexe konnte nicht lieben – nicht so, wie es Menschen vermochten. Wer liebte, war unfähig, kalt und gefühllos zu denken, und genau dies erwartete man von ihr.

Sie öffnete die Augen einen Spaltbreit und spähte zu Björn Hellmark hinüber.

Der atmete tief und fest.

Vorsichtig richtete Danielle de Barteauliee sich auf. Sie ließ den blonden Mann keine Sekunde aus den Augen. Lautlos rutschte sie näher.

Neben Björn Hellmark lag sein Schwert. Ruhig und locker lag seine Rechte darauf, bereit, den mit kostbaren Steinen verzierten Griff zu umfassen und zu kämpfen. Danielle de Barteauliee hielt den Atem an, als sie nach der Schwertspitze griff und die Waffe langsam unter der Hand Hellmarks hervorzuziehen versuchte.

Ein Staunen stahl sich auf ihr Gesicht. Sie glaubte, ein Zentnergewicht zu sich herziehen zu müssen. Es war ihr unmöglich, das Schwert nach unten wegzuziehen. Sie murmelte eine Formel, die für gewöhnlich half, solche Schwierigkeiten zu überwinden. Aber auch dann lag das Schwert noch so vor ihr, als sei es mit dem Boden verwachsen.

Sie hatte gesehen, wie Hellmark das Schwert trug. Er schleppte sich nicht damit ab, er hielt es leicht und locker in seiner Hand oder trug es am Gürtel.

Wieso fiel es ihr so schwer, das Schwert zu bewegen? Sie war irritiert. Sie konnte nicht wissen, dass es mit dem Schwert des Toten Gottes eine besondere Bewandtnis hatte. Es war in einer fernen Vergangenheit, ehe der legendäre Erdteil Xantilon unterging, von einem Meister seiner Kunst geschmiedet worden. Es war ein magisches Schwert und für schwarzmagische Zwecke nicht angreifbar.

Danielle de Barteauliee presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und bewegte sich auf Zehenspitzen auf den abseits stehenden Baum zu, der nur wenige Schritte vom Schlafplatz des Deutschen entfernt lag.

Ziemlich weit unten am Stamm hing ein kräftiger, armdicker Ast. Eine so zierliche Frau wie Danielle konnte diesen Ast nicht durchbrechen. Sie legte beide Hände daran, murmelte mehrere unverständliche Worte, und der Ast senkte sich lautlos herab, brach ab, ohne auch nur das kleinste Geräusch zu verursachen. Die kleinen Zweige lösten sich, fielen lautlos zu Boden. Unter dem angespannten Blick und der magischen Konzentration und Beschwörung veränderte sich die Knüppelgestalt des armdicken Astes. Wie unter einem unsichtbaren Messer spitzte sich das eine Ende zu. Ein dicker Pfahl mit einer scharfen Spitze entstand.

Wie ein Schatten näherte sich die junge Hexe dem Schläfer. Entspannt lag er da, mit bloßem gebräuntem Oberkörper. Danielle de Barteauliee zögerte eine Sekunde.

Sie sah das gutgeschnittene, männliche Gesicht vor sich, musste an die Gespräche, an das Lachen dieses Mannes denken, mit dem sie seit zwei Tagen und zwei Nächten ständig zusammen war. Er war nicht ihr Feind. Er war ihr Freund, und doch musste sie ihn töten.

Ihr eigenes Schicksal stand auf dem Spiel. Wenn sie sich in der Menschenwelt frei bewegen und die Verärgerung Rha-Ta-N'mys rückgängig machen wollte, musste sie zeigen, dass es ihr ernst war mit ihrem Entschluss, nun doch der Welt der Hexen und Dämonen anzugehören.

Unbemerkt setzte sie den Pfahl auf das Herz. Die Spitze berührte gerade das Fleisch, und dann gab sie sich trotz aller Skrupel die in ihr aufstiegen, einen Ruck. Oder war es gar nicht ihre Hand, die den Druck auf das Herz des Schlafenden ausübte?

Sie zögerte noch, fühlte Unruhe, Bedauern und Wehmut – und dann geschah es doch, ohne dass sie zu sagen vermocht hätte, wie es eigentlich zustandekam, was es war, das die Barriere in ihr endgültig wie im Sturm niederriss.

Der Pflock stieß nach unten. Die Haut riss auf und der zugespitzte Ast drang in das Herz des Schläfers wie in die Brust eines Vampirs, der von seinem Jäger gefällt wurde.

Danielle de Barteauliees Augen weiteten sich vor Entsetzen.

Das hatte sie nicht gewollt. Oder doch?!

Und dann sah sie etwas, dass sie zusammenzucken ließ wie unter einem Peitschenschlag. Kein Tropfen Blut sickerte aus der Wunde. »War das nötig?« fragte da die Stimme hinter ihr. Eine traurige, enttäuschte Stimme, die sie herumwirbeln ließ. »Behandeln Sie Menschen immer so, die es gut mit Ihnen meinen, Danielle?«

Sie stand da wie angewachsen. Sie war so entsetzt, dass sogar ihre Stimmbänder den Dienst versagten und sie nicht aufschreien konnte. Ihr Blick irrte von dem Mann, der vor ihr stand, zu dem, der reglos mit dem Pfahl im Herzen auf dem Boden lag.

In beiden Fällen handelte es sich um denselben Mann, um Björn Hellmark.

Um ihre Lippen zuckte es. »Wieso ... weshalb ...?« Sie brachte keinen vernünftigen Satz hervor.

»Ich hatte einen Verdacht, Danielle. Mir ist aufgefallen, wie Sie mich oft heimlich prüfend musterten. So, wie Sie mich ansahen, sieht man jemanden an, mit dem man irgendetwas im Schilde führt. Ich habe mich auch nicht getäuscht.«

»Aber wieso können Sie hier sein und dort, wieso an zwei Orten? Dann sind auch Sie ein Hexenmeister?«

»Nein. Durch geistige Konzentration kann ich meinen feinstofflichen Körper entstehen lassen und an einen anderen Ort versetzen. Wen Sie ermorden wollten, das war mein ätherischer Körper, und der besteht nicht aus Fleisch und Blut.« Hellmark ließ Macabros, seinen Doppelkörper, verschwinden. Die Umrisse der Gestalt am Boden wurden durchscheinend und verschwanden. Der Pflock, der in der ätherischen Substanz steckte, kippte zur Seite und kullerte über den moosigen Untergrund.

»Warum, Danielle? Warum wollten Sie mich töten?«

Sie wirkte blass und verstört. Es dauerte eine geraume Weile, bis sie antwortete. »Wollte?« dehnte sie das Wort. »Nein, ich wollte eigentlich nicht. Ich ... ich musste, Björn. Es ging alles so plötzlich ...«

Er sah sie an. Er glaubte ihr. »Was ist los mit Ihnen, Danielle? Ich kenne einen Teil Ihrer Lebensgeschichte. Aber ich glaube, Sie haben mir nur die Hälfte erzählt. Vertrauen Sie sich mir an, vielleicht kann ich Ihnen helfen.«

Sie senkte den Blick. Sie starrte auf den leeren Boden vor dem violett schimmernden Baum. Sie musste daran denken, dass Hellmark sie durchschaut hatte. In dem Augenblick, als sie ihm den Rücken und ihre Aufmerksamkeit dem Ast zuwandte, musste der Körperaustausch erfolgt sein.

Sie begann stockend aus ihrer Jugendzeit zu berichten, von den Versuchen, auf die sich ihr Vater einließ, den man den Comte de Noir nannte, weil er die Geister der Nacht auf sein Schloss rief und ihnen deren Geheimnisse entlockte.

Und so erfuhr er von der Forderung Rha-Ta-N'mys. Er begriff, dass Danielle keine wirkliche Hexe war, dass sie nie eine hatte sein wollen. Die Umstände hatten sie dazu gemacht. Sie beherrschte eine Anzahl von Fähigkeiten und musste dafür bezahlen. Björn erkannte die schreckliche Situation, in die dieses junge, hübsche Geschöpf geraten war.

Konnte sie sich jemals aus dem Teufelskreis befreien, in den sie geraten war? Björn wusste es nicht. Er unterbrach Danielle nicht ein einziges Mal. Als sie geendet hatte, fiel sie ihm um den Hals, ehe er es verhindern konnte. »Es wird nicht wieder vorkommen, ich verspreche es dir«, sagte sie plötzlich und ging vom Sie zum vertraulichen Du über. »Ich möchte, dass du lebst, dass wir gemeinsam diese schreckliche Prüfung hinter uns bringen. Ich werde ihren Einflüsterungen nicht mehr gehorchen. Ich werde mich gegen sie wehren. Sie können mich nicht gegen meinen Willen zwingen. Ich werde die Kenntnisse, über die ich verfüge, nur noch einsetzen, um Gutes zu tun, um zu helfen, nicht, um zu zerstören.«

Wie sie es sagte, klang es überzeugend. Und mit dem Verhallen ihrer Stimme rauschte plötzlich ein kurzer und heftiger Wind auf, der ihre Haare zerzauste und wild und hektisch in das Blattwerk des orangefarbenen Baumes fuhr. Der Wind war eisigkalt und traf sie wie ein Todeshauch. Es war, als habe Rha-Ta-N'my persönlich ausgeatmet ...

Sie schliefen beide sehr lange. Björn war der erste, der zu sich kam. Mit einem Seitenblick vergewisserte er sich, ob Danielle noch auf ihrem Platz lag. Sie schlief noch.

Seinem Gefühl nach war es später Nachmittag. Die Sonne näherte sich dem Zenit. Er konnte allerdings nichts darüber aussagen, wie lange hier eine Stunde oder ein Tag währte. Rein gefühlsmäßig war es ihm, als ob die Stunden mit denen der Welt, aus der er kam, in etwa übereinstimmten.

Er lief zu der Quelle und erfrischte sich.

Dann entfernte er sich von ihrem Lagerplatz und begab sich weiter nach unten, wo mehrere Büsche standen, an denen pralle rote Früchte hingen, die fleischig waren und nach Honig schmeckten. Er sammelte einen ganzen Beutel voll. Zwischendurch steckte er sich die eine oder andere in den Mund. Die Früchte schmeckten gut und sättigten schnell.

Schinken, Eier und eine gute Tasse Kaffee, wie Carminia Brado sie auf den Frühstückstisch brachte, wären ihm allerdings lieber gewesen.

Der Himmel verdunkelte sich nun rasch. Das dunkle Violett lag wie der Schimmer eines fremden Mondes über dem endlosen Tal, in dem es leise und lockend zu raunen begann, als ob unsichtbare Tiere erwachten. Björn kehrte auf die Anhöhe zurück, um Danielle zu wecken. Er nahm von unterwegs ein großes, steifes Blatt mit, das er von einem seltsam geformten Baum pflückte, und legte darauf die frischen Früchte.

»Danielle, aufstehen! Das Spätstück ist fertig.« Von Frühstück zu reden, wäre falsch gewesen, wenn man bedachte, dass die Nacht und ein langer Weg Richtung Tschinandoah vor ihnen lag.

Er kam um das Buschwerk herum und blieb stehen. Der Platz, wo Danielle noch vor wenigen Augenblicken gelegen hatte – war leer!

In der nächsten Sekunde erfolgte auch schon der Angriff. Noch ehe er herumwirbeln konnte, um festzustellen, wer da hinter ihm stand, geschah es. Ein Körper sprang ihn an. Braune, kräftige Arme legten sich blitzartig um seine Kehle und drückten zu.

Björn Hellmark ließ den Beutel und das Blatt mit den Früchten fallen und beugte sich nach vorn. In Momenten der Gefahr reagierte er stets wie einer, der aus früherer Erfahrung zu wissen schien, was man tun musste, um einen Gegner zu überlisten.

Der unbekannte Angreifer, der offenbar eine andere Art der Reaktion erwartet hatte, wurde überrascht. Der Würger konnte den Griff nicht halten und flog in hohem Bogen über Björns Schultern. Es krachte ledern, als die Gestalt auf dem weichen Moosboden aufschlug.

Mit einem schnellen Satz sprang der Deutsche nach vorn. Wie durch Zauberei lag das kostbare, für ihn federleichte Schwert plötzlich in seiner Hand. Er sprang auf den am Boden Liegenden zu, noch ehe der sich von seiner Überraschung erholen konnte.

Der Mann war groß und kräftig, hatte breite, braune Schultern und einen runden, dichtbehaarten Schädel. Er steckte bis zu den Hüften in hautengen Lederhosen, die seine Beine wie eine zweite Haut elastisch umschlossen. Ein breiter Gürtel, mit silber- und opalfarbenen Nägeln verziert, umschlang seine Hüfte. Vom Gürtel aus spannten sich kreuzförmig über seine Brust zwei handbreite Lederträger, in denen dicht an dicht fingerlange schmale Messer steckten, die mit abgeflachten opalfarbenen Griffen versehen waren.

Hellmark baute sich vor dem Fremden auf, setzte ihm das Schwert des Toten Gottes an die Brust. Der andere, dessen Hände blitzartig zu den Messern zuckten, erstarrte in der Bewegung. Seine schwarzen Augen musterten den Blonden.

Hellmark registrierte die erneute Reaktion. Der Mann war schnell. Aus dem Hinterhalt hätte er Björn mit den Messern niederstrecken können. Er hatte es nicht getan, sondern den Kampf gesucht.

»Wer bist du? Warum hast du mich überfallen?«

»Ich habe dich mit der Frau gesehen. Du bist einer von Tamuurs Henkersknechten.«

»Ich weiß nichts von einem Tamuur. Ich habe nichts mit ihm zu tun.«

Der Mann mit den dunklen Augen und dem runden Kopf musterte ihn eingehend, als müsse er sich jede Einzelheit in dem Gesicht des Fremden einprägen.

Er sagte nichts, sah ihn nur an.

»Ich durchziehe dieses Land auf der Suche nach Tschinandoah. Ich muss das Tal durchqueren. Die Frau, die hier auf mich wartete, ist meine Begleiterin. Sie kommt nicht unter Zwang mit. Frage sie selbst. Wo ist sie?«

»Ich habe sie dir weggenommen, um sie zu schützen. Sie wurde geraubt, sie soll zu Tamuur gebracht werden. Manchmal holt er sich selbst die schönsten, um sie in seine Gärten zu bringen, aus denen es keine Wiederkehr mehr gibt. Niemand weiß, was er dort mit ihnen macht. Manchmal schickt er auch seine Helfershelfer, die nachts maskiert in den Städten und Dörfern auftauchen, um junge schöne Frauen zu entführen. Du bist einer von diesen Schergen.«

»Was gibt dir die Gewissheit, dass ich es bin? Ich habe dir gesagt, führe mich zu der Frau, und sie wird dir sagen, dass es nicht so ist, wie du behauptest.«

»Sie hat keinen freien Willen mehr. Sie wird alles bestätigen, was du von ihr verlangst. Du hast sie beeinflusst.«

»Das ist nicht wahr«, sagte in diesem Augenblick eine ruhige Stimme hinter Hellmark. Danielle Barteauliee schob das Buschwerk auseinander und betrat den Hügelvorsprung, wo das Gespräch zwischen Björn und dem Fremden stattfand.

Die dunklen Augen des Mannes mit dem runden Kopf wurden groß. »Sie steht unter deinem Bann. Ich habe sie gefesselt und geknebelt, denn wir wissen, dass diese Unglücklichen mit Gewalt der Wirklichkeit zurückgegeben werden müssen. Wie konnte sie sich befreien? Tamuur hat dir magische Gewalt verliehen.«

Alles in ihm spannte sich. Björn bemerkte, dass die Aufmerksamkeit des Fremden zunahm. Er suchte nach einer Möglichkeit, das Blatt doch noch zu seinen Gunsten zu wenden. Doch das Schwert auf seiner Brust redete eine deutliche Sprache.

Danielle de Barteauliee hatte sich durch ihre Hexenkunst von den Fesseln selbst befreit und warf die Pflanzenfasern dem Fremden vor die Füße.

»Flieh!« rief der ihr zu. »Du wirst hier den Tod finden. Wer in Tamuurs Gärten kommt, ist verloren. Lass dich durch das, was er dir gesagt hat, nicht täuschen.«

»Er ist mein Beschützer, und nichts ist so, wie du sagst«, widersprach Danielle.

»Das sagen alle, die hörig wurden. Sie sind nicht in der Lage, die Wirklichkeit und die Wahrheit zu erkennen.«

»Ich habe nie von Tamuur gehört, ich weiß nicht, von wem du redest«, schaltete sich Hellmark wieder in das Gespräch ein. »Wäre ich ein Helfershelfer dessen, den ich nicht kenne, was würde ich dann mit dir tun?«

»Du würdest mich niederschlagen und mitnehmen. Alles, was lebt, kann Tamuur in seinem Zaubergarten gebrauchen.«

Da schob Björn das Schwert demonstrativ in seinen Gürtel. Der andere sah ihn entgeistert an.

»Steh auf! Geh, wohin du willst. Ich muss mit ihr meinen Weg durch dieses Tal dort unten allein gehen, um nach Tschinandoah zu gelangen. Wenn dort unten aber, wie du sagst, eine Gefahr auf uns lauert, dann bitte ich dich, mir mehr über diese Gefahr zu erzählen, damit wir uns darauf vorbereiten können. Wer gewarnt ist, kann sich auf eine Gefahr einstellen.«

Der andere kam langsam in die Höhe. Er hielt noch immer seine Arme angewinkelt vor der Brust, als beabsichtige er, blitzschnell zwei seiner Messer zu ziehen und auf Hellmark zu schleudern. Björn rechnete mit dieser Reaktion. Aber er sagte sich auch, dass der andere ihn einfacher aus dem Hinterhalt hätte töten können.

Björn richtete sich darauf ein, blitzschnell Macabros zu materialisieren, der den Raum zwischen ihm und dem anderen einnehmen sollte.

Der Fremde atmete tief durch und ließ langsam seine muskulösen Arme sinken. »Du handelst, wie du es nicht tun würdest, steckte Tamuur hinter deinem Tun. Ich glaube dir.« Seine Miene entspannte sich. Er war froh, dass die Dinge einen so glimpflichen Verlauf genommen hatten. Er drehte beide Handflächen nach außen und verbeugte sich leicht nach vorn. Mit dieser Geste wollte er seine Ergebenheit und Friedfertigkeit ausdrücken. »Auch du hättest mich vorhin töten können. Wenn du der Ansicht warst, dass Tamuur hinter meiner Mission steckt, warum hast du dich dann überhaupt auf das Risiko eines Kampfes eingelassen?« Sein Gegenüber verzog leicht die Lippen. »Ich bin stark. Ich dachte, ich sei es. Als ich von Ullnak aus aufbrach, mit dem Segen meiner Familie und der Priester, wusste ich, dass ich ein Abenteuer riskierte, das mich direkt in den Tod führen konnte. Ich hatte mich gut auf meine Mission vorbereitet. Ich beherrschte die Slatos wie kein zweiter.«

Er deutete auf die schmalen, scharfen Messer. Es ging blitzschnell, schneller, als das Auge es verfolgen konnte. Ehe Hellmark begriff, dass dies ein Angriff war, schwirrten zwei der kleinen Messer wie Pfeile an seinem Kopf vorbei.

Sie hätten ihn treffen können, wenn der andere es gewollt hätte. Die Bewegung zum Kreuzband und das Herausschleudern der Slatos war eines.

Als Hellmark den Kopf wandte, sah er die beiden Messer im Stamm des Baumes hinter sich stecken. Aber sie waren nicht wahllos dorthin geschleudert worden. An dem olivgrünen, scharf genarbten Stamm hing aufgespießt ein graugrüner Schmetterling mit langen Fühlern. Die beiden lichtdurchlässigen Flügel hatten eine Spannweite von drei Zentimetern. Die pfeilartigen Messer hatten genau ins Ziel getroffen.

Mit zwei schnellen Schritten näherte sich der Rundköpfige dem Stamm, winkte Hellmark und Danielle heran. Deutlich war zu sehen, dass die scharfen, spitzen Enden der Slatos die ausgespannten Flügel des Schmetterlings an die Rinde nagelten. Die hervorragende Tarnfarbe hatte dem Tier nichts genützt. Der Rundköpfige musste Augen wie ein Bussard haben.

»Es ist ihm nichts passiert. Diese Tiere sind harmlos und haben die Fähigkeit, sich schnell zu regenerieren.« Mit diesen Worten zog der Messerwerfer die beiden Slatos aus den Flügeln. Das hauchdünne Gespinst dieser Flügel war genau in der Mitte gerissen. Als ob eine unsichtbare Spinne an der Arbeit sei, wuchsen die beiden schmalen Schlitze wieder zusammen. Nur zehn Sekunden später segelte das Tier lautlos in den dämmernden Abend davon.

»Ja, ich hätte dich töten können«, nahm der Unbekannte den Faden von vorhin wieder auf. »Aber ich habe auch gelernt, nicht übereilt zu handeln. Mir kam es darauf an, dich zu Boden zu zwingen, mir ein paar Auskünfte zu geben, die für mich wichtig sein könnten. Wäre es mir gelungen, dich zu bezwingen, ich hätte dich getötet, sobald ich genug aus dir herausgepresst hätte. In meinen Augen warst du ein Entführer, ein Helfershelfer Tamuurs. Ich habe dich nie zuvor in Ullnak oder anderswo gesehen. Wo kommst du her? Hast du wirklich die Absicht, Tamuurs Tal zu durchqueren?«

»Ich komme aus einer Welt, die du nicht kennst. Ich muss das Tal durchqueren, um dem Südstern zu folgen. Einen anderen Weg nach Tschinandoah kenne ich nicht.«

»Tschinandoah ist eine Sage, ein Traum. Glaubst du an Träume?«

»Manchmal, ja.« Björn sah seinem Gegenüber an, dass er dieses Thema schnell vergessen wollte.

Rasch sprach der deshalb von etwas anderem: »Ich bin Ka-To aus Ullnak. Ich bin aufgebrochen, Tamuur zu entlarven und ihn daran zu hindern, sein magisches Reich weiter wachsen zu lassen.«

Er war jetzt sehr offen. So zeigte er ihnen, dass er außer einer Anzahl sogenannter freier Slatos auch eine größere Menge gebundener bei sich trug.

»Man braucht sie beide. Die freien, um wilde Tiere zu jagen. Mit einem schnellen Wurf in die Nervenzentren in Schwanznähe oder zwischen den Augen erhält man Beutetiere, deren Fleisch man essen kann. Auf einer weiten Reise ist das sehr wichtig.«

»Und wohin soll die Reise nun gehen?« fragte Hellmark.

»Ich werde das Tal Tamuurs durchwandern«, gestand Ka-To. »Ich denke, ihr werdet nichts dagegen haben, wenn ich euch begleite. Ihr könntet Beistand und Hilfe brauchen.«

»Und du wirst mein Schwert sicher nicht verschmähen, wenn du unversehens in eine Falle geraten solltest«, meinte Hellmark trocken. »Was suchst du eigentlich, Ka-To? Wir müssen offen zueinander sein, wenn wir uns helfen wollen.«

Ka-To nickte zustimmend. »Ich suche die Frauen, die aus Ullnak und Taik verschwunden sind. Vor allem suche ich Aleana, die schönste Frau des Reiches Ullnak. Fürst Altor hat sie demjenigen versprochen, der sie gesund aus Tamuurs Händen befreit und nach Ullnak zurückbringt.«

Danielle lächelte. »Du bist also ein fahrender Ritter, der die Dame seines Herzens erobern will.«

Der junge Fremde aus der anderen Welt wusste nichts von den Troubadouren aus den französischen Heldenliedern. In der Welt, die seine Heimat war, gab es andere Probleme als auf der guten alten Erde, nach der sich Danielle de Barteauliee so leidenschaftlich sehnte.

Ka-To sah ein, dass er den Fremden erzählen musste, worum es ihm ging. »Mein Volk – die Menschen von Ullnak – sind vom Aussterben bedroht. Unser Feind heißt Tamuur. Er ist ein übermächtiger Magier. Die Völker im Umkreis nennen ihn den ›Scharlachroten‹, obwohl ihn noch nie jemand gesehen hat. Er fällt nicht im offenen Kampf über uns her. Er hat sich einen Zaubergarten geschaffen, der sich immer weiter ausdehnt. Es ist wie eine Wasserflut, wie ein Lavastrom, der sich unaufhörlich ausdehnt. Gegen ihn kann man keine Dämme bauen. Jeder Mann, der ihm mit der Waffe entgegentritt, muss sterben, und immer wieder holen die Dämonen uns in der Nacht die Frauen weg, die im Zaubergarten Tamuurs auf ewig verschwinden.«

»Und wie willst du – ein einzelner junger Mann mit einigen Wurfmessern – den übermächtigen Zauberer überwältigen?« staunte Hellmark.

»Ich weiß, es ist eine Verzweiflungstat«, gab Ka-To zu. »Aber soll ich warten, bis uns die Bäume und Sträucher von Tamuurs Zaubergarten verschlingen? Dann will ich lieber etwas wagen, auch wenn ich dabei zugrundegehen muss.«

»Und was wird aus deinem Volk?«

»Es soll erfahren, wer es bedroht. Niemand hat Tamuur bisher gesehen. Ich will ihn sehen. Wenn man seinen Feind kennt, findet man auch ein Mittel, ihn zu bekämpfen. Ich bin kein Abenteurer. Glaubt mir! Ich habe zwar einige Wurfmesser bei mir, wie du spottest. Aber sie machen mich stark. Es sind magisch gebundene Slatos dabei ...«

Sie nahmen den Großteil der lederartigen Behältnisse in dem Kreuzband ein. Die Klingen waren mit kleinen Symbolen und Farben versehen.

»Sie sollen gewisse schädliche Einflüsse abhalten. Inwieweit sie der mächtigen lebensfeindlichen Zauberkunst Tamuurs allerdings gewachsen sind, weiß ich nicht. Das wird die nahe Zukunft weisen. Vielleicht ist es auch mir versagt, das Geheimnis zu lüften. Doch den Versuch will ich unternehmen.«

Er verschwand in dem schmalen Waldstück hinter der Anhöhe. Wortlos und wie selbstverständlich folgten ihm Danielle und Björn. Hinter dichtem Buschwerk in einer Felsnische hielt Ka-To sein Reittier versteckt, das ihn vom fernen Ullnak bis hierher gebracht hatte.

Das Tier hatte einen kurzen Kopf und einen gedrungenen, kurzen Oberkörper und auffallend große Nüstern. Die Ähnlichkeit mit einem Pferd war vorhanden, obwohl Björn sich geweigert hätte, dieses Reittier als Pferd zu bezeichnen.

Ka-To hatte ihm die Augen verbunden. Jetzt nahm er dem Tier die Augenbinde ab und löste auch das Band, mit dem er es am Stamm angebunden hatte.

»Nun lauf, mein Guter. Deine Reise ist hier zu Ende.« Er versetzte dem unproportioniert wirkenden Reittier einen Klaps. Es lief davon, in die Hochebene hinein, woher es gekommen war.

»Ein Opfer weniger für Tamuur«, murmelte er. »Wer weiß, was er aus ihm gemacht hätte.«

Sie gingen nun gemeinsam nach unten. Am Fuße des Hügels begann der undurchdringliche Wald. Treibhausluft schlug ihnen entgegen, als ob sie die Grenze zu einem Dschungel erreicht hätten.

»Irgendwo im Zentrum dieses Reiches liegt Tamuurs Schloss«, fuhr Ka-To leise fort, während sein Blick an der düsteren, undurchdringlichen Front des bewaldeten Tals entlang wanderte. »Können wir es nur finden ... wie vieles würde sich ändern. Alles, was bisher geheim gehalten war, würde uns bekannt ... und damit bekämpfbar.«

Björn nickte. »Wenn es so ist, wie du sagst, Ka-To, werden wir dich dorthin begleiten, wohin dein Weg dich führt. Auf dem halbem Weg werden wir bei dir sein ... Richtung Süden ...«

Der Rundköpfige blickte Hellmark ernst an. »Dein Weg nach dem legendären Tschinandoah, von dem niemand in Ullnak weiß, ob es wirklich existiert ... aber du hast schon recht ... um in das gepriesene Land zu kommen, musst du diesen Weg gehen, kein anderer führt angeblich dorthin. So oder so musst du Tamuurs Tal durchwandern.«

Hellmark nickte. Er blickte nach oben. Hoch oben am Himmel erblickte er strahlend und hell den Südstern. Er stand unverrückbar an einer Stelle des Himmels, die ihm zum Wegweiser geworden war. Und jetzt stand er dort, wo am dunklen, nicht mehr wahrnehmbaren Horizont aus dieser Sicht das Reich des rätselhaften, geheimnisumwitterten Tamuur endete.

Die warme Luft mischte sich mit dem zarten Nebel, der von dem feuchten Blattwerk zu seinen Füßen aufstieg.

Hellmark legte seine Rechte auf Ka-Tos Schulter und sagte: »Ich heiße Kaphoon. Sag Kaphoon zu mir.«

Er musste in diesem Augenblick an seine Abenteuer im fernen Xantilon denken, die er mit dem Schwert des Toten Gottes bestanden hatte, und daran, dass er schon einmal gelebt hatte – als jener Kaphoon, der in das Bewusstsein der vom Schicksal gezeichneten Menschen eingegangen war, dessen Name noch heute oft entstellt, oft nur als der ›Namenlose‹ bezeichnet und in Sagen und Legenden auffindbar war.

Als Kaphoon war er ein erfahrener Kämpfer, als Kaphoon war ihm das legendäre magische Schwert überlassen worden.

»Ich freue mich, Kaphoon, dass du mein Begleiter bist.«

So passierten sie die sanfte Nebelwand, die an der Baumgrenze emporstieg.

Schon nach zwei Schritten zeigte dieser von außen paradiesisch aussehende Wald sein wahres Gesicht. Eine rätselhafte, von grünem, geisterhaftem Glosen durchsetzte Finsternis umhüllte sie. Sie wandten sich um, warfen einen Blick zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Sie sahen nur noch waberndes Dunkel, als habe sich nach dem Passieren des Nebels hinter ihnen eine Wand aufgerichtet.

Mit zwei schnellen Schritten ging Hellmark zurück. Seine Hand berührte festes, undurchlässiges, schwarzes Material, das sich wie die verdorrte Haut einer Echse anfühlte.

Siedendheiß stieg in Björn die Erkenntnis auf. Der Nebel war eine Art Membran, die nur von einer Seite her durchlässig war. Von innen war sie hart und undurchlässig wie Granit.

Er warf den Kopf empor. Er sah keinen Himmel mehr über sich.

Hier drinnen waren die urwelthaft hohen Bäume ineinander verschlungen, als breite sich ein Dach aus grünlich schillernden Schuppen über ihnen aus. Der Südstern war verschwunden.