Macabros 021: Das Blutsiegel - Dan Shocker - E-Book

Macabros 021: Das Blutsiegel E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Das Geheimnis der grauen Riesen Dr. Henry Herold hat ein Geheimnis, von dem er bis jetzt keiner Menschenseele etwas erzählt hat. Im Keller seines Privatsanatoriums hat er die Überreste eines alten Hauses gefunden, auf dessen Grundmauern das Sanatorium erbaut worden war. Das an sich wäre ja nicht spektakulär gewesen, doch die alten Schriftrollen die er dabei gefunden hat, bergen ein Geheimnis von ungeheurem Ausmaß. In ihnen wird genau beschrieben, wie ein Dimensionstor an eben dieser Stelle zu öffnen ist. Es gelingt Dr. Herold diese Schriftrollen zu übersetzen, und er dringt in Dimensionen ein, die für ihn unbekannte Gefahren und Wesen bergen, wie zum Beispiel die grauen Riesen. Als er seinem Bruder als ersten Menschen seine Entdeckung zeigt kommt es zu einem Unfall ... Blutsiegel des Molochos Beim Sturz durch das Blutsiegel zwingt dieses Björn Hellmark in den Körper des im Jahre 2318 lebenden Inspektors Chester Morgan und zwar ohne bewußte Erinnerung an sein früheres Leben auf der Insel Marlos. Schon bald werden für ihn die neuen Erlebnisse zu einer Aneinanderreihung unmöglicher Tatsachen. Ein Mensch wird mit einer Waffe getötet, die aus dem 15. Jahrhundert stammt, aber dennoch neu ist. Ein Besucher aus einer Dimension von Pflanzenwesen taucht auf und plötzlich wird das Thema Zeitreise aktueller denn je. Was hat das Blutsiegel mit Björn Hellmark vor, und was führt Molochos im Schilde?

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DAN SHOCKERS MACABROS

BAND 21

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Fachberatung: Gottfried Marbler

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-721-4

Dan Shockers Macabros Band 21

DAS BLUTSIEGEL

Mystery-Thriller

Das Geheimnis der grauen Riesen

von

Dan Shocker

Prolog

Die Tür am Ende des schwach beleuchteten Ganges öffnete sich.

Dr. Henry Herold, 36, Facharzt in dem kleinen Privatsanatorium am Rande von Valley Forest, erweiterte vorsichtig den Türspalt und warf einen Blick nach draußen. Leer lag der Gang vor ihm. Herold hatte Nachtdienst. Die Nachtschwester hielt sich in dem kleinen Zimmer auf. Dort brannte ebenfalls Licht. In der Klinik war es ruhig. Es war wenige Minuten vor Mitternacht. Auf Zehenspitzen schlich Herold durch den Korridor. In der Mitte des Ganges etwa lag der Treppenaufgang. Dr. Herold hätte eigentlich schlafen und sich bereithalten sollen, für den Fall, dass seine Hilfe in dieser Nacht gebraucht wurde. Aber damit rechnete er nicht. Es gab im Augenblick keinen schweren Fall hier im Haus. Die diensttuende Schwester würde allein fertig werden. Außerdem hatte er nicht die Absicht, lange fortzubleiben.

Bis zur Stunde wusste hier niemand, nicht mal seine engsten Mitarbeiter, von dem großen Geheimnis, das es im Haus gab. Einen Keller, den er sich angeblich als Labor eingerichtet hatte und zu dem nur er einen Schlüssel besaß, benutzte er in Wirklichkeit als eine Forschungsstätte besonderer Art. Auf den Resten eines geheimnisvollen Hauses, dessen Grundmauern er freigelegt hatte, war das Klinikgebäude errichtet worden. Nur die Tatsache, dass Herold alte Indianerdialekte studierte und dabei auf einen indianischen Hexenmeister stieß, war verantwortlich dafür zu machen, dass er schließlich auch jene Stelle fand, die dieser Indianer immer wieder erwähnte und der er tausend verschiedene Namen gab. Dieser Indianer sprach in seinen Schriften von geheimnisvollen Fremden aus dem Geisterreich, von rätselhaften Zeichen und Symbolen, mit denen man das Tor zur Welt dieser Fremden aufstoßen könne.

Auf diese Weise geriet Herold an das große Geheimnis der »grauen Riesen«. Viele hundert Versuche hatte er hinter sich, und jeder hatte ihn einen Schritt weitergebracht. Gestern aber war ihm ein Vorstoß gelungen, der ihn weiter in das fremde Jenseitsreich trug als alle anderen Unternehmungen zuvor.

Er konnte nicht schlafen, denn er war innerlich aufgewühlt. Er musste hinunter in den Keller ...

Lautlos schlich er die Treppe nach unten. Niemand sah ihn. Niemand?

Da war es Dr. Herold, als bewege sich ein Schatten neben ihm an der Wand.

Er warf erschreckt den Kopf herum und hielt den Atem an. Aber da war nichts.

Er befand sich in einer solchen Anspannung, dass er seinen eigenen Schatten schon für einen fremden ansah.

Kopfschüttelnd lief er die Treppe nach unten und verschwand im Keller.

Oben auf der Treppe befand sich doch jemand und beobachtete ihn. Es war ein Schatten, dunkel und schemenhaft, seltsam körperlos. Er stand drei Sekunden lang auf dem obersten Treppenabsatz und beobachtete den Arzt, wie er im Keller verschwand.

Dann trat der Schatten zwei Schritte zurück. Die Wand verleibte ihn ein, wie ein trockener Schwamm einen Tropfen Wasser aufsaugt ... und auf der anderen Seite des Mauerwerks kam das geistige, schattenhafte Etwas wieder hervor.

Der schemenhaft zerfließende Schatten schwebte mehr über dem Boden, als dass er ihn berührte. Das körperliche Wesen bewegte sich erstaunlich schnell, huschte durch die Büsche und den dichten Baumbestand, der aus der Anlage rund um die kleine private Klinik einen schönen und gepflegten Park machte.

Der Geist durcheilte die Lüfte und passierte die Mauer, welche das umfangreiche Anwesen umgab, auf altbekannte Weise. Unter mächtigen Blutbuchen stand am steilen Straßenrand ein unbeleuchtetes Fahrzeug.

Der Schatten glitt durch die Tür wie ein Sonnenstrahl durch ein Fensterglas. Im parkenden Auto saß eine schwarzgekleidete Gestalt mit dunklen Augen, buschigen Augenbrauen und gepflegtem Äußeren.

»Nun?«, fragte der Wartende.

»Er ist wieder hinuntergegangen. Ich glaube, er ist dichter vor dem Ziel, als er denkt.«

Der Mann hinter dem Steuer gönnte dem Schattenwesen an seiner Seite nur einen flüchtigen Blick. Die schmalen Lippen des Schwarzgekleideten verzogen sich zu einem sarkastischen Grinsen. »Wunderbar. Dann sind wir ja bald am Ziel. Ich denke, ich kann mich auf dich verlassen, Axxon.«

Durch die schemenhafte Gestalt lief eine Bewegung. Sie deutete so etwas wie ein Nicken an. »Du bist aus dem gleichen Stamm hervorgegangen, aus dem auch Molochos hervorging. Dein Befehl ist, als ob er mir Anordnungen erteilen würde. Ich werde alles tun, was du von mir verlangst.«

»Dann ist es gut. Keinen Schritt zu viel, aber auch keinen zu wenig. Die Angelegenheit erfordert größtes Fingerspitzengefühl. Wenn er uns die Tür nach drüben öffnet, wird sich die Landschaft dort wie hier gleichermaßen verändern, Axxon. Wenn Herold Eingang in die Welt der Grauen findet, werden wir nachkommen. Und das Blutsiegel des Molochos, das dort in der Welt der grauen Riesen vor Äonen vergraben wurde, wird seine Kräfte erneut unter Beweis stellen können. Dann sind die Grauen verloren, und Molochos, unser Herr, wird zufrieden sein, weil die Kraft des Blutsiegels auch auf diese Welt uneingeschränkt einwirken kann. Und nun geh und halte mich auf dem Laufenden. Wenn Herold des Rätsels Lösung gefunden hat, gibt es noch viel für uns zu tun. Dann muss auch ich in Aktion treten«, sagte Ontar Muoll, der Schwarze Priester.

1. Kapitel

Der Arzt drückte die Kellertür lautlos ins Schloss. Völlige Dunkelheit umgab ihn.

Herold tastete nach einem Schalter, und eine schwache nackte Birne flammte auf. Das Licht riss einen recht unordentlich aussehenden Kellerraum aus dem Dunkel, und hätte ein Außenstehender dieses Labor gesehen, er hätte an Herolds Geist gezweifelt.

Der Keller erinnerte an eine Baustelle. Links und rechts neben den Wänden in unmittelbarer Türnähe lagen Berge herausgebrochenen Mauergesteins und Mörtel, den er nicht hatte fortschaffen können, weil er dann hätte befürchten müssen, dass man seine ungewöhnlichen Laborarbeiten entdeckt hätte.

In mühsamer Kleinarbeit war es Herold gelungen, eine Mauer hinter den grauen Kellersteinen freizulegen. Mit archäologischen Instrumenten und Pinseln hatte er die verdreckten Hieroglyphen und fremdartigen mathematischen Zeichen freigelegt und begonnen, sie mit Hilfe der Vergleichsunterlagen zu studieren, die er in indianischen Büchern fand.

Mit diesen Zeichen und Symbolen war die Wand auf dieser Seite der Welt versiegelt worden, und nur ein Eingeweihter, zu dem er geworden war, konnte diese Siegel brechen.

Herold berührte die Hieroglyphen und Zeichen in einem ganz bestimmten System. Die Wand nahm ein fluoreszierendes Leuchten an. Im nächsten Moment lagen die Finger des Arztes nicht mehr auf der steinernen Mauer, sondern drangen in sie wie ein heißes Messer in einen Block Butter ein.

Herold konnte die Materie passieren. Er tat einen einzigen Schritt und befand sich im selben Augenblick nicht mehr auf dieser Seite der Welt. Ein fremdartiges Höhlensystem dehnte sich vor ihm aus, in dem ein seltsam grünes Licht herrschte.

Herold durchquerte einige Höhlen, die er schon kannte. Auf dieser Seite der Welt waren die Steine eigenartig warm, als würden sie von innen aufgeheizt. Herold eilte um einen schwammartig aussehenden Felsen herum. Alle Wände waren mit fremdartigen Zeichen übersät, die nach einem bestimmten System berührt und nachvollzogen werden mussten. Wer diese Geheimsprache beherrschte, konnte die fernsten Tiefen des Kosmos' durchstreifen, ohne auf ein Raumschiff angewiesen zu sein.

Wesenheiten, die lange vor der Geburt der Menschheit schon existierten, hatten den Schlüssel zur wahren möglichen Erforschung des gigantischen Weltenraumes gefunden. Das Kleinste wie das Größte war zu ergründen und zu verstehen, wenn man nur den richtigen Weg dazu fand. Ein Menschenleben würde nie ausreichen, die Pracht und die Geheimnisse aller Lebensstufen und aller Erscheinungsformen des Alls zu studieren, wenn man sich nur auf ein künstliches Gebilde verließ, welches in der Menschensprache als Produkt der Technik bezeichnet wurde.

Am Anfang stand der Geist. Mit seinem Geist erforschte und erkannte der Mensch seine Umwelt, schuf sich mit Hilfe seiner zehn Finger Hilfsmittel, die ihn den wilden Tieren und bestimmten Naturereignissen, denen er anfangs schutzlos ausgeliefert war, schließlich doch überlegen machten.

Geist und Körper entwickelten sich im Verlauf von Jahrmillionen. Technische Hilfsmittel standen zur Verfügung, die den Menschen vergessen ließen, dass er mit seinem Geist eigentlich viel mehr hätte anfangen können, wenn er sich auf diese brachliegenden, sich erst langsam entwickelnden Fähigkeiten konzentriert hätte.

Wer sich mit seinem Geist an einen anderen Ort versetzen konnte, der brauchte dazu keine Flugzeuge, keine anderen Verkehrsmittel. Wer mit diesem Geist die Fernen des Universums durchstreifen konnte, war nicht auf Raketen und Raumschiffe angewiesen, von denen die Menschheit träumte. Aber die Wissenschaftler hatten es klar erkannt: jene Welt, von der SF-Autoren so gern schrieben, jene Welt, in der jeder Punkt im Kosmos durch superschnelle Schiffe zu erreichen war, würde es nie geben. Ein Menschenleben reichte nicht aus, um Flüge zu fremden Sternen zu unternehmen.

Nur der sich weiterentwickelnde Geist würde die Menschheit weiterbringen. Es musste zu einer vollkommenen geistigen Umorientierung in der Welt kommen, die durch die Fehleinstellung des denkenden Individuums bis an die Grenze ihrer Belastbarkeit ausgeplündert worden war.

Schon heute war zu erkennen, dass es so nicht weitergehen konnte, dass sich die Menschheit ihr eigenes Grab schaufelte. Dies war unabänderlich die Folge falsch eingesetzter Technik.

Herold stand wenig später in einer anderen Höhle vor einer verhältnismäßig glatten Mauer. Auf ihr gab es zahlreiche, sinnverwirrende Formeln und Symbole. Er zog sie mit dem Finger der rechten Hand nach, während er in der linken einen Zettel hielt, der mit Zahlentabellen übersät war.

Herold bevorzugte ein ganz bestimmtes System beim Berühren und Nachvollziehen der Runen und Spiralen, der schlangenähnlichen Gebilde und Zeichen. Das Leuchten in der Wand vor ihm verstärkte sich.

Der Fels wurde durchsichtig wie Glas und durchlässig wie eine Nebelwand. Der Arzt trat einen Schritt vor und setzte einen Fuß vor den anderen.

»Es klappt!«, entrann es tonlos und unbewusst seinen Lippen. »Zum ersten Mal auch diese Mauer!« Er richtete den Blick nach links. Dort hatte er in all den zurückliegenden Monaten von der anderen Seite der bis dahin halb durchsichtigen Felswand immer wieder die Gestalten der grauen Riesen gesehen, die wie erstarrt in der Felswand standen.

Nun waren sie verschwunden? Er hielt den Atem an, während er weiter durch das nebelhafte, zerfließende Gebilde schritt, erfüllt von Triumph und Ratlosigkeit zugleich.

Warum zeigten sich die Grauen nicht mehr?

Er wandte den Blick. Und in der Dunkelheit der anderen Seite der Höhle, die sich ganz sicher auf der Welt der Grauen befand, nahm er eine Bewegung wahr.

Für den Bruchteil einer Sekunde sah er drei der massigen, fremdartigen Bewohner einer nicht minder fremdartigen Welt im Halbdämmern vor sich.

Sie waren durchweg dreimal so groß wie ein normaler Mensch. Gliedmaßen waren nicht zu erkennen. Runder Schädel, runde Sinnesorgane, wie Löcher in einem zu groß geratenen, unförmigen Kloß. Unter dem breiten, tiefen Nasenloch kaum wahrnehmbar die runde Öffnung für den Mund. Diese fünf Öffnungen waren mehr zu ahnen als zu sehen. Auf dem Kopf wuchs ein wirres Bündel dunkelgrauer, dicht liegender Strähnen, die an verrotteten Tang erinnerten, oder an Wurzeln.

Die drei grauen Riesen verschwanden um die nächste Felswand, und Herold spürte den Luftzug, der durch ihre Bewegungen entstand. Er wusste selbst nicht, woher er den Mut nahm, noch einige schnelle Schritte nach vorn zu machen, bis zum Vorsprung der neuen fluoreszierenden Höhle zu laufen und einen Blick um die vorspringende Mauer zu wagen.

Die drei grauen Riesen gingen in eine gewaltige, in dunklem Orange glühende Höhle, die sich bis zu einem rätselhaften Horizont irgendwo in der Ferne auszudehnen schien.

Den Atem anhaltend erblickte Herold dort unten zahllose orangefarbene Eier, die fast den ganzen Boden bedeckten. Sie lagen wie die Heringe und bildeten Gruppen. Zwischen diesen Gruppen gab es breite, sauber angelegte Wege, auf denen wie graue, stumpfe, bizarr geformte Felsen mit langsamen, schwerfälligen Bewegungen die Gestalten einhergingen, die er zum ersten Mal so greifbar nahe vor sich sah.

Er schluckte mehrere Male trocken; sein Herz klopfte bis zum Hals. Er war am Ziel! Was für ein Erfolg! Jahrelange Kleinarbeit hatte sich schließlich doch gelohnt.

Die grauen Riesen! Wer waren sie, was war das für eine Welt, wo im Kosmos konnte man sie ansiedeln? War sie überhaupt durch die Objektive der Observatorien der Welt, aus der er kam, wahrnehmbar? Oder lag die Welt der grauen Riesen in einer Milchstraße, die sich außerhalb der Reichweite der stärksten Spiegelreflexteleskope befand?

Herold steckte voller Unruhe und befand sich wie in Trance. Er musste Kontakt zu den Fremden aufnehmen, denen seine Ankunft ganz offensichtlich entgangen war. Aus irgendeinem Grund schienen sie die Bewachung dieses Teils der Höhle inzwischen aufgegeben zu haben.

Herold schwindelte. Er konnte dies alles nicht auf einmal verarbeiten.

Er zog sich durch die durchlässige Wand zurück, berührte in der vorgeschriebenen Weise die seltsamen Kurven, Spiralen und Zeichen und eilte dann durch die einzelnen Höhlen wieder in jenen Kellerraum, durch den er gekommen war. Heimlich kehrte er zurück in das Zimmer, wo die Liege zum Schlafen stand.

Aber er legte sich auch jetzt nicht nieder. Er war aufgewühlter als zuvor. Er rief an und klingelte seinen Bruder Kenneth aus dem Bett. »Was ist denn passiert?«, wunderte der sich verschlafen. »Ich brauche dich, Ken. Ich bin hier in der Klinik. Komm sofort her!«

»Hast du getrunken, Henry? Oder bist du verrückt geworden?«

»Keines von beiden. Aber ich verliere den Verstand, wenn du nicht umgehend kommst, Ken. Ich muss dir etwas zeigen.«

»Jetzt? Weißt du, wie spät es ist?«

»Ja, kurz nach zwölf Uhr nachts. Und was ist schon dabei?«

»Hat das, was du mir zeigen willst, nicht bis morgen Zeit?«

»Nein.«

»Dann ruf doch Liz an.« Liz war Henry Herolds Frau. »Nein, das geht nicht. Komm, Ken, mach keine Umstände!

Ich brauche jetzt dringend jemanden, dem ich mich anvertrauen kann, oder ich drehe wirklich durch.«

»Okay. Aber das dauert 'ne halbe Stunde.« Kenneth Herold, der ein gutgehendes Anwaltsbüro in der nächstgrößeren Stadt hatte, seufzte und legte auf.

Er brauchte fünfunddreißig Minuten für die Fahrt zu dem weit außerhalb liegenden Privatklinikgelände.

Henry Herold stand schon am Tor. Er hatte die Nachtschwester davon unterrichtet, dass sein Bruder kommen werde, dem er einen Versuch in seinem Labor vorführen wolle. Er könne nicht schlafen und wolle die Zeit nicht sinnlos vergeuden.

Kenneth Herold war einen Kopf größer und in den Schultern breiter als Henry. Die Familienähnlichkeit war augenfällig. »Was ist denn passiert?«, knurrte Kenneth Herold. »Ich muss dir etwas zeigen, Ken.«

»Das hast du am Telefon schon gesagt. Was ist es?«

»Das bekommst du jetzt zu sehen.«

»Du bist unverbesserlich, Henry. Als Junge warst du schon ein Sonderling. Wenn dich etwas beschäftigt hat, musstest du sofort jemand in dein Vertrauen ziehen. Dann hatte das nie Zeit bis zum nächsten Tag.«

»Genauso ist es, Ken«, bemerkte Dr. Herold ernst.

Kenneth Herold folgte seinem Bruder in den Keller.

»Was ich dir zeige, bleibt unser Geheimnis, Ken.«

»Wenn du darauf bestehst, natürlich.«

Henry Herold berührte die rätselhaften Bilder an der Kellerwand, und die Steine wurden durchlässig. »Ich glaub', ich spinne«, bemerkte Kenneth Herold heiser.

Er fuchtelte mit seinen Händen in der Luft. »Kein Widerstand!«

»Kein Widerstand, richtig.« Sie kamen in die fluoreszierende Höhlenwelt, und auf dem Weg dorthin sprudelte es nur so über Henry Herolds Lippen. Erst jetzt vertraute er sich seinem Bruder an, und der erkannte, dass es genauso war wie früher. Nun, da Henry zu einem Ergebnis, zu einer Entscheidung gekommen war, brauchte er einen Menschen, mit dem er sich aussprechen konnte.

»Ich kann einen anderen Stern erreichen mit einem einzigen Schritt! Ich habe einen Teil des Geheimnisses um die grauen Riesen gelöst.«

Kenneth Herold konnte im Augenblick nichts sagen. Es kam ihm vor, als sei er überhaupt nicht wach und träume. Er lag zu Hause in seinem Bett, und der späte Telefonanruf seines Bruders war ebenso ein Traum wie die Fahrt hierher in die Klinik.

Er kniff sich in den Oberarm und spürte den Schmerz. Dieser Schmerz war so wirklich wie das fluoreszierende Licht, wie die rätselhaften Symbole an den Felswänden, wie die Mauern, die Henry durchschritt, als seien sie überhaupt nicht vorhanden.

»Ich bin verrückt, oder du bist ein Hexenmeister, Henry!«

»Keines von beiden, Ken. Was hier geschieht, ist ein ganz natürlicher Vorgang. Naturgesetze werden wirksam, Gesetze des Geistes. Für uns in eine Form gebracht, die uns in Erstaunen versetzt, zugegeben. Aber für einen Menschen des Mittelalters wäre ein Fernsehapparat ein Teufelsding, für uns ist er eine Selbstverständlichkeit. Technik und Geist haben ihn ermöglicht. Die Wesen, die ich als die grauen Riesen erkannt habe, benutzten diese Höhlen als eine Art Dimensionstransporter, um die Erde zu besuchen, möglicherweise auch, um uns zu beobachten. Vor Jahrtausenden ... vor Jahrmillionen. Ich weiß es nicht. Aber schon lange haben sie diese Besuche eingestellt. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund. Sie konnten die Wände ver- und entsiegeln, so wie ich es im Lauf langer Forschungsarbeit wieder erlernt habe. Wir sind in diesen Minuten nicht die hundert oder zweihundert Schritte von der Klinik entfernt, die wir offiziell getan haben. In Wirklichkeit haben wir Lichtjahre hinter uns gebracht.«

»Henry!«

»Es ist so, wie ich dir sage, Ken. Jede Höhle befindet sich auf einer anderen Welt. Es sind sogenannte Zwischenstationen, die brach liegen, aber selbst jetzt nach Jahrtausenden noch funktionieren. Urkräfte des Kosmos werden freigesetzt, Raum und Zeit schrumpfen zusammen. Ist das nicht herrlich?«

»Herrlich? Es ist erschreckend, Henry!«

Kenneth Herold wirkte bleich. Seine Lippen waren blutleer, und seine Augen befanden sich in ständiger Bewegung. Er sah, dass sein Bruder massive Wände in bestimmter Bewegungsanordnung berührte, und dass diese Wände dann nicht mehr als ein unüberwindliches Mauerwerk vor ihnen aufragten.

Sie wurden zu durchsichtigem, klarem Nebel.

Dann kam die letzte Mauer, die letzte Zwischenstation, wie Henry sie bezeichnete.

»Verhalte dich ganz still, nachdem wir das letzte Hindernis überwunden haben«, wisperte er seinem Bruder zu. »Halte dich vor allen Dingen auch stets dicht hinter mir, Ken! Ich habe noch keine Erfahrung mit den Grauen. Ich weiß nicht, ob sie uns freundlich oder feindlich gesinnt sein werden. In der Vergangenheit, als ich die Wände zwar durchsichtig, aber nicht durchlässig bekam, habe ich häufig Graue vor mir gesehen. Sie müssen mich ebenso wahrgenommen haben wie ich sie. Aber sie haben sich nie bewegt. Sie waren starr wie gewachsener Fels. Heute nun, knapp vor einer Stunde, habe ich sie lebendig gesehen. Sie sind Kolosse gegen uns, aber sie bewegen sich gleitend und mit einer Leichtigkeit, wie ein Wal das Meer durchpflügt. Ich muss einfach darüber sprechen, mein Herz ist voll, übervoll, Ken. Noch eine Bitte, berühre bitte nicht die Felder! Jedes einzelne Symbol, jede Hieroglyphe ist von Bedeutung. Sie dürfen nur nach einem ganz bestimmten Schema und nur ein einziges Mal berührt werden. Der innere Zusammenhang der gegen- und miteinander wirksam werdenden Kräfte muss gewahrt bleiben, verstehst du?«

Kenneth Herold nickte. Er verstand nichts, nahm die Dinge einfach hin und blieb in der Nähe seines Bruders, der das letzte Hindernis zu den grauen Riesen durchlässig machte. Dass er hierbei weniger Erfahrung hatte, bewies die Tatsache, dass er das System der zu berührenden Symbolflächen von seinem Handzettel ablesen musste.

Die massive Struktur der Felswand schwand. Aufmerksam ließ Henry Herold den Blick über die Wand streifen, als wolle er sich erst vergewissern, dass niemand und nichts ihnen gefährlich werden konnte.

Dann trat er einen Schritt vor.

Er tauchte in das nebelhafte Gebilde ein, hinter dem sich fern und verlockend ein orangefarbener Himmel ausbreitete.

Kenneth Herold wollte umgehend folgen, als er an seiner Seite eine schattenhafte Bewegung registrierte.

Ein Schatten?

Da war jemand ...

Er warf den Kopf herum und sah den Schatten, der im gleichen Augenblick auf ihn zustieß und ihn berührte.

Kenneth Herold riss instinktiv in Abwehr die Hände hoch. Die eine Hand ging gegen die Felswand und verdeckte eine Zehntelsekunde lang eines der Symbole.

Henry Herold spürte im gleichen Augenblick den ungeheuren Druck, der sich auf seine Brust legte und ihm die Luft raubte.

Die Felswand! Die entmaterialisierten Stoffe formierten sich wieder! Sie wurden massiv!

Er warf sich nach vorn und hatte das Gefühl, sich gegen eine gallertartige Masse zur Wehr setzen zu müssen, die ihn wie ein amorphes Wesen umfloss!

In seiner Panik stemmte er sich gegen den fester werdenden Brei, um nicht eingeschlossen zu werden. Dabei öffnete er die Hände, und der Zettel entfiel ihm. Er wurde eingeschlossen von dem klebrigen Schleim, den er gerade noch verlassen konnte, ehe die Wand wieder steinhart wurde.

Henry Herolds Herz schlug wie rasend. Schweiß perlte auf seinem bleichen Gesicht. Verzweifelt tastete er die lauwarme, undurchlässige Wand ab. »Ken?!«, murmelte er entsetzt. »Hallo, Ken, kannst du mich hören?«

Kenneth Herold konnte nicht. Er befand sich auf der anderen Seite der Wand, und nicht nur ein Schritt, sondern Lichtjahre trennten sie voneinander.

Der Anwalt starrte mit fiebrig glänzenden Augen auf die Wand vor sich, die in einem intensiven grünen Licht leuchtete.

Der Schatten, durch den er sich ablenken und erschrecken lassen hatte, war verschwunden. Da war in Wirklichkeit niemand gewesen. Seine überreizten Nerven hatten ihm offensichtlich einen Streich gespielt.

Im fluoreszierenden Licht sah er die fremdartigen mathematischen Zeichen, Kurven und Spiralen und berührte sie nun doch. Eine nach der anderen, als könne er das rückgängig machen, was gegen seinen Willen passiert war.

Doch er konnte nichts mehr ändern, versiegelte nur noch mehr und brachte die Kräfte durcheinander. Er beherrschte sie nicht und kannte das System nicht.

Verzweifelt trommelte er gegen die Wand.

»Henry! Heeeenryyyy!«, hallten seine Rufe durch die Höhlenwelt, und das Echo seiner Stimme hörte sich so gewaltig an, dass ihm graute.

»Kenn! Keeeennnn!«, brüllte Henry Herold von der anderen Seite, voller Panik an der Wand entlanglaufend, die ihn von der anderen Welt trennte und in der seine Notizen wie von flüssiger Lava eingeschlossen worden waren.

Er befand sich in der Welt der grauen Riesen, Ken irgendwo auf einem fernen Planeten. Aber von dem konnte er noch zurück. Der Rückweg war ihm nicht abgeschlossen. Im Gegenteil, er führte zu ihm.

Für ihn dagegen gab es keine Rettung mehr. Das System der Entsiegelung auf dieser Welt war von ihm noch nicht gelöst worden. Jede Zwischenstation funktionierte anders.

Er lehnte den Kopf gegen das lauwarme Gestein, und ein trockenes Schluchzen schüttelte seinen Körper.

Da hatte er plötzlich das Gefühl, nicht mehr allein zu sein.

Alles in ihm sträubte sich, und er durchlebte eine Furcht, wie er sie nie zuvor in seinem Leben gekannt hatte. Langsam, als müsse er ein Zentnergewicht bewegen, gelang es ihm, den Kopf zu drehen.

Drei Graue standen wie atmende Berge vor ihm und schnitten ihm den Weg ab.

Durch die Weite des Alls fiel helles Licht.

Es war winzig im Vergleich zu den Sonnen, Planeten und Monden, die um die Weltenkörper kreisten. Nicht mehr als ein schimmerndes Staubkorn im Kosmos.

Und doch war dieser Lichtleib, der mit hoher Geschwindigkeit durch das All stürzte, mehr als hundertmal größer als ein Mensch.

Aus der Nähe betrachtet, hatte das Licht auch menschliche Gestalt.

Es war D'Dyll-vh'on-Ayy, das Energiewesen. Aus Dankbarkeit darüber, dass Björn Hellmark und Frank Morell ihm seinen Namen wiedergaben, hatte sich D'Dyll entschlossen, sich in der menschlichen Gestalt zu bewegen.

D'Dylls Körper war normalerweise formlos. Er bestand aus einer Ansammlung purer Energie, die jede Materie in sich aufnehmen und jede durchdringen konnte.

D'Dyll reiste nicht allein.

Sein schützender Energiemantel umhüllte Björn Hellmark. Björn kam von Helon 4, jenem Stern, auf dem er durch die Verkettung von Umständen seine Seele mit Prinz Ghanor getauscht hatte.

Dort war er D'Dyll begegnet. Das Energiewesen war auf der Suche nach den verschollenen Rasseangehörigen, die alle miteinander vor langer Zeit schon durch falsche Übermittlung davon überzeugt worden waren, ihr wahres Glück im Dienst des dämonischen Molochos zu erleben. Molochos war es aus bisher unerfindlichen Gründen gelungen, diese große Rasse für sich einzunehmen.

Die Rasse, aus der D'Dyll hervorgegangen war, war im Glauben, dass Rha-Ta-N'my und Molochos die Eckpfeiler des Glaubens, dass sie das Herrscherpaar des Universums darstellten.

Sie, die aus dem Volk der Energiewesen kamen, hatten keine Namen. Nur Rha-Ta-N'my und Molochos besaßen welche. Es gab viele einfache Völker, die verpflichtet waren, dem Herrscherpaar zu dienen. Aber diese Pflicht wurde nicht von allen erfüllt, und so sahen die namenlosen Energiewesen es als ihre Aufgabe an, eine Art Polizeifunktion auszuüben. Sie glaubten, etwas Gutes zu tun, indem sie Molochos' Willen bis in die letzte Konsequenz erfüllten. Und die bedeutete: Sie bestraften unnachsichtig jeden, von dem sie glaubten, dass er seine Pflicht dem allmächtigen Herrscherpaar gegenüber nicht erfüllte. Sie brachten den Tod, ohne ihn zu begreifen. Das war das Schizophrene an der Sache.

Wesen von D'Dylls Schlag waren überzeugt davon, das Rechte zu tun. Mit dem Verlust ihres Namens verloren sie auch ihre Persönlichkeit und wurden in Wirklichkeit selbst zu Sklaven Molochos', der kein Gott, sondern der Fürst eines riesigen Dämonenreiches war.

D'Dyll hoffte, in der Weite des Kosmos alle diejenigen zu finden, die auf der gleichen Welt geboren worden waren. Mit der Rückeroberung seines Namens, den Björn Hellmark durch Al Nafuur erfahren hatte, war auch die Erinnerung an die große Vergangenheit der Rasse in ihn zurückgekehrt. Er wollte den anderen die gleiche Freiheit bringen, die er genoss. Losgelöst von dem angeblichen Herrscher des Weltalls, Molochos und der schrecklichen Göttin Rha-Ta-N'my, dem Wesen mit den hunderttausend Gesichtern.

Björn Hellmark fühlte sich wohl und sicher im Schutz der Energiehülle, die ihn umgab. Hier im Inneren des riesenhaften Körpers meinte er in einem Raumschiff zu sein. Er konnte sich frei bewegen. D'Dylls Energiemoleküle, die wie ein gigantischer Zellverband zusammengewachsen waren, gaben genügend Sauerstoff ab. Hier im Inneren der Energiewolke spürte er weder die eisige Kälte des Weltenraums, noch wurde ihm überhaupt eine Bewegung bewusst. Und es gab keine Ernährungsprobleme. Er spürte weder Hunger noch Durst.

»Das ist kein Wunder«, vernahm er die Stimme des Telepathen in seinem Hirn. »Jeder Körper besteht aus Energie. Du bist mir sehr ähnlich, und ich bin dadurch dir ähnlich. Alle Zellen eines jeden Lebewesens erzeugen Energie. Energie ist der Grundstoff des Lebens. Wenn ich welche abgebe, musst du logischerweise welche empfangen.«

»Das leuchtet mir ein. Aber wenn du welche abgibst, bedeutet das logischerweise auch, dass du welche aufnehmen musst.«

»Natürlich! Die Wiege des Lebens ist das Universum. Alle Wesen kehren irgendwann und irgendwie dorthin zurück. Ehe sie diesen Punkt jedoch erreichen, müssen sie viele Entwicklungsformen durchmachen, wie die Loogs auf Kaphir, deren Dasein als Stein beginnt und als Geist im Kosmos endet. Es gibt tausendmal tausend Völker, deren Namen du nicht kennst und mit denen auch ihr Menschen der Erde in der Ferne ihrer Entwicklungszeit mal Kontakt haben werdet. Und auf eine Weise werdet ihr euch dann alle ähnlich sein, obwohl ihr verschiedene Entwicklungsstufen durchgemacht habt. Auch dem Schmetterling, um ein Beispiel aus deiner Welt zu nennen, Björn, sieht man in seiner Farbenpracht und bei der tanzenden Leichtigkeit seiner Bewegungen nicht an, wie hässlich und plump er als Raupe aussah.«

Björn Hellmark starrte nachdenklich in die Tiefe des Alls. D'Dylls Energieleib war durchsichtig wie eine Glaskuppel.

Seit er von der schützenden Energiehülle umgeben war, wusste Björn Hellmark nicht, wie viel Zeit vergangen war. Er hatte registriert, dass D'Dyll verschiedene Punkte im freien All aufgesucht hatte, und dass sie dann durch eine seltsame graue Substanz geglitten waren. D'Dyll-vh'on-Ayy war seinen Fragen zuvorgekommen, und so hatte er erfahren, dass es im Universum bestimmte Fixpunkte gab, die es einem Wesen seiner Art ermöglichten, in ein parallel liegendes Raum-Zeit-Kontinuum einzutauchen. Gewissermaßen »Sprünge« zu unternehmen, um die gewaltigen Entfernungen im Bruchteil eines Gedankens zurückzulegen.

Björn war fasziniert von diesen Möglichkeiten, die sich irdischer Technik und irdischem Geist noch verschlossen. Aber er dachte auch daran, dass er mit Hilfe des magischen Spiegels der Kiuna Macgullygosh zu ähnlichen Reisen imstande war. Mit einem Schritt in die Welt des Spiegels überwand er Zeit und Raum und hatte jenen Planeten erreicht, auf dem sich Tamuurs Gespenstergarten befand, der ihm zum Schicksal geworden war.

Von dort aus war er weiter in Raum und Zeit geschleudert worden, ohne im Geringsten zu ahnen, wo sich die Welten, die er inzwischen kennenlernte, wirklich befanden.

D'Dyll war im Universum zu Hause. Schon lange war die Rasse, die auf dem geheimnisumwitterten, unbekannten Feuerplaneten geboren worden war, nicht mehr sesshaft. D'Dyll war außergewöhnlich alt, wobei Björn nicht wagte, hier irdische Maßstäbe anzuwenden. Ihm schwindelte bei dem Gedanken, dass D'Dylls Existenz möglicherweise schon vor hundert- oder zweihunderttausend Jahren begonnen hatte, wenn nicht noch früher.

Das Alter der Rasse selbst betrug sicher mehrere hundert Millionen Jahre. Bevor dieses Volk wieder zu dem wurde, aus dem es einst bestand, machte es auch eine Entwicklung durch, die sich im Großen und Ganzen hier in diesem Kosmos wohl überall und bei jeder Lebensform wiederholte.

D'Dyll traute sich zu, jene Welt wiederzufinden, auf der Björn Hellmarks Abenteuer eine entscheidende Wende nahm. Das Energiewesen wollte ihn dort absetzen, damit Björn Hellmark seine Aktionen an gleicher Stelle fortsetzen konnte.

Björn war auf dem Weg nach dem legendären Tschinandoah gescheitert. Er fragte sich, ob es überhaupt noch einen Sinn habe, den gleichen Weg einzuschlagen. Durch die Benutzung der Puppe des Somschedd waren die ursprünglichen Bedingungen auf der abenteuerlichen Welt völlig verändert worden.

Das Tschinandoah, das er hätte erreichen sollen, existierte nicht mehr. Es gab nur eine Chance für ihn und die sieben Tempeldienerinnen, die das Chaos der Zeitumformung überstanden hatten: alles daranzusetzen, den ursprünglichen Zustand wiederherzustellen. Er musste jene Zeit wieder aufleben lassen, die existent war, als er den Weg nach Tschinandoah einschlug. Da wurde die Botschaft noch in einem der Haupttempel aufbewahrt, da lebte Zavho noch, der die Botschaft mit in den Hades, das Totenreich des teuflischen Molochos, nehmen konnte. Wäre das alles nicht passiert, wüsste Björn Hellmark jetzt mehr über die Geheimnisse und vor allem über die Schwächen seines Erzfeindes. Ehe Molochos zum Dämonenfürsten aufsteigen konnte, war er Mensch gewesen. Das Geheimnis aus der Vergangenheit, das aus unerfindlichen Gründen in einer Schriftrolle Niederschlag gefunden hatte, die auf unerklärliche Weise nach Tschinandoah gelangt war, musste bedeutungsvoll für das Werden Molochos zum Dämonenfürsten sein, aber auch für seinen eventuellen Sturz vom Thron der Finsternis. Nicht umsonst setzte Molochos alle Möglichkeiten ein, Björn Hellmark davon zurückzuhalten, die Schrift in seinen Besitz zu bringen.

Diese Dinge gingen Björn durch den Kopf. Und D'Dyll-vh'on-Ayy nahm an diesen Überlegungen teil, denn nichts von dem, was sein Schützling dachte, entging ihm.

Durch eine telepathische Brücke waren sie ständig miteinander verbunden. Björns Gedanken waren für ihn wie Worte, die laut und deutlich gesprochen wurden.

»Wenn nicht gelingt, was du vorhast, bringe ich dich zurück auf die Erde, Björn.«

»Vielleicht ist das sogar das Beste ...« Björn Hellmark dachte an Al Nafuur. Sein Geistfreund aus dem Zwischenreich hatte sich schon geraume Zeit nicht mehr gemeldet. Durch ihn hätte er entscheidende Hinweise und einen Ratschlag erhalten können. Doch Al schwieg.

Björn machte sich Sorgen. War durch sein unglückliches Verhalten in Tamuurs Gespenstergarten zwischen ihm und Al Nafuur ein Riss entstanden?

Er konnte sich das nicht vorstellen, denn einmal noch hatte sich der unsichtbare Freund nach der prekären Lage gemeldet und ihm einen entscheidenden Hinweis gegeben. Seitdem aber herrschte gewissermaßen Funkstille.

Björn Hellmark aber dachte auch noch an eine andere Möglichkeit, um die alten Tage, als Tschinandoah noch existierte, wieder entstehen zu lassen. Schon mal hatte er eine Reise in die Zeit, in die Vergangenheit unternommen.

Arson, der Mann mit der Silberhaut, der aus einer fernen Zukunft der Erde oder eines erdähnlichen Planeten stammte, war mit seinem Zeitschiff in die Vergangenheit der Erde eingedrungen, um seine nach dort entführte Familie zurückzuholen.

Das war ihm auch gelungen. Björn Hellmark war mit von der Partie gewesen, um bei dieser Gelegenheit aus dem Untergang Xantilons für seine Mission Kenntnisse zu gewinnen.

Nach der Rückkehr hatte sich Arson auf Marlos verabschiedet, und ihre Wege trennten sich.

Arson wäre jetzt eine große Hilfe gewesen. Kontakt aufnehmen zu Arson, das wäre eine Möglichkeit gewesen. Doch die war nicht zu realisieren. Der Mann mit der Silberhaut war seinerzeit im Dunkel von Raum und Zeit ebenso geheimnisvoll wieder untergetaucht, wie er zuvor erschienen war. Björn wusste nichts über Ort und Zeit, und es war fraglich, ob sich ihre Wege je wieder kreuzen würden.

Er fühlte plötzlich die wachsende Unruhe, die von D'Dyll zu ihm herströmte.

»Was ist denn los?«

»Ich weiß nicht so recht «, drang die Stimme des Telepathen machtvoll in sein Bewusstsein. »Ich spüre etwas ...«

»Was spürst du?«

»Etwas Fremdes und doch Vertrautes ... etwas ... Erregendes ...«

D'Dyll glitt in eine neue Raumfalte. Als er aus dem grauen Meer der Zeitlosigkeit wieder auftauchte, war der Raum vor ihnen verändert. Andere Sterne, andere Sonnen, eine andere Milchstraße.

»Hier ist es noch stärker, Björn!«

Björn schluckte. Zum ersten Mal seit ihrer sonderbaren Reise durch das All erblickte er ein Sternsystem, in dem drei Sonnen dominierten.

»Das Dreigestirn!«, entfuhr es ihm halblaut.

»Es gibt viele Dreigestirne«, widersprach D'Dyll, der wusste, was jetzt in seinem Schützling vorging. »Das All, oder besser gesagt: die Weltenräume sind voll davon. Es gibt deren unzählige. So vielschichtig und geheimnisvoll wie der Mikrokosmos ist auch der Makrokosmos. Innerhalb des Kosmos, in dem wir uns die ganze Zeit bewegen, gibt es bestimmte Raumpunkte, die, wenn man sie benutzt, die Entfernungen innerhalb des heimatlichen Universums zusammenschrumpfen lassen. Die Weltenräume sind durch membranartige Schichten voneinander getrennt, die nicht so ohne weiteres durchlässig sind. Weder Energie von dieser Seite kann hinüber, noch kann welche von der anderen Seite herüber. Ob es Spalten und Risse innerhalb der verschiedenen Universen gibt, entzieht sich meiner Kenntnis. Aber wir wollten nicht über die Geheimnisse der Allmacht sprechen, sondern über die Wahrscheinlichkeit, dass es mehr als ein Dreigestirn gibt. Es ist nicht gesagt, ob es das Dreigestirn ist, das du gesehen hast. Die Welt, auf der du Tschinandoah gesucht hast, wurde von einer Sonne angestrahlt. Nur in der Nacht hast du einen Stern wahrgenommen, vielmehr drei, die einen größeren wie einen Strahlenkranz umgaben. Dieses System also kann es nicht sein.«

»Warum näherst du dich ihm trotzdem?«

»Wegen der Ausstrahlungen. Auf einer Welt ist etwas Bestimmtes. Ich spüre es. Es ist ein namenloses Wesen, wie ich eines war.«

Björn Hellmark fuhr zusammen. Er ahnte, was das bedeutete. Durch einen Zufall war D'Dyll auf die Spuren eines Rasseangehörigen gestoßen.

Wie alle auf dem Feuerplaneten Geborenen standen die Energiewesen im Dienste Molochos', dem sie blindlings gehorchten.

Das bedeutete: Auch Molochos war nicht weit!

D'Dylls Unruhe wuchs.

Björn registrierte die Ausstrahlungen genau. In all der Zeit, die er gemeinsam mit D'Dyll-vh'on-Ayy verbracht hatte, war das Energiewesen nicht so außer sich gewesen.

Es glitt in die Planetenumlaufbahn und tauchte gleich darauf in die Lufthülle der fremden Welt. Björn sah außerhalb von D'Dylls Riesenkörper helle Wolkenschleier vorbeirasen. Er kam sich vor wie in einer Linienmaschine, die in großer Höhe flog.

Die Energiefäden, die wie ein Gespinst aus Nervenfasern durch D'Dyll liefen und an denen in rasender Geschwindigkeit stets neue Lichtpunkte aufglühten, die vom Stoffwechsel des sonderbaren Organismus' kündeten, befanden sich in diesen Minuten in heftiger Vibration.

Björn spürte die Unruhe beinahe körperlich, und unwillkürlich wirkte sich diese auch auf ihn aus.

Der Energieleib stieß in das dichter gestaffelte Wolkenmeer vor.

Björn Hellmark spürte weder die Bewegung noch die Anziehungskraft, noch vernahm er das Geräusch der außen vorbeizischenden Luft. Nur eines bekam er mit: In der Gestalt D'Dylls veränderte sich etwas.

Sie war nicht mehr langgestreckt und wurde eher kugelförmig.

»Was ist los, D'Dyll?«, fragte er irritiert.

»Es ist besser so. Dann kann auch ich mich besser bemerkbar machen.«

Björn Hellmark machte ein ratloses Gesicht. »Bemerkbar machen? Wem willst du dich bemerkbar machen?«

»Ihr!«

»Ihr?« Björn glaubte im ersten Moment, sich verhört zu haben. »Du sprichst von einem weiblichen Wesen?«

»Erraten!« D'Dylls Stimme hatte einen Klang, als ob eine eherne Glocke zu tönen beginne. Björn stellte fest, dass er seinen neuen Freund weniger kannte, als er bisher geglaubt hatte.

Aber das ist ja paradox! Das geht doch gar nicht?! Was willst du denn mit … Er dachte es nur. Er hätte es niemals laut ausgesprochen. Doch seine Gedankenwelt lag vor D'Dylls sezierendem Geist offen wie ein aufgeschlagenes Buch.

»Na, du hast eine Ahnung! Wie vermehren sich denn die Menschen?«

»Das ist etwas anderes.«

»Etwas anderes?«

Björn hatte das Gefühl, die Stimme des Energiewesens dröhne aus dem gewaltigen Leib wie durch eine Schlucht. D'Dyll lachte, dass es laut und schaurig durch den gigantischen Leib hallte. Die Lichter an den Fasern, die den Energiekoloss durchzogen, flackerten wild und hektisch.

»Etwas anderes, Björn?«, wiederholte D'Dyll-vh'on-Ayy. »Auch Energie geht den gleichen Weg. Was ist Fleisch und Blut anderes als Energie nur in der anderen Erscheinungsform? Ich muss sie sehen. Ihre Ausstrahlungen bringen mich fast um den Verstand.«

»Muss ja ein tolles Weib sein!«, konnte sich Björn Hellmark nicht verkneifen.

D'Dyll gebärdete sich wie toll. Er war jetzt kugelrund und drehte sich mehrfach um die eigene Achse. Außerdem begannen die Fasern zu vibrieren und gaben melodische Klänge von sich, so dass es sich anhörte, als würden fremdartige Instrumente angestimmt, und eine leise, verlockende Stimme mischte sich sphärenhaft klingend darunter.

Schauer durchrieselten D'Dyll. Es war unmöglich, ihn zur Vernunft zu bringen.

Björn Hellmark bot seine ganze Überredungskunst auf, um ihn dazu zu bringen, sich genau zu überlegen, worauf er sich da einließ.

»Wir wollten auf Tamuurs Welt!«, erinnerte er ihn daran. » Hier haben wir nichts zu suchen. Du lässt dich ablenken, D'Dyll! Wer weiß, was wirklich hinter diesen sirenenhaften Klängen steckt!«

D'Dyll reagierte nicht. Das Rauschen, der Klang der Musik und die sphärenhafte Stimme wurden so mächtig, dass sich die Vibrationen auch auf Björns Körper auswirkten.

D'Dyll war überhaupt nicht mehr ansprechbar.

Mit wahnsinniger Geschwindigkeit jagte er über die fremde Planetenoberfläche. Seltsam geformte Felsen, die wie Trompeten aussahen, ragten in gleichmäßiger Gestalt und in regelmäßigen Abständen aus dem hellen, wüstenähnlichen Sand heraus. Kleine schattenspendende Haine wirkten wie Blumenrabatten zwischen den Trompetenfelsen.

»Das Ganze kann eine Falle sein, D'Dyll!«, brüllte Björn Hellmark. Er hatte das Gefühl, in einen Sturm geraten zu sein. Er wurde im Inneren des Körpers hin- und hergeworfen. D'Dyll-vh'on-Ayy nahm keine Rücksicht mehr auf seinen Schützling und schien nicht zu wissen, dass er für Björn Hellmark die Verantwortung übernommen hatte.

»Molochos kann dahinterstecken, D'Dyll!«

»Sie ist schön ... sie ist wunderschön! Was für eine Ausstrahlung.« Mit elementarer Wucht trafen ihn Stimmungen und Gefühle, die außerhalb jeden menschlichen Empfindens liegen mussten.

D'Dyll war berauscht. Die sphärenhaften Klänge und Gesänge durchdrangen ihn bis in sein Innerstes.

»Die Sirenen rufen! Sie ziehen dich ins Verderben, D'Dyll!«, rief Björn Hellmark. Schweiß perlte auf seiner Stirn, und sein Herz klopfte rasend.