Macabros 022: Die Parasitengruft - Dan Shocker - E-Book

Macabros 022: Die Parasitengruft E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Formicatio - Welt des Unheils Ches Morgan beginnt sich langsam aber sicher zu erinnern - an sein Leben als Björn Hellmark. Als der AD-Inspektor und sein Freund und Partner Frankie Lane auf einem ihrer Patrouillenflüge im Weltraum ein Schiffswrack finden, welches mit hunderten von Siedlern vor 150 Jahren spurlos verschwand, trifft Ches im Innern des Wracks auf Asymeda. Björn kennt die Tempeldienerin von seinem Abenteuer auf der Welt Tschinandoah. Asymeda klärt Björn über seine Identität auf und hilft ihm sich zu erinnern, dabei erklärt sie ihm auch, dass er sich in einem Traumgefängnis seines Todfeindes Molochos befindet. Die gesamte Welt, in der er als Chester Morgan lebt, ist eine erdachte Welt des Dämonenfürsten, die dieser dazu nutzt Menschen zu quälen und sie ihrer Identität zu berauben. Asymeda nutzt ein magisches Feld, um ihr Gespräch mit Björn vor Molochos zu verbergen und zieht sich daraufhin zurück. Björn macht sich wieder als Chester daran das Schiffswrack zu untersuchen und trifft auf Dr. Herold, der als unförmiger Fleischberg sein Dasein fristen muss. Doch damit ist das Grauen noch nicht zu Ende. Chester Morgan wird durch ein Dimensionstor auf eine andere fremde Welt geworfen: Formicatio. In dieser Dimension herrschen Riesenameisen und terrorisieren die verschwundenen Siedler des Raumschiffwracks. Doch die Wahrheit ist noch viel grausamer ... Die Parasitengruft Björn Hellmark trifft auf Formicatio, der Welt der Riesenameisen, unerwartet auf zwei alte Freunde: Camilla Davis, das Medium, und Alan Kennan, einem hellseherisch begabten jungen Mann. Gemeinsam geraten sie in die Gewalt von Insektenmenschen.

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Seitenzahl: 320

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DAN SHOCKERS MACABROS

BAND 22

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Fachberatung: Gottfried Marbler

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-722-1

Dan Shockers Macabros Band 22

DIE PARASITENGRUFT

Mystery-Thriller

Formicatio – Welt des Unheils

von

Dan Shocker

Prolog

War sein Leben ein Traum – oder der Traum sein Leben?

Der Mann, der im dunklen Zimmer auf einem breiten Bett lag, wusste es nicht.

Er hielt die Augen geschlossen. Tiefe Atemzüge hoben und senkten die Brust des Schläfers. Hinter den geschlossenen Lidern des Mannes zuckte es, als ob er Bilder verfolge.

Der Mann hatte braunes Haar, ein gut geschnittenes, männliches Gesicht und ein energisches Kinn. Er war es gewohnt, schnelle Entscheidungen zu treffen.

Sein Name war Ches Morgan.

Aber, war er auch Ches Morgan?

Drei Sekunden lang hielt die Gestalt den Atem an, ganz von einem Gedanken erfüllt. Ich bin nicht Ches Morgan!, dachte er. Ich bin Björn Hellmark! Ich lebe auf der Erde, im zwanzigsten Jahrhundert, und ich träume davon, ein Mann zu sein, der im vierundzwanzigsten Jahrhundert lebt! Dieser Mann ist Ches Morgan, aber diesen Mann gibt es nicht! Er ist eine Traumgestalt! Ich werde gleich aufwachen ... Gott sei Dank, ich werde gleich aufwachen ... dann werde ich Carminia sehen, werde auf Marlos sein, bei Rani und Pepe ... aber nein. Das ist ja gar nicht möglich! Ich bin nicht mehr auf Marlos, ich habe den Spiegel der Kiuna Macgullygosh passiert und bin auf der anderen Welt angekommen, einer Welt, auf der die Stadt Tschinandoah liegt ... die ein Geheimnis birgt, eine Botschaft, die Molochos Kräfte schwächen wird ... aber ich bin zu spät gekommen. Die Erlebnisse mit Tamuur, dem Scharlachroten, haben einen entscheidenden Fortschritt vereitelt, denn Tamuur ist grausam und tut den Willen Molochos' und Rha-Ta-N'mys. Danielle ...!

Die hübsche, kleine Französin, Tochter des Comte de Noir, fiel ihm plötzlich ein. Er sah ihre dunklen, lieblichen Augen vor sich, ihre schön geschwungenen, feucht schimmernden Lippen ... Danielle ... auf der Welt der Hexendrachen hatte sich ihre Wandlung vollzogen. Sie war eine Hexe, weil ihr Vater sie einem Dämonenfürsten zur Frau versprach. Als Gegengabe erhielt er magische Kräfte und Macht über die Menschen. Aber in der Stunde seines Todes erkannte er die gefährliche Sackgasse, in die er sich und seine Tochter gelotst hatte. Er selbst konnte sein Schicksal nicht mehr verändern. Aber er wollte nicht, dass seine Tochter, für die er Schönheit und ewige Jugend erreicht hatte, für alle Zeiten der Willkür der finsteren Mächte ausgesetzt war. Er brach sein Versprechen und handelte sich damit einen Bannfluch ein. Danielle de Barteauliee konnte nicht mehr getötet werden, aber die höchste Dämonengöttin, Rha-Ta-N'my selbst, hatte sie dennoch in ihrer Hand. Sie forderte Björn Hellmarks Leben. Mehr als einmal unternahm die Französin den Versuch, ihren Begleiter im Schlaf umzubringen. Aber sie schaffte es nicht, den letzten Schritt zu tun. Im Grund ihres Herzens war sie nicht schlecht, war sie keine Hexe. Die Liebe zu Björn Hellmark hatte die letzten Spuren verwischt, was ihren Gehorsam gegenüber der Dämonengöttin anbetraf.

Wie ein Film liefen vor seinem geistigen Auge die Dinge ab.

Er war sehr ernst. Das Vergangene war nicht abgeschlossen.

Neue Bilder kamen, und er war mitten drin. Eine sonnenüberflutete Landschaft! Hinter tropischen, fremdartig anmutenden Gewächsen erhoben sich himmelstürmende Berge.

Björn Hellmark sah sich mit einem Schwert bewaffnet, von unheimlichen Echsen umringt.

In seiner Erinnerung stiegen Dinge aus einer noch ferneren Vergangenheit empor. Sein Hirn war frei, sein Empfinden seltsam gelockert, aufnahmefähig für Bilder und Eindrücke, von denen er ebenfalls nicht wusste, ob sie Traum oder Wirklichkeit waren.

Er erlebte das, was er sah, und erblickte die Dinge nicht als Zuschauer. Er war der Akteur. Er war endlich frei von den quälenden Gedanken, von den unnützen Versuchen, herauszufinden, wer er wirklich war und was er eigentlich wollte.

Er stürzte sich in den Kampf. Das Schwert des Toten Gottes wirbelte zischend durch die Luft. Die Fetzen flogen ...

Wo der magische Stahl die schuppigen Echsen auch nur berührte, da lösten sich fauchend schwefelgelbe Wolken aus den explodierenden Körpern. Der besondere Stahl vernichtete nur Substanz, die aus dem Reich der Finsternis und Magie kam.

Widersacher aus Fleisch und Blut, die mit den Dämonen gemeinsame Sache machten, oder menschliche Verbrecher, die ihm ans Leben wollten, verletzte das Schwert nur und machte sie kampfunfähig.

Die drei geflügelten Dämonenechsen waren im Nu von dem flinken blonden Mann besiegt, der das federleichte Schwert ohne besondere Anstrengung führte.

Schwefelgelbe Wolken stiegen gegen den finsteren Himmel, der sich über der urwaldähnlichen Landschaft ausbreitete. Heftige Winde zerrten und rissen in den Wipfeln der dichtbelaubten Bäume. Blattwerk wurde davongeweht. Die gelben, stinkenden Wolken zerfaserten, und das geisterhafte Wimmern unsichtbarer Stimmen verebbte.

Der Kämpfer mit dem Schwert war Björn Hellmark alias Kaphoon, der Namenlose. Als solcher hatte er schon mal gelebt in einer fernen Zeit, als Atlantis und Mu und Xantilon in voller Blüte standen, als sich die Priesterkaste spaltete und das Unheil über die Welt Xantilon brachte.

Damals existierte er als Kaphoon, und rund zwanzigtausend Jahre später wurde er wieder geboren. Er erinnerte sich nach einem schweren Autounfall an seine wahre Herkunft. Das Blut der alten Rasse machte sich in ihm bemerkbar, ebenso seine Seele.

Seit er eine Ahnung von der fernen Vergangenheit hatte, wusste er, dass sich vieles von dem, was sich einst ereignete, in der Gegenwart wiederholen würde.

Geheimnisvolle Kräfte waren erwacht. Molochos und seine Schergen lauerten im Unsichtbaren. Die Welt war bedroht, sowohl durch menschlichen Ehrgeiz, durch menschliche Schwächen, wie auch durch die Aktionen der Unsichtbaren. Und das eine war vom anderen oft nicht zu unterscheiden.

Die Dämonen hatten gelernt. Sie traten in neuen Formen und Gestalten auf, erschienen oft auch als schrecklich anzusehende Wesen und gingen auf Seelen- und Menschenfang.

Die Welt hatte ihr Gesicht verändert. In den neonüberfluteten Straßen, den dämmrigen Bars und Spelunken, in den Spielhallen und Vergnügungsstätten, überall in der Welt lauerte das Heer des Molochos ebenso wie in manchem Eigenheim, manchem Hochhaus aus Beton und Glas und Stahl mit den anonymen Wohnungen, in denen Hunderte von Menschen lebten, die einander nicht kannten.

Auch die Entfremdung unter den Menschen war ein Faktor, den sich die Mächte der Finsternis zunutze machten.

Je nach Bedarf spannten sie einzelne ein oder spielten einen gegen den anderen aus. Menschen waren für sie wie Spielfiguren auf einem Schachbrett.

Nur Wenige ahnten etwas. Aber diese Wenigen fanden in der lauten, verblendeten Welt kein Gehör.

Und auch das wiederum machte die Lauernden stark und noch gefährlicher.

Björn Hellmark war einer der Wachen. Und seine Hoffnung war es, noch mehrere gleichgesinnte oder mit besonderen Fähigkeiten ausgestattete Menschen aufzuspüren, um mit ihnen nach Marlos zu gehen und von dort aus den Kampf gegen Molochos und dessen Schergen zu organisieren. Denn Marlos, die unsichtbare Insel zwischen Hawaii und den Galapagosinseln, war tabu für dämonische Aktivitäten jeglicher Art. Von hier aus sollte nach den prophetischen Schriften, die das ›Buch der Gesetze‹ enthielt, eine geistige Erneuerung der Welt möglich sein. Die Weichen allerdings mussten gestellt sein. Nichts war endgültig. Alles war im Fluss, und jederzeit konnten Ereignisse eintreten, die das eine vereitelten und das andere begünstigten.

»Und doch wirst du es nicht schaffen«, sagte da die Stimme aus dem wirbelnden grauen Himmel. Sie klang wie Donnergrollen.

Molochos' Stimme! »Du bist in meiner Hand. Ich bestimme von nun an dein Leben!«

Björn Hellmark warf den Kopf in die Höhe.

Die bizarren Wolken quollen auf. Es schien, als bildete sich über den dichten Wipfeln und palmartigen Blättern aus dem Wolkenmeer eine gigantische, geisterhafte Gestalt, aber der Eindruck täuschte.

Die quellenden Wolkenberge türmten sich lediglich zu einem formlosen, unheimlich aussehenden Gebilde.

»Du bist ein Feigling, Molochos!« Björn Hellmark sprach ruhig und gelassen, obwohl es das erste Mal war, dass sein Erzfeind sich persönlich an ihn wandte. »Zeige dich, stelle dich zum Kampf!«

Grollend klang das abstoßende Lachen und mischte sich mit dem orkanartigen Wind, der den tapferen blonden Mann mit dem Schwert gegen einen Baumstamm trieb.

Pfeifend und brüllend stürzte der Sturm aus dem Himmel, knickte Äste und brach Zweige.

»Zum Kampf stellen? Dass ich nicht lache! Hoho! Hoohooo! Hoo!«, dröhnte es in Björn Hellmarks Ohren. »Das habe ich nicht nötig, Erdenwurm! Mir stehen ganz andere Mittel zur Verfügung, dich in die Knie zu zwingen.«

»Du hast Angst. Du zeigst dich nicht«, brüllte Björn Hellmark in den heulenden Sturm und krallte sich an der rauen Rinde des urweltartigen Baumes fest.

»Angst? Wie kann man vor einem, der verloren ist, noch Angst haben? Die Angst wirst du haben, sobald du vor mir stehst. Bis dahin aber möchte ich mein Spiel mit dir treiben, Dämonenjäger. Du sollst nicht so einfach sterben können wie andere. Mit dir habe ich etwas ganz Besonderes vor. Du sollst all die Leiden kennenlernen, die Molochos' Gehirn sich ausgedacht hat. Wir werden einige Jahre dafür brauchen, um dich alles auskosten zu lassen. Aber das stört mich nicht. Jetzt habe ich Zeit, jetzt kann ich in Ruhe meine Pläne ausführen. Björn Hellmark ist auf Eis gelegt.«

»Ich bin noch sehr lebendig, Molochos! Du bluffst!«

»Ich bluffe? Aber nein!« Die Stimme klang so fürchterlich laut, dass sie den Orkan übertönte, der tobte, und gegen den Björn sich mühsam stemmte. »Du hast das Siegel berührt, und es hat dich verzaubert. Du wirst niemals mehr der sein, der du warst.«

Das Siegel?

In Björns Bewusstsein entstand Aufruhr.

Da war doch etwas gewesen? Und plötzlich fiel es ihm wieder ein ...

Das Blutsiegel des Molochos!

Das Blutsiegel war gigantisch, war ein Ozean, und dieser Ozean nahm ihn auf. »Du hast berührt, was ich berührte. Damit bist du mein, bist mein Sklave. Ich kann mit dir machen, was ich will. Immer und überall, Björn Hellmark! Hohooo! Hoho! Hooh!«

Ein Titan schien zu lachen. Der Himmel erzitterte, das Wasser erbebte, die Flutwelle, die ihn in die Tiefe trieb, war ungeheuerlich.

Er kam sich vor wie ein welkes Blatt, das die Elemente mit sich wirbelten.

Björn Hellmark überschlug sich und merkte, dass er das Schwert losließ, das sofort davongetragen wurde.

Unzählige Stimmen drangen an seine Ohren. »Uuuaaa, uuuaaahoocoo, unuaaa ...« Ein Gesang der Dämonen, schaurig und gänsehauterzeugend.

Gesichter tauchten auf. Finstere Antlitze, glühende Augen, blutbesudelte Hände, die nach ihm griffen ...

Das hatte er doch alles schon mal erlebt, war Wirklichkeit gewesen ... und diese Wirklichkeit wiederholte sich nun!

Molochos hatte im Blutsiegel Zeit und Raum und Schicksale gefangen. Die Seelen der Menschen, die ihm im Blutsiegel begegneten, waren wie aufgescheuchte Vögel, die keine Ruhe mehr fanden.

Alles, was Menschen je durch Molochos zugestoßen war, hatte seine Spuren hinterlassen, war hier auf dämonische Weise aufgezeichnet, lebte und wirkte weiter.

Er begriff das in seiner ganzen Tragweite, und Grauen erfüllte ihn.

Auch ihm war das furchtbare Siegel, das auf der Welt der Grauen Riesen deponiert war, aufgedrückt worden. Nun musste er mit ihm leben ...

Aber er hatte sich erinnert! Endlich! Sein Traum als Ches Morgan war endlich vorbei, er war wieder Björn Hellmark.

Das war schon viel.

Molochos bluffte. So sicher war sein Sieg keinesfalls. Sein Zugriff war nicht hundertprozentig gewesen.

Ein rauschender Wasserfall prasselte dunkelrot auf ihn herab.

Dann befand er sich in einer dunklen Höhle. Nur noch Rauschen. Eine Stimme von weit her sagte: »Ches! Verdammt noch mal, was ist denn los?«

Die Stimme kam ihm vertraut vor.

»Schlafen, Frankie?«, fragte er leise. Er schüttelte den Kopf. »Wie kommst du darauf? Außerdem, warum nennst du mich Ches? Ich heiße Björn ... Björn Hellmark!«

»Du träumst, Ches!«, sagte die Stimme mit Überzeugungskraft. »Was soll der Unsinn?!«

Björn Hellmark seufzte.

Ein Quadrat mit farbigen Nebeln befand sich direkt vor seinen Augen. Die Dunkelheit zu beiden Seiten seines Blickfeldes wich langsam aber ständig zurück.

»Ich träume, richtig, Frankie. Dich gibt es ebenso wenig wie es diese Kabine hier gibt, wie den Bildschirm, der uns einen Ausschnitt aus Raumsektor RS 46 zeigt. Das alles ist ein Traum ...«

»Du bist krank, Ches«, sagte der kleine Mann in der metallicgrünen Kombination. »Du hättest Oberst Mechinko sagen sollen, dass du dich nicht wohl fühlst. Seit dieser Geschichte mit der kosmischen Wolke bist du nicht mehr auf dem Damm ...«

»Das ist es nicht, Frankie.«

»Du machst mir Angst, Ches ... Hier, greif' mich an und überzeuge dich davon, dass es mich tatsächlich gibt.«

Der Mann am Steuerpult des kleinen Raumschiffes streckte seine Rechte aus und packte den kleinen Mann in dem metallicgrünen Anzug, der das Emblem der Vereinten Nationen der Erde trug, fest am Oberarm.

»Na?«

»Ich fühl dich, Frankie ...«

Morgan wandte den Kopf. Er blickte auf den Mann an seiner Seite. Frankie Lane! Eine Phantasiegestalt? Ein Mensch aus Fleisch und Blut? Er glaubte, eine richtige Ahnung zu haben. »Es ist schon wieder besser, Frankie. Eine kleine Schwäche. Ich sollte wirklich eine Sonderuntersuchung ins Auge fassen.«

Der Mann, der das sagte, war Ches Morgan, Björn Hellmarks Traumgestalt, wie er meinte. Das also war die Rache des Dämonenfürsten Molochos! Björn Hellmark sollte nicht mehr wissen, was Traum, was Wirklichkeit war.

Der Fall um das Blutsiegel hatte Ereignisse ausgelöst, die jenseits aller Vernunft zu liegen schienen. Manchmal kam Björn Hellmark sich schizophren vor, weil er im Spiegel ein anderes, fremdes Gesicht vor sich sah, eben das Gesicht jenes Inspektors Ches Morgan.

Und dann fragte er sich: Ist mein Leben als Björn Hellmark ein Traum, oder ist es das des Mannes Ches Morgan?

Nur einer hätte jetzt die Antwort darauf gewusst, aber der zeigte kein Interesse, dies zu tun: Molochos. Er hüllte sich in Schweigen und ließ den Mann vor dem Schirm mit seinen quälenden Gedanken allein.

Der Traum von dem Raumschiff, das Nummer Neun hieß und von einem gewissen Ches Morgan gesteuert wurde, der sich in Begleitung eines rundlichen, zwei Köpfe kleineren Mannes befand, ging weiter.

Morgan blickte an sich herunter. Er trug einen eng anliegenden, kupfermetallicfarbenen Raumanzug, der ihn als Inspektor des AD auswies, der im Auftrag von Oberst Mechinko Sektor RS 46 sondieren sollte.

Er wusste auch, weshalb. In diesem Abschnitt war ein Funkspruch geortet worden. Allerdings sehr schwach. Das wäre unter normalen Umständen nicht unbedingt etwas Außergewöhnliches gewesen.

Aus Sektor RS 46, das lag zwischen Erde und Mars, kamen oft Funksprüche. Ganz normale Routinemeldungen.

Aber was man in der Zentrale aufgefangen hatte und was die Besatzung der Nummer Neun klären sollte, konnte man nicht als normal bezeichnen. Die Meldung kam von einem Siedlerschiff, das vor genau hundertfünfzig Jahren spurlos zwischen Erde und Mars verschwand.

Ein Traum von einem Raumschiff, das er befehligte! Wie kam er eigentlich dazu? Es gab dafür keine Erklärung. Er war gezwungen, das Leben eines gewissen Ches Morgan zu führen, der der Held einer neuen Zeit war.

Vielleicht war er ganz und gar auch dieser Ches Morgan, und alles, was er bisher gewesen zu sein glaubte, war in Wirklichkeit der Traum von einem gewissen Björn Hellmark gewesen, die Erinnerung an einen gewissen Kaphoon ...

Dieses Durcheinander, diese Ratlosigkeit und Verwirrung war gewollt, war ein Teil der Rache des Dämonenfürsten.

Mit dem Eintauchen in das Blutsiegel hatten die Merkwürdigkeiten begonnen. Soviel wusste er nun. Er war in der Lage wie einer, dessen Bewusstsein gespalten war: zwei Rollen gleichzeitig zu bedenken. Aber er stellte in seinem Aussehen nur eine Persönlichkeit dar. Seine Identität war mit der Ches Morgans völlig eins geworden. Sein Traum war demnach stärker als die Wirklichkeit, in der er noch immer sein musste.

Er bemühte sich, ganz intensiv wieder an seine Rolle als Björn Hellmark oder Kaphoon zu denken und die Bilder zurückzurufen, die eben noch so intensiv und leuchtend vor seinen Augen standen.

Aber das gelang ihm nicht. Er schaffte es auch nicht, sich in das Blutsiegel zurückzudenken, das er seinem Gefühl nach nun schon zum zweiten Mal passiert zu haben glaubte.

Bestand es aus mehreren Schichten? War es sein Schicksal, verschiedene Erfahrungen im Sinne des grausamen, menschenfeindlich eingestellten Molochos zu machen, um nach den angedrohten tausend Qualen schließlich durch Molochos' eigene Hände umzukommen?

Seltsam, dass ihm gerade dieser Gedanke kam.

Er sagte nichts und riss sich zusammen, um so zu sein, wie man es von Inspektor Ches Morgan erwartete. Wie es auch sein uriger Freund und Begleiter erwartete. Seine Überlegungen aber, die das Blutsiegel betrafen, ließen ihn von nun an nicht mehr los. Er hatte das Gefühl, im wahrsten Sinn des Wortes in einen Strudel gerissen worden zu sein, von dem er nicht wusste, wohin er ihn zerrte. Im Mahlstrom der Ereignisse ging sein Leben als Ches Morgan weiter, obwohl er nicht Ches sein wollte.

»Da ist es!«, riss Frankie Lanes Stimme ihn aus dem Nachdenken.

Auf dem Schirm zeigte sich ein Raumschiff, das sich silbergrau von der ewigen Schwärze des Alls abhob.

Beim Näherschweben der Nummer Neun war zu erkennen, dass das Raumgefährt mittschiffs aufgerissen war, als ob dort eine Bombe explodiert sei.

Und selbst der Gedanke daran, dass dies nur eine so intensive Halluzination sein konnte, dass sein Körper und sein Geist sich nicht dagegen wehren konnten, nützte nichts mehr, als es geschah.

Die Nummer Neun ließ sich plötzlich nicht mehr manövrieren. Sie reagierte nicht auf die gröbsten Einstellungen.

Das deltaförmige Flugschiff wurde mit unwiderstehlicher Gewalt auf das alte, graue Raumgefährt gezogen, genau auf das riesige, aufgerissene Loch zu, dessen gezackte Ränder plötzlich in einem wilden Licht zu glühen begannen.

»Tu doch etwas, Ches! So tu doch was, verdammt noch mal!« Frankie Lanes Stimme überschlug sich.

Morgans Finger lagen reglos auf den dunkel glimmenden Armaturen.

»Was ist denn los mit dir? Ches!?« Lanes Stimme zitterte. »Warum tust du denn nichts, warum stehst du nur da wie ein Ölgötze?« Die Stimme drückte die ganze Angst und Verzweiflung aus, unter der sein kleiner, dicker Begleiter stand.

»Ich kann nichts tun, Frankie«, hörte er sich automatisch sagen. »Die Elektronik gehorcht nicht mehr den Steuerungsimpulsen.«

Es war plötzlich so unheimlich schwer, sich vorzustellen, dass der Mensch hier in dieser kleinen Kabine neben ihm nur eine Traumgestalt sein konnte.

Er hörte ihn atmen und sah sein Gesicht so dicht vor sich, dass ihm nicht die kleinste seelische Regung in dem Blick und dem Antlitz seines Gegenübers entging.

Schweiß perlte auf Frankie Lanes Stirn, Schweiß auf seiner eigenen.

Unaufhaltsam glitten sie auf das riesige Loch zu, und je näher sie dem lautlos durch das All schwebenden Wrack kamen, desto weniger nutzte die Vorstellung, dass er gar nicht Ches Morgan war.

Natürlich war er Morgan, er war versetzt worden in einen anderen Körper, den er nach und nach begreifen lernte. Solange er zurückdenken konnte, war er Ches Morgan gewesen. Er hielt sich seine Vergangenheit vor Augen, die Menschen, mit denen er während der letzten Jahre zu tun gehabt hatte, sein Elternhaus, die Jahre auf der Raumakademie ...

Das alles war doch keine Einbildung, kein Hirngespinst!

Eher war das Gegenteil der Fall. Er hatte schon mal gelebt, und das, was sich während der letzten Wochen und Tage in ihm regte, war ein Teil der Erinnerung eines anderen Lebens, das er schon mal durchgemacht hatte.

Oder, er wurde wahnsinnig. Schizophrene Zustände!

Er presste die Lippen aufeinander und ließ sich die Erregung, unter der er stand, nicht anmerken. Konzentriert starrte er auf den Metallkoloss, der vor ihnen im All schwebte. Die ausgezackten Ränder in dem Wrack glühten dunkelrot bis weiß, und heiße Dämpfe lösten sich von dem Schiff, trieben in den Kosmos und verflüchtigten sich.

Die Nummer Neun, Ches Morgans vollendeter Raumgleiter, trieb ohne Steuerung auf das hundertfünfzigjährige irdische Raumschiff zu, das schon nicht mehr die typische Raketenform der ersten Flugkörper aufwies. Kugeln und dicke Verbindungsarme, die mit dem plumpen, länglichen Hauptkörper verbunden waren, machten das Schiff eher zu einer großen technischen Station als zu einem schnittigen Raumschiff.

Dieses Gefährt war im All zusammengebaut und eingerichtet worden. Die Menschen, die sich seinerzeit dazu entschlossen, an dem Siedlungsprojekt teilzunehmen, waren mit Raumschiffen zu dem Schiff gebracht worden, das sich schließlich vollbesetzt auf den Weg zum Mars machte.

Nach einem Flug von nur sieben Tagen verschwand das riesige Siedlerschiff, und man hörte nie wieder etwas von ihm ...

All das wusste er aus der Historie der Raumfahrt. Das konnte doch kein Traum sein. Er war informiert und hätte darüber einen Vortrag halten können, so detailliert war sein Wissen.

Wenn alles vorüber ist, werde ich einen Arzt aufsuchen, nahm er sich vor, ohne einen Blick auf Frankie Lane zu werfen. Der sollte und durfte nicht merken, wie es wirklich in ihm aussah. Obwohl es wahrscheinlich kaum möglich war, hier Theater zu spielen. Lane begleitete ihn schon zu lange, als dass einer dem anderen noch etwas vormachen konnte.

Auch das war es wieder ... dieses ungute Gefühl, das aufkam, wenn er sich die Vergangenheit vor Augen hielt ... da gab es nichts, was erst gestern oder vor einer Woche begonnen hätte. Seine Existenz in diesem Zeitalter hatte Tiefe, hatte Geschichte, war verflochten mit tausend Erlebnissen und Abenteuern, war gewachsen ...

Also war alles, was er vorhin in einer träumerischen, beinahe tranceähnlichen Anwandlung erlebte, nicht wahr ... konnte einfach nicht wahr sein ...

Und nun weg, weg von diesen quälenden, sezierenden Gedanken, die Kraft und Aufmerksamkeit erforderten! Das, was hier geschah, brauchte seine Entscheidung, nicht das, was in seinem Hirn pochte und sich gewaltsam Raum schaffte.

Die Nummer Neun schwebte immer langsamer auf das riesige Wrack zu und glitt schließlich mit der gleichen Geschwindigkeit durch den Raum, so dass es den Anschein erweckte, als liege das Raumschiff Ches Morgans bewegungslos neben ihm.

Sie starrten beide in das von glühenden Zacken umgebene Loch, das aussah wie der Eingang in eine unheilvolle, unbekannte Welt. Dahinter war nichts zu entdecken, außer pulsierendem Dunkel, außer einer Finsternis, die undurchdringlicher war als die Schwärze des Raumes, der nun nicht mehr in ihrem Blickfeld lag, weil das gigantische Wrack die Sicht vor ihnen völlig ausfüllte.

Die Nummer Neun hatte ihre Geschwindigkeit der des Wracks angepasst, und damit war die Bewegung auf das fremde Objekt zu offensichtlich aufgehoben.

Welche Kräfte wurden hier wirksam?

Gab es etwas in dem Schiff, das ihre Annäherung bemerkt hatte, oder ging von dem Wrack etwas aus, was seinerzeit die Besatzung und die Passagiere so plötzlich vernichtet hatte, dass der Funker nicht mal mehr einen Notruf hatte absetzen können, und das nun auch sie bedrohte?

Denn die Funkapparaturen der Nummer Neun sprachen ebenso wenig auf eine Reaktion an wie der Antrieb und die Steuerung. Die Nummer Neun verfügte lediglich über ein Minimum jener Energie, die ihr sonst zur Verfügung stand. Die Notbeleuchtung brannte, und die Fernsehanlagen waren so weit in Ordnung, dass sie sich in unmittelbarer Nähe über ihre Umgebung informieren konnten.

Die übrige Energie schien während der Annäherung an das Wrack aufgesogen worden zu sein wie unendliche Mengen Wasser von einem Schwamm unvorstellbarer Größe.

»Ches!«, gurgelte Frankie Lane da, und seine Augen wurden groß wie Untertassen. »Da ... da ...!«

Es hätte der Worte des Freundes nicht bedurft. Morgan erblickte es im gleichen Augenblick, und sein Herzschlag stockte. Was er sah, konnte nicht sein!

Aus der tiefen pulsierenden Dunkelheit des Loches mittschiffs des Wracks schwebte eine leuchtende Gestalt auf sie zu.

Eine Frau in einem wehenden, mit weiten Ärmeln versehenen Gewand kam ihnen lautlos und schwerelos entgegen. Die Schöne trug weder einen Raumanzug noch einen Helm, der sie vor der unbarmherzigen Kälte und dem Vakuum geschützt hätte!

1. Kapitel

Sie hatten der Welt, auf der sie seit langer Zeit gefangen waren, einen Namen gegeben: Formicatio – die Welt der Ameisen.

Wie lange die Menschen schon hier unten in der Dunkelheit der labyrinthischen Gänge lebten, vermochten sie selbst nicht mehr zu sagen. Zuviel Zeit war vergangen.

Es gab unzählige Höhlen und Gänge, und schon lange hatten die einzelnen Gruppen sich aufgeteilt. Keine wusste mehr etwas von der anderen.

Aber wie die drei Freunde – Joe Maclen, Hay Stevens und Janita Mooney, die dreiundzwanzigjährige Biologin – waren wahrscheinlich die meisten in kleinen Gruppen zusammengeblieben und hatten eine Möglichkeit zur Flucht gesucht.

Der eine oder andere hatte sie wahrscheinlich auch ausprobiert. Aber war sie auch gelungen? Joe, Hay und Janita wussten es nicht. Sie bezweifelten es.

Sie konnten sich in dem riesigen unterirdischen Reich frei bewegen, aber in der zurückliegenden Zeit war es ihnen nicht ein einziges Mal gelungen, bis an die Oberfläche der unbekannten Welt vorzudringen, auf der sie festgehalten wurden.

Riesenameisen, ganz offensichtlich Halbintelligenzen, die diesen fremden Planeten beherrschten, bemächtigten sich ihrer auf unerklärliche Weise und hielten sie gefangen wie Tiere.

Von Zeit zu Zeit erhielten sie auf primitiven Schalen eine klebrige Speise, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Honig hatte und herb-süß schmeckte.

Nach dem Genuss dieser Speise fühlten sie sich stets gekräftigt und frisch. Denjenigen, die sie hier festhielten, kam es offenbar nicht darauf an, sie sterben zu lassen. Sie hielten sie als Gefangene. Aber weshalb?

Anfangs hatte Joe Maclen, der Älteste der Gruppe, in dem unterirdischen, ewig dämmrigen bis dunklen Verlies, die Tage gezählt und notiert. Ihre Armbanduhren hatte man ihnen nicht abgenommen.

Woche um Woche verging, Monat um Monat. Nachdem die ersten Aufregungen und das Entsetzen sich gelegt hatten, kamen die Langeweile und die Lethargie.

Ein Tag reihte sich an den anderen und überbot den Früheren in seiner Langeweile. Es wurde ein Jahr daraus, es vergingen zwei, fünf ... zehn ...

Sie wurden älter. Aber dann machten sie eine erschreckende und erstaunliche Entdeckung an sich: Hier unten im Dämmerlicht der Ameisenbauten alterten sie nicht!

Hing das mit der Atmosphäre dieser fremden, unbekannten Welt zusammen, oder mit der Speise, die man ihnen regelmäßig vorsetzte und die sie nach anfänglichem Widerwillen schließlich doch zu sich nahmen?

Niemand wusste es. Aber an dem Erfolg bestand überhaupt kein Zweifel. Nachdem sie anfangs die Jahre verfolgten, erlahmte schließlich das Interesse. Sie hatten ihr Schicksal angenommen. Waren seit jenen Tagen, als die Good Will zum Mars startete, inzwischen fünfzig der hundert Jahre vergangen?

Genau genommen interessierte sie das schon gar nicht mehr.

Sie selbst waren unverändert, und das musste eine Bedeutung haben. Sie hatten eine Welt des ewigen Lebens entdeckt, die biologische Uhr stand still. Aber von der Schönheit eines langen und vor allem jugendlichen Lebens hatten sie nichts, solange sie Gefangene einer Rasse waren, mit der eine Kommunikation offensichtlich überhaupt nicht möglich war.

Trotz der langen Zeit ihrer Anwesenheit war der Funke, der sie zur Flucht anstachelte, noch nicht erloschen. Gerade die Tatsache, dass sie nicht gealtert waren, dass sie im Vollbesitz ihrer jugendlichen Kräfte waren, machte dies umso leichter.

Besonders Janita, die Biologin, hoffte das Geheimnis ihres Lebens zu enträtseln und die Kenntnisse vielleicht auf irdische Maßstäbe zu übertragen.

Ewiges Leben! Was für eine Vorstellung ... Hier irgendwo im Kosmos war eine Selbstverständlichkeit, was sich Menschen seit Anbeginn wünschten.

Joe Maclen, der auf der Good Will als Reporter mitgereist war, und Hay Stevens, ein junger abenteuerlustiger Mann ohne Familie, der auf dem Mars ein von der Regierung zur Verfügung gestelltes Stück Land bewirtschaften wollte, waren seinerzeit auf Janita gestoßen, die sich mutterseelenallein in einem der tausend Höhlengänge aufhielt und die Riesenameisen bei der Arbeit beobachtete.

Drei fremde Menschen waren seitdem Tag für Tag zusammen geblieben. Das Schicksal hatte sie zusammengeschmiedet. Den Plan, den sie ausgeheckt hatten, wollten sie gemeinsam zur Ausführung bringen.

Sie warteten eine ganz bestimmte Situation ab.

Immer wieder, so hatte sich in der Vergangenheit gezeigt, traten Ereignisse ein, die die Bewohner dieser Höhlen und Gänge in helle Aufregung versetzten. Dann stürmten die Soldaten mit den großen Köpfen nach draußen, dann wurden die Bruthöhlen mit Wächtern besetzt und die kostbare Nachkommenschaft vor Schaden behütet. Die Zugänge zu der Höhle, in der die Königin des Stammes lebte, waren dann hermetisch abgesperrt, während vor den Eingängen zur Oberwelt die Kämpfe tobten.

Da dies in der Vergangenheit des Öfteren vorgekommen war, hatten die drei Menschen aus den Situationen gelernt. Nach und nach arbeiteten sie sich während der Kampfaktionen in andere leere Höhlen vor, und sie stellten fest, dass nicht nur die Ameisen, die etwa fünfmal so groß waren wie ein Mensch, die steilen, glatten Wände hochgehen konnten, sondern dass auch sie, die Menschen, dazu imstande waren. Denn unmittelbar unterhalb der Zu- und Ausgänge gab es große Stufen, die grob in das harte Erdreich gestanzt waren. Die Stufen waren sehr hoch und nicht für menschliche Beine geschaffen. Man musste sie mühsam erklimmen und war dabei auf die Hilfe eines anderen angewiesen. Aber die Möglichkeit, in höher gelegene Höhlen und Gänge zu kommen, die während unbekannter Kampfaktionen draußen verlassen und unbesetzt waren, bestand. Sie hatten das schon mehrere Male durchexerziert und kamen dabei erstaunlich weit. Einmal, vor nicht allzu langer Zeit, erreichten sie fast die Oberwelt, sahen das trübe Licht eines fremden Tages einer anderen Welt, aber sie mussten zurückkehren, da die Wächter und Soldaten und Arbeiter kamen und die Gefahr bestand, dass sie überrannt wurden. Erst in letzter Minute war es ihnen gelungen, sich in einer dunklen Höhle zu verkriechen, in der man sie einfach ignorierte.

Die Riesenameisen, die sie hier aus unerfindlichen Gründen festhielten, hatten natürliche Feinde. Es war gut, das für den Fall einer eventuellen Flucht zu wissen.

Für diese entscheidende Stunde, die einen neuen Abschnitt in ihrem Leben darstellen sollte, hatten die drei Freunde alles vorbereitet.

Ihr Warten war nicht vergebens.

Da einer von ihnen absichtlich immer wachte, wenn die anderen schliefen, würden sie von nun an mehr Zeit zur Verfügung haben, sobald jenes Ereignis eintrat, auf das sie warteten.

Sie hatten Zeit. Sie hatten sich an das Warten gewöhnt. Und die Stunde, die sie herbeisehnten, kam!

Janita Mooney war wach.

In der dämmrigen Höhle lagen ihre beiden Freunde auf einem weichen Strohlager, das regelmäßig von den Arbeiterameisen erneuert wurde.

Janita blickte zu dem Erdloch empor, das aus dieser Höhle führte und in eine andere mündete. Dort oben flackerte fahler, rötlicher Schein ...

Feuer!

Die Riesenameisen kannten dieses Element und nutzten es. Sie waren keine reinen Tiere mehr, konnten freie Willensentscheidungen treffen, und in ihren Gehirnen ging etwas Menschliches vor, auch wenn ihre Körper dem Tierreich zuzurechnen waren.

Nicht überall im Kosmos war die Entwicklung des Lebens in der gleichen Richtung verlaufen. Allein die Vielfalt der Lebensformen auf der Erde zeigte schon, welche Schöpfungskraft das All hervorgebracht hatte, welche Gestalt das Leben annehmen konnte.

Riesige, bizarre Schatten passierten das Loch oberhalb ihres Blickfeldes. Janita sah die gewaltigen Beine, die mattschimmernden Chitinpanzer, auf denen sich das nahe Licht spiegelte.

Raschelnde Geräusche ... Die Kolosse bewegten sich überschnell durch die Gänge, liefen dicht an dicht und berührten sich doch kaum. An den mächtigen Köpfen befanden sich lange, zitternde Fühler. Die großen dunklen Augen glitzerten. Die Fresswerkzeuge befanden sich in mahlender Bewegung.

Die Erregung, die die vorbeieilenden Kolosse befallen hatte, sprang wie ein Funke auf Janita Mooney über. Die junge Biologin mit der Stupsnase und dem kleinen Mund weckte ihre beiden Begleiter. »Da geht etwas vor«, wisperte sie. »Ich glaube, es tut sich was in der Richtung, auf die wir warten ... eines allerdings irritiert mich ... das Signal ... das Signal ist ausgeblieben.«

Mit dem Signal war ein fernes, fauchendes Geräusch gemeint, das immer dann ertönte, wenn dem hier lebenden Stamm eine unmittelbare Gefahr drohte.

Die Luft begann zu zittern. Unter das Dröhnen, das Tausende und Abertausende der massigen Beine der Riesenameisen in den Zyklopenhöhlen verursachten, mischte sich plötzlich ein fernes, kaum wahrnehmbares Fauchen. Es hörte sich an, als dringe es durch zahllose Wände und werde dadurch gedämpft. Die feinen Sinne der Urbewohner dieser unterirdischen Höhlenstätte schienen das Signal schon viel früher aufgenommen zu haben.

Minutenlang standen die drei Menschen eng an die dunkle, nach feuchter Erde und Laub riechende Wand gepresst und harrten der Dinge, die da kommen sollten.

Eine ganze Zeit lang währte die Unruhe und der Vorbeizug Tausender von Ameisenriesen. Dann kehrte Stille ein.

Das war ihre Stunde!

»Los jetzt!«, stieß Joe Maclen hervor. Der siebenunddreißigjährige Reporter sah blass und abgespannt aus. Seine Augen glänzten wie im Fieber. Er lief auf die hohen Treppen zu. Um eine Stufe schnell zu erklimmen, war es notwendig, dass eine Hilfskraft zur Verfügung stand.

Maclen kroch die Stufe förmlich hinauf, wandte sich dann um und griff mit beiden Händen nach unten, um Janita emporzuziehen. Sie eine Stufe höher zu bringen, gelang noch am schnellsten. Dann folgte Hay Stevens.

Es ging alles ziemlich flott, und sie erreichten schon nach wenigen Minuten den Hauptgang, von dem aus viele Wege und Gänge abzweigten.

In höher gelegenen Nischen standen keulenähnliche Fackeln, die ein schummriges, glimmendes Licht warfen.

Die drei Menschen, die nur noch in Fetzen gekleidet waren, liefen den Hauptgang entlang, erklommen die nächsten Stufen und erreichten die nächsthöhere Etage. Hier lagen zum Teil die Bruthöhlen.

Dunkle, bizarre Schatten am Ende des Ganges wiesen daraufhin, dass sich dort die Wächter aufhielten.

Janita und die beiden Männer kamen an einem Höhleneingang vorbei, hinter dem sich drei Wachen drängten.

Die riesigen, glitzernden Augen waren auf die Zweibeiner gerichtet, die langen, zitternden Fühler bewegten sich.

Janita, Joe und Hay beachteten die Riesenameisen gar nicht, die dort hockten. Hinter ihnen dehnte sich eine gewaltige Bruthöhle aus, und die weiß schimmernden Eier leuchteten in der Dunkelheit. Dicht an dicht lagen sie und bedeckten den ganzen Boden. In der Höhle selbst waren Arbeiterinnen damit beschäftigt, die Eier zu lecken und zu drehen. Sie behandelten die wertvolle Nachkommenschaft mit einer Zärtlichkeit und Hingabe, wie sie eine Mutter für ihr neugeborenes Kind nicht stärker aufbringen konnte.

Die Wächter verfolgten die drei Menschen mit ihren Blicken. Aber sie unternahmen nichts. Sie waren es gewohnt, dass die Zweibeiner hier unten Quartiere hatten. Es gab deren viele. Sie sollten hier sein. Die Königin verlangte ihre Anwesenheit. Genauso hatte Janita Mooney auch die Situation begriffen.

Diese riesigen Tiere hatten Intelligenz entwickelt und suchten Kontakt zu anderen Intelligenzen. Menschen waren Fremdintelligenzen. Nur der Weg, wie man diesen Kontakt mit ihnen aufnahm, war ganz offensichtlich noch nicht gefunden. Aber man hatte ja Zeit. Hier auf diesem unbekannten Planeten in einer unbekannten Zeit spielte eben diese Zeit überhaupt keine Rolle. Und wenn es einige Jahrtausende oder Jahrhunderttausende dauern sollte, machte das nichts. Sie selbst würden nach den bestehenden Gesetzen, die sie festgestellt zu haben glaubten, dann ebenfalls immer noch am Leben sein.

Die verschiedenen Etagen waren bis auf wenige Wächter und Arbeiter, die die Gänge sauber hielten, unbesetzt.

Drei Etagen höher kam der Ausgang.

Die drei Menschen waren durch die bisherigen Anstrengungen schon sehr außer Atem.

Von dem oberen Hauptgang aus führten mehrere riesige Löcher, die wie Krater in der Landschaft wirken mussten, hinaus ins Freie.

Mit jeder Stufe, die Janita und ihre beiden Begleiter emporgeklommen waren, war das Geräusch des fauchenden Signals stärker und intensiver geworden. Nun schmerzte es schon in ihren Ohren. Die Luft um sie herum zitterte, und das Geräusch hörte sich an, als ob ein Titan gequält und seine Stimme ächzend und krächzend von einem Orkan herangetragen würde.

Die Luft erbebte, die Wände zitterten. Sand rieselte herab. Die Erde über ihnen dröhnte, und der Kampflärm mischte sich unter den fauchenden Heulton, von dem niemand wusste, woher er kam und was er bedeutete.

Die drei auf der Flucht befindlichen Menschen kauerten hinter dem letzten Vorsprung.

Joe Maclen war derjenige, der einen ersten Blick nach draußen warf. Er schob seinen Kopf vorsichtig aus dem Erdloch. Was er erblickte, ließ seinen Atem stocken: Die Erde vor ihm wimmelte und lebte. Unzählige Riesenameisen bedeckten jeden Quadratzentimeter des fremden Ortes, dem sie den Namen Formicatio gegeben hatten.

Die Erdlöcher mündeten auf einer Ebene, die von riesigen, einzeln stehenden Bäumen in ihrem Gleichmaß unterbrochen wurde.

Die herabhängenden Zweige waren elastisch und erinnerten im ersten Moment an lebende Schlangen, die dort zischend und knallend hin- und herschwangen. Die gummiartigen Tentakel klatschten auf die Körper der Riesenameisen. Hinter den Peitschenschlägen steckte eine enorme Kraft. Wo sie gegen die Chitinkörper schlugen, flogen die Fetzen und wurden aus den Ameisenleibern handgroße Stücke herausgerissen.

Aber die Ameisen bekämpften sich auch selbst. Wie von Sinnen fielen sie übereinander her und zerfleischten sich. Beine wurden abgezwickt, die zuckend auf dem flachen, grauen Boden liegen blieben. Am düsteren Himmel zeigten sich hinter verwehenden Wolkenfetzen tellergroße Flächen, als würden mehrere ferne Monde gleichzeitig ihr krankes Licht auf diese trübe Welt senden.

Chitinpanzer rieben aneinander, Fühler raschelten, halbe Körper bluteten am Boden aus.

Was für ein wahnwitziges Geschehen spielte sich hier ab!

»Was ist denn los? Joe?«, fragte Janita Mooney irritiert, als sie sah, dass Maclen wie erstarrt auf der obersten Stufe lag.

Der schüttelte nur den Kopf, winkte ab nach hinten und war unfähig, einen Kommentar zu geben. Denn da gab es noch mehr, was seine Aufmerksamkeit aufs Äußerste beanspruchte.

Menschen!

Er sah Menschen!

Wie reife Früchte hingen sie in den Kronen der mächtigen Bäume.

Einige hockten auf schwankenden Asten und führten lange, matt schimmernde Schwerter, die sich in dem fahlen Licht kaum abhoben.

Die Schläge saßen.

Wo die rasiermesserscharfen Schneiden aus dem Blättergewirr der Bäume sausten, gab es Tote.

Die Köpfe mancher Soldaten wurden geknackt wie Nüsse. Fühler flogen durch die Luft, und die so gehandicapten Riesenameisen drehten sich wie ein Kreisel.

Die Luft war erfüllt vom Toben und Lärmen und von dem gurgelnden Schrei des Warnsignals, das von irgendwoher aus der nebligen Ferne hinter den Bäumen kam.

Die Vielzahl der Ameisen, die verwirrt aufeinander losstürzten und sich gegenseitig als Feinde bekämpften, brachte es aber mit sich, dass einige doch noch klar sahen und wussten, wo die wirkliche Gefahr steckte. In den Bäumen!

Einige Soldaten waren imstande, sich an den glatten Stämmen aufzurichten und die krallenbewehrten Beine nach vorn in die Krone zu strecken.