Macabros 024: Totenkopfmond - Dan Shocker - E-Book

Macabros 024: Totenkopfmond E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Aufstand der Knochenmonster Anka Sörgensen hat sich auf eigenen Wunsch in eine psychiatrische Anstalt einweisen lassen, nachdem sie gesehen hat, wie ein Bild in ihrer Wohnung lebendig wurde. Dort wird sie fast erneut zum Opfer eines merkwürdigen Anschlags, als ein Baum unvermittelt umstürzt. Dabei hat sie eine neue Vision: Eine junge Frau, die Schauspielerin Tina Marino, begegnet vor ihrem Hotel in London einem lebenden Skelett. Anka und ihr Arzt Thorwald Belman fliegen nach England und kontaktieren Tina Marino. Anka und Tina schließen schnell Freundschaft und beschließen den skelettierten Mann aufzusuchen. Doch dort lauert bereits die dämonische Hexe auf die beiden Frauen, welche bereits in Norwegen mehrfach versuchte Anka zu vernichten. In der Zwischenzeit sucht Rani Mahay im Lande Antolanien in der Burg des Knochenfürsten weiterhin nach dem Amulett, welches die Macht des Schwarzmagiers Tamuur brechen soll. Doch während der Totenkopfmond scheint verändern sich die Skelette in mordgierige Killer. Rani flieht in ein Gewölbe, in das ihm die Skelette nicht folgen können. Dort findet er das Amulett in einem See der dem verleugneten Gott der Antolanier geweiht ist und die letzte weißmagische Bastion bildet. Totenkopfmond Tamuur ist mit Aleana, der Fürstentochter von Ullnak, auf den Totenkopfmond geflohen, von wo er seinen Rachefeldzug gegen den ehemaligen Knochenfürsten Ramdh und Rani Mahay vorbereiten will. Währenddessen suchen der Inder und Ramdh nach einem Weg auf das unheimliche Gestirn, um Aleana zu befreien. Dabei wird Rani von einer spiegelnden Wand aufgesogen und trifft auf Caloton, ein körperloses Wesen, welches nach Tamuurs Geburt, von diesem in einen magischen Schlaf versetzt und vergessen wurde. Caloton hilft Rani auf den Totenkopfmond zu gelangen, wo Tamuur inzwischen auch Fürst Ramdh gefangen hält ...

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DAN SHOCKERS MACABROS

BAND 24

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Fachberatung: Gottfried Marbler

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-724-5

Dan Shockers Macabros Band 24

TOTENKOPFMOND

Mystery-Thriller

Aufstand der Knochenmonster

von

Dan Shocker

Prolog

Die Frau hatte eine ungesunde, graue Gesichtsfarbe, eine spitze Nase, und die Linien um ihren Mund waren tief eingefurcht. Die Fremde kam langsam die Allee entlang. Es dunkelte bereits. Der Himmel war bewölkt, und zwischen den dahinziehenden Wolkenbergen glitzerte hin und wieder ein winziger Stern.

Die Straße war menschenleer.

Nicht mal Autos parkten hier.

Die Allee mündete genau in ein drei Meter hohes Tor, das sich in einer massiven Wand aus dunkelrot gebrannten Ziegelsteinen befand. Die Heilanstalt! Die Frau mit dem grauen Gesicht und den stumpfen, wie leblos wirkenden Augen lächelte hintergründig, je näher sie dem Tor kam.

Hier, rund zwanzig Kilometer von Oslo entfernt, lag eine Heilanstalt für psychisch Kranke. Um diese Zeit hielten sich keine Besucher mehr auf. Die nächste Ortschaft war ein Dorf mit weniger als dreihundert Einwohnern und lag sieben Kilometer entfernt.

Die Frau, die die Straße entlangkam, trug das Haar hochgesteckt. Ein dunkler Mantel lag um ihre schmalen Schultern, die sich knochig unter dem Stoff abzeichneten.

Noch fünf Schritte waren es bis zum Tor, dann stand die Fremde schließlich davor. Sie ließ den Blick nur flüchtig über die Hinweistafel gleiten. Der Klingelknopf und die Sprechanlage, die sie hätte benützen müssen, um den Portier dazu zu bringen, das Tor zu öffnen, interessierten sie überhaupt nicht. Sie streckte die Hände aus und passierte das Tor, als wäre es nicht vorhanden!

1. Kapitel

»Wir stehen vor einem Rätsel, Dr. Belman«, sagte Dr. Gullbrans, die Achseln zuckend. Der breitschultrige Arzt hatte die Figur eines Athleten. »Wir können nichts finden. Alle Tests sind negativ verlaufen.«

»Wenn es um Anka Sörgensen geht, dann wehrt sich jedoch alles in mir, sie als krank im eigentlichen Sinn zu bezeichnen«, erörterte Dr. Belman den Vorfall noch mal detailliert mit dem Nervenarzt, der die Sechsundzwanzigjährige nun seit nunmehr drei Wochen unablässig beobachtete. »Sie behauptet von sich aus, nicht krank zu sein. Mit der Operation sei etwas in ihr gefestigt worden, was sie schon immer als mediale Fähigkeit gefühlt hätte. Nun seien diese Fähigkeiten voll zum Ausbruch gekommen.«

Dr. Thorwald Belman, der in den vergangenen Wochen mehr als einmal mit Dr. Gullbrans telefoniert hatte, verschwieg auch nicht die ersten Gespräche mit Anka Sörgensen. In ihnen hatte sie ihm anvertraut, dass sie seltsame Gestalten, die menschenähnlich waren und bei denen es sich dennoch um keine Menschen handelte, gesehen hätte.

»Da war ein Mann, der nur aus Knochen bestand. Er lebte einsam in einer Burg, die ebenfalls aus Knochen gebaut war. Da existierte in Anka Sörgensens Bericht ein anderer, den sie als vollwertigen Menschen beschrieb und der sogar mit ihr gesprochen hätte. Es handelte sich bei dieser Figur um einen kraftvollen glatzköpfigen Mann. Er hätte Ähnlichkeit mit einem Inder gehabt. Er hat sogar seinen Namen genannt: Rani Mahay.«

Olaf Gullbrans nickte. »Über all diese Dinge habe ich selbstverständlich auch mit ihr gesprochen. Fräulein Sörgensen erwies sich als ausgesprochen mitteilsam und kontaktfreudig. Sie hat sich inzwischen auch damit abgefunden, dass sie anders reagiert als andere Menschen. Es fällt mir schwer, Ihnen zuzustimmen, dass all die Bilder, die uns Fräulein Sörgensen beschrieben hat, nicht auf ein krankes Hirn zurückzuführen sind. Aber ich muss mich den Tatsachen beugen, die allein sind maßgebend.«

»Sie glauben also daran, dass Fräulein Sörgensen über außersinnliche Wahrnehmungen verfügt?«

»Nach dem heutigen Stand der Forschung kann man derartige Dinge natürlich nicht grundsätzlich ausschließen. Obwohl ich persönlich dazu neige, Herr Kollege. Alles ist erklärbar, wenn es vom Organismus her kommt. Und ich glaube eher, dass wir noch viel zu wenig wissen, um hier eine endgültige Aussage zu treffen. Möglicherweise ist Anka Sörgensen doch krank, aber wir erkennen diese Krankheit nicht.«

Dr. Belman seufzte. Diese Gespräche mündeten alle in eines: Skepsis, Ratlosigkeit, Unverständnis. Sobald etwas nicht in ein Schema passte, suchte man krampfhaft nach Erklärungen.

Er, der die Vorfälle um Anka Sörgensen praktisch hautnah miterlebt hatte, war da ganz anderer Ansicht.

Der Fall interessierte ihn nicht nur aus wissenschaftlicher Sicht, sondern auch aus menschlicher.

Er besaß ein persönliches Interesse an der jungen, bildhübschen Osloerin, deren Charme und Art ihm gefielen. Anka Sörgensens Schicksal war fast zu seinem geworden. Seit ihrer Einlieferung in die Heilanstalt, die schnell erfolgt war, verging kaum ein Tag, an dem er sich nicht telefonisch nach dem Befinden der Patientin erkundigte.

Es war jetzt zwanzig nach acht Uhr abends.

Der Park, in dessen Mitte das große Heim stand, strahlte eine angenehme Stille, einen Frieden aus, wie man ihn in den großen Städten nicht mehr fand.

Hier konnten sich strapazierte Nerven erholen.

Die Luft draußen war kalt und klar.

»Wir werden diese Nacht wieder Frost bekommen«, sagte Olaf Gullbrans und löste sich vom Fenster. Er schloss mit dieser Bemerkung das bisherige Thema ab.

Dr. Thorwald Belman hatte sich ebenfalls erhoben. Er schob die aufgeschlagene Akte zurück, in der sie geblättert hatten.

»Sie weiß nicht, dass ich hier bin ... noch nicht, Herr Kollege. Ich hatte ihr versprochen, mich um sie zu kümmern. Dieses Versprechen habe ich auch gehalten. Nur, sie weiß bisher nichts davon. Ich möchte sie gern sehen, wenn es möglich ist ...«

Dr. Gullbrans ließ ihn nicht ausreden. »Aber natürlich! Das ist doch überhaupt keine Frage.«

Dr. Belman lächelte. Er freute sich auf das Wiedersehen. Dr. Gullbrans begleitete ihn über den langen, beleuchteten Korridor.

In den Gängen war es still.

Auf jeder Etage waren ständig zwei Nachtwachen im Einsatz. Die Patienten und Pflegebedürftigen, die hier untergebracht waren, befanden sich in den besten Händen. Es gab eine geschlossene Abteilung, in der sich die besonders schweren Fälle befanden. Diese Patienten standen unter hohen Dosen bestimmter Psychopharmaka.

Der lange Korridor machte einen Knick.

Hier stießen sie auf einen älteren Mann mit schütterem Haar. Er ging mit gesenktem Haupt den Gang auf und ab. Dabei murmelte er unablässig leise vor sich hin, blieb stehen, blickte sich interessiert um, senkte den Kopf wieder und ging dann stirnrunzelnd und murmelnd weiter.

Ein kurzer Blick aus Dr. Belmans Augen traf den Nervenarzt.

Der bemerkte: »Er denkt, er sei Einstein. Ein Gespräch mit diesem Mann fordert Sie übrigens bis an die Grenzen Ihrer geistigen Leistungsfähigkeit, Herr Kollege. Er wirft mit Formeln und Stellungnahmen um sich, dass Ihnen schon nach kurzer Zeit der Kopf raucht. Wer noch nie mit Einstein zu tun hatte, der kann sich das gar nicht vorstellen. Anfangs glaubte ich, es mit einem ganz typischen Fall von Schizophrenie zu tun zu haben. Aber dann musste ich erkennen, dass sämtliche Formeln und Anmerkungen von dem echten Einstein stammten, die dieser Mann übernommen hatte.

Er versucht das Geheimnis des Universums, des Raumes und der Zeit zu ergründen, und er ist überzeugt davon, der Lösung ganz nahe zu sein ... dieser Mann war Professor für Physik an der Universität. Eines Tages lieferte man ihn hier ein, seitdem ist sein Zustand unverändert. Er isst nur mäßig, nimmt regelmäßig ab und läuft stundenlang durch den Gang oder im Kreis in seinem Zimmer herum. Formeln berechnend. Er sucht nach der Wahrheit. Er nimmt nichts einfach so hin. Für seine Umgebung ist er in seiner Besessenheit zu einer Belastung geworden, aber von einem bestimmten Standpunkt aus betrachtet ist er nicht verrückt, sondern erfüllt von einer Idee, die in einem herkömmlichen menschlichen Hirn normalerweise keinen Platz hätte.«

»Genie und Wahnsinn.« Dr. Belman nickte. »Die Trennungslinie ist oft kaum ersichtlich.«

Sie fuhren mit dem Lift drei Stockwerke tiefer.

Dort waren die weniger schweren Fälle untergebracht. Menschen, die unter Depressionen litten, Alkoholiker und andere Suchtkranke, die zur Nachbehandlung ihres Leidens eingeliefert worden waren, und die eine echte Chance hatten, wieder völlig zu gesunden und in die Gesellschaft zurückzukehren.

Hier war auch Anka Sörgensen in einem Einzelzimmer untergebracht. Sie wusste allerdings nicht, dass das Zimmer von einem Arzt oder einer Schwester beobachtet wurde.

Über Ankas Verhalten wurde genau Buch geführt. Es gab nichts Auffälliges. In den drei Wochen seit ihrer Einlieferung hatte sich nichts ereignet, was in irgendeiner Form Anlass zu Besorgnis oder einen Verdacht gegeben hätte.

Sie hatte in dieser Zeit keine Selbstgespräche geführt, hatte niemand um Hilfe gerufen und nicht einen einzigen Anfall von Verfolgungswahn gehabt.

Sie verhielt sich ruhig und nachdenklich. Schien angefangen zu haben, über sich selbst nachzudenken, und eine Lösung gefunden zu haben. Offenbar war es ihr auch gelungen, einen gewissen Abstand zu den Dingen zu gewinnen, die sie bisher vermutlich quälten.

Dr. Gullbrans führte Dr. Belman stillschweigend in einen Nebenraum. Der war wie ein kleines Büro eingerichtet. Eine Schwester hielt sich dort auf.

Dr. Gullbrans ging sofort zur gegenüberliegenden Wand, die an das Zimmer Anka Sörgensens grenzte. Er verschob ein Bild, und ein Guckloch wurde frei.

Bevor er einen kurzen Blick hineinwarf, ließ er Dr. Belman den Vortritt. Den berührte es eigenartig, die Frau, die er liebte und der er seine Liebe bisher nicht eingestanden hatte, auf diese heimliche Weise zu beobachten. Das Ganze weckte seltsame Gefühle in ihm, aber er sah ein, dass es aufgrund der Ereignisse einfach notwendig war, ständig über Anka Sörgensens Verhalten unterrichtet zu sein, zu ihrer eigenen Sicherheit.

Anka saß in einem gemütlich eingerichteten Zimmer. Persönliche Bilder hingen an der Wand, und die geliebte Schallplattensammlung stand zu ihrer Verfügung. Alle Dinge, mit denen sie sich selbst hatte umgeben wollen und die in dem Zimmer unterzubringen waren, waren aus ihrer Wohnung gebracht worden.

Anka hörte Musik. Im Raum brannte eine kleine Lampe, und die junge Frau mit dem lieblichen Gesicht saß zurückgelehnt im Sessel und lauschte den leise verwehenden Klängen.

Ein stilles, beinahe romantisches Bild!

Thorwald Belman konnte den Blick nicht von dem schönen, edel geschnittenen Gesicht mit den langen, seidigen Augenwimpern und den sanft geschwungenen Lippen wenden.

Anka wirkte gesund und frisch und machte keineswegs den Eindruck einer psychisch gestörten Frau.

Dr. Belman schob das Bild wieder vor das Beobachtungsloch, und sein Blick begegnete dem Dr. Gullbrans.

Drei Minuten später klopfte er an die Tür nebenan.

»Ja?«, fragte Anka verwundert.

Er trat ein.

»Dr. Belman?«, wisperte sie. Ihre Augen wurden groß wie Untertassen. Sie erhob sich und zupfte ihre Bluse zurecht, obwohl es da gar nichts zurechtzuzupfen gab.

Der Arzt lächelte und reichte ihr die Hand. »Ich habe einen Kollegen besucht« meinte er, nur halb den Grund seiner Anwesenheit nennend. »Da habe ich mir gedacht, ich werf mal schnell einen Blick zu Ihnen rein. Vergebens habe ich in der Zwischenzeit gehofft, von Ihnen auf irgendeine Weise eine Nachricht zu erhalten.«

Sie senkte ihre schönen blauen Augen.

»Wir hatten eine Abmachung getroffen, Fräulein Sörgensen. Was immer auch sein sollte, Sie wollten mich informieren.«

»Ich weiß«, erwiderte sie leise. »Aber ich wollte Sie nicht belästigen.«

»Belästigen? Würde ich Ihnen den Vorschlag machen, sich an mich zu wenden, wenn es eine Belästigung für mich bedeutete?«

»Nein, sicher nicht.«

»Na, sehen Sie!«

»Es war sehr viel, was nach der Entlassung auf mich zukam.«

Er nickte. »Ich weiß. Ich habe es in der Zeitung gelesen. Leider erst viel später«, fügte er schnell hinzu. »Sonst hätte ich Sie schon früher gefunden.«

»Vielleicht war es ganz gut so, dass Sie es erst später erfuhren. So hatte ich Zeit, über alles nachzudenken. Sie wissen, dass ich nicht verrückt bin.«

»Ja, ich weiß es. Haben Sie Lust zu einem kleinen Spaziergang durch den Park? Die Luft draußen ist herrlich. Beim Spazierengehen lässt es sich leichter plaudern.«

Sie war von seiner plötzlichen Idee sehr angetan und nahm ihre Pelzjacke aus dem Schrank. Dr. Belman war ihr behilflich beim Hineinschlüpfen.

Sie verließen das Anstaltsgebäude. Die Wege waren glatt und sauber, überall gab es Bänke zum Verweilen. Aber die benutzten sie nicht.

»Anfangs begriff ich überhaupt nicht, wie mir geschah«, begann sie plötzlich zu erzählen. »Einlieferung in eine Irrenanstalt ...«

»So kann man es wohl doch nicht nennen, Fräulein Sörgensen.«

»Doch, so kann man es ruhig nennen. Es macht mir auch gar nichts aus. Hier unter all diesen merkwürdigen Menschen hab' ich angefangen, über mein Los nachzudenken. Ich möchte die Erfahrungen, die ich gemacht habe, nicht mehr missen. Ich habe zu mir selbst gefunden. Ich weiß heute mehr denn je, dass ich weder unter Verfolgungswahn noch unter Depressionen, noch unter einer ernsthaften Geisteskrankheit leide. Ich habe mich verändert. Das stimmt! Es begann mit der Operation. Ich machte eine Umwandlung durch. Meine wunderbare Genesung innerhalb eines Tages ist für mich nach wie vor ein Rätsel, wie es für Sie noch eines sein wird. Dann die Einblicke in eine andere Welt. Ich erhalte von dort Botschaften. So sehe ich es jedenfalls. Die Bilder wollen mir etwas sagen, aber ich verstehe ihren Sinn nicht.«

Sie redete sehr freimütig, und Dr. Belman war froh, dass sie ihren dreiwöchigen Aufenthalt in der Anstalt so gut überstanden hatte.

Sie gingen tief in den Park hinein. Die Wolkendecke war geschlossen, kein Stern funkelte am Himmel und zwischen den kahlen Zweigen. Die schmiedeeisernen Laternen am Wegrand verbreiteten romantisches Licht.

Die Luft war klar und kalt.

Beim Ausatmen löste sich eine Nebelfahne von ihren Lippen.

»Was bisher geschehen ist, lässt sich nur so erklären, dass ich etwas gesehen oder gehört habe, was ich nicht hätte sehen oder hören dürfen. Man will mich töten! Alles, was bisher geschehen ist, wurde bewusst gelenkt. Es sollte aussehen wie ein Unfall. Die alte Frau mit der grauen Gesichtshaut, den stumpfen Augen, dem hochgesteckten Haar muss irgendetwas damit zu tun haben, davon lass ich mich nicht abbringen. Sie will meinen Tod. Ich weiß jetzt, was ich in ihren Augen gesehen habe.«

Sie gingen langsam weiter. Anka ließ ihren Blick über die dunklen Stämme hinauf in die Wipfel gleiten.

»Noch eine Frage, Fräulein Sörgensen.«

»Ja, bitte?«

»Während Sie sich in der Behandlung meines Kollegen Dr. Gullbrans befanden – gab es da irgendwann noch mal eine Situation, die Sie an die Ereignisse in der Klinik bei mir erinnerten?«

»Warum fragen Sie danach?«

Er verhielt im Schritt.

Ihre Blicke trafen sich.

»Es könnte doch sein, dass sich die Erscheinungen nur auf die Klinik beschränkten, dass Sie dort aufgrund Ihrer medialen Fähigkeiten Dinge spürten, die es anderswo – zum Beispiel hier – nicht gibt.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Ich habe eindeutige Beweise dafür, dass diese merkwürdigen seherischen Gaben immer und überall auftauchen können, dass sogar meine Träume davon beeinflusst werden.«

Der Duft ihres zarten Parfüms traf ihn. Er wusste plötzlich selbst nicht, wieso es eigentlich geschah.

Er fasste sie zärtlich an den Schultern und zog sie an sich.

»Ich möchte Ihnen gern helfen, möchte mit Ihnen ergründen, was das ist, was Sie spüren, was Sie bedroht, Anka«, sprudelte es über seine Lippen. »Ich möchte Ihnen helfen, weil ich Sie liebe!«

Anka Sörgensen kam zu keiner Antwort. Sein Mund berührte ihre Lippen und verschloss sie. Die junge Frau wehrte sich nicht. Ein leichtes Zittern lief durch ihren Körper. Sie schloss die Augen und fühlte sich geborgen in den Armen dieses Mannes.

Sie erwiderte seinen Kuss. Dann lösten sich ihre Lippen. Anka lehnte den Kopf an seine Schulter und öffnete die Augen.

»Anka«, vernahm sie seine leise, angenehme Stimme wie ein Hauch an ihrem Ohr. »Ich möchte dich von hier fortholen. Es ist überhaupt kein Problem. Niemand hat Grund, dich festzuhalten. Für deine Sicherheit möchte ich von nun an sorgen.«

Um ihre schön geschwungenen Lippen spielte ein Lächeln.

Dieses gefror wenig später auf ihren Zügen.

Thorwald Belman spürte förmlich, wie sich ihr Körper verkrampfte. »Was ist?«, fragte er erschreckt.

Sie schluckte und war nicht gleich fähig zu einer Antwort.

»Thorwald ...«, flüsterte sie mit weit geöffneten Augen. »Die Frau, von der ich dir erzählt habe ... die Alte mit dem Frotteemantel, die ihr vergebens im Krankenhaus gesucht habt, ist wieder da. Wenn du dich langsam umdrehst, wirst du sie sehen. Sie steht genau vor mir!«

Die Uhr von Big Ben schlug zehnmal.

Der hallende Schlag war in der Dunkelheit auch noch am Strand zu hören, jener großen Straße, wo sich gute Restaurants, Hotels und Theater gegenseitig den Rang abliefen.

Nebel herrschte in London an diesem kühlen Wintertag. Die Themse floss träge dahin, und weiße Schleier wallten über den Fluss.

Die Taxis fuhren langsam. Scheinwerfer und Rücklichter bildeten verwaschene Lichthöfe um die dunklen Fahrzeuge, die wie brummende Monster aus dem dichten Nebel auftauchten. Die Fahrer saßen stark nach vorn gebeugt, um besser auf die Straße zu sehen. Stellenweise war der Nebel unmittelbar in Flussnähe so dicht, dass man die Hand nicht vor Augen sah.

Die Fahrzeuge bewegten sich im Schritttempo.

Über die Westminster-Bridge rollte ein Taxi, in dem die Schauspielerin Tina Marino saß. Die junge Italoamerikanerin hielt sich seit einigen Tagen in der Themsemetropole auf.

Tina Marino war sechsundzwanzig und das, was Männer bewundernd als Rasseweib bezeichneten. Sie war Hauptdarstellerin mehrerer harter Westernfilme. Die wilde, Männerherzen zur Verzweiflung bringende Tina schoss, schlug und liebte sich durch die Welt des Wilden Westens.

Die Schauspielerin war schlank, sehr weiblich, und ihre Produzenten verstanden es, ihren Typ zu verkaufen. Dieser gutaussehenden, zigeunerblütigen Frau nahm man einfach alles ab, was sie darstellte.

Tina Marino hatte es geschafft, ihr Publikum in Bann zu schlagen. Kometenhaft war ihr Aufstieg vom unbekannten Sternchen zum Star gewesen. Ein neuer Film wurde in Londoner Studios vorbereitet. Es handelte sich um eine englisch-amerikanische Gemeinschaftsproduktion.

Typisch war eigentlich, dass der Star von einem Schwarm von Begleitern umgeben war. Starke, muskelbepackte Männer, die sie auf eine Absprache hin mit leichter Hand zu Demonstrationszwecken auf den Rücken legten.

So sah man sie in den Wochenschauen, auf Pressebildern und im Fernsehen.

Immer und überall stand die schlanke Tina mit Idealmaß und Beherrschung der Judotechnik im Mittelpunkt des Interesses.

Man pflegte ihr Image. Als männermordender Vamp wurde sie auch im Privatleben hingestellt.

Aber so war es in Wirklichkeit natürlich nicht. Tina Marino war eine stille, in sich gekehrte junge Frau. Sie war am liebsten allein, war sehr sensibel, befasste sich mit Astrologie, Handlesekunst und glaubte an ein Leben nach dem Tod.

Gerade das Interesse an letzterem hatte ihr Leben stark geprägt. Tina Marino hatte Kontakt zu spiritistischen Zirkeln und religiösen Sekten gesucht, die von sich aus behaupteten, eindeutige Hinweise für Nachrichten Verstorbener zu besitzen. Tina hatte mehrere Nachrichten, vor allem Fragen, durch Medien ins Jenseits gegeben. In der Hoffnung, eine Antwort darauf zu erhalten.

Denn Tinas Leben stand unter einem seltsamen Stern.

Vierundzwanzig Stunden nach ihrer Geburt starb ihre Mutter. Tina war unehelich zur Welt gekommen, ihren Vater hatte sie nie kennengelernt. So wurde sie in einem Waisenhaus groß. In einem jener scheußlichen Häuser an der Cote d'Azur, wo dreißig, vierzig Betten in einem Saal standen.

Nachdem sie volljährig geworden war, verdiente sie sich ihren ersten Lebensunterhalt als Näherin in einer Hemdenfabrik. Das füllte sie nicht aus. Daher reiste sie eine Zeitlang kreuz und quer durch Italien, von einer seltsamen Unruhe getrieben, als suche sie etwas, wusste aber nicht was ...

Stunden- und tageweise bediente sie in kleinen Restaurants und Hotels, wo deutsche und amerikanische Touristen verkehrten.

Dort verdiente sie besser als in ihrem Beruf.

Das stellte sie für kurze Zeit zufrieden. Hier lernte sie auch jene Frau kennen, die Wahrsagerin, Hellseherin und Handleserin zugleich war und aus Rom stammte.

Dieser erste Kontakt führte dazu, dass sich Tina von nun an Bücher besorgte, die sie zuvor nie gesehen hatte, ja, von deren Existenz sie nicht mal etwas ahnte.

Sie las über Magie, Spiritismus und Parapsychologie.

Das hatte zur Folge, dass sie ein halbes Jahr später Rimini verließ und nach Rom reiste. Dort befasste sie sich in ihrer Freizeit weiterhin mit Astrologie, Charakterstudien und Spiritismus.

Sie arbeitete in einem Restaurant, in dem sie gut verdiente. Der gutaussehenden Tina ließ mancher ein besonders dickes Trinkgeld zukommen, weil er sich etwas erhoffte. Aber Tina Marino, die wie ein Vamp wirkte, wollte von Männern nichts wissen. Unbewusst trug sie einen Hass gegen die Herren der Schöpfung in sich, und sie vermutete, dass das wahrscheinlich damit zusammenhing, dass ihr Vater ihre Mutter im Stich gelassen hatte.

Tina lebte am liebsten allein und hatte ihre eigenen Vorstellungen und Wünsche, die sie mit niemand sonst teilte. Diese Art Leben zu führen, wurde ihr erst recht möglich, als sie den Regisseur Bill Filligan kennenlernte.

Filligan machte Urlaub in Rom. In der La Taverna sah er Tina bedienen. Das war genau der Typ, den er die ganze Zeit gesucht hatte! Tina wurde zu Probeaufnahmen nach Hollywood eingeladen, und damit begann alles. Sie war eine Vollblutschauspielerin, ein wirkliches Naturtalent, wie es nur selten entdeckt wurde.

In einem Fernsehfilm erhielt sie von Filligan zunächst eine winzige Rolle. Aber das, was sie daraus machte, ließ die Herzen der Zuschauer höher schlagen. Tina Marino war einfach umwerfend, überzeugend und riss die Leute mit.

Auf Anhieb hatte Filligan eine Darstellerin, die die wilde Jenny nicht besser verkörpern konnte.

Und die wilde Jenny wurde ein Erfolg!

Ein Dollarregen ging auf Tina nieder, und zum ersten Mal in ihrem Leben konnte sie sich leisten, was sie sich immer gewünscht hatte. Schöne Kleider, Schmuck, eine teure Apartmentwohnung im besten Wohnviertel von Los Angeles, ein eigenes Dienstmädchen und einen teuren Wagen mit Chauffeur.

Das erfüllte sie eine Zeitlang, lenkte sie aber nicht von den Dingen ab, die sie wirklich interessierten. Sie sah den Rummel um ihre Person als ein vorübergehendes Ereignis an. Das andere war das beständigere. Und so kam es, dass sie immer dann, wenn das geschäftliche Herumziehen ihrer Person über die Bühne gegangen war, ihr eigentliches Privatleben begann. Das sah nun ganz anders aus als das, was in der Öffentlichkeit als für sie typisch hingestellt wurde.

Sie las viel, schrieb und hielt Briefkontakt zu Menschen, die ähnliche Gedanken und Probleme hatten wie sie.

Wenn sie allein war, dann wollte sie auch wirklich allein sein. Jede Störung war ihr dann verhasst.

Ihr derzeitiger Filmerfolg brachte es mit sich, dass sie in viele Städte kam und die wilde Jenny hervorkehren musste. Nach Erledigung ihrer Pflichten zog sie sich dann am liebsten auf ihr Hotelzimmer zurück, pfiff auf Regisseure, Produzenten und Kollegen und lebte das Leben, das ihr Spaß machte.

Dazu gehörte auch, dass sie ein Taxi rufen und sich durch die fremde Stadt fahren ließ.

Sie hatte London noch nie gesehen. Den ersten Eindruck dieser Stadt gewann sie kurz nach ihrer Ankunft auf dem Heathrow Airport.

Die roten, einstöckigen Busse sorgten nach dem obligaten Interview für eine erste Rundfahrt durch die Stadt mit ihren Sehenswürdigkeiten. Dann folgte das Hotel, in dem eine ganze Suite für sie reserviert war.

Ihr Domizil lag im Strand. Das Hotel Baldwin war eines der ältesten, teuersten und vornehmsten in der Stadt. Hier lebte man in Räumen, die einem Schloss alle Ehre machten. Die internationale Küche lieferte Spezialitäten, bei denen jedem Gourmet das Herz im Leibe lachte.

Dorthin fuhr Tina Marino nach ihrem privaten kleinen Ausflug durch die nebelverhangene Millionenstadt zurück.

Typischer Londoner Nebel! Die Atmosphäre war ganz eigenartig. Man sah die Häuser und Plätze in den berühmten Stadtvierteln wie Soho und East Side, wo einst Jack the Ripper sein Unwesen trieb, mit ganz anderen Augen. Die Bürogebäude, Geschäfte und Banken in der West Side. Menschenleere Straßen. Kein Lokal war mehr geöffnet. London wirkte wie ausgestorben ...

Welch ein Kontrast zu dem lebenerfüllten, hektischen Soho, wo die Bars und Discotheken, die Lokale und Striptease Clubs Hochbetrieb hatten.

Bis zum Baldwin-Hotel waren es noch fünf Minuten.

An einer Kreuzung hielt der Taxichauffeur, als die Ampel auf Grün sprang. In dem verwaschenen Scheinwerferlicht waren die drei dunkel gekleideten Personen, die den Zebrastreifen überquerten, nur wie schemenhafte Geister zu erkennen.

Tina Marino lehnte sich in die Polster zurück. Der Wagen rollte wieder an und wurde wenig später abgebremst. Die Hotelfassade des Baldwin war schwach zu erkennen. Das grüne Licht, das den Namen formte, wirkte geisterhaft.

Vom überdachten Eingang löste sich eine Gestalt. Der livrierte Diener des Hotels. Er ging zur hinteren Wagentür und öffnete sie. Tina Marino drückte dem Fahrer gerade das Geld in die Hand, gab ein reichliches Extra und bedankte sich für die gute Fahrt.

Dann stieg sie aus.

Der Fahrer beobachtete sie dabei. Er sah beide: Tina Marino und den Livrierten. Aber er sah nicht, weshalb die Italoamerikanerin einen markerschütternden Schrei von sich gab und voller Entsetzen zurückprallte.

Der Mann vor ihr bestand nicht aus Fleisch und Blut. Es war ein livriertes Skelett, das ihr die Tür öffnete!

Dr. Thorwald Belman wirbelte sofort herum. Sein Blick bohrte sich in die Dunkelheit.

Der Chirurg zog scharf die kalte Nachtluft ein.

Da stand wirklich jemand!

Am Wegrand ihnen genau gegenüber!

Eine Frau! Graue Haut, ungepflegtes Haar und matte Augen.

»Wer sind Sie? Was wollen Sie hier?«

Unwillkürlich zog Thorwald Belman Anka hinter sich und stellte sich schützend vor sie.

Die Alte wich zurück. Begann zu laufen. Zweige und Äste knackten unter ihren Schritten. Laub raschelte. Die Dunkelheit zwischen den Bäumen nahm sie auf.

»Bleib hier! Ich bin sofort wieder da!« Thorwald Belman spurtete los. Nun wollte er es genau wissen. Was war das für ein Mensch, der Anka selbst hierher verfolgte?

Sie hatte die Frau also wirklich gesehen, vor drei Wochen im Krankenhaus. Sie war kein Trugbild. Dann wäre auch das, was er jetzt sah, nur ein Trugbild!

Er sah den Schatten davoneilen und hörte die Geräusche, die dieser Schatten verursachte.

Anka war beobachtet worden.

Die unheimliche Besucherin wollte etwas von ihr.

Aber was?

Thorwald Belman beschleunigte seinen Lauf und holte auf. Er musste sich ducken. Tiefhängende Zweige schlugen ihm ins Gesicht und schürften seine Haut auf. Dunkel und massig zeichnete sich die hohe Mauer zwischen den Stämmen ab.

Darauf eilte die Fremde zu.

Thorwald Belmans Lippen verzogen sich zu einem bitteren Lächeln. Dort vorn würde er spätestens die Geheimnisvolle greifen und zur Rede stellen können. Eine drei Meter hohe Mauer überwand man nicht so schnell. Und ein Tor oder eine Tür gab es dort nicht.

Er stolperte und verfing sich in Astwerk, konnte sich aber fangen und die Zweige abschütteln.

Dann erreichte die Frau die Mauer.

Thorwald Belman war nur wenige Schritte hinter ihr. »Bleiben Sie stehen!«, rief er. »Es hat keinen Sinn, ich ...«

Was er sagen wollte, blieb ihm wie ein Kloß im Hals stecken.

Die Frau drehte sich nicht mal nach ihm um. Sie warf sich der Mauer förmlich entgegen und wurde von ihr wie ein Wassertropfen von einem ausgetrockneten Schwamm aufgenommen!

Thorwald Belmans Lippen entrann ein Stöhnen. Wäre er nicht selbst Zeuge dieses Vorgangs geworden, er hätte es niemand geglaubt, der ihm davon berichtet hätte!

Er tastete die Wand an der Stelle ab, wo die seltsame Frau verschwunden war.

Die Steine fühlten sich hart, kalt und kantig an. Da gab es auch keine Geheimtür, wie man das manchmal in englischen Kriminalfilmen sah. Die Mauer war massiv, die nächtliche Besucherin aber hatte sie passiert wie eine Nebelwand!

Plötzlich hörte er einen furchtbaren, gellenden Schrei hinter sich.

»Thorwaaaaalllld!«

Das Echo hallte schaurig durch den kahlen Park. Es krachte und barst, und Thorwald Belman fühlte den Boden unter seinen Füßen zittern.

Das Krachen und Bersten kam von der Stelle, wo Anka zurückgeblieben war.

»Nein!«, entrann es seinen erbleichenden Lippen. Er sah den Baum stürzen, eine uralte Eiche, die einen Umfang von mehreren Metern hatte. Krachend stürzte sie, riss die Wipfel anderer Bäume auf, und Äste und Zweige flogen wie Splitter durch die Luft, als er losjagte, um Anka zu Hilfe zu kommen!

Kalter Schweiß bedeckte seinen Körper, sein Puls raste. Er erreichte die Stelle, wo der riesige Baum wie von Urgewalt aus dem Boden gerissen worden war. Die Wurzel war völlig aus dem Erdreich gezerrt und bildete einen Hügel aus Erde und Wurzelwerk.

Der Baum lag quer über dem Weg, auf dem sie vorhin gemeinsam gestanden hatten. Es war die Eiche, vor der er Anka vorhin den ersten Kuss gab!

»Anka?«, flüsterte er erregt und blickte sich gehetzt um.

»Thorwald! Hier ... hier bin ich!«, vernahm er ihre schwache, zitternde Stimme.

Da sah er ihre Hand in der Dunkelheit. Sie ragte zwischen dünnen Zweigen hervor, unter denen sie lag. Zweige, die abgebrochen waren!

Anka lag mehr als fünf Meter von dem Stamm entfernt.

»Anka! Gott sei Dank!«, entfuhr es ihm, als er bei ihr war und sie befreite. »Bist du verletzt?«

Mit einem Blick tastete er ihren Körper ab.

Sie schüttelte kaum merklich den Kopf, war totenbleich und wirkte wie eine Feder, aber irgendwie verklärt.

»Nein, ich hatte ... noch mal Glück ... sie wollte, dass ich sterbe. Sie hat dafür gesorgt, dass der Baum mitsamt der Wurzel aus dem Boden gerissen wurde ...«

Anka atmete schnell und konnte sich erheben. Ihre Haare waren zerzaust, die Hände ein wenig zerkratzt. Aber sie hatte nichts gebrochen.

»Es hätte schlimmer ausgehen können«, fuhr sie leise fort, als sie vor ihm stand und in seinen Armen lag. »Als du weggingst, hatte ich plötzlich so ein merkwürdiges Gefühl, als wollte sie dich nur von mir weglocken, um ihr wahres Ziel zu erreichen.«

»Ist sie denn noch einmal aufgetaucht?«

»Nein. Ich hörte plötzlich Geräusche ... ferne, leise Stimmen, ein Motorgeräusch wie von einem haltenden Auto ...«

»Aber das ist unmöglich, Anka. Wir sind so weit im Park. Die Straße, die an das Tor mündet ...«

»... hat nichts damit zu tun«, fiel sie ihm ins Wort.

»Die Geräusche ... kamen von dort oben.«

»Von oben?«

Sie deutete an die Stelle, wo sich vor wenigen Augenblicken noch der Wipfel der gestürzten Eiche befunden hatte.

»Im Wipfel der Eiche sah ich plötzlich Gestalten ... eine Straße, viel Nebel ... ein Hotel, davor hielt ein Wagen, Thorwald.« Ihre Stimme war zuletzt immer leiser geworden.

»Und, was war dann?«, drängte er.

»Es handelte sich um ein Taxi ... ich trat zurück, um es deutlicher wahrzunehmen. Ich konzentrierte mich auf den hohen Wipfel und vergaß meine Umgebung. Es war plötzlich alles wieder so wie damals, als ich während der Operation die Wände des Operationssaales durchsichtig sah und in eine Halle sehen konnte, wo der Knochenherrscher auf und ab ging. Aber diesmal war es kein Blick in eine andere, unbeschreibliche Welt, Thorwald. Diesmal habe ich unsere Welt gesehen. Und für einige Augenblicke war ich, so glaube ich jedenfalls, nicht mehr an dieser Stelle. Ich war dort, sah mich von Nebeln umhüllt ... sah das Taxi und die Frau, die ausstieg und plötzlich entsetzlich aufschrie.«

»Warum hat sie geschrien, Anka?« Seine Augen bildeten enge Schlitze. Er wollte darauf hinweisen, dass Anka es selbst gewesen war, die geschrien hatte.

»Sie sah etwas, was der Taxifahrer scheinbar nicht erkennen konnte. Der Livrierte aus dem Hotel ... war ein Skelett! Instinktiv habe ich begriffen, dass es einer von der Sorte war, die ich bei dem Tanz unter dem Totenkopfmond beobachten konnte. Dort haben sich Menschen verändert und wurden zu Skeletten ... aber das geschah in einer anderen Welt, der Knochenmann aus dem Hotel jedoch stammt von dort. Er ist jetzt hier in dieser Welt! Die Frau, die ausstieg, und ich haben dies wahrgenommen. Und dann hörte ich es krachen. Im nächsten Moment schrie ich deinen Namen. Ich war wieder zurück ... aber offenbar später ... und das rettete mir das Leben. Ich wurde nur von Ästen und Zweigen getroffen, die von den anderen Bäumen abgerissen wurden. Sie haben nicht viel anrichten können.

Wieder wollte sie mein Leben, aber diesmal ist etwas dazwischengekommen, was sie nicht voraussehen konnte. Was hast du erreicht, Thorwald?«

Er sagte ihr die Wahrheit und berichtete, was er gesehen hatte.

»Die Anschläge auf mein Leben werden sich immer wieder ereignen, möglicherweise solange, bis ich erkenne, warum sie erfolgen«, murmelte sie, als sie sich von dem Ort des Schreckens entfernten. »Das Hotel ... das Taxi ... die Stadt ...«

»Welche Stadt, Anka?«

»Der Wagen hatte ein englisches Nummernschild.«

»Vielleicht London?«, war Dr. Belmans erste Vermutung.

»Möglich.«

Er hatte den Arm um ihre Schultern gelegt. Anka fühlte sich seltsam leicht an, als besitze sie noch nicht wieder die atomare Dichte, die einem menschlichen Körper normalerweise Struktur und Festigkeit verliehen. Sie war woanders gewesen und Zeuge eines Vorgangs geworden, der sich irgendwo hier auf dieser Welt abgespielt und der doch Beziehung zu jener anderen Welt hatte, die sie zuerst sah. Und die sie auch schon besucht hatte, wenn man all das berücksichtigte, was alles seit ihrer schnellen Genesung geschehen war.

Der Besuch in einem turmartigen Verlies, in dem ein Mensch gefangen gehalten wurde, der mit ihr gesprochen hatte, passte in dieses Bild.

In der Dunkelheit vor ihnen bewegten sich Lichter. Dr. Gullbrans und Angehörige des Pflegepersonals kamen den Weg entlanggerannt und hielten Taschenlampen in der Hand.

Der Lärm war auch in der Heilanstalt gehört worden.

»Was ist denn passiert, um Himmels willen?«, rief Dr. Gullbrans atemlos.

»Ein Baum ist umgestürzt«, erklärte Dr. Belman.

»Ein Baum kann nicht einfach so umfallen.«

»Das dachte ich früher auch. Es braucht aber nicht immer einen Grund zu geben, warum Geschirrwagen die Treppe runterpurzeln, Balkone abbrechen oder Bäume umstürzen, Herr Kollege. Man kann natürlich einen Grund konstruieren. Vielleicht findet man ein paar gebisskräftige Käfer, die die Wurzeln abgenagt haben, so dass die Eiche schließlich umfallen musste.« Dr. Thorwald Belman sagte es sehr ernst. Und zu Anka gewandt, fuhr er leise fort: »Wenn es dir recht ist, werde ich dich mitnehmen. Heute noch! Jetzt gleich! Von nun an werde ich mich um dich kümmern, werde meine Augen offenhalten, und wir werden gemeinsam versuchen herauszufinden, was du eventuell in London gesehen hast. Vielleicht ist es wichtig für dich ... sicher ist es das«, fügte er hinzu.