Macabros 034: Die Sintfluthölle - Dan Shocker - E-Book

Macabros 034: Die Sintfluthölle E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Zitadelle der Grausamen In einer Ausgrabungsstätte im hohen Norden soll es angeblich eine Zitadelle geben, die nicht von Menschenhand erbaut wurde und die von jedem gemieden wird. Diese Zitadelle gibt nicht nur Einheimischen Rätsel auf, sondern auch den Freunden, die sich einer unbekannten Herausforderung stellen. Wer sind die Grausamen, die älter sind als die Menschheit und eine unheimliche Symbiose eingegangen sind? Die Menschen dieser Gegend der Welt hausen mit den Geistern der Vergangenheit, und ihr Leben wird von einem unheilvollen Gesetz bestimmt. Apokalyptas Sintfluthölle Sie hat es nicht aufgegeben, Björn und seinen Freunden das Leben schwer zu machen - Apokalypta, die Ewige Unheilbringerin ... Sie erinnert sich nur zu gut an die Niederlage und Blamage im Reich der Finsternis, die ihr durch Björn Hellmark widerfuhr, als dieser ihr in Gigantopolis, der zu Stein gewordenen Alptraumstadt, die Stirn bot. Apokalypta sinnt auf Rache. Vor der Britischen Insel erreicht Hellmark in einem denkbar ungünstigen Moment eine Hiobsbotschaft. Dort will man die Stadt der Monster gesehen haben, die durch Apokalyptas Willen durch Raum und Zeit reisen kann. Die Ewige Unheilbringerin hat Xantilons Vergangenheit verlassen! Sie verbündet sich mit den Elementen, und eine schwere Sturmflut rast heran ...

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DAN SHOCKERS MACABROS

BAND 34

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Fachberatung: Gottfried Marbler

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-734-4

Dan Shockers Macabros Band 34

DIE SINTFLUTHÖLLE

Mystery-Thriller

Zitadelle der Grausamen

von

Dan Shocker

Prolog

Eve Finigan war keine Frau, die sich leicht ängstigte.

Als sie aber am Abend die kleine düstere Küche der abseits gelegenen Hütte betrat, packte sie doch das Grauen. Mitten im Raum stand ein Fremder!

Die dunkle Silhouette zeichnete sich schemenhaft verschwommen vor ihr ab.

Eve Finigan schrie wie von Sinnen, machte auf dem Absatz kehrt und lief durch den handtuchschmalen Korridor ins Freie.

»Morgan! Morgan!«, gellte es über ihre Lippen. »Schnell ... mein Gott ... da ist jemand!«

Morgan Finigan, ihr Mann, befand sich zu diesem Zeitpunkt etwa fünfzehn Meter von der Hütte entfernt. Unter einer Baumgruppe stand der aufgebockte Wagen, von dem Finigan das rechte Vorderrad gelöst hatte. Ruckartig wandte der Mann den Kopf und sprang auf die Beine. »Was ist denn los?«, rief er erschrocken. So außer sich hatte er seine Frau noch nie gesehen.

Eve Finigan war bleich, wirkte verstört und überschlug sich in ihren Worten.

»Du irrst dich. Wer sollte denn hier sein?«, kam es leise über Morgans Lippen. »Wenn jemand gekommen wäre, hätte ich ihn auf alle Fälle sehen müssen. Auch Rocky würde wohl nicht so ruhig neben der Hütte liegen ...«

Rocky war ein Bastard zwischen Schäferhund und Terrier. Sein Fell war stumpf, kurzhaarig und von grau-brauner Farbe. Er war ein ausgesprochen wachsames Tier, auf das man sich verlassen konnte.

Eve Finigan schüttelte heftig den Kopf. »Er hat geschlafen ... er hat nichts gehört, Morgan.« Sie warf einen nervösen Blick zur Hütte.

Morgan Finigan griff durch das geöffnete Fenster des Autos ins Handschuhfach und nahm die dort bereitliegende Pistole. Er lud sie durch. »Ich sehe mich mal um, Eve. Ich kann es mir wirklich nicht vorstellen ... wie soll denn einer unbemerkt in die Hütte kommen?«

Das Holzhaus stand auf einer leichten Anhöhe. Der Boden vor den Bergen war saftig und fruchtbar. Man sah es den üppig wachsenden Büschen und Bäumen an, dass die Erde voller Nährstoffe steckte.

Mit jedem Meter in westlicher Richtung breitete sich dann eine steinerne Wüste aus, die in kahlem, zerklüftetem Bergland mündete.

Die Hütte der Finigans stand auf einer großen, bewaldeten Fläche, die kreisrund war und die Morgan als seinen Garten Eden bezeichnete. Hier, abseits jeder menschlichen Siedlung, waren die Finigans mit sich und der Natur allein.

»Rocky, komm!« Morgan Finigan sagte diese beiden Worte nur leise.

Der Hund reagierte sofort. Er hob sein rechtes Augenlid, musterte seinen Herrn, der auf die Hütte zukam, sprang auf und lief ihm entgegen.

»Geh bei Fuß, Rocky!« Der Hund bewegte sich auf gleicher Höhe mit ihm.

Zuerst ging Morgan Finigan ums Haus. Das winzige Fenster zur Küche war als Einstieg für einen erwachsenen Mann nicht zu benutzen. Der bekam höchstens seinen Kopf durch.

Als Finigan nichts Verdächtiges feststellte, ging er ins Haus, um den Verdacht seiner Frau nachzuprüfen. Der Hund wich nicht von seiner Seite. Die Küche war leer. Irritiert tauchte Eve Finigan aus dem Korridor hinter ihrem Mann auf.

»Da ist nichts, Eve.«

»Ich hab ihn gesehen, Morgan! Ganz deutlich ...«

»Tut mir leid. Das Dach ist dicht, das Fenster ist zu klein, und wenn er wirklich hier war, muss er durch einen der nach vorn liegenden Räume wieder gegangen sein. Aber da hätten wir ihn sehen und Rocky ihn wittern müssen.«

Die aschblonde Eve Finigan fuhr sich mit zitternden Fingern über ihre schweißnasse Stirn. »Ich verstehe das nicht, Morgan ... das ist gespenstisch ... der Mann war da! Ich schwöre es dir!«

Gemeinsam durchsuchten sie das Haus. Keinen Winkel ließen sie unbeachtet.

Sie fanden niemand.

Aus Morgan Finigans Sicht war es auch logisch, dass ihre Suche ergebnislos blieb.

Eves Unruhe aber wuchs.

Den ganzen Tag über wirkte sie eigenartig schweigsam, fuhr beim geringsten Geräusch zusammen und erschrak vor ihrem eigenen Schatten.

Die junge Frau hatte Angst. Plötzlich nicht mehr vor einer Gefahr, die von außen kam, sondern aus sich selbst heraus.

War sie krank? War dies der Beginn des Wahnsinns?

Erst am Spätnachmittag fasste sie sich wieder und bekam ihre alte und gefestigte Stimmung zurück.

Vielleicht hatte Morgan doch recht. Möglicherweise hatte sie ihren eigenen Schatten gesehen und war grundlos erschrocken ...

Es war auch geradezu lächerlich zu glauben, dass jemand hierher in die Einsamkeit kam und Gelegenheit fand, sich heimlich ins Haus zu schleichen, während ein scharfer Wachhund auf jedes Geräusch reagierte.

Selbst Freunde, mit denen sie sich von Zeit zu Zeit trafen und die Rocky kannten, wurden von ihm immer wieder gemeldet.

Auch das war ein Gedanke, den Eve zuerst gehabt hatte. Ob vielleicht Georg oder Joe dahintersteckten, Die beiden hatten für Scherze eine Schwäche. Aber dann hatte Eve diesen Gedanken ebenso schnell wieder verworfen wie er ihr gekommen war.

Morgans Freunde kamen erst morgen im Lauf des Vormittags. Sie wollten hier Forellen fangen, gemeinsam grillen, und am Abend dann sollte Morgan einen Super-8-Film vorführen, den er im letzten Winter gedreht hatte. Es handelte sich um einen kleinen Spielfilm, der zum Teil in der Hütte während ihres Winterurlaubs entstanden war und den Morgan mit einigen gestellten Filmszenen erweitert hatte. Schmalfilmen war sein Hobby, darin ging er auf.

Doch Georg und Joe konnten noch nicht hier sein. Bis dahin waren noch über zwanzig Stunden Zeit ...

Das Paar ging am Abend früh zu Bett. Vor dem Schlafen vergewisserte sich Eve, dass alle Fenster geschlossen waren und Rocky tatsächlich im Korridor hinter der Tür lag.

Morgan schlief sofort. Die Reparatur am Wagen hatte ihn den ganzen Nachmittag über beschäftigt und müde gemacht. Doch die siebenundzwanzigjährige Eve schloss zunächst kein Auge.

Sie lag im Dunkeln, starrte mit offenen Augen zur Decke und hing ihren Gedanken nach.

Draußen vor dem Haus im Blattwerk der Büsche und Bäume säuselte leise der Wind. Er verfing sich in den Dachritzen und verursachte merkwürdige, geheimnisvolle Geräusche.

Hin und wieder schloss die Frau ihre Augen in der Hoffnung, endlich Ruhe zu finden.

Im Halbschlaf wälzte sie sich von einer Seite auf die andere, war zwischendurch hellwach und warf einen Blick auf die Uhr. Dabei stellte sie fest, dass erst fünfzehn oder zwanzig Minuten vergangen waren. Plötzlich hörte Eve, wie draußen die Dielen knarrten. Sie richtete sich stocksteif auf und hielt den Atem an.

War sie wirklich wach oder träumte sie? Schritte näherten sich der Schlafzimmertür. Die Frau meinte, ihr Herz würde stehen bleiben.

Draußen war jemand!

Und Rocky? Warum schlug der Hund nicht an? Durch das kleine Fenster fiel schimmerndes Sternenlicht. In Eve Finigans Schläfen hämmerte das Blut. Auf ihrer Stirn perlte der Schweiß.

Die Frau rang nach Luft. Sie hatte Angst!

Mit weit aufgerissenen Augen sah sie wie die Türklinke sich langsam senkte ...

Leise quietschend bewegte sich die Tür in den Scharnieren.

Dann war sie einen Spalt breit geöffnet. Der war aber zu schmal, um einen Menschen durchzulassen.

Eve Finigan schluckte. Ihre Kehle war wie ausgedörrt. Sie wollte etwas sagen. Ihre Lippen zuckten. Doch sie war unfähig, auch nur ein Wort herauszubringen.

Morgan schlief. Er bekam von dem grauenvollen Ereignis nichts mit.

Sekunden später stand die Tür weit genug offen, um jemand einzulassen ...

Wie gelähmt saß Eve Finigan in ihrem Bett und starrte mit brennenden Augen auf die Gestalt, die vom Korridor kam und langsam das Schlafzimmer durchquerte. Die dunkle Silhouette bewegte sich schattengleich.

Wie am Mittag in der Küche, schoss es durch das fiebernde Hirn der gepeinigten Frau.

Sie konnte ihren Blick nicht wenden von dem Eindringling, der an der Wand ging, sich in dem schummrigen Zimmer umsah, als suche er etwas Bestimmtes, der die Wand neben dem Fenster abklopfte und dann direkt zu dem Bett steuerte, in dem Eve Finigan lag.

Wie hypnotisiert folgten die Blicke der Frau seinen Bewegungen.

Wer war das? Wie kam der Unbekannte in die Hütte? Weshalb verhielt der Hund sich so still?

Jede einzelne Frage quälte sie bis aufs Blut.

Jetzt stand der Fremde direkt neben ihr. Eve vernahm seinen Atem und roch den herben Duft, der von seinem Körper ausging.

Die Rechte des nächtlichen Besuchers kam auf sie zu. Sie fühlte die kühle, glatte Hand, die ihre Stirn berührte.

Eve Finigan starrte ins Gesicht ihres Gegenübers. Doch es lag im Schatten, und sie konnte die Züge nicht erkennen.

Wie bei einer rituellen Handlung führte der Unbekannte seine kalte Hand über ihr Gesicht, verharrte mit gespreizten Fingern über ihren weit geöffneten Augen, fuhr dann über Nase und Wangenknochen, Eves Lippen entlang dann hinab unters Kinn, über Hals und Schultern ...

»Neeeiiinnn!«, brach es da aus Eve Finigans Kehle. Der Schrei gellte durch das Zimmer.

»Mooorrrgggaannn!«, ließ sie ihrem ersten Aufschrei einen zweiten folgen.

Da riss der unheimliche Gast auch seine andere Hand empor.

Er stieß mit beiden Händen nach Eve Finigan. Sie flog in die Kissen.

Morgan Finigan zuckte zusammen. »Was ist denn los?«, murmelte er schlaftrunken. »Warum ... schreist du denn so?«

Eve schrie noch immer. Langgezogen und schaurig hallte es durch das Zimmer, dass es kaum noch erträglich war.

Mechanisch tastete Finigan nach dem Schalter der Gaslampe. Elektrizität gab es in der abgelegenen Hütte nicht. Fahl leuchtete der Glaskolben auf. Kaltes Licht vertrieb die Schatten der Nacht.

Nach Morgan Finigans Herz schien eine eisige Hand zu greifen. Der Mann warf sich herum. »Eve!«, rief er laut und klar. Seine Frau hatte ihr Gesicht im Kopfkissen verborgen und brüllte, hatte die Hände darin verkrallt, und es bereitete ihm einige Mühe, sie davon zu lösen. Eves Gesicht war weiß wie ein Leichentuch. Die Augen glühten wie Kohlen, und ihr Kopf ruckte wie bei einem Roboter, der außer Kontrolle geraten war.

»Reiß dich zusammen! Was ist denn los? Warum schreist du denn?«

Er schüttelte sie und schlug ihr ins Gesicht, um sie in die Wirklichkeit zurückzurufen.

»Du hattest einen schlechten Traum, nicht wahr? Es ist alles gut ... du brauchst keine Angst zu haben.« Er sprach beruhigend auf sie ein. Das wirkte. Schluchzend lag sie an seiner Schulter, die Nähe ihres Mannes tat ihr gut. Sie stammelte etwas von einem unbekannten Besucher, der durchs Zimmer gekommen sei und sie angefasst hätte.

»Unsinn! Da war niemand ... und da ist niemand«, sagte er scharf.

»Doch«, ihre Stimme klang wie ein Hauch. »Doch ... diesmal lass ich's mir nicht nehmen, Morgan ... Ich hab ihn gesehen ... gerochen ... gespürt ... Seine schrecklichen Arme ... die Oberfläche seiner Hände ... sein Gesicht. Anfangs glaubte ich, es wären nur Schatten ... aber es war nicht so. Es waren Auswüchse, Beulen ... manche dick und schwammig ... manche prall, als wären sie herangereift, um jeden Augenblick zu platzen wie eine reife Frucht.«

»Du hast geträumt, Eve. Nichts von alledem gibt es in Wirklichkeit.« Sie öffnete ihre tränenverschleierten Augen und wagte es, einen Blick über Morgans Schulter zu werfen. Genau dahinter befand sich die Stelle, wo der unbekannte nächtliche Besucher vor wenigen Minuten gestanden hatte. Der Platz war leer, als hätte der Erdboden den Fremden geschluckt. Zitternd löste Eve Finigan sich von ihrem Mann und drehte langsam den Kopf Richtung Tür.

»Sieh genau hin«, sagte sie mit Grabesstimme. »Er war hier. Die Tür steht ja jetzt noch offen ...«

1. Kapitel

Ein Mann kam nach Marlos, dem unsichtbaren Eiland zwischen Hawaii und den Galapagos-Inseln, zurück.

Es war Björn Hellmark alias Macabros, jener blonde Abenteurer, der imstande war, seinen Körper zu verdoppeln, um an zwei Orten gleichzeitig zu sein.

Björn hatte es eilig, die Blockhütte aufzusuchen, in der der ehemals Schwarze Priester Molochos sich aufhielt. Mit Molochos war inzwischen eine geistige Veränderung vorgegangen. Er gehorchte nicht mehr den Mächten, denen er sich verpflichtet hatte, seine Seele zu verschreiben.

Rha-Ta-N'my, die Dämonengöttin musste zürnen.

Molochos hatte wieder seinen alten Namen Ak Nafuur angenommen. Er war Al Nafuurs Zwillingsbruder, der in einem Reich zwischen Diesseits und Jenseits existierte und zu Hellmarks Geistführer geworden war, bei dem er sich von Zeit zu Zeit meldete.

Das Erlebnis im Mikrokosmos mit Frank Morell alias Mirakel war nicht spurlos an Hellmark vorübergegangen. Er wirkte erschöpft und abgekämpft und konnte sich trotzdem in diesen Minuten keine Ruhe gönnen.

Es ging um das Leben eines Freundes, der in einem winzigen Universum kleiner als eine Mikrobe existierte und dem Ruf ins Vergessen gefolgt war. Vorsichtig drückte Hellmark die hölzerne Tür, an der es kein Schloss gab, nach innen.

Der zentral gelegene Raum war einfach, aber gemütlich eingerichtet und enthielt nur das Notwendigste. Auf einer breiten Liege lag Ak Nafuur.

Auf einem Baststuhl neben dem Bett saß Carminia Brado, die hübsche Brasilianerin, die Björn beim Karneval in Rio kennenlernte und in die er sich unsterblich verliebte. Erst kürzlich hatten sie beide die Erfahrung gemacht, dass ihre Liebe bereits in einer anderen Welt, in einem anderen Leben begonnen hatte. Vor etwa zwanzigtausend Jahren, hatten sie schon mal gelebt. Er als Kaphoon, ein mutiger, legendärer Kämpfer eines vorsintflutlichen Zeitalters, den man auch den Sohn des Toten Gottes nannte. Sie als Loana, die Tochter des Hestus, die von Sequus, dem Ursenkönig, entführt wurde und in seinem Palast den Tod fand.

Carminia Brado blickte auf und lächelte. Man sah ihr die Erleichterung an, die Björns Auftauchen bei ihr auslöste.

»Alles in Ordnung?«, fragte sie mit ihrer klaren, angenehmen Stimme. »Ich hoffe doch ...« Erschreckt unterbrach sie sich, als sie sah, dass Björn verletzt war.

Blutige Kratzer liefen ihm über Gesicht und Hände, die Kleidung war zerrissen und verschmutzt.

»Was ist denn passiert? Wo kommst du her?«

Sie sprang vom Stuhl auf. Mit kühlem Wasser aus einem tönernen Gefäß tupfte sie Björns Wunden ab. Er erzählte ihr, was er im Mikrokosmos auf der Welt des Einzigen Laathoos erlebt hatte. Lekarim, der entgegengesetzte Pol von Mirakel, dem Dykten, der als fliegender Wundermensch in diese Welt gekommen war, hatte es geschafft, die Falle in den Mikrokosmos zuschnappen zu lassen.

»Ich hatte noch davor gewarnt, aber offensichtlich kam meine Warnung zu spät«, tönte da Ak Nafuurs Stimme neben ihnen auf. Der ehemals Schwarze Priester lag wach. Er hatte den knappen, aber inhaltsschweren Bericht von Hellmarks letztem Abenteuer mitbekommen.

Nur der Tatsache, dass auf jene Welt im Mikrokosmos, die allen Beteiligten fast zum Schicksal geworden wäre, auch Lekarims Freundin geriet und ihm daran lag, ihr Leben zu erhalten, war es zu verdanken, dass auch Björn Hellmark noch mal mit einem blauen Auge davonkam.

Der junge Deutsche mit dem Abenteurergesicht eines Wikingers richtete sich aus dem Lehnstuhl auf, in dem die Brasilianerin ihn behandelt hatte. Als sie nach draußen ging, nahm sie Björns zerfetzte Kleider mit, um wenige Minuten später frische zu bringen.

»Die Welt des mikroskopisch Kleinen gehört zum Planspiel Shab-Sodds, des Dämonenzeugers, den Rha-Ta-N'my zum Statthalter ihrer Macht dort gemacht hat«, sagte Ak Nafuur.

Seine Worte bewirkten, dass vor Björns geistigem Auge wieder jene Bilder erschienen, die er nicht vergaß. Eindrücke aus einer anderen Welt, die er mitgebracht hatte. »Und nun bin ich wieder hier«, atmete Björn tief durch. »In der Hoffnung, Ak Nafuur, dass du mir weiterhelfen kannst.«

Als Molochos hatte dieser Mann mit dem schlohweißen Haar Einblick gefunden in die Welt der Dämonen, in die Tricks und Intrigen, die dort üblich waren, und er wusste um den Aufbau der gesamten Dämonenherrschaft unter der Göttin Rha-Ta-N'my. Molochos war wieder zu den Menschen zurückgekehrt. Mit Hilfe der sieben Augen des Schwarzen Manja war es Björn Hellmark gelungen, die Dämonen und Geister aus dem Körper dieses Menschen zu locken, die sich dort eingenistet hatten.

Ak Nafuur hatte als Molochos die finstersten und tiefsten Winkel dämonischer Welten aufgesucht und selbst beherrscht. Sein Ziel war es gewesen, die Erde zu unterjochen und sich als Rha-Ta-N'mys Statthalter krönen zu lassen.

Vor zwanzigtausend Jahren, als Ak Nafuur sich entschied, den Namen Molochos anzunehmen und Diener Rha-Ta-N'mys zu werden, um ewiges Dämonenleben zu besitzen, war der erste Versuch zum Unterwerfen der irdischen Völker unternommen worden.

Er war fehlgeschlagen.

In den Jahrtausenden dazwischen bis in die Gegenwart hatte Molochos nichts anderes getan, als seine Macht außerhalb zu festigen, seine Heere zu vergrößern, um dann die gesamte Macht in die Waagschale werfen zu können. Er war aus den Dimensionen der Finsternis auf die Welt gekommen, um den letzten entscheidenden Schlag vorzubereiten. Bei einer solchen Gelegenheit hatte Björn Hellmark die Falle zuschnappen lassen.

Reichte Ak Nafuurs Wissen aus, ihm auch einen Hinweis zu geben, der eventuell lebensrettend für seinen Freund Mirakel wurde?

Ak Nafuur richtete sich auf und verließ das Bett, auf dem er viele Stunden zugebracht hatte, um die Schwäche zu überwinden, die nach dem Ausfahren der Geister und Dämonen aus seinem Körper eintrat.

Hier auf Marlos hatte er begonnen, sich zu erholen. Der letzte tiefe Schlaf hatte ihm gutgetan.

»Bisher war es so, dass Lekarim, der sich als Mirakels Gegenstück herausgestellt hat, mit Hilfe einer Anlage, die auf technisch-magischer Basis funktionierte, die Grenzen zwischen groß und klein überwand. Mir ist keine Möglichkeit bekannt, in das Mikroreich einzudringen. Siddha, Lekarims Begleiterin, hat mir glaubhaft versichert, dass es nichts mehr gibt, um zu Laathoos zu gelangen, wo Mirakels Ruf ins Vergessen begann. Ist dir, Ak Nafuur, ein Weg bekannt? Gibt es eine Chance, Mirakels Eindringen ins Vergessen zu unterbinden?«

»Da bin ich überfragt, Björn. Shab-Sodd oder Rha-Ta-N'my persönlich könnten dir den Weg zeigen.«

»Vielleicht gibt es auch noch eine andere Möglichkeit, an die wir bisher nicht gedacht haben«, sinnierte Björn. »Man müsste Laathoos veranlassen, sich abermals bemerkbar und von sich aus die Grenze in sein Reich durchlässig zu machen. Es gibt Hinweise darauf, dass er das schon mehr als einmal versucht hat. Aber ob er jetzt noch imstande dazu ist, ist fraglich. Schließlich sind wir mit der letzten Miniaturrakete von seiner Welt geflohen ...«

»Shab-Sodd«, murmelte Ak Nafuur, als hätte er Hellmarks letzte Worte gar nicht gehört. »Shab-Sodd und die Zitadelle ... vielleicht gibt es doch einen Weg. In der Zitadelle bietet sich eventuell eine Möglichkeit, Shab-Sodds Spur aufzunehmen. Von ihm aus wäre es dann einen Versuch wert, wieder in den Tempel zu gelangen, den Laathoos wie seinen Augapfel bewacht.«

Björn Hellmark war hellhörig geworden. »Jeder Weg, der sich anbietet, ist mir recht«, entgegnete er. »Es geht um Morells Leben. Ich will alles daransetzen, ihn zurückzuholen. Was für eine Zitadelle ist es, von der du sprichst, Ak Nafuur?«

»Sie liegt weit im Norden im ewigen Eis. Deshalb nennt man sie auch die Eis-Zitadelle. Sie liegt in der Arktis.« Als Björn diese Worte hörte, wurde er unwillkürlich an ein zurückliegendes, gefährliches Abenteuer erinnert. Er sprach Ak Nafuur darauf an.

Der zwanzigtausend Jahre alte Priester aus Xantilon schüttelte den Kopf. »In den Regionen des ewigen Eises dieser Welt liegen noch viele Geheimnisse verborgen. Dinge, die in der Vergangenheit begannen, die in der Gegenwart wirksam sind und Anlass zur Besorgnis geben und auch in der Zukunft noch von sich reden machen werden. Uralte magische Praktiken werden wieder akut. Zu ihnen gehört die Kraft, die in der Zitadelle Shab-Sodds und seinen Grausamen existiert.«

»Demnach weißt du also doch viel darüber?«

»Nein! Leider nicht. Nur die Zitadelle und ihr Sinn sind mir bekannt. Shab-Sodd benutzte sie wie einen Katalysator. Er wurde in dieser Welt abgesetzt, um die Mikroreiche dieser Dimension zu unterwerfen. Aus dem Gigantischen kam er hinein ins Winzige, und aus dem Winzigen heraus ins Gigantische. Ich glaube, ein uralter Plan Rha-Ta-N'mys ist es, dieses Universum mit Hilfe der Kräfte aus dem Mikrokosmos zu unterjochen. Es gibt mit Sicherheit einige Ereignisse, die auf diese Versuche hinweisen. Vielleicht hat man mir nie zugetraut, dass ich der alleinige Herrscher dieser Erde sein würde. Vielleicht stand von Anfang an fest, dass der Weg zurück nur eine Frage der Zeit ist. Ich weiß es nicht. Ich kann es nur vermuten. Denn viele Dinge sind schon im Voraus bestimmt und erkennbar. Man kann dann kaum mehr davon abweichen. Es sei denn man kennt den gesamten Ablauf und kann ihn absichtlich verfälschen.«

»Wo, Ak Nafuur, wo genau befindet sich die Zitadelle? Kannst du ihre Lage angeben?«

»Ja.« Er ließ sich eine Weltkarte geben und kreuzte die betreffende Stelle in der Arktis an. »Hier ist es.«

»Gut. Dann werde ich gehen.«

Für Björn Hellmark wäre es kein Problem gewesen, sich im nächsten Augenblick zusammen mit seinem Doppelkörper oder ihm allein dorthin zu versetzen.

»Halt«, sagte Ak Nafuur da mit scharfer Stimme. »So einfach ist es nicht! Die Gefahr ist groß! Du solltest nicht allein gehen ...«

»Gut. Dann werde ich Rani mitnehmen.«

»Und Arson, den Mann mit der Silberhaut«, sagte der Priester. »Auch ich werde mitgehen ...«

Hellmark war verwundert, »Aber das ist nicht nötig. Wir werden schon zurechtkommen, wenn du uns sagst, wie wir vorgehen und worauf wir achten müssen. Du musst dich noch schonen.«

»Das ist nicht nötig«, fiel Ak Nafuur ihm ins Wort. »Es ist wichtiger, dass ich bei euch bin. Ich allein kann euch unter Umständen Hinweise auf die magischen Sicherungen geben, die dort existieren. Kein Ungebetener, kein Außenstehender sollte jemals die Zitadelle betreten. Wir müssten in die Zitadelle und dann wird sich herausstellen, was zu tun ist, um den Weg zu gehen, den vor Jahrtausenden Shab-Sodd ging. Vorausgesetzt, dass auch nur einer von uns dazu noch in der Lage sein wird ...«

»Ich werde mir mit Macabros zunächst die Umgebung ansehen«, bestimmte Björn. »Und dann werden wir sehen, wie's weitergeht. Einverstanden?«

Ak Nafuur nickte. »Das ist ein guter Vorschlag.« Er seufzte und fuhr sich mit der Hand durch das dichte, weiße Haar. »Es ist höchst bedauerlich, dass Lekarim seinen ursprünglichen Auftrag erfüllen konnte. Mirakels Entführung in den Mikrokosmos hätte uns nicht dazwischenkommen dürfen. Damit werden nicht nur deine Pläne, Björn, über den Haufen geworfen, sondern auch meine ...«

Hellmark hob kaum merklich die Augenbrauen. Der zu den Menschen Zurückgekehrte hatte eigene Pläne? Björn konnte seine Überraschung schwerlich verbergen.

Ak Nafuur lächelte feinsinnig. »Ich kann mir denken, was in dir vorgeht. Ich will es dir erklären. Ja es gibt Pläne, die ich mit dir hatte, Björn. Seitdem feststeht, dass du zum unbarmherzigen Jäger der Dämonen und Geister geworden bist, haben sich viele Dinge ereignet, die ungeklärt blieben, die aber dringende Aufklärung verlangen, die für dich lebenswichtig oder lebensbedrohlich sind. Es kommt auf den Standpunkt an.«

Und dann nannte Ak Nafuur einige dieser Dinge.

Da war das ungeklärte Schicksal von Danielle de Barteauliee, jener jungen Französin, die Björn in einer anderen Dimension verlor, weil in einem Tempel Rha-Ta-N'mys ein unheimlicher Fluch wirksam wurde. Es gab auf der Erde noch immer zwei Monster aus Dwylup, deren genaue Aufenthaltsorte Molochos alias Ak Nafuur kannte. Und er wusste ebenfalls etwas über den Schrecklichen, der seinerzeit aus dem Totenbrunnen kroch und sich noch in dieser Welt befand. Dies waren nur drei Beispiele von vielen, die Björn erschreckten, als er über die Hintergründe informiert war.

»Ich werde Arson und Rani Mahay sofort darüber unterrichten. Sie können sich dieser Dinge annehmen, während wir gemeinsam ...«

»Nein«, widersprach der Priester. »Es wäre grundverkehrt, all diese Dinge gleichzeitig in Angriff zu nehmen, so wichtig sie auch sind.« Björn musste seinem Gesprächspartner im stillen Recht geben.

»Es ist wirklich schade, dass man nur an zwei Stellen gleichzeitig sein kann«, sagte er leise und ließ im gleichen Moment seinen Doppelkörper Macabros Tausende von Meilen weiter nördlich entstehen, mitten im ewigen Eis, an der Stelle, die Ak Nafuur angegeben hatte.

Was würde dieser erste Informationsbesuch in unmittelbarer Nähe der Eiszitadelle erbringen?

»Sie wird nicht richtig ins Schloss gefallen sein«, sagte Morgan Finigan. »Der Wind hat sie aufgedrückt ...«

»Er ist durch die Tür ... gekommen«, stammelte Eve mit dumpfer Stimme.

Kaum waren ihre Worte verklungen, war das Geräusch zu hören. Im Korridor ächzten leise die Dielen ...

»Morgan! Er ist noch immer im Haus!« Sie schrie es einfach heraus, erschrak vor der eigenen Lautstärke ihrer Stimme und schlug die Hände vor ihren Mund. Mit einem einzigen Sprung war Morgan Finigan aus dem Bett. Im Aufspringen riss er die geladene Pistole unter dem Kopfkissen hervor. Ein Schatten fiel ins Schlafzimmer. Länglich und schmal, mit einem bizarren Kopf und ... Dann stand Rocky, der Bastard, vor ihnen und blickte abwechselnd von einem zum anderen. Morgan Finigan biss sich auf die Unterlippe. Er ließ die Waffe sinken.

»Du machst mich noch verrückt«, entfuhr es ihm, ohne dass er dies sagen wollte. »Ich hätte fast geschossen ...«

»Rocky? Was will denn der Hund hier im ... Schlafzimmer?«, fragte Eve Finigan.

»Er hat gehört, dass wir uns miteinander unterhalten. Das hat ihn angelockt. Und die offene Tür ...«

»Dann frag ich mich, warum er vorhin den Fremden durch den Korridor laufen ließ, ohne den geringsten Laut zu geben ...«

»Er hätte ihn zerfleischt. Das weißt du ebenso gut wie ich.«

Morgan versuchte ihr glaubhaft zu machen, dass sie den Schreck von heute Mittag offensichtlich doch noch nicht überwunden hatte, dass er nachwirkte im Traum, und sie nur meinte, dem Unbekannten erneut begegnet zu sein.

Doch Eve Finigan ließ sich nicht so leicht beruhigen.

Sie stand auf und verlangte, dass ihr Mann ständig mit der geladenen Pistole an ihrer Seite blieb.

Sie selbst bewaffnete sich mit einer lichtstarken Taschenlampe, und erneut suchten sie jeden einzelnen Raum der Hütte auf.

Doch sie stießen nicht auf den Mann, den Eve Finigan gesehen haben wollte.

Sie begann wieder zu weinen. Tränen rollten über ihre Wangen. »Was ist nur los mit mir?«, wisperte sie mit brüchiger Stimme. »Ich hatte doch immer Nerven wie Drahtseile. Für mein Verhalten, Morgan, gibt es überhaupt keinen Grund, nicht wahr? Ich bin ausgeglichen, nicht überarbeitet, nicht nervös ... Warum nur reagiere ich so?«

Er sagte nichts. Auch er hatte seine Befürchtungen, streichelte über ihren Kopf, lächelte sie an und meinte dann, dass das Ganze sicher eine einfache Erklärung fand. Wahrscheinlich war sie doch überlastet.

»Irgendwann im Leben eines jeden Menschen gibt es mal eine Krise«, sagte er ruhig. »Eine Krise ist dazu da, damit das, was nachkommt, besser wird ...«

Eve Finigan ging um ihr Bett herum. Da stieß sie mit dem Fuß gegen einen festen Gegenstand. Sie senkte die Taschenlampe. Der Lichtstrahl riss das Objekt aus der Dunkelheit.

»Was ist denn das?«, fragte sie verwundert.

Morgan Finigan bückte sich. Er hielt einen etwa zwanzig Zentimeter langen und fünf Zentimeter durchmessenden schwarzen Stab in der Hand, der glatt und fugenlos gearbeitet war.

So etwas hatten sie noch nie gesehen.

»Es fühlt sich hart und kalt an«, sagte sie leise.

»Was ist das, Morgan?«

»Keine Ahnung.« Eve Finigan richtete den Strahl ihrer Taschenlampe auf den rätselhaften Gegenstand.

Da erst sahen sie Genaueres. Der Stab war übersät mit fremdartigen Schriftzeichen und Symbolen, magischen Runen, die ein einziges Durcheinander ergaben.

»Das ist ... von ihm«, entrann es den Lippen der Frau. »Er hat es verloren, während er neben meinem Bett stand. Morgan! Er war da ... er war also doch Wirklichkeit! Glaubst du mir nun?«

»Ja«, entgegnete er rau.

Macabros materialisierte punktgenau an der Stelle, die Ak Nafuur angegeben hatte.

Ein eisiger Wind pfiff. Der Himmel war grau, und Schneeflocken umtanzten die Gestalt, die nicht aus Fleisch und Blut war.

Macabros empfand die Kälte nicht, die ihn umgab.

Vollkommen ungeschützt hielt er sich auf diesem Kontinent auf, ohne zu frösteln, ohne den Kältetod zu riskieren.

Bizarre Eisberge und -felsen ragten aus dem weißen Untergrund und bildeten eine groteske, leblose Kulisse.

Macabros hielt sich nur wenige Augenblicke im Freien auf. Er konnte die Zitadelle nirgends erblicken. Sie lag unter seinen Füßen. Mitten im ewigen Eis.

Björn Hellmark, der Tausende von Meilen entfernt auf der unsichtbaren Insel jeden einzelnen Bewusstseinseindruck seines Doppelkörpers empfing, handelte.

Ein einfacher Gedankenimpuls genügte.

Macabros verschwand von der Stelle, an der er eben noch gestanden hatte, und materialisierte neu tief im Innern des eisigen Kontinents.

Macabros nahm mit Erstaunen seine neue, phantastische Umgebung wahr.

Es gab sie tatsächlich, jene Zitadelle, von der Ak Nafuur gesprochen hatte!

Auf einer riesigen, glatten Eisfläche kam sich der Ankömmling winzig und verloren vor. Trutzig türmte sich das massige Rund der Zitadelle etwa fünfzig Schritte von ihm entfernt auf.

Dunkelgrau hoben sich die gewaltigen Zinnen und die seitlichen Türme am Hauptbau vom fahlen Hintergrund ab.

In der Zitadelle existierte ein riesiges, geöffnetes Tor. Im oberen Drittel war das stählerne Gitterwerk zu erkennen, das diese Öffnung sonst verschloss.

Macabros ging darauf zu.

Er passierte die Öffnung und kam in einen großen, schummrigen Innenhof.

Die Wände der Zitadelle hatten die Farbe des ewigen Eises. Sie fühlten sich kalt an. Ein eigenartiger Lichtschein glomm in ihnen. Es sah aus, als würde das trutzige Gebäude von innen heraus leuchten.

Das also war der Ort, an dem nach menschlichem Ermessen, vor unvorstellbaren Zeiträumen Shab-Sodd auftauchte, um seinen Weg in den Mikrokosmos zu beginnen.

Macabros nahm die fremde Umgebung mit geschärften Sinnen auf.

Er sah die rechteckigen, schmalen Fenster und in den grau-weißen Wänden die zahlreichen Türen und Durchlässe, die in die Zitadelle führten, und er begann mit seinem ersten Rundgang.

Die Zitadelle war außergewöhnlich groß.

Nicht zu zählen waren die Kammern und Räume in den einzelnen Etagen, die durch schmale, steile Treppen miteinander verbunden waren. Und immer wieder gab es Gänge, Korridore und verwinkelte Zuführungen in kleine, düstere Räume, von denen man auf Anhieb zunächst nichts ahnte.

Auffallend in der riesigen Zitadelle waren die unzähligen Säulen. In manchen Sälen standen sie so dicht beieinander, dass man meinte, sich in einen Wald mit lauter Bäumen verirrt zu haben.

Die Düsternis, die ihn umgab, war beängstigend.

In diesen Hallen gab es an den Seitenwänden große Nischen, in denen sich Altäre und kleine, abgeschnittene Säulen befanden, die aussahen wie runde Opfertische.

Alle Säulen wiesen eine Vielzahl seltsamer Zeichen, Hieroglyphen und Reliefs auf.

Die Luft war eigenartigerweise nicht kalt.

Björn Hellmark registrierte Tausende von Meilen entfernt, dass Macabros sich in wohltemperierter Umgebung aufhielt. Das widersprach jeder Vernunft.

Macabros stieß nicht auf Spuren derzeitigen Lebens. Die Zitadelle schien von niemand bewohnt.

Macabros versetzte sich kurz hintereinander in verschiedene Räume. Die waren leer bis auf die geheimnisvollen mannsgroßen Nischen, in denen schmale Altäre und abgesägte, mit magischen Zeichen übersäte Säulen standen.

Wonach er vergebens suchte, war ein Raum, in dem es jenes Besondere geben sollte, das den Übergang Shab-Sodds vom Makro- in das Mikrouniversum vollzog.

Wie ein Geist tauchte Macabros hier und da auf und verschwand wieder, um anderswo zu materialisieren. Dieser Eispalast stellte ein wahres Labyrinth dar an Gängen, Korridoren, Treppen und Geheimkammern, unverständlichen, plötzlich angebrachten Dachschrägen, die keinen eigentlichen Sinn ergaben, verwinkelten, perspektivisch verzerrten Kammern ohne Fenstern.

Ein Zentrum geheimnisvoller Magie, das niemand hier vermutete, von dem kein Mensch etwas auf der Erde wusste. Es lag verborgen im ewigen Eis und war Zeuge weit zurückliegender Ereignisse, die das Gesicht der Welt mitgeprägt hatten.

Als Björn sicher war, dass keine akute Gefahr für sie bestand, wenn sie die Zitadelle aufsuchten, löste er Macabros auf, um Kräfte zu sparen.

Er teilte seinen Freunden, die er inzwischen herbeigerufen hatte, mit, was er gemeinsam mit Ak Nafuur beabsichtigte.

Sie waren zu viert.

Arson, der Mann mit der Silberhaut, Rani Mahay, der Koloss von Bhutan, Ak Nafuur, der ehemals Schwarze Priester Molochos, und Björn Hellmark alias Macabros.

Carminia Brado schloss sich der Gruppe noch an. Sie ließ es sich nicht nehmen, ebenfalls einen Eindruck von der geheimnisvollen Zitadelle aus Eis zu gewinnen.

Bis auf Ak Nafuur hielten sich die anderen lange genug auf Marlos auf, um über die Fähigkeit zu verfügen, die diese Insel vermittelte. Von hier aus konnte sich jeder schließlich an jeden x-beliebigen Ort der Welt versetzen.

Zuerst verschwand Arson. Dann Rani. Danach Carminia. Zuletzt folgten Björn Hellmark und Ak Nafuur. Björn musste erneut seinen Doppelkörper entstehen lassen, um sowohl den ihn begleitenden Priester als auch sich von Marlos, der Insel des ewigen Frühlings und des Friedens, wegzubringen.

Björn lächelte den weißhaarigen Mann an. »Ich habe dort alles verlassen gefunden. Es sieht so aus, als ob wir wirklich die besten Voraussetzungen antreffen, um unseren Plan zu verwirklichen.«

Ak Nafuur wiegte den Kopf. »Ich habe da so meine Bedenken ... wir sollten sehr vorsichtig sein und immer dicht beisammen bleiben ...«

Dann verschwanden auch sie von Marlos.

Die vertraute Umgebung der Blockhütte verlor sich im Nichts, und aus diffusen Nebeln schälte sich eine neue Umgebung.

Ein fahles Schimmern ... Es waren die kahlen, gewaltigen Wände der Zitadelle aus Eis.

Macabros, Björn Hellmark und Ak Nafuur kamen in dem großen Innenhof an und erlebten einen Schrecken.

»Carminia, Rani, Arson!«, stieß Björn Hellmark hervor. Nervös blickte er in die Runde. Von der geliebten Frau und den Freunden keine Spur!

Die beiden Männer starrten sich an. Macabros stand einen Schritt abseits.

»Wo sind sie? Was kann passiert sein, Ak Nafuur? Hast du dafür eine Erklärung?« Björn Hellmark umklammerte den Griff des Schwertes des Toten Gottes.

Bevor seine Freunde und er sich entschlossen, den Sprung in die Arktis zu wagen, hinein in die Zitadelle, die unter Millionen Tonnen Eis verborgen lag, hatten sie sich mit Waffen ausgerüstet.

Rani und Björn nahmen manches Beutestück mit nach Marlos, um gegen die Feinde hinter den Barrieren der Welt auch jederzeit mit einer größeren Streitmacht antreten zu können.

So waren Rani, Arson und Carminia mit Schwertern bewaffnet, um sich eventuell auftauchenden Gegner zu stellen. Außer diesen Waffen hatten sie aus der Geisterhöhle auf Marlos je ein Auge des Schwarzen Manja bei sich. Der rote, funkelnde Stein erinnerte an einen ungeschliffenen Rubin. Er stammte aus dem urzeitlichen Xantilon, als es dort die Vögel gab, die sieben Augen hatten. Den versteinerten Augen sprach man wirksame Kräfte gegen Dämonenbrut und magische Angriffe zu.

Als Krönung war es ihm gelungen, mit Hilfe von sieben Manjaaugen die Dämonen und Geister aus Molochos Körper zu treiben und ihn wieder zu den Menschen zurückzuführen.

»Vielleicht sind sie an einer anderen Stelle der Zitadelle angekommen«, murmelte Ak Nafuur. Der telekinetische Absprung von Marlos in die Zitadelle war im Abstand von wenigen Augenblicken erfolgt.

Weit konnten die Freunde nicht sein.

Björn schickte Macabros sofort auf den Weg.

Mit ihm besaß er die Möglichkeit, sich schnellstens ein Bild von eventuellen Veränderungen und Gefahren zu machen, die ihm vorhin bei seinem ersten Besuch nicht auffielen.

Macabros tauchte kurz hintereinander in mehreren Räumen der Zitadelle auf und inspizierte sie.

Es gab nirgends einen Hinweis auf die zuvor Angekommenen.

Siedend heiß durchfuhr es Björn.

Urplötzlich stellte sich ihm die Frage ganz anders.

Hatten Carminia, Rani und Arson überhaupt die Zitadelle erreicht?

Es konnte ebenso gut sein, dass durch einen magischen Fluch eine geheimnisvolle Falle, die er vorhin nicht erkannte, Carminia und die Freunde abgefangen worden waren oder an eine Stelle versetzt wurden, wohin sie gar nicht wollten.

»Wenn sie sich hier aufhalten«, warf Ak Nafuur plötzlich ein, als hätte er Hellmarks Gedanken gelesen, »dann werden wir sie auch finden. Ich weiß nichts über die Zitadelle. Mir ist nur so viel bekannt, wie ich dir gegenüber erwähnt habe, Björn. Es lässt sich jedoch an allen zehn Fingern ablesen, dass eine solche hochkarätige Apparatur, wie die Zitadelle sie darstellt, auch über die Jahrtausende hinweg mit Sicherungen versehen ist, die wir nicht kennen. Wir müssen ständig auf jegliche Situation vorbereitet sein.«

Durch den Haupteingang betraten Hellmark und Ak Nafuur die große Halle mit den Säulen, die die magischen Runen und Zeichen trugen.

Während die beiden Männer ganz außen an der Wand entlanggingen, um die pulsierende Finsternis zwischen den dicht stehenden Säulen nicht durchqueren zu müssen, hielt Hellmark seinen Doppelkörper weiter aktiv. Macabros tauchte an verschiedenen Stellen auf, in der Hoffnung, doch noch eine Spur von den zuvor hier eingetroffenen Begleitern zu finden.

Wie Ak Nafuur, so traute auch er dem Frieden nicht, der scheinbar in dieser kahlen, seelenlosen Zitadelle herrschte. Etwas war da. Sie spürten es beide beinahe körperlich.

Da blieb der blonde Mann mit dem markant geschnittenen Gesicht und den Lachfältchen um die Augen plötzlich stehen.

»Schau dir das an, Ak Nafuur! Siehst du es nicht?«, wisperte er erregt.

Die Wand neben ihnen ...

Zerfließende Schatten bewegten sich im Innern des grauen, fahlen Eises, aus dem die Wände der Zitadelle bestanden.

Hellmark hielt den Atem an.

Der Schatten, den er in der Eiswand sah, bewegte sich direkt auf sie zu. Er hatte menschliche Umrisse!

Wie auf einer Leinwand konnten sie beobachten, wie er an der Wand entlanglief, vor der sie standen, wie die Hände der Gestalt von innen die Fläche abtasteten, als suche sie verzweifelt nach einem Ausweg.

War die Wand dahinter hohl?

Dann wich der Schatten wieder zurück, tauchte unter in einem grauen, diffusen Licht, das ihn völlig aufnahm.

Vorsichtig tastete der blonde Deutsche über die Wand, an der er soeben die gespenstische Beobachtung gemacht hatte.

Er fühlte die glatte Eisfläche unter seinen Fingerkuppen.

Die Wand war massiv.

Auf ihrem Weg zu der Nische mit dem großen Altarstein, den Ak Nafuur aus nächster Nähe ansehen wollte, sahen sie weitere Schatten, die sich im Innern der Wand bewegten, aber so weit entfernt waren, dass ihre Umrisse nur schemenhaft verschwommen erschienen.

»Auch für mich ist dies Neuland«, wies der Priester darauf hin. »Ich hatte nie mit dieser Zitadelle zu tun, ich weiß lediglich von ihrer Existenz.«

Noch zehn Schritte bis zum Altar ...

Björn Hellmark wirkte ernst und verschlossen.

Noch immer hielt er seinen Doppelkörper Macabros lebendig und suchte damit das umfangreiche Labyrinth der Korridore, Gänge, verwinkelten Kammern und Räume ab.