Macabros 037: Horron - Dan Shocker - E-Book

Macabros 037: Horron E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Apokalyptas todbringende Armada Noch immer irren Björn und seine Freunde durch ein Land, das in einem Staubkorn Platz hat. Sie sind winziger als ein Atom, verloren im Nirgendwo. Zwar gelang es, dem Irren Nh or-Thruu einen entscheidenden Schlag zu versetzen, doch noch ist der Dämon nicht geschlagen. Der Irre hat vorgesorgt! Was alles geplant? In dem Moment, als Hellmark glaubt, das Blatt zu seinen Gunsten wenden zu können, schließt sich die tödliche Falle! Er wird bereits erwartet. Von Apokalypta ... Horron - Kontinent der Vergessenen Björn hat durch die Hilfe des grauen Riesen eine Höhle gefunden, in der ihn ein Rätsel nach dem anderen erwartet. Während die in der Mikrowelt Eingeschlossenen alles tun, um die Gefahren zu meistern, folgt Rani Mahay der Spur Ak Nafuurs. Der Koloss von Bhutan stößt auf einen Dämonenanbeter, mit dem es eine besondere Bewandtnis hat. Mahay macht eine sensationelle Entdeckung. Sein unheimlicher Gegner stammt von Horror, der Welt der Vergessenen ... und den gleichen Begriff entdecken Björn und seine Freunde in der Welt des Atoms!

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DAN SHOCKERS MACABROS

BAND 37

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Fachberatung: Gottfried Marbler

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-737-5

Dan Shockers Macabros Band 37

HORRON

Mystery-Thriller

Apokalyptas todbringende Armada

von

Dan Shocker

Prolog

In der Nacht geschah über dem Mittelmeer etwas höchst Eigenartiges. Und niemand war Zeuge.

Weder ein zufällig vorbeikommendes Schiff noch eine Radarstation sichteten das eigenartige Gebilde. Es war eine riesige, auf einer Plattform schwebende Stadt, die jedoch nicht völlig materialisierte. Sie wirkte wie eine Vision, wie durchsichtig, als ob sie sich nicht ganz in dieser und nicht ganz in einer anderen Welt befände.

Riesige, bizarre Türme hinter einer hohen, alles begrenzenden Mauer ragten in den nächtlichen Himmel und schienen die kaltglitzernden Sterne zu berühren.

Eines der mächtigen Tore war weit geöffnet. Die schwebende Stadt entließ ein geheimnisvolles Wesen.

Ein Reiter jagte lautlos durch die Luft. Er steckte in einer mattschimmernden Rüstung, die seinen Körper bis zum Hals umschloss. Der Kopf lag frei. Es war das Antlitz einer bildschönen Frau mit schulterlangem, schwarzem Haar. Das Besondere an der Rüstung war, dass sich Flügel daran befanden.

Geflügelt war auch das Reittier, das sich mit kraftvollem Schwung in die Lüfte erhob. Es war ein Mittelding zwischen Pferd und urwelthafter Echse, mit langgestrecktem Kopf, massigem Leib und Schuppenpanzer.

Was in dieser sternklaren Nacht unweit von Frankreichs Küste geschah, erinnerte an einen phantastischen Traum. Aber es war Wirklichkeit, eine Wirklichkeit, die zum Alltag der Welt gehörte, auch wenn niemand sie wahrhaben wollte.

Die Stadt war Gigantopolis, die Alptraumstadt der Monster. Die unheimliche Reiterin war niemand anders als Apokalypta, die ewige Unheilbringerin, wie sie von Eingeweihten apostrophiert wurde.

Apokalypta tätschelte mit ihrer in einem Metallhandschuh steckenden Hand den festen, hornartigen Hals des Tieres.

»Dies also wird der Ort sein, wo sie auftauchen wird«, kam es über ihre sinnlichen, rot schimmernden Lippen. »Niemand kennt Zeit und Stunde, auch im Reich der Dämonen ist einiges durcheinander geraten. Aber ich habe zumindest den Ort erfahren, und das allein zählt. Nh'or Thruu wird nicht allein sein. In der entscheidenden Schlacht werde ich ihm beistehen und meinen Todfeind vernichten, dem es bisher gelungen ist, sich meiner Rache zu entziehen. Nh'or Thruu und ich werden Rha-Ta-N'mys Gefallen erregen ... hier wird es sein, ich spüre es ganz deutlich ...«

Das mächtige Tier bewegte sich mit gewaltigen Flügelschlägen über das nächtliche Meer. Apokalypta presste die Schenkel fest in die Flanken des Echsenpferdes und jagte dem Festland entgegen.

In der Ferne schimmerten die Lichter kleiner Dörfer und Städte. Zu ihnen gehörte Aigues Mortes und La Grande Motte, die moderne Touristenstadt.

Der bedrohliche Schatten des fremdartigen Reittieres und der nicht minder fremdartigen Reiterin streiften eine Zeitlang über den stillen Strand, das rauschende Wasser und die am Ufer stehenden Behausungen und Hotels.

Apokalypta kreiste über dem Meer und kehrte in die halbdurchsichtige, schwebende Stadt zurück. Wie von Geisterhand bewegt, schlossen sich die beiden mächtigen Torflügel.

Halbdurchsichtig blieb die Stadt der massigen Türme und bizarren, spiralförmig gewundenen und minarettähnlichen Bauten über dem Mittelmeer hängen, ehe sich ihre Konturen weiter verwischten und sie schließlich nicht mehr zu sehen war. Doch die Stadt in den Wolken war nicht verschwunden. Sie hielt sich noch immer an der gleichen Stelle auf, war nur nicht mehr für das menschliche Auge sichtbar.

Aber Apokalypta und ihre schreckliche Brut lagen auf der Lauer ...

1. Kapitel

»Sie wollen es wirklich riskieren?« Der Mann mit dem blauschwarzen Haar und den dunklen, undurchdringlichen Augen musterte sein Gegenüber.

»Ja ...« Der diese Antwort gab, war ein wahrer Hüne von Gestalt, zwei Meter groß, zwei Zentner schwer, und hatte eine prachtvolle Glatze.

»Sie haben Mut.« Der Zigeuner nickte.

Das Gespräch fand in einem Wohnwagen statt, der dem Zigeuner Baktar gehörte. Genau genommen waren es zwei Wohnwagen, die Baktar gehörten. Ein kleinerer, modern und gemütlich eingerichteter, ein sehr großer, der dadurch auffiel, dass er keine Fenster besaß. Zwischen beiden Wagen existierte ein Verbindungsgang. Die Falttür war geöffnet, und Rani Mahay, der Koloss von Bhutan, konnte in der Dämmerung vor sich das über fünf Meter lange Bett erkennen, in dem ein Wesen lag, das nur wenige Zentimeter kleiner war.

Dabei konnte es sich um keinen Menschen handeln. Es war ein grauer Riese, ein Geschöpf aus einer fremden Welt und doch schon seit mindestens 170 Jahren im Besitz von Baktars Familie, wie Rani Mahay erfahren hatte.

»Es ist weniger Mut als eine Notwendigkeit«, entgegnete der Koloss von Bhutan nachdenklich. »Es gibt nur diesen und keinen anderen Weg ...«

»Das ist ein Irrtum«, machte Baktar ihn darauf aufmerksam. »Es gibt hundert Wege ... einen davon fand Ihr Freund Björn Hellmark.«

»Aber diesen Weg gibt es nicht mehr. Und die anderen neunundneunzig, kennen Sie sie, Baktar?«

»Nur den einen durch Ramos.«

Dies war der menschliche Name des grauen Riesen. So bezeichnete Baktar ihn. »Und dies ist eine sehr bedenkliche Möglichkeit, wie Sie wissen. Es gibt keine Garantie dafür, dass Sie jene Welt erreichen, die maßgebend für Sie ist.«

»Ich habe im Augenblick jedenfalls keine andere Möglichkeit.« Es war eine wahnwitzige Idee, zu der er sich durchgerungen hatte. Es war seine Absicht, die in der Mikrowelt verschollenen Freunde zu suchen. Es gab einen Weg, keinen sicheren, aber immerhin. »Ich bin entschlossen, fangen Sie an, Baktar! Verlieren wir keine weitere Zeit ...«

Der Inder atmete tief durch. Er warf einen letzten Blick auf den grauen Riesen, der im Koma lag, der von einem Menschen versorgt wurde und mit dessen Hilfe es möglich war, die Barrieren niederzureißen, die die Welten voneinander trennten. Ramos und das geheimnisvolle Gefäß in seinem Besitz ermöglichten eine Reise, die ans Wunderbare grenzte.

In Baktars Wohnwagen brannte mitten auf dem kleinen, ausklappbaren Tisch eine einzige Kerze.

Der Zigeuner nahm das Gefäß zur Hand, das nicht menschlichen Ursprungs war, das er benutzte, um mysteriöse Illusionen in einem Zirkus vorzuführen. Auf diese Weise verdiente er seinen Lebensunterhalt, der auch notwendig für Ramos war. Noch immer bestand die Möglichkeit, dass er eines Tages wieder zum vollen Bewusstsein erwachte und dorthin zurückkehrte, von wo er einst gekommen war. Bei dem Versuch, sich von einer Welt in die andere zu versetzen, war etwas schiefgegangen, was der menschliche Verstand mit seinen noch beschränkten Denkprozessen wahrscheinlich nie ergründen würde.

Baktar öffnete die geschlossene Hand. Darin befand sich ein großer, dunkelrot schimmernder Stein. Ein versteinertes Auge des Schwarzen Manja! Der Gegenstand besaß frappierende Ähnlichkeit mit einem ungeschliffenen Rubin. Es ruhten magische Kräfte in diesem Stein, die Björn Hellmark alias Macabros schon große Dienste geleistet hatten und wurden von Dämonen gefürchtet. Es war eine wahre Neuentdeckung, dass die grauen Riesen die versteinerten Augen des einst auf Xantilon heiligen Vogels benutzten, um ihre Teleportationsfähigkeiten zu unterstützen.

In dem seltsam geformten Behältnis mit den beiden gespreizten Flügeln schimmerte regenbogenfarbiges Licht. Es befand sich in stetiger Bewegung, war auf- und abschwellend ...

Rani brauchte sich nicht weit nach vorn zu beugen, um nochmal einen Blick in das rätselhafte Behältnis zu werfen. Was sich darin bewegte, waren geisterhafte Geschöpfe, die einen tolldreisten, lautlosen Wirbel verursachten. Sie überschlugen sich, schienen wie winzige Elfen herumzualbern und verbeugten sich vor den großen Gesichtern der beiden Menschen, die außerhalb des Gefäßes zu sehen waren.

Woher die geheimnisvollen Geister stammten, wie sie zu den grauen Riesen gekommen waren, das alles war auch Baktar, dem Zigeuner, unbekannt. Aber es war für das, was durchgeführt werden sollte, überhaupt nicht wichtig.

»Lehnen Sie sich zurück«, forderte Baktar seinen Besucher auf. »Versuchen Sie sich völlig zu entspannen ... Sie sind ganz ruhig ... Sie achten nur auf meine Stimme und werden alles tun, was ich von Ihnen verlange, um das Risiko so gering wie möglich zu halten. Denken Sie an die Welt, die Sie erreichen wollen ... Sie haben keine Vorstellung davon, wie sie aussieht, ich weiß«, reagierte Baktar sofort, als er merkte, dass Rani Mahay dazu Stellung nehmen wollte. »Das ist auch gar nicht notwendig ... es genügt, wenn Sie sich auf den Namen der Welt konzentrieren ...«

»Zoor«, murmelte Rani konzentriert. »Sie heißt Zoor ...«

»Ramos wird wissen, was damit gemeint ist. Auch der Mann mit dem weißen Haar wollte nach dort ...«

Baktar sprach von Ak Nafuur. Er hatte den ersten Versuch unternommen und kannte die Quelle Ramos und Baktar. Ak Nafuur war vor nicht allzu langer Zeit der Dämonenfürst Molochos gewesen, der sich die Vernichtung der Menschheit zum Ziel gesetzt hatte. Durch Björn Hellmark war er wieder zu den Menschen zurückgekehrt und nutzte sein Wissen, um jenen Getreuen unter die Arme zu greifen, die er zuvor als Todfeinde bekämpft hatte.

Rani Mahay war noch immer überzeugt davon, dass Ak Nafuur nicht leichtfertig gehandelt hatte, als er sich entschloss, Baktar und Ramos aufzusuchen und auf die gleiche Weise Eingang in das Mikro-Universum zu finden hoffte. Der Weg nach drüben allein nutzte nichts. Er brachte allen nur etwas, wenn auch die Chance bestand, wieder zurückzukehren. Baktar stritt diese Möglichkeit ab. Aber Rani Mahay vertraute trotz des scheinbaren bisherigen Misserfolges auf Ak Nafuurs Wissen. Ihm war mehr bekannt als einem Normalsterblichen.

Rani hatte die Augen geschlossen, fühlte sich ganz entspannt, hatte seine Umgebung vergessen und dachte nur noch an Zoor, an die Freunde, die dort vielleicht in größter Bedrängnis oder schon nicht mehr am Leben waren.

Baktar ließ den faustgroßen Stein in den Behälter gleiten. Das setzte den Prozess in Gang. Die Bewegungen der dienenden Geister, die in dem magischen Gefäß zu Hause waren, verstärkten sich. Auch die Farben wurden intensiver, leuchtender.

»Lassen Sie die Augen geschlossen«, sagte der Zigeuner leise. »Denken Sie nur an Zoor ... die dienenden Geister erheben sich, und auf ihren Flügeln werden Sie hinübergetragen in eine Welt, die kleiner ist als ein Staubkorn. Es ist die Welt des Atoms ... lassen Sie die Augen geschlossen, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie nach Zoor kommen, und nur nach Zoor ... Ihr habt es vernommen ... ihr kennt seinen Wunsch ...«

Baktar redete wie ein Hypnotisierter, leise, eindringlich, monoton ... Seine letzten Worte galten den dienenden Geistern der grauen Riesen. Die fingergroßen Gestalten im Innern des Behältnisses stürzten sich wie im Freudentaumel auf den roten, ungeschliffenen Stein. Die magische Energie des Manja-Auges war wie Nektar für sie.

Durch Baktar wusste Rani Mahay, dass die grauen Riesen mit Hilfe des Manja-Auges die dienstbaren Geister des Universums zu Höchstleistungen anspornen konnten. Die farbigen Gestalten in dem geflügelten Behältnis waren durch die Energiezufuhr in der Lage, selbst ungeheure Leistungen zu vollbringen. Über unvorstellbare Räume und Zeiten hinweg trugen sie die grauen Riesen, die sich als Nomaden des Kosmos entpuppt hatten. Sie sprengten die Grenzen, die die Universen voneinander trennten. Im Lauf ihrer Entwicklung hatten die grauen Riesen allerdings gelernt, schließlich nur noch mit Hilfe ihres eigenen Geistes die größten Entfernungen zu überbrücken. Das war eine ganz natürliche und lebensnotwendige Entwicklung für dieses Volk. Die Zeiten, in der der heilige Manja-Vogel lebte, waren lange vorbei. Die Möglichkeit, dass nach dem Ableben eines Manjas dessen Augen versteinerten, war damit nicht mehr gegeben. Nur vereinzelte Exemplare waren noch vorhanden, oft nur winzige Bruchstücke, durch die mit Hilfe der dienstbaren Geister erstaunliche, an Wunder grenzende Aktionen durchgeführt werden konnten.

Der graue Riese, den Baktar als Ramos bezeichnete, bekam unbewusst die Aktivitäten mit. Nur im Zusammenwirken mit ihm selbst war es überhaupt möglich, einen Sprung von der Normalwelt in die Mikrowelt zu unternehmen. Aber dadurch, dass Ramos infolge einer unheilbaren und unbekannten Krankheit gehandicapt war, konnte unter Umständen der anvisierte Punkt verfehlt werden. Die dienstbaren Geister des Gefäßes vermochten viel, aber nicht alles. Wenn Ramos nicht mithalf, konnte das Unternehmen völlig danebengehen. Das war das Risiko, das Mahay bewusst einging. Ak Nafuur hatte es ebenfalls versucht, wie seine bisherigen Erkenntnisse ergaben. Ob er gescheitert war oder die Verschollenen gefunden hatte, das entzog sich allerdings seiner Kenntnis.

Die Atmosphäre in den beiden aneinander gekoppelten und mit einer Verbindungstür versehenen Wohnwagen veränderte sich. Die Düsternis wirkte dichter, der geheimnisvolle Regenbogenschein lag flimmernd auf den Wänden und tanzte auf den Einrichtungsgegenständen. Das alles geschah in gespenstischer Lautlosigkeit. In Baktars Wagen war es so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören.

Die Gestalten, die das Manja-Auge umkreisten, wurden rasch größer, ragten jetzt schon über den Rand des Gefäßes und schnellten vollends hinaus.

Wie der Geist aus der Flasche entwickelten sich die Dienenden der grauen Riesen und waren jetzt so groß wie Baktar. Geisterhafte Gestalten füllten das Innere des Wohnwagens. Sie sahen aus wie Feen und waren völlig nackt und unterschiedlich in ihrer Farbe.

Baktar atmete tief und ruhig und hatte die Augen geschlossen. »Denken Sie an Ihr Reiseziel ... und halten Sie die Augen zu«, murmelte der Zigeuner konzentriert.

Es fiel dem Inder schwer, die Lider nicht zu öffnen. Die Neugier reizte ihn, zu gern hätte er gewusst, was sich um ihn herum abspielte. Doch er blieb eisern und zwang sich, nicht hinzusehen. Blindes Vertrauen, im wahrsten Sinn des Wortes, war notwendig, um den Erfolg nicht vollends in Frage zu stellen.

»Sie dürfen die Augen erst öffnen, wenn Sie das Gefühl des Schwebens haben, wenn Sie glauben zu fliegen wie ein Vogel und frei und ungebunden zu sein ...«

Das Gefühl aber hatte er noch nicht. Im Gegenteil! Er meinte, Zentnergewichte würden auf seinen Schultern lasten.

Er hörte Atmen. War er es selbst? Es war laut und deutlich zu hören, kraftvoll und tief. Es kam aus dem angrenzenden, großen Wohnwagen.

Ramos? Er musste es sein! So lange und tief konnte kein Mensch atmen.

Rani musste an sich halten, um die Augen nicht zu öffnen oder den Kopf zu drehen. Baktar hatte ihn gewarnt, sich durch nichts ablenken zu lassen. Wie schwer dies sein konnte, wurde ihm jetzt richtig bewusst.

»Denken Sie an Ihr Ziel«, drang Baktars Stimme wie aus weiter Ferne an sein Ohr.

Zoor, hämmerte es in Mahays Bewusstsein. Ich muss nach Zoor ... zu Carminia ... Arson ... zu meinem Freund Björn ... und möglicherweise Ak Nafuur, der nach drüben wollte ... tragt mich in die Nähe dieser Menschen, die ich liebe, die meine Hilfe brauchen!

»Leben Sie wohl! Ich wünsche Ihnen alles Glück ... die guten Geister und Ramos' Wille werden Sie begleiten ... ich hoffe, Sie werden diejenigen finden, die sie suchen ...«

Baktars Stimme war kaum noch zu vernehmen.

Stärker als zuvor fühlte Rani sich veranlasst, die Augen zu öffnen, um nach dem Rechten zu sehen. Seine Lider zuckten ... er biss die Zähne zusammen ... nur nicht nachsehen!

Nicht irritieren lassen, fieberten seine Gedanken.

Da ging ein Ruck durch seinen Körper, als würde er von einem Katapult geschleudert. Sein Körper war schwer, als würde Blei statt Blut durch die Adern fließen. Sein Nacken schmerzte, und das Unbehagen setzte sich bis in den Rücken hinunter fort.

»Halten Sie durch ... nicht aufgeben ... begehen Sie keinen Fehler ...«, wehte die verklingende Ermahnung Baktars ihm nach.

Zoor ... Zoor ... ich darf an nichts anderes denken, bemühte sich Rani verzweifelt.

»Leben Sie wohl ... ich wünsche Ihnen vollen Erfolg ... es sieht gut aus ... Ramos scheint zu begreifen, worum es geht ... er ist halbwach, spricht auf geistigem Weg mit den Dienern, die auch für Sie da sind ... Ich würde mich freuen, wenn Sie die Menschen, die Sie suchen, wohlbehalten und unversehrt wiederfinden ... und auch zurückkehren könnten in diese Welt, die Ihre Heimat ist, weil nichts und niemand Sie festhalten kann ...«

Die Stimme verhallte. Baktars nachfolgende Worte erreichten Mahay schon nicht mehr. Das Gefühl der Schwere verging und wich einem des Schwebens, der Leichtigkeit ...

Er schlug die Augen auf und wartete keine Sekunde länger. Er glaubte zu träumen. Er fand sich wieder inmitten der feenhaften, zarten Geistergeschöpfe, die ihn in den Farben Rot, Grün, Orange, Violett, Gelb und Blau umgaben.

Er schwebte, lag längs in der Luft und sah in die zarten, klar erkennbaren Gesichter. Er war nicht mehr in Baktars Wohnwagen! Er hatte die Welt verlassen und durcheilte in sanftem Flug eine Sphäre, die er nicht beschreiben konnte.

Er fühlte sich, als wäre er in Watte eingepackt. Eine Bewegung war nicht zu spüren, und doch wusste er, dass sein Zustand nicht mehr konstant war. Er meinte, sich langsam aufzulösen und Teil zu werden jener schimmernden Farbenmenschen, die ihn trugen und an ihm hingen wie die Kletten.

Er hatte kein Gefühl mehr für Raum und Zeit. Es gab beides nicht mehr.

Sein Körper war umschlossen von gewaltigen Farbenspielen, so dass er sich vorkam wie in einer schillernden Seifenblase, die regungslos in einem unfassbaren Universum hing.

Mahay ließ seine Blicke in die Umgebung schweifen, in der Hoffnung, noch mehr wahrzunehmen. Ja – da war etwas ...

Hinter den zarten, durchscheinenden Körpern der feenhaften Gestalten glaubte er ein dunkles, schwarzrotes Dämmerlicht zu erkennen, das rasch näher kam.

Vor ihm befand sich plötzlich eine Art Schacht, der sich verjüngte, immer enger wurde, und in den sie jetzt vorstießen.

Im nächsten Moment brach das ohrenbetäubende Brüllen über ihn herein. Die Farben begannen zu flackern, und Mahay wurde sich einer rasenden Abwärtsbewegung bewusst. Gleichzeitig sah er, wie seine lächelnden, ehrerbietenden Begleiter ihn losließen und sich von ihm entfernten.

Was ist? rasten fiebernde Gedanken durch sein Hirn. Warum lasst ihr mich im Stich? Ich muss nach Zoor ... ihr wisst es doch ... Zoor!

War er schon am Ziel?

Schreiend stürzte er durch chaotisches Nichts und schlug um sich, als unheimliche Schattenhände nach ihm griffen, offensichtlich in der Absicht, ihn in eine ganz andere Richtung zu ziehen.

Schwarzrot war die Welt, die über ihn hereinbrach, orkanartig der Sturm, der ihn davonwehte wie ein Blatt im Wind ...

»Ich wünsche Ihnen das Beste ... ich denke an Sie und Ihre Wünsche, an Ihre Freunde ... an den Mann, den Sie Ak Nafuur nannten, und der wie Sie bereit war, das unberechenbare Risiko auf sich zu nehmen, sein Leben aufs Spiel zu setzen ... Ramos wird solche Opfer zu schätzen wissen ... um so sicherer ist es, dass er sein Bestes gibt ... er belohnt die Treue ... wenn er die Gelegenheit dazu hat ...«

Baktar lächelte versonnen, als er auf den Platz blickte, auf dem Rani Mahay noch vor wenigen Sekunden gesessen hatte. Nun war dieser Platz leer ...

Der Zigeuner hielt noch immer das Gefäß in der Hand, das zu beiden Seiten zwei metallene, gespreizte Flügel aufwies. Das Behältnis war einfach, bis auf den roten ungeschliffenen Stein, der merklich geschrumpft war. Das regenbogenfarbene Leuchten war vergangen, die dienenden Geister nicht mehr wahrnehmbar. Ein fahles, fremdartiges Licht herrschte in dem kleinen Wohnwagen.

Baktars Blick ging hinüber in den angrenzenden Wagen. Der graue Riese lag reglos da und atmete kaum merklich.

Hatte alles geklappt? Baktar konnte es nicht nachprüfen, er würde es nicht mal dann erkennen, wenn die dienenden Geister, die eine parapsychische Brücke zwischen Geist und Materie schlugen, in den magischen Behälter zurückkehrten. Das war kein eindeutiges Zeichen dafür, dass sie das Ziel des Suchenden erreicht hatten ...

Die rätselhaften, lichtdurchfluteten Gestalten kamen. Sie drangen durch die dünnen Wände und waren größer als Baktar, so dass sie mit ihren Köpfen die Decke berührten und die Hälfte des Schädels aus dem Dach wieder heraustrat. Sie waren nichtstofflicher Natur. Materie existierte nicht für sie ...

Sie begannen zu schrumpfen, zogen sich zusammen und wurden so von einem starken Sog in das mysteriöse Behältnis gezogen.

Da klirrte das Fenster, als hätte jemand einen Stein dagegengeworfen. Der eigenartige Zauber der Situation verging sofort. Baktars Kopf flog herum. Es war kein Stein, der die Scheibe zertrümmert hatte. Ein Mann stand am Fenster, schlug abermals heftig und in offensichtlich großer Wut den Knauf einer Pistole gegen die Scheiben.

»Zum Donnerwetter was soll das?«, brüllte Baktar aufgebracht.

Das Fenster war zu klein, um einem ausgewachsenen Mann die Möglichkeit zu bieten einzudringen. Aber das hatte der nächtliche Besucher offensichtlich auch gar nicht vor. Er drehte mit einer blitzschnellen Bewegung die Waffe in seiner Hand um, richtete sie durch das entstandene Loch und drückte ab.

Dreimal hintereinander bellten hart und trocken die Schüsse auf. Sie folgten so dicht, dass sie sich fast anhörten wie ein einziger.

Instinktiv warf sich Baktar schon beim ersten Schuss zu Boden und rollte unter den Tisch. Doch der Anschlag galt nicht ihm, sondern dem ahnungslosen Schläfer im Wagen.

Ramos!

Die Projektile durchbohrten ihn wie ein Sieb. Zwei Kugeln drangen ihm in den Kopf, die dritte mitten ins Herz. Im Schlaf bäumte sich der Graue mit dumpfem Stöhnen auf und fiel dann schlaff und kraftlos zurück.

»Neeiiinn«, kam der Aufschrei über die zitternden Lippen des entsetzten Zigeuners. Sein Blick irrte vom Mörder zum Ermordeten. Er konnte das Ungeheuerliche nicht fassen.

Der Mann am Fenster beugte sich nochmal kurz nach vorn. Einen Augenblick streckte er seinen Kopf durch die zerstörte Scheibe, und das schwache Licht der Kerze traf sein Gesicht.

Wie ein Stahlband legte sich das Grauen um Baktars Brust, als er den heimtückischen Mordschützen erkannte. Der Mann war groß, hatte das Gesicht eines Asketen, eine gerade, edel geformte Nase und schlohweißes Haar ... er hatte vor drei Tagen diesen Ort aufgesucht und darum gebeten, dass man ihm half, den Weg in den Mikrokosmos zu öffnen.

Es war – Ak Nafuur, Björn Hellmarks Freund!

Das Rauschen in seinen Ohren verstärkte sich, die Farben, die rings um ihn aufblitzten, waren teilweise so grell, dass er geblendet die Augen schloss.

Was für eine Idiotie! Eben hätte er noch schwören können, dass seine Umgebung düster, schwarzrot und undurchdringlich gewesen war. Und nun diese lichte Umgebung?

Der Übergang von der Normal- in die Mikrowelt erfolgte mit drastischen Veränderungen seines Gefühlslebens. Er fühlte sich zwischen Triumph und äußerster Niedergeschlagenheit hin- und hergerissen. Und genauso wechselten die Eindrücke, die er empfing. Der Sturm riss ihn wieder mit. Alle Farben erloschen.

Der Inder wurde zum Spielball der Gewalten. Steine hagelten auf ihn nieder. Instinktiv riss Mahay die Hände hoch und hielt sie schützend über den Kopf. Die scharfkantigen Geschosse ritzten ihm die Haut.

Rani wurde mit den Steinen über die kahle Ebene gefegt und landete zwischen mächtigen Brocken, die sich im Windschatten befanden. Der Inder verlor das Bewusstsein.

Als er die Augen aufschlug, wusste er im ersten Moment nicht, wo er sich befand. Alle Knochen taten ihm weh, sein Körper war übersät von blauen Flecken und blutigen Kratzern. Ächzend erhob sich Rani. Es dauerte einige Minuten, ehe er sich zurechtfand und in der Lage war, sich zu erheben. Er taumelte wie ein Betrunkener.

Wo befand er sich? War dies die Welt Zoor, die von dem Wahnsinnigen Nh'or Thruu beherrscht wurde? Hatten die dienenden Geister des grauen Riesen seiner Wunschvorstellung folgen können?

Er hatte keine Möglichkeit, es nachzuprüfen. Niemand war da, der ihm seine Frage beantwortet hätte. Er war allein auf weiter Flur ...

Beunruhigt blickte er sich um. Seine neue Umgebung machte keinen guten Eindruck. Sie wirkte bedrohlich auf ihn.

Eines konnte er mit Sicherheit sagen. Er befand sich nicht mehr in Baktars Wohnwagen, er war geschrumpft bis zur Mikrogröße, winziger als ein Atom, und war in einer Welt, deren bizarre Struktur einem Alptraum glich.

Hier lebten keine Menschen. Es gab keine Häuser, keine Straßen, keine Gärten ... als er dies dachte, wurde der Wunsch nach Marlos in ihm wach. Marlos, die unsichtbare Insel zwischen Hawaii und den Galapagos, war ein Traum, ein Paradies, das jedem offen stand, der guten Willens war.

Die Luft war trocken und kalt. Den Inder, der hellbraune Hosen und ein dünnes Hemd trug, fröstelte. Rani setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Nach dem schrecklichen Sturm, der ihn auf dieser Welt empfangen hatte, war diese Ruhe geradezu unheimlich.

Er stellte fest, dass der Boden eigenartig porös war. Er sah aus wie Schlacke. Eine ausgebrannte Welt, ohne jegliches Leben, sei es tierisches oder pflanzliches ...

Gab es etwas anderes, Unbeschreibliches, das in diesem durchlöcherten Miniplaneten existierte? Fremdes, unfassbares Leben konnte in allen Variationen entstehen. Und gerade in Bereichen, die dem Menschen normalerweise nicht zugänglich waren, bildeten sich Formen, für die es keinen Vergleich mit etwas Irdischem gab.

»Hallooo?« Mahay rief erst zögernd, dann ein zweites Mal lauter. Seine Stimme verhallte in der steinernen Wüste, schien aus den Löchern in dem schlackigen Erdboden erneut emporzukommen und klang nach wie ein ihn verhöhnendes Echo.

Die groteske Landschaft dehnte sich aus bis zum Horizont, und der bleigraue Himmel schien die harte Horizontlinie vorn zu berühren. Nichts machte sich bemerkbar. Es gab kein Insekt, keine Vögel. Kein Geräusch erfüllte die Luft.

Mahay setzte seine Wanderschaft fort, und er gab sich keine Mühe, dabei besonders leise vorzugehen. Er provozierte eine Entdeckung geradezu. Schließlich war er aufgebrochen, um die Freunde zu suchen und ihnen, falls sie in Schwierigkeiten geraten waren, zu helfen. Versteckspiel nützte ihm in seiner Lage gar nichts.

Mit leeren Händen war er nicht gekommen.

In seinem Gürtel steckte ein dolchartiges Instrument, dessen Griff mit kostbaren Intarsien aus Edelsteinen besetzt war. Diese Waffe, im Moment nicht größer als eine Männerhand, stammte von einer der zahlreichen Welten, auf denen Hellmark und er schon gekämpft und sich tapfer geschlagen hatten. In dem Waffenarsenal, das durch ihre Kontakte mit Feinden inzwischen auf der Insel Marlos notgedrungen entstanden war, hatte Rani auch diesen kostbaren Dolch entdeckt, der ihm für seine Zwecke geeignet schien.

Nur mit einem Dolch bewaffnet aufzubrechen, wäre purer Leichtsinn gewesen. Rani hatte an Hellmarks Seite gelernt, mit dem Schwert umzugehen, es zu gebrauchen. Was aussah wie ein Dolch, war in Wirklichkeit ein Schwert, blank und zart wie ein Degen, teleskopartig ausfahrbar. Wie eine Feder lag es in der Hand, und Mahay vertraute auf die Stärke des Stahls, wenn es darauf ankommen sollte, dass er sein Leben verteidigen musste.

»Björn? Bjööörrrnnn?« Laut hallte seine Stimme über die unwirkliche Landschaft. Es erfolgte jedoch keine Antwort.

Auf seinem Weg zum Horizont wich der Inder den großen Löchern aus. Die ganze Oberfläche der Welt, auf der er angekommen war, war durchlöchert wie ein Schweizer Käse. Einige Löcher hatten einen Durchmesser von nur wenigen Zentimetern, andere waren wahrhaftig Krater, in denen ein Mensch verschwinden konnte, wenn er nicht aufpasste.

Mahay kam es vor, als hätten die dienenden Geister der grauen Riesen ihn auf einen fernen Mond versetzt.

Da öffnete sich der Boden unter ihm!

Mahay warf sich noch instinktiv nach vorn, um nicht in das Loch zu stürzen, das wie durch Zauberei plötzlich unter seinen Füßen entstanden war. Zu spät! Vielleicht hätte er es aus eigener Kraft geschafft. Aber da war etwas, jemand, der nachhalf.

Zwei Hände umklammerten wie eiserne Ringe seine Fußgelenke und rissen ihn mit einem einzigen, kraftvollen Ruck in die Tiefe.

Der Inder verschwand in der Öffnung, die sich wie ein Maul schnell und hermetisch über ihm schloss.

Er glaubte nicht, was seine Augen sahen.

Der Mann, den er Unendlichkeiten, Ewigkeiten entfernt glaubte, war wieder auf der Erde? Der Mann, dem er mit Ramos und den dienenden Geistern zu helfen versucht hatte, war zum Mörder geworden?

Diese und zahllose andere Gedanken strömten blitzschnell durch sein Hirn. Baktar sprang in ohnmächtiger Wut und voller Entsetzen auf die Beine und vergaß alle Vorsicht. »Mörder!«, schrie er wie von Sinnen, warf sich nach vorn auf das zerstörte Fenster und streckte blitzschnell die Arme aus, um in das weggeduckte Gesicht zu schlagen.

Er vergaß in diesen Sekunden völlig die tödliche Gefahr für sich selbst. Ein einziger Schuss genügte, um auch ihn zu fällen. Doch daran hatte dieser Ak Nafuur offensichtlich kein Interesse. Hätte er es beabsichtigt, wäre es ihm bereits vorhin ein Leichtes gewesen, zuerst auf ihn zu schießen ...

Baktar griff ins Leere.

Der Mordschütze ergriff die Flucht. Mit langen Sätzen hastete er in die Dunkelheit zwischen den Wohnwagen. Nur eine Steinwurfweite von Baktars Standort entfernt befanden sich die Käfige der Raubkatzen. Aufgeregtes Fauchen und heiseres Brüllen von dort klang durch die Nacht. Aus dem Zelt ertönten Lachen und Klatschen. Dort hatte die zweite Vorstellung des Tages gerade begonnen.

Baktar warf sich herum und stürzte aus dem Wagen. Der Zigeuner nahm die Verfolgung auf und sah den Schatten des Mörders hinter den dicht stehenden Wohnwagen verschwinden.

In Baktars unmittelbarer Nachbarschaft wurde eine Tür aufgerissen. Eine strohblonde Artistin, nur mit einem knapp sitzenden Flitter-BH und einem nicht minder knappen Slip bekleidet, erschien auf der Schwelle. »Hey, Baktar?«, fragte die Kollegin verwundert. »Was ist denn los? Hat es bei dir drüben eben nicht geknallt? Hat sich angehört, als ob jemand Schüsse abgefeuert hätte ...«

Der Angesprochene blieb stehen »Nein, nein, es ist nichts«, sagte er schnell und aufgeregt. »Da ist so ein Kerl gewesen, der hat mir das Fenster eingeschlagen.«

»Das ist ja unerhört!« Die Artistin kam die Stufen herab, wollte ein Gespräch anknüpfen und war neugierig. »Wer war der Kerl? Warum hat er das getan?«

Baktar zuckte die Achseln. »Keine Ahnung ... ich bin ihm gleich nachgelaufen, aber er ist mir entkommen.«

Es hatte in der Tat keinen Sinn, die Verfolgung fortzusetzen, obwohl es das einzig Richtige gewesen wäre. Aber etwas anderes war für Baktar wichtiger. Er musste sich um Ramos kümmern, und keiner seiner Kollegen durfte herausfinden, was es mit dem grauen Riesen auf sich hatte!

Da wurden seine Befürchtungen auch schon bestätigt. Sein unmittelbarer Nachbar, Philipe Garcon, der als Clown im Zirkus ALBATROS auftrat, war auf den Lärm aufmerksam geworden, hatte die offenstehende Tür zu Baktars Wohnwagen bemerkt und stieg gerade über die drei Treppen nach oben.

»Philipe!«, rief der Zigeuner, wirbelte herum und ließ die Artistin einfach stehen. Er rannte auf seinen Wagen zu.

Philipe Garcon stand aber schon auf der Türschwelle, als Baktar heranjagte. Außer Atem drückte sich der dunkelhaarige Mann an dem Clown vorbei.

Garcon war schon für seinen Auftritt geschminkt. Seine große Knollennase leuchtete rot in seinem weißgepuderten Gesicht. Die Augen wirkten durch die Schminke groß wie Untertassen. Dazu kamen Erstaunen und Verwunderung, dass seine Augen sich weiteten. »Baktar«, drang es wie ein Hauchüber die Lippen des Clowns. Er wirkte aufs Äußerste erschrocken. Sein großer roter Mund, der die Hälfte des Gesichtes einnahm, war ein einziges Lachen. Philip konnte durch sein geschminktes Gesicht gar nicht ernst und erschreckt erscheinen. »Was ist das?«

Da war Baktar schon an der Verbindungstür. Er zog sie mit dumpfem Knall ins Schloss, lief zu Philipe Garcon zurück und versuchte ihn aus dem Wohnwagen zu drängeln. »Es ist alles in Ordnung«, sagte der dunkelhaarige Mann zu dem Clown, der vor ihm stand wie eine Karikatur. Die roten Haare der Perücke hingen strähnig um seinen Kopf, der in der Mitte völlig kahl war.

»Du kannst gehen, Philipe ...«

»Ich habe Schüsse gehört, Baktar, und ich habe etwas gesehen. In dem anderen Wagen ...«

»Du hast nichts gehört und nichts gesehen, Philipe«, stieß der Zigeuner rau hervor. »Merk dir das gut! Es ist in unser aller Interesse ... du bist mein Freund, hilf mir.«

»Das versteht sich von selbst. Aber wie kann ich dir helfen, wenn du mir nicht sagst, was passiert ist, was hier vorgeht?«

»Ich werde es dir sagen ... Später, nicht jetzt! Geh Philipe!«

Ehe der verdutzte Clown begriff, wie ihm geschah, schob Baktar ihn einen Schritt weiter zurück und knallte ihm die Tür vor der Nase zu. »Baktar! Verdammt noch mal! Hast du den Verstand verloren? Was ist denn los mit dir?« Garcon trommelte gegen die von innen verschlossene Tür.

Baktar achtete nicht auf den Lärm. Er lief in den angrenzenden Wohnwagen und wollte sich endlich um Ramos kümmern, falls überhaupt noch etwas für ihn zu tun war. Wertvolle Minuten waren schon vergangen.

Ramos lag reglos auf dem großen Bett in dem dunklen Wagen, in den nie ein Sonnenstrahl drang. Jetzt knipste Baktar alle Lichter an, um ausreichend sehen zu können. Der graue Riese blutete aus drei tiefen Einschusswunden. Sein Gesicht war blutverschmiert, auf dem Boden neben dem Bett hatte sich eine große Lache gebildet.

Ramos atmete nicht mehr. Er war tot.

Dumpfes Stöhnen entrann den Lippen des Mannes, der das fremdartige Geschöpf seit vielen Jahren betreute. Eine seltsame, geheimnisvolle Symbiose war in dieser Zeit zwischen Mensch und grauem Riesen entstanden. Eine Symbiose, von der niemand etwas wusste. Und so musste es bleiben.

Dies war seine Verpflichtung, auch über Ramos' Tod hinaus ...

Baktar schluckte trocken und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Ramos tot, er konnte es nicht fassen! Ermordet von einem Menschen, der vor ein paar Tagen hier gewesen war und um Hilfe gebeten hatte. Etwas war schiefgegangen. Die Tatsache, dass Ak Nafuur auf dieser Seite der Welt auftauchte, zeigte, dass er eine Möglichkeit gefunden hatte, aus dem Mikrokosmos zurückzukommen. Dorthin war er von Ramos und den dienenden Geistern getragen worden. War beim Übergang von seiner Welt in die andere eine psychische Störung aufgetreten? Hatte er drüben möglicherweise von einer anderen Macht den Auftrag erhalten, Ramos zu töten?

Diese Dinge gingen ihm durch den Kopf, während er hastig alle Vorbereitungen traf, um so schnell wie möglich zu verschwinden, ehe die Ereignisse weiteren Wirbel verursachten. Auf keinen Fall durfte einer auf die Idee kommen, die Polizei zu verständigen ...

Er musste verschwinden, untertauchen, ehe unangenehme Fragen an ihn gerichtet wurden, die er zwar beantworten konnte, die ihm aber niemand glauben würde. Seine wahre Lebensgeschichte war zu phantastisch, als dass sie von einem Außenstehenden kritiklos hingenommen werden konnte.

Baktar entfaltete hektische Betriebsamkeit. Ramos konnte niemand mehr helfen. Es würde in Zukunft für niemanden mehr einen Ramos geben. Hilfesuchende, die aus welchen Gründen auch immer diese Welt hinter sich lassen wollten, würden vergebens nach ihm fragen.

Unter normalen Umständen, wäre Ramos auf natürliche Weise gestorben, wäre dies schon schlimm genug, aber für ihn weniger riskant gewesen. Es bestand die Gefahr, dass nun etwas ans Licht der Öffentlichkeit drang, was bis zum Ende der Zeiten eigentlich unerkannt hätte bleiben sollen.

Er hörte Philipe Garcon lautstark draußen fluchen. Der Clown entfernte sich von Baktars Wohnwagen. Garcons Auftritt stand unmittelbar bevor.

Aus dem dunklen Wagen starrte der Zigeuner auf den freien Platz vor dem Zelt und in die düsteren Wagengassen. Durch die Musik und die anderen Geräusche im Zelt waren die Schüsse auf Ramos nur von zwei oder drei Zeugen vernommen worden, die sich zufällig in der Nähe aufhielten. Das waren Philip und die Artistin, berücksichtigen musste er noch Edouard, der Tierbändiger und gleichzeitig Mitinhaber des kleinen Zirkus war, der die Provinznester abklapperte.

Es war auch zu dumm, dass ausgerechnet Philipe einen Blick in den zweiten Wohnwagen hatte werfen können. Allzu viel hatte er zwar in der Eile nicht sehen können, aber dass Baktar in dem großen, fensterlosen Wagen ständig etwas mit auf Reisen nahm, das alles andere als natürlicher Herkunft war, daran hegte er wohl keinen Zweifel mehr.

Baktar lief nach draußen. Die schwere Zugmaschine mit dem Dieselmotor war abgekoppelt. Der Zigeuner startete und koppelte an. Sein Manöver blieb nicht unbeobachtet. Freunde und Kollegen, unter ihnen auch die Artistin, tauchten auf und standen im Halbdunkel vor dem freien Platz.

»Was ist denn in dich gefahren?«, wurde Baktar gefragt. »Aufbruch ist doch erst in anderthalb Tagen. Du hast dich im Datum geirrt.«

»Ich muss fort von hier, auf dem schnellsten Weg. Jemand hat einen Mordanschlag auf mich verübt. Wenn er merkt, dass er misslungen ist, wird er seinen Plan wiederholen. Darauf verspüre ich keine Lust.«

»Ein Mordanschlag auf dich, Baktar?«, wunderte sich ein anderer. »Du bindest uns doch einen Bären auf.« Der Sprecher lachte. Wahrscheinlich hielt er die Worte des Zigeuners für einen Witz. »Was hast du denn angestellt, dass einer dir unbedingt das Lebenslicht ausblasen will? Du wirst ihm doch nicht seine Frau ausgespannt haben ...«

Ringsum Gelächter.

Baktar blieb todernst, kurbelte das Fenster an seiner Seite hoch und reagierte überhaupt nicht mehr. Vorhin hatte er sich dazu hinreißen lassen, einige unbedachte Dinge zu sagen. Da stand er unter dem Schock des Ereignisses. Nun begann er klar und logisch zu denken und glaubte zu wissen, dass er richtig handelte.

Verhältnismäßig hart stieß er gegen die Kupplungsstange. Es schepperte metallisch. Baktar sprang aus dem Wagen und koppelte an. Er ließ sich auf kein Gespräch mehr ein, fuhr einfach los und starrte mit glasigem Blick auf den Weg vor sich. Seine Kollegen der letzten Zeit sprangen zurück, als er Gas gab und in viel zu hohem Tempo die beiden Wagen hinter sich herzog.

Da tauchte Edouard auf. Er war die ganze Zeit über nicht in seinem Wagen gewesen, sondern im Zirkuszelt. Offensichtlich hatte er durch Garcon vernommen, dass etwas nicht in Ordnung war.

Edouard lief neben der Zugmaschine her. Gestikulierend und mit lauten Zurufen gab der Mann ihm zu verstehen anzuhalten.

Baktar kurbelte ein letztes Mal das Fenster herab. »Ich kann nicht bleiben, versteht mich doch!«, brüllte er nach draußen.

»Aber da ist noch ein Auftritt, wenigstens der eine noch, heute Abend, Baktar!«, flehte Edouard ihn an. »Was, zum Teufel ist denn in dich gefahren? Du bist die Hauptattraktion. Du kannst uns doch nicht einfach im Stich lassen! In einer halben Stunde ist dein Auftritt ...«

»Tut mir leid, Edouard«, rief er laut, ohne den Kopf zu wenden. »Ich kann nicht anders. Ich werde dir alles erklären. Ich werde wieder zu euch stoßen, das verspreche ich dir. Aber ich darf dem Mörder keine Gelegenheit geben, auch mich vor den Lauf seiner Waffe zu bekommen. Vielleicht lässt er sich auch etwas anderes einfallen. Da ist eine Intrige im Gang ...«

»Ich versteh das alles nicht, Baktar ...«

»Ich verstehe es selbst nicht, Edouard. Deshalb muss ich in Ruhe nachdenken. Das geht hier aber nicht.« Er hielt nicht mehr an und erreichte die unbefahrene Straße, an der eine Anzahl Autos parkte, mit denen die Zuschauer eingetroffen waren.

Baktar warf keinen Blick zurück auf die wild gestikulierenden Freunde und Kollegen. Er war verstört, irritiert und hatte das Gefühl, als befände sich der Todfeind mitten unter ihnen, hätte sich maskiert ...

Die verrücktesten Gedanken kamen ihm. Der plötzliche Tod Ramos' hatte sein ganzes Denken und Fühlen verändert. Er fand keine Erklärung für das Ereignis ...

Baktar lenkte sein schweres Gefährt mit den beiden Wohnwagen auf die holprige Straße. Nach einigen hundert Metern begann der asphaltierte Untergrund.

Mit einem Blick in den Rückspiegel vergewisserte sich der Zigeuner, dass kein Fahrzeug ihn verfolgte. Sie respektierten also seine ungewöhnliche Entscheidung, auch wenn es ihnen schwerfiel. Edouard würde schon etwas einfallen, um die entstandene Lücke für diesen Abend zu füllen. Mit nur zwanzig Stundenkilometern, eine höhere Geschwindigkeit war mit den beiden schweren Wohnwagen nicht möglich, entfernte sich Baktar vom Standort des Zirkuszeltes.