Macabros 038: Meer des Grauens - Dan Shocker - E-Book

Macabros 038: Meer des Grauens E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Dieser Band enthält die sorgfältige Aufarbeitung folgender Originalromane: Oceanus Totenheer Björn Hellmark und seinen Freunden gelingt es, den Bann zu brechen und sich von Zoor zu lösen. Ihr Fund führt sie jedoch nicht ans Ziel, nicht in die Welt, in die sie gehören ... denn alles weist darauf hin, dass sie sich immer noch in der Welt des Atoms aufhalten. Hellmark stößt auf einen alten Bekannten, auf Oceanus, den Geist der Schwarzen Wasser! Auch er ist ein Gefangener der Mikrowelt, und Björn muss eine grausige Feststellung machen. Oceanus und sein Totenheer werden massiv in sein Schicksal eingreifen ... Die Horron-Barbaren Apokalypta, die "ewige Unheilbringerin", macht weiterhin Jagd auf Björn Hellmark, der verzweifelt einen Weg nach Hause sucht. Die Stadt auf dem Meeresboden, Horron, ist um ihn her zu neuem Leben erwacht. Die Schranke von Raum und Zeit ist zerbrochen. Eine ebenso tödliche wie todbringende Welt ist entstanden, in der Hellmark sich nur mit Mühe behaupten kann. Da stößt er auf Skrophuus, ein eiförmiges Gebilde, das an einem "heiligen" Ort entsteht. Ein Kampf entbrennt, der nicht nur in der Mikrowelt ausgetragen wird ...

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DAN SHOCKERS MACABROS

BAND 38

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Fachberatung: Gottfried Marbler

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-738-2

Dan Shockers Macabros Band 38

MEER DES GRAUENS

Mystery-Thriller

Oceanus' Totenheer

von

Dan Shocker

Prolog

Namenlose Angst packte ihn. Nein! schrie es in ihm. Ich will nicht sterben. Nicht so ... Nicht hier ...

Er bäumte sich auf und versuchte, sich mit den Beinen abzustoßen, um emporzuschnellen. Es gab keine sichtbaren Fesseln an seinen Füßen, und doch konnte er sie um keinen Millimeter verrücken. Es schien, als wären seine Füße mit Metallplatten versehen, die von starken Magneten angezogen wurden.

Der Mann war in der Röhre gefangen, deren Durchmesser ihm erlaubte, dass er bequem darin stehen konnte. Doch von Bequemlichkeit konnte in dieser scheußlichen Situation nicht die Rede sein.

Die Röhre stand auf dem Meeresgrund und war bis zum Kopf des Mannes mit Wasser gefüllt. Seit einigen Sekunden konnte der Gefangene keine Luft mehr holen ...

Der Mann, der durch die Dämonin Apokalypta in diese ausweglose Situation gebracht worden war, hieß Björn Hellmark, war Deutscher und Erbe der unsichtbaren Insel Marlos zwischen Hawaii und den Galapagos. Der blonde Mann mit den kühnen Gesichtszügen und dem energischen Kinn schöpfte alle Möglichkeiten aus, um nicht den Tod durch Ertrinken erleiden zu müssen. Voller Verzweiflung konzentrierte er sich mit aller Kraft auf eine Fähigkeit, die ihn in den außergewöhnlichsten und gefährlichsten Situationen seines Lebens schon zur Rettung in allerletzter Sekunde geworden war.

Er hatte die Gabe, seinen Zweitkörper entstehen zu lassen, bei der direkten Begegnung mit Nh'or Thruu, dem Irren von Zoor, verloren. Aber dann war Nh'or Thruu doch Opfer des Schwertes des Toten Gottes geworden. Mit dem Tod des hochrangigen Dämons war schließlich eine neue Situation entstanden. Vielleicht konnte er Macabros aktivieren und der tödlichen Lage doch noch entrinnen.

Sein Schädel schmerzte, er hatte das Gefühl, als würde sein Hirn explodieren. So intensiv wie in diesen alles entscheidenden Sekunden hatte er noch nie seine Willenskraft benutzt. Und doch nützte sie ihm nichts!

Er konnte seinen Doppelkörper Macabros nicht zur Materialisation bringen. Es schien, als wäre in seinem Bewusstsein etwas blockiert, das er nicht mehr beseitigen konnte. Er war verloren. Aus eigener Kraft konnte er nichts mehr für sich tun.

Der Sauerstoffmangel machte sich bemerkbar. Der Druck in seinen Lungen wurde unerträglich, vor seinen Augen begannen feurige Kugeln zu kreisen. Hellmark nahm die rätselhafte Stadt auf dem Meeresgrund außerhalb der Glasröhre nur noch schemenhaft verwaschen wahr. Die hohen, turmartigen Häuser, eckig und rund, waren von einer fremden Rasse erbaut worden. Alle Gebäude waren verlassen. In der langen, scheinbar ins Endlose führenden Hauptstraße standen vor den einzelnen Bauwerken riesige Statuen in Fischgestalt. Nun würde er nie etwas über ihren Sinn und ihre Herkunft erfahren ...

Sein letzter Gedanke galt den Freunden. Carminia ... Arson ... was mochte aus ihnen geworden sein? Pepe, Rani Mahay, Jim ... er sah sie alle noch mal vor seinem geistigen Auge. Und er dachte auch an Al Nafuur, den geheimnisvollen Priester, von dem er sich kein Bild machen konnte und der so oft in sein Schicksal massiv eingegriffen hatte. Al Nafuur, der Zauberpriester aus Xantilon, weilte in einem Reich zwischen Diesseits und Jenseits und hatte nur geistigen Kontakt mit Hellmark aufnehmen können. Wie sehr hatten beide gehofft, den unheimlichen Mächten um Rha-Ta-N'my, der Dämonengöttin, die Stirn zu bieten, den Einfluss einzudämmen und schließlich und endlich zu besiegen. Nun war alles anders gekommen! Der Kreis schloss sich ...

Verschollen auf einer Welt des Mikrokosmos ereilte ihn ein ungewöhnliches Schicksal, das von niemandem hatte vorausgeahnt werden können. Verloren im Nichts würde man vergebens nach ihm suchen, selbst seine Leiche nicht finden ... Sein Körper war kleiner als ein Atom, eine Winzigkeit inmitten eines gigantischen Ozeans, der vielleicht in nur einem einzigen Wassertropfen Platz fand. Aber niemand auf der weiten Welt wusste, wo sich dieser Wassertropfen befand ...

Ein greller Blitz stach in sein Bewusstsein wie ein riesiges, glühendes Schwert. Dann explodierte eine Sonne und machte einer unendlichen Schwere Platz, in die er fiel ... und in der sein Bewusstsein erlosch wie die Flamme einer Kerze ...

»Du, ich freu mich richtig darauf. Ich kann's kaum erwarten, bis wir dort sind. Die Bahamas, mein Gott, wie lange hab ich darauf gewartet, dass ich mir eine solche Reise mal leisten kann!« Die Frau, die das sagte, war siebenundzwanzig Jahre alt, hatte platinblondes Haar, eine tadellose Figur und einen etwas zu üppigen Busen. Das war der einzige Makel, fand Rosemary Williams, der sie auf dem Heiratsmarkt um einige Punkte fallen ließ. Doch sonst stimmten ihre Kurven und waren da, wo sie sein mussten. Außerdem gab es Männer, die für Frauen mit großem Busen was übrighatten.

Auch davon redete sie. Sie sprach überhaupt viel in diesen Minuten vor der Abfahrt. Von der Telefonzelle aus konnte sie einen großen Teil des Hafenbeckens überblicken. Der große weiße Luxusdampfer mit dem vielversprechenden Namen YOUNG LOVE lag am Kai. Viele Passagiere waren schon an Deck. Rosemary sah sie darauf spazieren gehen.

Die junge Sekretärin mit dem Superbusen hatte noch mal den Wunsch, eine mit ihr befreundete Kollegin zu sprechen, die im gleichen Büro arbeitete wie sie. Sie erledigten technische Übersetzungen. Ein Job, in dem es nicht viel Abwechslung gab.

Umso verständlicher war der Wunsch nach einer erlebnisreichen Reise. Drei Wochen kein Büro, keine Telefonate, keinen Termindruck. Sie tauschte den grauen Büroalltag mit der lebendigen Farbigkeit eines Weltklassehotels in Nassau, der Hauptstadt der Bahamas. Die Reise selbst war nicht sehr kostspielig. Teuer war der vierzehntägige Aufenthalt im Hotel. Er kostete ein kleines Vermögen.

»Aber vielleicht kommt das, was ich investiere, wieder raus«, lachte Rosemary Williams. »Im President habe ich bestimmt die Gelegenheit, einen reichen Junggesellen aufzugabeln ...«

»Vielleicht kommt die schon auf dem Schiff«, klang es durch den Hörer. »Ich halte dir jedenfalls die Daumen ... und nächstes Jahr bin ich dabei, wenn's klappt ...«

Rosemary Williams war tatsächlich auf der Suche nach einem passenden Mann, der über das nötige Kleingeld verfügte. Sie liebte Reisen und schöne Kleider. Die Dollars, die sie verdiente, reichten nicht aus, um sich alle Wünsche zu erfüllen. Sie musste sich viel versagen. Aber sie wusste, dass sie gut aussah, etwas aus ihrem Typ zu machen verstand und einige Männer hinter ihr her waren. Aber die waren uninteressant für sie. Wenn der Juniorchef des Betriebes, in dem sie arbeitete, angebissen hätte, wäre das etwas anderes gewesen. Aber leider war der in festen Händen und seiner Frau treu. Sie musste sich da schon etwas anderes einfallen lassen.

»Ich werd mein Bestes tun ... aber jetzt muss ich Schluss machen, sonst legt das Schiff ohne mich ab.«

»Ich wünsche dir viel Vergnügen, Rosy! Halte mich auf dem Laufenden ...«

Die Sprechzeit war gerade zu Ende, so dass Rosemary Williams noch Good bye sagen konnte. Sie verließ die Telefonzelle und lief am Kai entlang. Drei Minuten später befand sie sich an Bord, gab ihre Karte ab und wurde von einem schmucken Steward zur Kabine auf dem Luxusdeck begleitet. Er wünschte ihr einen guten Aufenthalt und eine angenehme Seereise.

Das Gepäck, das sie schon vorher an Bord hatte bringen lassen, stand in Reih und Glied zum Auspacken bereit. Rosemary Williams machte sich an die Arbeit und nahm sich Zeit. Jedes einzelne Kleid hängte sie fein säuberlich in den eingebauten Wandschrank, verstaute ihre Koffer und rauchte dabei in Ruhe eine Zigarette. Ohne zu hetzen schaffte sie ihre Arbeit und kehrte dann auf Deck zurück, um das Ablegen der YOUNG LOVE vom Kai zu verfolgen.

Viele Schaulustige hatten sich eingefunden und winkten, als sich das große Schiff in Bewegung setzte. Die Uferbefestigungen fielen zurück, der Dampfer verließ das Hafenbecken und schwamm wenig später auf spiegelglatter See seinem Ziel entgegen.

Bis zur Ankunft auf den Bahamas, die nicht in direkter Route angesteuert wurden, lagen drei unbeschwerte Tage vor ihr. Musik, Tanz, gutes Essen und Trinken und mancherlei andere Zerstreuungen erwarteten sie programmgemäß an Bord. Und an aufregenden Flirts sollte es auch nicht fehlen. Rosemary Williams hatte bereits eine erste Vorauswahl getroffen und einen Blick für die entsprechenden Herren mit der dicken Brieftasche. Die meisten schienen in weiblicher Begleitung zu sein. Aber nicht alle. Das beruhigte sie.

Im Westen stand die Sonne schon tief, eine riesige rote Scheibe, die langsam im Meer zu versinken schien. In den beiden Restaurants an Bord wurde alles für die erste Speisefolge am Abend vorbereitet.

Rosemary Williams war überzeugt davon, dass eine genussreiche Zeit vor ihr lag, der Alltag endlich hinter ihr, und freudige Überraschungen an Bord und schließlich auf den Bahamas auf sie warteten.

Doch das Unheil lag in der Luft. Niemand an Bord ahnte etwas. Neben dem weißen Luxusdampfer tauchte in der Dunkelheit einige Male ein schuppiger Schädel auf, der doppelt so groß war wie ein Menschenkopf. Etwas Unheimliches aus der Tiefe verfolgte die Fahrt der YOUNG LOVE. Die Menschen an Bord wussten es nicht ...

1. Kapitel

Der blonde Mann in der durchsichtigen Glasröhre wusste nichts mehr von sich, nahm seine fremdartige bizarre Umwelt nicht mehr wahr, stand aber – von geheimnisvollen Kräften gekettet – kerzengerade am Ende der Röhre.

Da erfolgte die Explosion. Die Röhre erzitterte. Aus einem unerfindlichen Grund entstanden in der Glaswandung Risse, die sich rasend schnell erweiterten. Die Röhre platzte auseinander, als wäre eine Bombe explodiert. Fauchend schlugen die verschiedenartigen Wasser zusammen. Strudel entstanden. Björn Hellmark wurde wie ein welkes Blatt mitgerissen.

Er überschlug sich mehrere Male. Rings um ihn herrschte das Chaos. Es sprudelte, und der Blick auf die rätselhafte Stadt im Lande Horron war verwehrt. Das Meer schien an dieser Stelle zu kochen und zu brodeln.

Der reglose, schlaffe Körper des Mannes, der durch widrige Umstände in die Mikrowelt geraten war, wurde ziellos durch das Wasser gerissen. Im Moment nach der rätselhaften Explosion der Röhre schien es so, als würde sich das aufgewühlte Wasser nicht mehr glätten. Erstaunlich schnell jedoch verloren die Wirbel ihre saugende Kraft. Das tosende Inferno der sich austobenden Kräfte war im nächsten Augenblick vorbei.

Und da war auch Björn Hellmark nicht mehr allein. Neben dem Körper, der langsam über die breite Allee in die Tiefe sank, tauchte ein Lebewesen auf. Es sah fremdartig aus. Die Gestalt stellte eine merkwürdige Mischung dar zwischen einem winzigen Gnom, einem Vogel und einer Schildkröte. Das Geschöpf hatte im Vergleich zu Hellmark etwa die Größe eines Raben, hatte zwei feine, durchscheinende Flügel, die in allen Farben schillerten, und zwei stämmige, kleine Beine und Arme, mit denen es jetzt kraftvolle Schwimmbewegungen machte, um dem blonden Mann näherzukommen. Dieses Geschöpf war Whiss, ein rätselhaftes Lebewesen, das in einer Welt des Mikrokosmos zu Hause war. Die großen runden Augen und der ganze Ausdruck seines Gesichts erinnerten an den Kopf einer Schildkröte.

Whiss erreichte Hellmark, klammerte sich mit seinen kleinen Händen in das dichte blonde Haar des Mannes und zerrte heftig daran. »Hey, Björn ... du musst zu dir kommen. Hey, kannst du mich hören?« Jedes Wort des kleinen Kerls war deutlich zu verstehen. Das seltsame Wasser der Welt Horron war dafür verantwortlich zu machen, dass die Laute weitergetragen wurden.

Und noch etwas fiel auf. Weder Whiss noch Björn Hellmark wurden von der Strömung nach oben getrieben. Genau das Gegenteil war der Fall. Vom Boden der Stadt auf dem Meeresgrund ging eine unnatürlich starke Anziehung aus. Der Auftrieb fehlte vollständig. Die physikalischen Gesetze der Welt, aus der Björn Hellmark kam, hatten hier keine Gültigkeit und existierten überhaupt nicht.

»Hallo, Björn, komm zu dir!« Whiss schrie so laut er konnte. Und zwar mit der Stimme seines besten Freundes Rani Mahay. Der Inder aus dem Lande Bhutan war es gewesen, der den Kleinen aus einer tödlichen Gefahr befreit und mit in die Normalwelt gebracht hatte. Eine Kette von Umständen war dafür verantwortlich zu machen, dass bei dem Versuch, der Dämonin Apokalypta eine Schlappe beizufügen, Whiss wieder verlorenging und in der Alptraumstadt Gigantopolis schließlich lange Zeit verschollen blieb.

»Du lebst doch noch, nicht wahr?« Wieder brüllte der Kleine. »Du kannst doch gar nicht tot sein, ich war frühzeitig genug da ... hey, Björn, altes Haus ... so komm doch endlich zu dir ...« Er bediente sich ganz der Ausdrucksweise seines Freundes. Whiss verfügte über die Gabe, alles wie ein Tonbandgerät aufzunehmen und genauso wiederzugeben.

Whiss war zu schwach und zu klein, um den in die Tiefe gleitenden Mann zu halten oder die Richtung zu beeinflussen.

Björn Hellmark sank in unmittelbarer Nähe eines Sockels, auf dem die riesige Statue eines Fischmenschen stand, auf den glatten Boden. Er war mit einer dünnen feinen Sandschicht bedeckt. Langsam streckte sich sein Körper. In der fließenden Bewegung des Wassers, das durch die stillen, gewaltigen Straßen strömte und leise gurgelnd die Plätze zwischen den riesigen Hochhausbauten und Türmen erfüllte, wurde sein Körper Teil dieser fremdartigen Umgebung. Die Strömung war jedoch nicht imstande, ihn über den Boden zu ziehen und ihn irgendwo in eine Mulde oder Vertiefung zu drücken.

Wäre ein Mensch aus der Normalwelt Zeuge dieser seltsamen Szene geworden, er hätte entweder an seinem Verstand gezweifelt oder versucht zu erwachen, weil er der Überzeugung war zu träumen. Das Wasser war ein tödliches Element für Lebewesen, die auf Sauerstoff in dem Maß angewiesen waren wie ein Mensch oder Whiss. Das vogelartige Geschöpf, das aufgeregt um den Reglosen sprang, schien jedoch trotz des ihn umgebenden Wassers nicht an Sauerstoffmangel zu leiden.

Whiss zupfte Björn an den Ohrläppchen, schlug mit seinen kleinen Händen links und rechts auf die Wangen und rief immer wieder den Namen Hellmarks.

Da zuckten Björns Augenlider. Er atmete schwach und unregelmäßig.

»Na, also ... ich hab's ja gewusst ... es ist alles halb so schlimm ... die Luft hier ist doch prima ... ich hätt's nur ein bisschen früher entdecken sollen ... wie geht's, Björn? Alles okay?«

Hellmark vernahm die vertraute Stimme seines Freundes Rani Mahay scheinbar aus unendlicher Ferne. Er bewegte die Lippen. »Rani ...?«, fragte er verwundert. »Wie ... um alles in der ... Welt, kommst du denn ... hierher?« Es fiel ihm schwer, die Augen zu öffnen.

»Immer Rani!«, beschwerte sich der kleine Whiss. »Erkennst du mich denn nicht, Björn? Ich bin's doch, Whiss ... nun komm doch endlich mal hoch. War doch alles halb so schlimm ...«

»Carminia?« Hellmark schüttelte sich. Diesmal hatte Whiss mit der Stimme der geliebten Frau gesprochen, die ihr Leben mit ihm teilte. Aber Carminia Brado konnte unmöglich in der Nähe sein. Der Abenteurer gab sich einen Ruck und öffnete die Augen vollends. Der Alptraum ging weiter!

Nichts war verändert. Die riesigen Gebäude, die emporragenden, fremdartig gestalteten Türme, ihm gegenüber ein riesiges Standbild ... aber er nahm plötzlich alles aus einem anderen Blickwinkel wahr. Er stand nicht mehr, er lag am Boden!

Erregung packte ihn. Sein Herz begann schneller zu schlagen, und das Blut floss rascher durch seine Adern. Wasser! Er nahm alles wahr wie durch einen dichten, wässrigen Schleier. Nein – er befand sich mitten darin ...

»Das ... kann nicht sein ...« Die ersten Worte kamen über seine Lippen. »Im Wasser kann man nicht leben ... nicht atmen ...«

War das der Tod? Er erinnerte sich an den Augenblick der schwarzen Explosion in seinem Bewusstsein, und jetzt das Wiedererkennen der Umgebung. Was war geschehen? Waren seine Sinne nicht ausgelöscht? Hatte sich die unheimliche Dämonin Apokalypta eine noch furchtbarere Rache ausgedacht, als sie ursprünglich angekündigt hatte?

»Natürlich kann das sein«, vernahm er Pepes Stimme rechts neben sich. Björn wandte den Kopf und sah endlich klar und deutlich Whiss vor sich. Der kleine Kerl sprang vom Sockel auf und nieder, wedelte mit den Händen durch das Wasser und schwamm auf Hellmark zu. »Alles eine Frage des Milieus ...«

Die letzte Bemerkung sprach er mit der Stimme von Jim, dem Guuf; alle seine Freunde, so glaubte Hellmark annehmen zu können, waren auf Marlos in Sicherheit.

Entweder wollte Whiss mit seinem ständigen Stimmenwechsel Hellmarks Aufmerksamkeit erregen, oder er war selbst so durcheinander, dass er es vor lauter Nervosität nicht bemerkte.

Björn Hellmark kam in die Höhe. Whiss jubelte. Hellmark merkte, dass seine Lungen mit Wasser gefüllt waren. Bei jedem Atemzug blubberte und gurgelte es in seinem Brustkorb. »Apokalypta hat etwas übersehen«, sagte er und begriff langsam, was da wirklich geschehen war. »Das Wasser ist hochprozentig mit Sauerstoff angereichert und ...« Da merkte er den Widerspruch und schwieg sofort wieder. Wenn es so war, wie er vermutete, weshalb hatte er dann nicht mehr atmen können, als das Wasser in der Röhre stieg?

»Es ist herrlich, dein Gesicht zu beobachten«, meinte Whiss und grinste von einem Ohr zum anderen. Der Kleine schien genau zu wissen, was in diesem Moment in Hellmark vorging. »Aber von wegen nur etwas übersehen ... so einfach ist es nicht ... da muss man schon ein bisschen nachdenken. Und das hab ich getan ...« Whiss' Brustkorb schwoll an vor Stolz, dann fuhr er zu sprechen fort. »Also, es war so: ich konnte nicht gleich weg ... das wäre zu gefährlich gewesen ...«

In allen Einzelheiten erinnerte sich Björn Hellmark an die Begegnung mit Whiss im Laderaum von Apokalyptas Flaggschiff. Dort hatte er den kleinen Geflügelten entdeckt, als er aus der Ohnmacht erwachte. Gleich darauf waren Apokalyptas Schergen aufgetaucht, um an Björn Hellmark das Todesurteil zu vollstrecken.

Man hatte das Ziel – Horron, den Kontinent der Vergessenen – erreicht. Schon durch Apokalypta war Björn bekannt, dass es mit diesem Kontinent eine besondere Bedeutung hatte. Es herrschten dort außergewöhnliche Bedingungen. Apokalypta triumphierte und behauptete, an diesem Ort der Wiedergeburt Hellmarks im zwanzigsten Jahrhundert einen Riegel vorzuschieben.

Dabei schien sie sich offensichtlich verkalkuliert zu haben. Es war ihr zwar gelungen, ihn als Hellmark in eine Zeit zurückzuverbannen, in der er als Kaphoon schwere Breschen in die Reihen der finsteren Feinde schlug, aber die Rechnung der Dämonin ging nicht auf. Sie meinte, mit Hellmarks Tod in der Vergangenheit würde automatisch seine Existenz als Kaphoon ausgelöscht.

Björn war überzeugt davon, dass Apokalypta höchstens sein Wiederauftauchen in der Zeit verhindern konnte, in die er normalerweise hineingeboren worden war und gehörte. Aus ihr war er praktisch herausgerissen worden. Die Dämonin hatte mit diesem Handstreich eine für sich günstige Ausgangsposition im 20. Jahrhundert geschaffen. Ihr schärfster Rivale, Björn Hellmark, und dessen Freunde waren in arge Bedrängnis geraten.

»Ich habe gesehen, wie sie dich wegbrachten. Aber ich konnte nicht eingreifen. Erst in dem Augenblick, als sich alle Augen auf Apokalypta richteten, konnte ich heimlich aus meinem Versteck kriechen. Ich bin sofort nach dir getaucht. In die Röhre konnte ich nicht rein, ohne selbst zugrunde zu gehen. Also hab ich sie platzen lassen ...« Er sagte das, als handele es sich um die größte Selbstverständlichkeit.

Björn wusste, dass Whiss über erstaunliche Fähigkeiten verfügte. Er hatte sie schon mehr als einmal unter Beweis gestellt. Aus Whiss' kahlem Kopf ragten elf dunkle Noppen, die er nach Bedarf einzeln oder zusammen wie Antennen ausfahren konnte. Dann war er imstande, diese oder jene übernatürliche Aktion zu bewirken. Es war für ihn zum Beispiel eine Kleinigkeit, eine Materie in die andere umzuwandeln, indem er die Struktur der Zusammensetzung veränderte. Er war tatsächlich imstande, Blei in Gold umzuwandeln. Aber dies war weniger wichtig als die Tatsache, dass er anorganische Materie in organische umwandeln und damit im Notfall für Nahrung sorgen konnte. Björn erinnerte sich genau an einen solchen Fall, als er sie alle dadurch mit Lebensmitteln versorgte. Hatte durch Whiss' tapferes Eingreifen das Wasser eine andere Konsistenz angenommen?

»Nachdem die Röhre vernichtet war, mischten sich die unterschiedlichen Wasser«, erklärte Whiss weiter.

»Die unterschiedlichen Wasser? Stand in der Röhre denn ein anderes als das, in dem wir uns jetzt wie die Fische anfangen wohlzufühlen? Oder sind mir in der Zwischenzeit Kiemen gewachsen, und ich sehe möglicherweise so aus wie die Kerle auf den Sockeln?«

»Nein, nein«, sagte Whiss schnell. »Da kannst du ganz beruhigt sein. Schade, dass ich keinen Spiegel zur Hand habe, sonst würde ich dich einen Blick hineinwerfen lassen. Du siehst so aus wie immer. Du hast dich kein bisschen verändert. Dir fehlen nach wie vor die edlen Züge meiner Rasse. Du hast immer noch diese behaarten Augen ...«

»Das sind keine behaarten Augen, Whiss, das sind Brauen und Wimpern ...«

»Mhm, und wenn schon. Haare sind's trotzdem.«

»Mal wieder ganz schön frech heute, wie?«, brummte Hellmark.

»Frech? Wieso? Ich bin in bester Stimmung. Und dafür hab ich zwei gute Gründe. Erstens hab ich das hier ...« Mit diesen Worten, die er mit Björns Stimme sprach, griff er in seine linke Achselhöhle und nahm ein weiches, eiförmiges Gebilde heraus. »Da kommt etwas auf mich zu«, freute er sich, das Ei liebevoll haltend. »Wer weiß, was es wird. Zweitens bin ich glücklich, dass wir wieder zusammen sind und der Gefahr endlich den Rücken kehren ...«

Hellmark erhob sich und zeigte seine leeren Hände. »Ich muss deine Begeisterung leider ein bisschen dämpfen, Whiss«, sagte er leise und ernst. »Ich bin dir von Herzen dankbar, dass du mir das Leben gerettet hast. Wir beide befinden uns in Horron, einem ausgestorbenen Kontinent, der uns eigenartigerweise Lebensbedingungen schenkt, die ich nicht erwartet hatte ...«

Whiss schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. »Das unterschiedliche Wasser«, erinnerte er sich, »das wollte ich dir doch noch erklären. Das im Innern der Röhre war gewissermaßen entartet, zumindest für Horron-Maßstäbe, ohne jeglichen Sauerstoff. Du hättest darin ersticken sollen. Das normale Wasser aber, das die Städte erfüllt, besteht zu einem hohen Prozentsatz aus flüssigem Sauerstoff. Und deinem und meinem Blut ist es egal, ob der Sauerstoff in flüssiger oder gasförmiger Form an die roten Blutkörperchen herangetragen wird. Die Hauptsache ist, dass er lösbar ist und von unserem Organismus aufgenommen werden kann. So gesehen, unterscheiden wir uns gar nicht so sehr von jenen, die diese nun tote Stadt einst mit Leben erfüllten ...«

Björn seufzte. Er war überzeugt davon, dass alles ein bisschen komplizierter war, als Whiss es hinstellte, aber er legte keinen Wert darauf, genaue Einzelheiten herauszufinden. Fest stand, dass er noch am Leben war und sich nun in einer Stadt aufhielt, die auf dem Meeresgrund lag. Dieses Meer wiederum war Teil einer Welt, die das menschliche Auge von außen her nicht wahrnehmen konnte. Nur wenn man selbst Teil dieser Welt war, konnte man sie erkennen.

Eine weitere bemerkenswerte Tatsache stellte er nun fest. Er konnte sich in den Straßen bewegen, ohne von der Wasserströmung abgetrieben oder nach oben gedrängt zu werden. Er hatte festen Halt und konnte sich ganz normal bewegen. Mit kräftigen Schwimmstößen versuchte er, in die Höhe zu kommen. Es kostete ihn gewaltige Anstrengung, einige Meter hinter sich zu bringen. Kaum ließ er in seinen Bemühungen nach, sank er schwer wie ein Stein wieder in die Tiefe.

Nachdenklich richtete Björn seinen Blick nach oben in den grünen Wasserhimmel, der sich endlos über ihn spannte.

Irgendwie gefiel ihm das Ganze nicht ... diese tote Stadt, die Rätsel, die sich um Horron rankten, die Tatsache, dass er mit leeren Händen seinen Weg in einer Welt fortsetzte, von der er nicht mal wusste, wo sie sich befand. Nur eins schien ziemlich sicher zu sein: dies war nicht mehr die unheimliche Welt Zoor. Hier war nicht mehr Nh'or Thruu zu Hause. Apokalypta hatte ihn weit fortgebracht. Wie viele Stunden, Tage, Wochen oder gar Monate waren sie unterwegs gewesen? Er war nicht mal imstande, darüber irgendwelche Mutmaßungen anzustellen.

Er hatte die tödliche Gefahr dank Whiss' hilfreichem Eingreifen noch mal überstanden.

Aber er fragte sich, ob das alles nicht nur einen Aufschub darstellte.

Er war Gefangener einer toten Stadt auf dem Meeresgrund, in dem außer ihnen beiden kein Mensch zu Hause war. Er war unbewaffnet und darüber hinaus verbannt in die Vergangenheit, die zwanzigtausend Jahre vor der Zeitrechnung lag, in der er normalerweise zu Hause war ...

Seine Lage war nach wie vor aussichtslos. Er war winziger als ein Atom, hineingeschleudert in eine Welt, die für die meisten Menschen nicht existierte. Er dachte an die Freunde, an Pepe und Jim und besonders an Carminia. Und Wehmut fraß sich in sein Herz.

Er biss die Zähne zusammen und schritt schneller aus. Alle Straßenkreuzungen liefen genau im rechten Winkel zusammen.

Diese hohen Gebäude und Türme bildeten eine Kulisse, die ihn eigenartig bedrückte und in der er gefangen war.

Seine besondere Aufmerksamkeit galt den riesenhaften Statuen der Fischmenschen. Was für eine Bedeutung hatten sie? Warum gab es so viele? In den schmaleren Nebenstraßen, die zwischen den hohen Gebäuden wie Schluchten wirkten, standen noch viel mehr Statuen.

Ein ungutes Gefühl beschlich ihn.

Er musste an Apokalyptas Worte denken ... Sie hatte von Versteinerung gesprochen, vom ewigen Vergessen, in das man fallen würde, wenn man sich in Horron, in der Stadt der Vergessenen aufhielt.

Nicht umsonst hatte es Apokalypta so eilig gehabt, die Röhre zu verlassen und auf ihr Schiff zurückzukehren. Fürchtete selbst die Dämonin die geheimnisvollen, für sie nicht berechenbaren Kräfte einer Welt, die sie sich manchmal bei Bedarf zunutze machte? Lauerte hier eine Gefahr, von der sie beide nichts wussten?

Hellmark warf einen Blick auf den kleinen Whiss, der tapfer in Schulterhöhe neben ihm herschwamm, es dann aufgab und es sich auf seiner Schulter bequem machte.

»Ganz schöne Schwerkraft«, sagte der Kleine außer Atem. »Komm' mir vor wie auf einem fremden Stern ...«

»Wahrscheinlich befinden wir uns auch auf einem, wer weiß«, knurrte Hellmark. Apokalyptas Armada hatte Raum und Zeit durchpflügt, und er konnte nicht mehr daran glauben, noch auf der Erde zu sein.

»Diese tote Stadt gefällt mir nicht, Whiss«, sagte er. Unwillkürlich senkte er die Stimme, als befürchte er, von jemandem vernommen zu werden, der besser nichts von ihrer Anwesenheit erfuhr. »Mit jedem Schritt, den wir weiter in das Labyrinth der Straßen und Plätze gehen, wird mir unbehaglicher zumute. Es ist die Ruhe des Todes, der Vernichtung ... irgendetwas hat die Bewohner von hier vertrieben. Und wir sind Spaziergänger auf einem riesigen Friedhof, wo es außer uns nichts mehr Lebendes gibt ...«

Er stutzte plötzlich. »Irrtum, Whiss«, stieß er mit belegter Stimme hervor. »Da ist jemand ...«

Er selbst blieb sofort wie erstarrt hinter einer Statue stehen und starrte in eine schmale, düstere Nebenstraße, in der sich eine eigenartige Szene abspielte ...

Um zwanzig Uhr begann das Bordfest.

Gleich am ersten Abend gab es ein ausführliches Unterhaltungsprogramm, damit die Passagiere die Möglichkeit hatten, sich untereinander kennenzulernen. Tanz und Musik auf allen Decks. Die Stimmung war dementsprechend.

Rosemary Williams ließ keinen Tanz aus. Sie wurde von zahlreichen jungen und auch älteren Männern aufgefordert und später zu einem Drink an der Bar eingeladen. Die Stimmung an Bord war aufgekratzt. Der reichlich fließende Alkohol bewirkte Ungezwungenheit. Man kam sich rasch näher. Kurz vor Mitternacht wusste Rosemary Williams nicht mehr, wie viel Champagner sie getrunken hatte. Sie fühlte sich seltsam heiter und beschwingt.

Sie war indessen auf das obere Deck gegangen, wo einige Paare tanzten, wo Menschen beisammen standen, um sich zu unterhalten oder auch nur, um an der Reling zu stehen und in die dunkel schimmernde Weite des Meeres hinauszublicken. Der Himmel war sternenklar, die milde Sommernacht angenehm. Durch die Fahrtbewegung der YOUNG LOVE fächelte stets eine frische Brise über Deck. Rosemary fand dies angenehm. Sie war erhitzt vom vielen Tanzen und dem Champagner.

Sie lehnte sich mit dem Rücken zur Reling, atmete tief die frische Luft ein und beobachtete das Treiben der anderen.

Ein amüsiertes Lächeln spielte um ihre schön geschwungenen Lippen. Sie dachte an ihre Freundin und an die Kollegen im Büro. Schade, dass die jetzt nicht dabei sein konnten. Gerade solche Stunden mit Menschen zu erleben, mit denen man sonst zusammen war, konnte die Freude nur noch steigern.

Sie beobachtete ein junges Paar, das sich im Schatten der Deckaufbauten innig küsste. Die Blondine nippte an ihrem Glas, lächelte selbstvergessen und glücklich und musste an den jungen Mann denken, der Jim hieß und mit dem sie während der letzten zwei Stunden fast ununterbrochen getanzt hatte. Da konnte sich etwas anbahnen. Der Junge war neunundzwanzig und einziger Sohn eines Verlegers, der mit Kochbüchern und Rezepten sein Geld machte. Jim hatte Feuer gefangen. Nun kam es auf sie an, dass es kein Strohfeuer blieb.

Vielleicht ergab sich auch noch etwas Besseres. Nichts übereilen, aber auch die richtige Chance nicht verpassen – auf diesem schmalen Grat musste sie wandern.

Im Moment jedenfalls war sie hier, und Jim würde vergebens nach ihr suchen. Sie hatte sich ohne eine Erklärung abgesetzt, um an Deck frische Luft zu schnappen.

Sie trug ein honigfarbenes Kleid, das hauteng anlag und ihren strammen Körper voll zur Geltung brachte. Der gewagte Ausschnitt wurde betont durch die feinen Rüschen, ebenso der Saum des knapp unter dem Gesäß endenden Kleides. Es wurde gehalten von dünnen Spaghettiträgern, die im Nacken durch eine Schleife gebunden wurden. Ein Griff genügte, und das zarte Kleid geriet ins Rutschen.

Zwei, drei Paare tanzten noch. Sie waren einige Schritte von Rosemary Williams entfernt. Die Passagiere, die gleich ihr vor wenigen Minuten noch an der Reling gestanden hatten, waren wieder nach unten gegangen.

Der Luxusdampfer fuhr nur mit geringer Geschwindigkeit. Im sanften Säuseln des Windes und dem monotonen Plätschern der Wellen gegen den Schiffsrumpf ging das neue Geräusch unter. Aus dem Wasser tauchte etwas auf ...

In der Dunkelheit hob sich der massige, schuppige Fischkopf kaum ab. Der breite, muskulöse Körper des Ungeheuers aus der Tiefe glitt langsam nach. Niemand an Bord bemerkte die tödliche Gefahr, die sich der Schiffswand näherte.

Der Körper aus dem Wasser wurde größer. Das unheimliche Wesen richtete sich auf, es war fast zehn Meter groß. Die gewaltigen Schuppenarme kamen aus dem Wasser. Zwischen den Fingern spannten sich Schwimmhäute.

Ein Wesen von einem anderen Stern schien durch die Musik, durch das Lachen, die Stimmen und das Licht angelockt worden zu sein. Das breite Fischmaul öffnete sich, die riesigen Augen, schwarz, rund und wimpernlos, starrten leblos wie Glaskugeln auf die blonde Frau, die dem aus dem Meer Tauchenden den Rücken zukehrte.

Auf dieser Seite der Reling stand sonst niemand mehr, der das Ungeheuer hätte sehen können. Für Rosemary Williams kam das Entsetzen wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Eine riesige Hand, schuppig und kalt wie Eis, presste sich auf ihren Mund, ehe auch nur ein einziger Laut über ihre Lippen kam.

Ein Ruck ... die gutgebaute Blondine wurde über die Reling gezogen, ohne dass einer der umstehenden Passagiere im ersten Moment etwas bemerkte. Und als einer darauf aufmerksam wurde, war es schon zu spät.

»Himmel! Was ist denn das?« Der Schrei eines einzelnen hallte über Deck. Der Mann stand etwa vier Meter von dem Ereignis entfernt und zündete sich gerade eine Zigarette an, als er sah, wie Rosemary Williams rücklings über die Reling gezerrt wurde.

Die tadellos gewachsenen Beine der Frau ragten noch in die Luft, das kurze Kleid rutschte weit über die Schenkel hoch, dann verschwand sie unterhalb der Schiffswand. Der Passagier spurtete los und alarmierte schreiend die anderen, die zur Reling stürzten. Rosemary Williams schlug wild um sich und traf auch Arme und Brustkorb des unheimlichen Entführers, ohne dass dies jedoch an ihrer Lage etwas änderte.

Das Wasser schlug über ihr zusammen.

Drei, vier Passagiere der YOUNG LOVE sahen gerade noch, wie die junge Frau untertauchte. Einer riss geistesgegenwärtig einen Schwimmreif vom Haken an der Reling und schleuderte ihn über Bord.

Ein Offizier des Dampfers war alarmiert worden und eilte heran.

Wie gebannt starrten die Menschen, die Zeugen des Ereignisses geworden waren, auf das Meer. Die Stelle, an der Rosemary Williams verschwunden war, glättete sich.

Die Menschen hielten den Atem an, während der Offizier alles in die Wege leitete, was für eine Rettungsaktion notwendig sein konnte. Er veranlasste, dass das Schiff gestoppt wurde. Danach verlor er keine Zeit mehr und sprang einfach über Bord.

Zu diesem Zeitpunkt wusste er noch nichts von den Beobachtungen eines der Passagiere, der sicher war, gesehen zu haben, dass ein Tiefseemonster die blonde Frau ins Wasser geschleppt hatte. Er war überzeugt davon, dass Rosemary Williams etwas zu tief ins Glas geblickt, sich über die Reling gebeugt und das Übergewicht bekommen hatte.

Der Mann tauchte in etwa an der Stelle ein, wo auch die blonde Frau verschwunden war. Ronny Hawker trieb sich mit kraftvollen Schwimmstößen in die Tiefe und hatte die Augen weit geöffnet. Das Licht von Deck und aus den Bullaugen der YOUNG LOVE lag wie ein fahler Schleier auf der Wasseroberfläche und sickerte nicht weit in die Tiefe.

Der Schein aus den Bullaugen der tieferliegenden Decks durchsetzte das Wasser und bewirkte eine eigenwillige, gespenstische Atmosphäre.

Hawker sah den massigen Schatten vor sich, der rasch in die Tiefe verschwand. Der Mann verstärkte seine Anstrengungen, ging sparsam mit dem Luftvorrat in seinen Lungen um und wollte so lange wie möglich unter Wasser bleiben, in der Hoffnung, dass er die Frau noch erreichte.

Es gelang ihm auch, näher an den Schatten heranzukommen. Sein Herz begann schneller zu schlagen, als er die massige Gestalt sah, in deren Umklammerung sich Rosemary Williams wand.

Für den Bruchteil einer Sekunde sah er die dunklen Umrisse des riesigen Fischmenschen und die helle Haut der Frau, ihr gelöstes Haar, das vom Auftrieb des Wassers wie ein weiter Schleier über dem Haupt der Unglücklichen wirkte.

Dann stieß der Entführer mit seinem Opfer blitzartig in die Tiefe vor. Hawker konnte nicht mehr mithalten. Aus dem unbekannten Dunkel der See sah er einen schwach glimmenden Ring auftauchen, wie er ihn noch nie zuvor in seinem Leben erblickt hatte. Der Ring war gelb und rot, flammte einen Moment auf ... und Hawker glaubte zu sehen, dass das unheimliche Meeresungeheuer genau in das Zentrum des merkwürdigen Gebildes vorstieß und verschwand. Gleich darauf löste sich auch der flammende Ring auf.

Irritiert und nervös machte der Offizier kehrt. Luftmangel und der Anflug einer unerklärlichen Angst trieben ihn in die Höhe. Eine Strickleiter wurde über die Reling geworfen, als der Schwimmer auftauchte. Unverrichteter Dinge kehrte Ronny Hawker an Bord zurück. An Deck hatte sich inzwischen eine große Menschenmenge versammelt. Die Nachricht von der Sichtung des Meeresungeheuers hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Passagiere drängten sich an der Reling, waren mit Foto- und Filmkameras bewaffnet und wollten das Ungetüm auf Zelluloid bannen.

Viele glaubten an einen Scherz, rissen Witze darüber und waren überzeugt davon, dass Kapitän Counter sich einen Gag hatte einfallen lassen, um die erste Party auf dem Schiff noch interessanter zu gestalten.

Hawker strich sich die nassen Haare aus der Stirn und hatte seine Last, sich einen Weg durch die Masse der Neugierigen zu bahnen.

Fragen schwirrten durch die Luft, Gelächter und scherzhafte Bemerkungen wurden laut ...

»Wie sah das Monster denn aus?«, wollte eine attraktive Rothaarige wissen, die in Hawkers Nähe auftauchte. Man sah ihr an, dass sie nicht mehr ganz nüchtern war.

Der Offizier gab keine Antwort.

»War es aus Gummi oder Plastik?«, wollte ein anderer Passagier wissen.

»Die Idee ist nicht schlecht. Kompliment an den Käpt'n!«, wurde die Bemerkung von der anderen Seite laut. »Ist ja richtig aufregend ...«

Hawker wischte sich über sein nasses Gesicht. Er beeilte sich, die Kabine des Kapitäns aufzusuchen und dort Bericht zu erstatten. Counter hörte aufmerksam zu, was der Offizier ihm mitzuteilen hatte. Der für Schiff, Besatzung und Passagiere verantwortliche Mann war Ende Vierzig, von stattlichem Wuchs, ein richtiger Seebär. Ein dichter, schwarzer Vollbart rahmte sein Gesicht.

»Komische Geschichte«, murmelte er, kaum dass Hawker geendet hatte. »Der müssen wir wohl oder übel auf den Grund gehen. Ein Scherz seitens der Passagiere ist ausgeschlossen?«

Hawker lachte leise. »Die glauben, dass Sie sich einen Gag erlaubt haben, Käpt'n ... soweit ich das beurteilen kann, ist ein Scherz auszuschließen. Ich habe die Frau, die über Bord gegangen ist, bis zuletzt noch gesehen. Sie wurde von dem unheimlichen Wesen in eine für mich unerreichbare Tiefe gerissen ... das Opfer ist jetzt schon viel zu lange unter Wasser, um noch am Leben sein zu können ... der Scherz ging wohl ein bisschen zu weit ...«

Kapitän Counter leitete alles in die Wege, was er in dieser Stunde tun konnte.

Er ordnete einen sofortigen Stopp aller Maschinen an. Mehrere Beiboote wurden zu Wasser gelassen. Besatzungsmitglieder erhielten den Befehl, die Umgebung des Schiffes noch mal abzusuchen. Vielleicht fand man wenigstens die Leiche der Frau, deren Identität inzwischen feststand. Es handelte sich um die siebenundzwanzigjährige Sekretärin Rosemary Williams aus North-Carolina.

Die Zeugenaussagen über das Ereignis waren nach wie vor dürftig, und Counter gewann den Eindruck, als mische sich bereits nach kürzester Zeit Dichtung und Wahrheit. Das Monster trat immer mehr in den Vordergrund und wurde von verschiedenen Personen unterschiedlich beschrieben.

Der eine redete von einer riesigen ›Seeschlange‹, ein zweiter beschrieb es ›ähnlich dem Ungeheuer von Loch Ness‹, ein dritter wollte einen schuppigen Saurier gesehen haben, ein vierter ließ sich nicht davon abbringen, dass es sich um einen Fischmenschen handelte, der im wahrsten Sinn eine Mischung zwischen Mensch und Fisch war ...

Es bereitete Counter beträchtliche Mühe, seine Passagiere von der Räumung des Oberdecks zu überzeugen. Tanz und Vergnügen gingen auf allen anderen Decks weiter. Doch die Menschenansammlung oben wollte er nicht mehr dulden, um die Rettungsmaßnahmen nicht zu gefährden.

Ein Großteil der Passagiere war vernünftig genug, den Anordnungen Folge zu leisten, andere murrten und hielten das Ganze für aufgebauscht, um es interessanter zu machen. Dritte wiederum taten nur so, als ob sie nach unten gingen. Neugier und Sensationslust aber waren stärker als alle Vernunft. In einem unbewachten Augenblick tauchten sie wieder auf und verbargen sich im Kernschatten der Deckaufbauten, um zu beobachten, was wirklich los war. Auf einem so großen Schiff wie der YOUNG LOVE gab es tausend Versteckmöglichkeiten. Die Besatzung hätte doppelt so groß sein müssen, um jeden Winkel im Auge zu behalten.

Das Wasser rings um den weißen Dampfer war taghell ausgeleuchtet. Sämtliche Scheinwerfer der YOUNG LOVE brannten. Die Beiboote waren mit mobilen Suchscheinwerfern ausgerüstet. Die Position der Suchmannschaften war genau abgesteckt und das Suchgebiet ziemlich groß.

Befehle hallten über Deck und wurden durch Megaphon und Lautsprecher mitgeteilt. Die ungewöhnliche nächtliche Prozession weckte bei einigen Leuten eine eigenartige Abenteuerlust.

Pit und John Racliffe konnten der Versuchung nicht mehr länger widerstehen.