Macabros 039: Myriadus - Dan Shocker - E-Book

Macabros 039: Myriadus E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Dieser Band enthält die sorgfältige Aufarbeitung folgender Originalromane: Myriadus, der Tausendfältige Die Gefahren, die Björn Hellmark bestanden hat, sind nicht in der Mikrowelt zurückgeblieben. Der Keim des Todes ist da, den nur Myriadus verbreiten kann ... In aller Abgeschiedenheit wächst etwas heran, entwickelt sich rasend schnell zu voller Größe und bringt mörderische Gefahr für ganze Dörfer und Städte! Myriadus, der Tausendfältigte, ist gekommen, und wo er sich aufhält, stehen die Naturgesetze Kopf! Er ist alles und nichts, er kann klein sein wie eine Mikrobe und im nächsten Moment ein Titan, der eine Weltstadt unter seinen Füßen zertrampelt. Rha-Ta-N my, die Dämonengöttin, hat eine neue Figur ins grausame Spiel eingebracht ... Die flüsternden Pyramiden "Hier, mein Freund, schau dir das an ... dies ist mein Vermächtnis an dich!" Mit diesen Worten hinterlässt Ak Nafuur Björn Hellmark dreizehn versiegelte Umschläge. "Es gibt zwei Möglichkeiten, in das Reich Rha-Ta-N mys vorzustoßen. Der eine Weg führt direkt in den Tod. Der andere Weg ist langwieriger, umständlicher - aber keineswegs sicherer. Ergibt dir allerdings die Chance, ans Ziel zu gelangen, doch tausendfache Gefahren lauern auf dem Weg." Für Björn Hellmark und seine Freunde gibt es kein Zögern. Sie bereiten den Vorstoß ins Ungewisse vor. Björn öffnet den ersten Umschlag - und von dieser Minute an ziehen unglaubliche Ereignisse ihn in Bann!

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DAN SHOCKERS MACABROS

BAND 39

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Fachberatung: Gottfried Marbler

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-739-9

Dan Shockers Macabros Band 39

MYRIADUS

Mystery-Thriller

Myriadus, der Tausendfältige

von

Dan Shocker

Prolog

Alain Moreau warf einen Blick auf seine Armbanduhr.

22.04 Uhr.

Er hatte noch genau eine Stunde und neun Minuten zu leben, doch davon ahnte er nichts. Mit keinem Gedanken dachte er an den Tod. Wenn man erst fünfunddreißig war, hatte das noch Zeit ... Der Mann mit dem braunen Haar und den dunklen, sich ständig in Bewegung befindlichen Augen warf die halbangerauchte Zigarette ins Wasser, wo die Glut zischend verlöschte. Sein Blick schweifte über das nächtliche Meer zu den kahl und schwarz aus dem Wasser ragenden Felsen, bis zu denen es etwa eine Stunde zu rudern war.

Der drahtige Mann mit dem braunen T-Shirt, über dem er eine dunkelgemusterte Jacke trug, stutzte plötzlich und wandte den Kopf. In der steinigen Bucht, wo er wartete, ließen sich Geräusche nur schwer vermeiden. Bei jedem Schritt gerieten die Steine in Bewegung. »Hört sich an, als würde sich ein Raupenschlepper nähern«, murmelte Moreau vor sich hin.

In der Dunkelheit zwischen den zerklüfteten Felsen tauchte plötzlich eine schattengleiche Gestalt auf. Die Glut einer Zigarette war deutlich zu sehen.

»Wenn du dir schon so eine schöne Gegend aussuchst, musst du auch damit rechnen, dass es Krach gibt. Der Strand vorne wäre mir lieber gewesen und hätte die ganze Kletterei erspart«, entgegnete der Ankömmling. Er war etwa so alt wie Moreau, einen Kopf kleiner und kräftiger. Wie Alain Moreau, trug auch Bertrand Dupont eine dunkle Schildmütze.

Moreau lachte leise. Erst jetzt, als er sich dem späten Besucher zuwandte, war deutlich zu sehen, dass er an einem schmalen Lederriemen ein großes Fernglas um den Hals hängen hatte.

»Am Strand weiter vorn wären wir das Risiko eingegangen, von spazierengehenden Touristen beobachtet zu werden. Und das möchte ich vermeiden, wie du weißt«, kam es über Moreaus Lippen.

Dupont grinste. »Mir kommt es eher vor, als hättest du Befürchtungen, sie würden dir deine mysteriöse Blondine abspenstig machen ...«

»Vielleicht auch das«, antwortete Moreau mit todernster Miene. »Zumindest möchte ich nicht, dass ein Außenstehender etwas merkt. Die Bucht liegt genau richtig. Es führt kein direkter Weg hierher, das nächste Hotel ist weit weg, fast einen Kilometer, und wir begegnen garantiert keinen Strandläufern. Was wollen wir mehr? Alles ist perfekt – bis auf deine Unpünktlichkeit. Ich habe dich früher erwartet, Bertrand ...«

»Tut mir leid, Alain. Ich hab's nicht früher geschafft.«

»Wollte das Zimmermädchen noch etwas von dir? Wenn es die mit den roten Haaren war, verstehe ich's noch. Du hast eine Schwäche für solche Frauen.«

»Sie war es. Sie hat heute Abend frei. Wäre bestimmt eine tolle Nacht geworden.«

»Verschiebe sie auf morgen ... ich glaube, dass das, was ich dir zu zeigen habe, das Opfer rechtfertigt. Ich bin nicht verrückt ... ich habe sie gesehen. Auch wenn ich sie nachher nicht mehr angetroffen habe ...«

Alain Moreau stiefelte zu dem auf den Wellen schaukelnden Ruderboot. Es wäre keine Schwierigkeit gewesen, in Algeciras ein Motorboot zu leihen. Aber es hätte Aufsehen erregt. Und das wollte Moreau unter allen Umständen verhindern.

»Wärst du heute Mittag dabei gewesen, bräuchte ich jetzt diese Fahrt in der Nacht nicht zu unternehmen, nur um dir zu beweisen, dass hier tatsächlich etwas existiert, das einfach nicht wirklich sein kann – und doch wirklich ist! Das hört sich blöd an, nicht wahr?«

»Kann man wohl sagen ...«

Die beiden Freunde, die im Süden Spaniens Urlaub machten, stiegen in das Boot und legten sich in die Riemen, die knarrten wie rostige Scharniere einer alten Tür.

Moreau und Dupont saßen sich gegenüber. Kräftig rudernd, entfernten sie sich rasch vom Ufer.

»Es ist so, wie ich dir sagte, Bertrand«, begann Moreau wieder zu sprechen.

»Sie stand auf einem ins Meer ragenden Felsplateau, war splitternackt und lächelte mir zu. Blond, braungebrannt, eine Erscheinung wie aus einem Traum ...«

»Vielleicht war's einer ... du hast selbst gesagt, dass du im Boot eingeschlafen warst.«

»Aber als ich sie sah, war ich eben wach. Daran gibt's nichts zu rütteln. Als ich um den Vorsprung herumruderte und das Boot vertäute, sah ich sie hinter einen Felsen verschwinden. Ich folgte ihr und packte sie am Arm. Aber nicht fest genug ... sie konnte sich losreißen ...«

»... und dann ist sie in einen Höhleneingang gekrochen, in dem du sie nichtmehr gefunden hast ...«, setzte Dupont die Geschichte seines Freundes mechanisch fort. »Ich weiß, du hast mir das Märchen schon zum x-ten Mal erzählt.«

»Es ist kein Märchen, Bertrand! Ich habe sie nicht nur gesehen – ich habe sie auch angefasst. Und da habe ich sie gefühlt, sie war nicht aus Luft, keine Einbildung, keine Halluzination!«

»Ich glaub's erst, wenn ich sie auch gesehen und gefühlt habe.«

»Deshalb rudern wir ja hin.«

»Ich verstehe nicht ganz, weshalb wir mitten in der Nacht das Unternehmen starten und nicht am Nachmittag, gleich nach deiner Rückkehr ...«

»Das habe ich schon mehr als einmal versucht, dir zu erklären. Sie selbst hat darum gebeten, zu später Stunde wiederzukommen.«

»Wenn ich nicht schon Jahre mit dir befreundet wäre, würde ich sagen, du hast den Verstand verloren. Das Ganze kommt mir vor wie die legendäre Geschichte von der einsamen Urwaldgöttin, von der Weißen, die, nur mit einem Lendenschurz bekleidet, im Dschungel als kleines Mädchen verlorenging und schließlich wieder auftauchte, verehrt von den Eingeborenen als Göttin. Da weit und breit kein Urwald zu sehen ist, könnte man annehmen, deine nackte Schöne sei den kühlen Fluten entstiegen wie die sagenhafte Undine.«

»Irgendwoher muss sie kommen. Sie war aus Fleisch und Blut, Bertrand.«

»Eine Schiffbrüchige, die sich auf eine einsame Insel gerettet hat, war sie aber nicht?«

»Du kannst es nicht lassen, spitze Bemerkungen zu machen. Nein, von einer Schiffbrüchigen kann keine Rede sein.«

»Wie alt war sie denn?«

»Ich schätze sie auf achtzehn, neunzehn.«

»Hm, vielleicht, Alain, ist sie von zuhause ausgerissen und richtete sich auf der Felseninsel eine eigene kleine Welt ein. Sie lebt von Fischen und Muscheln, hin und wieder auch von etwas Frischgemüse in Form von Seetang. Wegen der Vitamine. Die machen eine reine Haut und sorgen für gutes Blut. Das Mädchen scheint so ein richtiger kleiner, weiblicher Robinson zu sein. Sie liebt das Inselleben, will aber nicht mehr allein sein. Also lacht sie sich einen Mann an. Die Wahl fällt ausgerechnet auf meinen besten Freund Alain. Du machst doch wirklich keinen Unsinn mit mir, nicht wahr?«, stellte er plötzlich todernst diese Frage.

»Nein, Bertrand. Ich schwöre dir, es hat sich alles so zugetragen, wie ich es dir geschildert habe. Ich kann es selbst kaum fassen. Deshalb will ich mir jetzt Gewissheit verschaffen. Und du sollst dabei sein – entgegen ihrem ausdrücklichen Wunsch, heute am späten Abend noch mal zu kommen. Allein. Sprechen wir gleich über die Einzelheiten, Bertrand. Nach meiner Ankunft bleibst du im Boot zurück und verhältst dich still wie eine Leiche.«

»Und wenn das Ganze eine Falle ist?«, fragte Dupont.

»Wie kommst du darauf? Warum und weshalb sollte es eine Falle sein?«

»Nur so ... vielleicht lebt sie gar nicht allein, ist nur ein Lockvogel, und jemand will dir ans Zeug.«

»Unsinn, Bertrand! Ich habe nichts bei mir, was zu rauben sich lohnt. Außerdem wird der Lockvogel sich dann nicht ausgerechnet eine zerklüftete Felseninsel aussuchen, wo den ganzen Tag kein Mensch vorbeikommt. Du hast manchmal komische Gedanken.«

»Ich habe schon wieder welche, Alain ... warum, so frage ich mich die ganze Zeit, hat sie dich aufgefordert, noch mal zu kommen, aber diesmal bei Dunkelheit?«

Alain Moreau blickte auf. »Das, Bertrand, beschäftigt mich auch. Ich sehe keinen Sinn darin, aber bald werde ich auch mehr über diese mysteriöse Bemerkung wissen. In einer halben Stunde sind wir am Ziel – dann erfahre ich so einiges.«

Nach geraumer Zeit stellten sie ihre Gespräche ein. Schweigend und kraftvoll näherten sie sich den kahlen Felsen, deren zerklüftete Oberfläche unter dem Licht der am Himmel stehenden Sterne schon von weitem zu sehen war.

Das Knarren der trockenen Riemen und das Plätschern der Wellen gegen die Außenwände des Bootes waren die einzigen Geräusche.

Während der Fahrt zu der Felseninsel hob Moreau mehrere Male sein Nachtglas an die Augen und suchte aufmerksam das zerklüftete Ufer ab.

Dort schien alles leer.

Noch fünfzig Meter bis zu dem fraglichen Felsplateau.

»Da hat sie gestanden, Bertrand«, sagte Moreau leise. »Nackt und schön, wie Gott sie geschaffen hat. Und jetzt bin ich nur gespannt, wie ...«

Das waren seine letzten Worte.

Das Grauen überfiel die beiden Ruderer.

Eine riesige Fontäne stieg neben dem schaukelnden Boot auf. Dunkelrot und schwarz wuchs das Ungetüm in die Höhe und war bald so groß wie die Felsen im Hintergrund.

Alain Moreau blieb der Schrei wie ein Kloß im Hals stecken.

Der Franzose sprang auf, packte geistesgegenwärtig ein Ruder und schlug damit zu. Das Ruderblatt krachte gegen die riesige Klauenhand mit den scharfen, wie Dolche gekrümmten Krallen. Mit hellem Knacken brach die Stange durch wie ein Streichholz.

Dann wurde der wild um sich schlagende Mann gepackt und wie eine Puppe aus dem kenternden Boot gerissen. Ähnlich erging es Dupont, der wie ein Spielzeug in die aufgewühlte, gischtende See flog.

Alain Moreau sah die riesigen, blutrot glühenden Augen direkt vor sich. Sie waren groß wie Wagenräder. Das Maul glich einem Scheunentor. Stickiger Atem schlug Moreau entgegen, dann sah er in dem weitgeöffneten Maul dicht und spitz hintereinanderliegende Zahnreihen. Das Gebiss eines Menschenhais schien dagegen harmlos.

Über Dupont schlug das schäumende Wasser zusammen. Der Mann schluckte eine ganze Menge und litt schon unter Luftmangel, tauchte aber trotzdem nicht gleich auf. Er kraulte weiter, um so schnell wie möglich aus der Gefahrenzone zu kommen.

Dann musste er auftauchen, prustete und schnappte nach Luft.

Ein Schlag! Es splitterte und krachte in seiner unmittelbaren Nähe. Noch ehe sein Kopf herumflog, wusste er, wie der Lärm zustande kam.

Die Klauenhand des Ungeheuers zerschmetterte das kleine Boot. Es brach in der Mitte entzwei, und Holzsplitter zischten wie Geschosse durch die Luft.

Duponts Augen waren groß wie Untertassen.

Namenloses Grauen erfüllte ihn, als er sich des unbeschreiblichen Ausmaßes des Ungeheuers bewusst war.

Allein die Hand war so groß wie das Boot, der Kopf hatte einen Durchmesser von mindestens drei Metern ... der Körper war ein Berg aus rotschwarzem, struppigem Fell, das vor Nässe triefte, die roten Augen erschienen wie riesige Kugeln, in denen es keine Pupillen gab ...

Dupont zögerte keine Sekunde. Er warf sich nach vorn und durchpflügte das Wasser.

Da war der Schatten des Unheimlichen auch über ihm.

Bertrand Dupont schrie gellend auf, als die riesige Klauenhand ihn packte.

Das aufgewühlte Wasser glättete sich wieder.

Kein Mensch war Zeuge des grauenvollen Vorgangs geworden. Und kein Mensch beobachtete auch jetzt, wie der Unheimliche sich veränderte.

Er stammte nicht von dieser Welt. Er war in einer anderen zu Hause, und er war nicht nur Lebewesen.

Er entsann sich einer seiner Formen, die typisch waren für ihn.

Der rotschwarze, zottige Pelz glättete sich. Kopf und Schultern rundeten sich, während die Wellen Bruchstücke des zerstörten Bootes auseinandertrieben.

Der Koloss wurde schnell kleiner, war schließlich nur noch so groß wie das Boot vorhin und hatte dann normale Menschengröße.

Doch auch damit hörte der Schrumpfungsprozess nicht auf. Allein das Schrumpfen war es nicht – es war auch die Veränderung der Form, die damit einherging.

Das Ungetüm hatte jetzt annähernd Eiform erreicht. Die Oberfläche wurde schieferartig, grauschwarz und hart wie die Haut eines Elefanten. Während das Ei schrumpfte, brachen aus der Hautschicht dünne, lange Fäden, die sich eng an den Körper legten. Gleichzeitig öffnete sich ein Spalt, der aussah wie eine Tür, die in das Innere des seltsamen Gebildes führte. Aus ihm schimmerte es in sattem Gelb.

Das Ei war jetzt nur noch so groß wie ein Fußball, dann wie ein Korken, der auf den Wellen hüpfte und von ihnen davongetragen wurde.

Es hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mehr mit dem gewaltigen Ungeheuer, das noch vor wenigen Augenblicken das Boot zerschmetterte und die beiden Menschen tötete.

Es wirkte klein, hilflos und unscheinbar in der Weite des nächtlichen Meeres.

Doch der Eindruck täuschte.

Was da wie ein Korken auf dem Wasser hüpfte, nicht unterging, eiförmig war und eine Öffnung aufwies, die nach innen führte, war Skrophuus in diesen Sekunden noch milliardenmal größer als in seinem Urzustand, denn Skrophuus kam aus der Mikrowelt.

Nur wenn man ganz genau hinsah, ließ sich auf der mattschimmernden Oberfläche mit den zusammengelegten Fäden noch etwas wahrnehmen. Zwei kleine, streichholzkopfgroße Punkte, die dunkel und schmal jeweils von einem Faden festgehalten wurden.

Nur unter dem Mikroskop hätte man noch sehen können, dass es sich um zwei mumifizierte, völlig ausgetrocknete und verdorrte Menschen handelte, um Alain Moreau und Bertrand Dupont, die von dem unheimlichen Monster auch noch im Tod festgehalten wurden ...

1. Kapitel

Auf der unsichtbaren Insel zwischen Hawaii und den Galapagos waren nur wenige Menschen zu Hause, hin und wieder aber auch Besucher.

Diesmal hielten sich zwei dort auf, mit denen sie so schnell nicht gerechnet hatten.

Es waren der Schweizer Friedrich Chancell und der geheimnisvolle Mann mit der magischen Pyramide: Skash, der Skelettmagier.

Skash war in der Tat ein Mann, der aus Knochen bestand und von einem uralten Geist beseelt wurde. Außerdem hatte Skash zwei Flügel, bei denen ebenfalls die Spannhäute fehlten. Um den Hals trug er einen leuchtend orangefarbenen Umhang, der mit unzähligen magischen Symbolen und Zeichen ausgestattet war.

Die Freude über die Besucher war groß. Skash und Friedrich Chancell waren Hellmarks Lebensretter. In einem Gewaltakt ohnegleichen hatte Skash die einmalige Chance genutzt, dem blonden Abenteurer zu Hilfe zu eilen und seiner Odyssee in der Welt des Atoms ein Ende zu bereiten.

Hellmarks Leben hing an einem seidenen Faden. Der Herr von Marlos war durch seine erbitterte Feindin, der Dämonin Apokalypta, dazu verurteilt worden, in der Welt des Mikrokosmos zwanzigtausend Jahre in der Zeitrechnung vor seiner Geburt verbannt zu sein.

Gleich nach der Rettungsaktion hatten Skash und Friedrich Chancell sich erneut aufgemacht und hatten versucht, in die Vergangenheit der Mikrowelt einzudringen. Der Weg in die Zeit hatte sich als nicht mehr durchführbar erwiesen.

»Es gibt keinen Zweifel«, erklärte Skash. Seine Gedankenstimme war in Björn Hellmarks Bewusstsein. »Im letzten Kampf, in dem du gegen Skrophuus antreten musstest, ist etwas Entscheidendes geschehen. Der lebende Tempel, der an gewaltigen Wurzelsträngen verankert war, hat sich losgerissen, nachdem durch die Kampfhandlungen einige Wurzeln gekappt worden waren. Dies hatte zur Folge, dass jene rotgelben Ringgebilde, durch die der Schrumpfungs- und Mikrotisierungseffekt gleichzeitig hervorgerufen wurden, zusammenbrach. Das im Mikrokosmos gewachsene Gebilde mit Namen Skrophuus hat die Ringe produziert. Was aus Skrophuus geworden ist, bleibt nur unseren Vermutungen überlassen. Entweder ist es zugrundegegangen oder bei den sich überstürzenden Ereignissen selbst in eine andere Welt geschleudert worden. Fragt sich nur in welche – und was das für Folgen haben könnte.«

Konnte es sein, dass Skrophuus, das gleichbedeutend war mit einer Zelle aus dem Organismus des Großen, die Welt der Menschen, die dritte Dimension, erreicht hatte?

Es gab weder Anhaltspunkte dafür noch dagegen. Vorsicht und Aufmerksamkeit waren am Platz. Björn und seine Freunde kehrten noch mal mit einem blauen Auge aus einer dämonischen, lebensfeindlichen Welt in ihr Zuhause zurück. Insofern hatten sie einen kleinen Erfolg über die Mächte der Finsternis errungen, die nach wie vor ihr großes Ziel ansteuerten: die Erde und damit die Menschen in ihre Gewalt und Abhängigkeit zu bekommen und sogar das Jenseits der Toten in ihren Herrschaftsbereich einzureihen.

Rha-Ta-N'my, die grausame und machtgierige Dämonengöttin, ging skrupellos vor. Sie setzte nicht nur ihre eigenen Heere und Schergen ein, sondern auch Menschen, die sich dem Bösen verschrieben, weil sie es wollten. Dass sie damit den Untergang der eigenen Art unterstützten, war jenen verbrecherisch Denkenden sehr oft klar. Und doch ließen sie nicht von ihrem schändlichen Tun.

Noch mehr bedauerten sie Friedrich Chancell und Skash.

Bei ihrem Eingreifen hatten sie flüchtig Oceanus und einen Teil seines Volkes kennengelernt, das völlig stumpfsinnig und wie hypnotisiert in der Welt Horron seine Tage fristete. Es war Hellmarks Absicht gewesen, etwas für Oceanus zu tun, dem ein ähnliches Verschollenen-Schicksal in der Vergangenheit einer winzigen Welt zuteilgeworden war wie ihm.

Doch zunächst lag diese Absicht auf Eis. Die Tore zu Oceanus waren verschlossen. So glücklich Björn darüber war, wieder mit seinen Freunden und Carminia zusammen zu sein, so traurig war er über den Lauf der Dinge. Er hatte bei der letzten Begegnung mit Apokalypta das Schwert des Toten Gottes verloren. Und er sorgte sich um seinen Freund Ak Nafuur. Die Wochen der Trennung zeigten den gewaltigen Unterschied zwischen seinem Aussehen in jenen Tagen und dem im Augenblick.

Ak Nafuur war um Jahrzehnte gealtert.

Was der Xantilon-Priester und ehemalige Dämonenfürst selbst prophezeit hatte, schien sich zu bewahrheiten. Als Dämonenfürst Molochos stand er in Diensten Rha-Ta-N'mys und erhielt dadurch ewiges Dämonenleben. Als er von den Geistern der Besessenheit befreit werden konnte und die Möglichkeit hatte, sich wieder frei für ein Menschendasein zu entscheiden, nahm er damit die Sterblichkeit in Kauf. Was jahrtausendelang aufgehalten worden war, der normale Alterungsprozess des menschlichen Organismus, nahm plötzlich wieder seinen natürlichen Lauf.

Das Ergebnis war nicht mehr zu übersehen.

Ak Nafuur war vom Tod gezeichnet.

Der ehemalige Dämonenfürst wirkte keineswegs krank und hinfällig.

»Wie die Geburt ist der Tod die natürliche Entwicklung jedes lebendigen Organismus«, sagte Ak zu seinem Freund, als sie sich in der Blockhütte des greisen Mannes gegenübersaßen. »Ich habe keine Angst vorm Sterben. Meine Zeit ist gekommen, und ich nehme den Tod an. Ich bin nicht krank. Kein Arzt der Welt könnte etwas für mich tun. Meine Lebenskraft ist einfach zu Ende, ich habe nur den einen Wunsch, dass der Tod mir noch so viel Zeit lässt, dir all das zu hinterlassen, was für dich wichtig ist im Kampf gegen Rha-Ta-N'my und ihre Schergen. Dort in der Ecke liegen Hunderte von Seiten, die ich während der letzten Wochen verfasst habe. Sie enthalten alles Wissen, das ich während meiner Zeit als Dämonenfürst sammeln konnte. Vieles davon ist leider in Vergessenheit geraten. Mit einigem Erschrecken musste ich feststellen, dass mit meiner neuen Menschwerdung auch Hintergründe und Wissen verblassten, die zuvor Teil meines Selbst waren. Woran ich mich erinnere, kannst du nachlesen.

Aber damit nicht genug, Björn. In der Zeit, als du im Mikrokosmos verschollen warst und wir alles daransetzten, einen Weg zu dir zu finden, habe ich gleichzeitig einen Versuch unternommen, der risikoreich aber vielversprechend erschien. Ich wollte, dass wir von Marlos aus in der Lage sein würden, Rha-Ta-N'my persönlich anzugreifen und sie von ihrem wahnwitzigen Plan der absoluten Unterwerfung und Herrschaft abzubringen. Wenn es gelänge, die Dämonengöttin von ihren Kräften auf der Erde zu isolieren, sie selbst in Gefahr zu bringen, dann könnte dies im Verhältnis zwischen Mensch und Dämon eine neue Komponente ergeben. Ich arbeite noch an diesen Unterlagen. Ich suche den günstigsten Weg. Der Vorstoß zu Rha-Ta-N'my scheint unerlässlich geworden zu sein. Alles muss klug eingefädelt und geplant sein, sonst ist das Unternehmen von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Hier auf Marlos herrscht die richtige Atmosphäre, einen solchen Plan ausreifen zu lassen. Er darf nicht vorher bekannt werden. Wenn Rha-Ta-N'my durch irgendeinen Vorgang auch nur zu ahnen beginnt, was ich versuche, in die Wege zu leiten, wird sie allem einen Riegel vorschieben. Was dann geschieht, wage ich mir nicht vorzustellen. Die Gefahr, dass sie die Erde dann ganz aufgibt, ist groß. Und das bedeutet, dass sie ohne Rücksicht auf eigene Nachteile die Erde ins Chaos führt, dass die Zeit des Urbeginns noch mal eintritt.«

Das Gespräch wühlte ihn auf.

Auch als er Ak Nafuur allein in seiner Hütte zurückgelassen und Skash mit Chancell in der magischen Pyramide der Insel den Rücken gekehrt hatte, beschäftigte ihn die Aussprache.

Er suchte die Geisterhöhle auf, die sein Refugium war. Mit ihr hatte es eine besondere Bewandtnis.

Alle wichtigen Priester und Propheten, die in der Stunde des Untergangs der Insel Xantilon über entscheidendes Wissen verfügten, zogen sich in das Versteck zurück. Ihre Körper vergingen bis auf das Skelett und die kostbaren, farbigen Umhänge, die sie trugen. Mit dem Auftauchen der Insel Marlos waren Wissen und Kenntnisse und Botschaften für Björn Hellmark freigeworden, der der legale Erbe dieser unsichtbaren Welt war.

Eine Kette von Umständen hatte es jedoch verhindert, dass Björn in den Genuss des gesamten Wissens kam. Schon damals waren viele wichtige Passagen verlorengegangen, die er bis heute nicht wieder anderweitig erfahren hatte. Dies war mit ein Grund dafür, dass Hellmark im Kampf mit den Unheilbringern aus Rha-Ta-N'mys Schattenwelt größere Schwierigkeiten zu meistern hatte, als dies ursprünglich der Fall gewesen wäre.

Hellmark lief die schmalen, steinernen Stufen nach oben. Die Treppe verjüngte sich pyramidenförmig. Auf den unteren Stufen standen ausladende Steinthrone, auf denen die knöchernen Gestalten mit ihren kostbaren, farbenprächtigen Umhängen saßen.

In jedem Thron war mit auffallend großen Buchstaben der Name dessen eingemeißelt, der darauf saß.

Der oberste Thron war leer, der Name darauf lautete: BJÖRN HELLMARK ...

Dies würde der Platz sein, den er, wenn alles normal lief in seinem Leben, eines Tages, am Ende seiner Lebenszeit, einnahm.

In der Geisterhöhle befanden sich für seine Zwecke wertvolle Trophäen, die er im Kampf gegen die Dämonen dieser und anderer Welten errungen hatte.

Am Fußende des Throns, der seinen Namen trug, stand der schmale, mit Samt ausgeschlagene Behälter, in dem er stets das kostbare Schwert des Toten Gottes aufbewahrte. Doch nun war er leer. Das Schwert befand sich in Apokalyptas Besitz und war vielleicht in der Vergangenheit der Mikrowelt, durch die er geirrt war, verlorengegangen.

Für immer?

Der blonde Mann mit dem kühnen Gesichtsschnitt eines Wikingers nahm auf dem Thron Platz. Dort stand noch mehr. Eine Schachtel aus edlen Hölzern enthielt die restlichen Augen des Schwarzen Manja. Dabei handelte es sich um faustgroße, rubinrote Steine, die aussahen wie ungeschliffene, überdimensionale Diamanten. Noch vier Exemplare befanden sich in Hellmarks Besitz. Einen hatte er selbst auf der Welt Zoor des wahnsinnigen Nh'or Thruu opfern müssen, zwei weitere waren bei dem Versuch, ihn aus dem Mikrokosmos zu befreien, durch Ak Nafuur und Rani Mahay aufgebraucht worden.

In einem weiteren Behälter wurden der Trank der Siaris aufbewahrt und der Schlüssel in die Welt von Komestos II.

Und es gab noch immer die Dämonenmaske, jenes rätselhafte braune Gebilde, das man über den Kopf zog, um damit sein Aussehen zu verändern. Die Maske war aus der Haut eines abtrünnigen Dämonen gefertigt worden.

Da war auch noch Velenas Armreif. Er bewirkte für den Träger und jeden, der diesen berührte, Unsichtbarkeit. Aller dieser Dinge bedienten sich die Bewohner von Marlos, wenn die Umstände es erforderten.

Lediglich das verschollene Schwert und das Buch der Gesetze, das ebenfalls in der Geisterhöhle aufbewahrt wurde, waren Dinge, denen Hellmark sich persönlich widmete.

Im Buch der Gesetze, das lange Zeit nicht entzifferbar und anfangs von Prof. Merthus übersetzt worden war, standen Gedanken und Prophetien unterschiedlicher Wichtigkeit. Der erste Aufenthalt Björn Hellmarks in der Vergangenheit Xantilons, jenes Kontinents, der in grauer Vorzeit durch dämonische Manipulationen unterging, hatte seine Sprachkenntnisse so weit verbessert, dass er schließlich auch in der Lage war, jene großen Passagen zu verstehen, von denen zunächst auch Merthus glaubte, dass sie unübersetzbar wären.

In diesem Buch begann Hellmark zu lesen.

Er war in der Geisterhöhle ungestört. Hier schöpfte er Kraft, traf seine Entscheidungen und holte sich jene Trophäen, von denen er meinte, dass sie in dem einen oder anderen Abenteuer von Wichtigkeit für ihn waren.

Von hier aus konnte er den Spiegel der Kiuna Macgullygosh einsetzen, mit dem es möglich war, gezielt Welten und Plätze aufzusuchen, die in anderen Dimensionen lagen.

Von hier aus aber nahm er manchmal auch geistige Verbindung zu Al Nafuur auf, den geheimnisvollen Zauberpriester aus dem Land Xantilon, dessen die Zeiten überdauernder Geist in einem Reich zwischen Diesseits und Jenseits zu Hause war.

Al Nafuur war der Zwillingsbruder Ak Nafuurs.

»Wenn du mir einen Rat geben kannst, Al«, sagte Hellmark leise, »dann tue es. Wenn du weißt, wo sich Apokalypta, die ewige Unheilbringerin, in dieser Minute aufhält, nenne mir den Ort, und ich werde mich aufmachen, das Schwert zu suchen.«

Er lauschte in sich hinein. Keine Reaktion. Al Nafuur, irgendwo in der Unendlichkeit, machte sich nicht bemerkbar.

In Gedanken rief er den Freund noch einige Male, während er sich im Buch der Gesetze über die Macht, den Einfluss und die Möglichkeiten der ranghohen Dämonen um Rha-Ta-N'my informierte.

Schon damals wusste man eine ganze Menge über sie, und schlaue Leute hatten geweissagt, wie sich wer entwickeln konnte.

Gab es einen Hinweis über jenen rätselhaften Skrophuus aus dem Mikrokosmos, aus dem Land Horron?

Seltsam, dass die Dinge, die hinter ihm lagen, ihn noch immer berührten. Wahrscheinlich hing das damit zusammen, dass die Erlebnisse noch frisch waren.

Die Andeutungen, die der Verräter namens Turrak gemacht hatte, beschäftigten ihn noch immer. Aber Turrak hatte einen grausamen Tod erlitten. Kurz vor der entscheidenden Wende, die Hellmark aus dem Mikrokosmos brachte, verlor Turrak sein Leben. Skrophuus, jenes rätselhafte Etwas, hatte ihn zuvor gepackt und ausgesaugt wie die Spinne eine Fliege. Nur die äußere, unverdaubare Hülle, kalt, verschrumpelt und ausgedörrt, war von ihm übriggeblieben ...

Die Weisen, die Propheten und Priester, die führenden Herrscher der Xantilonregionen – sie alle wussten schon eine ganze Menge über die sieben Hauptdämonen. Björn setzte seine Lektüre im Buch der Gesetze fort und hoffte, einen Hinweis auf Skrophuus zu finden. Ak Nafuur, den er vorhin darüber fragte, hatte nichts auszusagen gewusst.

Geheimnisse des Mikrokosmos waren ihm nicht vertraut. Dafür waren andere zuständig. Utosh-Melosh-Orsh zum Beispiel, oder Shab-Sodd ... Nh'or Thruu, der eine ganze Welt regiert hatte, existierte nicht mehr. Er war ein Opfer des Schwertes des Toten Gottes geworden.

»Ich kann dir einen Hinweis geben«, sagte da die Stimme in ihm.

»Al Nafuur!« Hellmark fuhr zusammen. »Die ganze Zeit über versuche ich, mich mit dir in Verbindung zu setzen.«

»Und stelle dir vor, ich hab es auf einmal vernommen«, klang es fröhlich zurück. »Du hast so laut geschrien, dass ich es im Schlaf gehört habe.«

Das war typisch Al Nafuur. Wenn er Gelegenheit hatte zum Scherz, nutzte er sie aus.

»Ich hab schon gedacht, alles wäre nichts weiter als ein Traum«, fuhr der Unsichtbare in seinem Bewusstsein zu sprechen fort. »Ich konnte dich in der Welt des mikroskopisch Kleinen nicht mehr erreichen.«

»Ich hätte deine Hilfe dringend nötig gehabt, Al.«

»Tut mir leid, Björn ... aber du hast es noch mal geschafft. Und das ohne meine Hilfe.«

»Wenn Skash, der Magier, nicht gewesen wäre ...«

»Er war aber gewesen! Und dadurch ist einiges wieder ins Lot gekommen.«

Hellmark hörte die Stimme so deutlich, als stünde der Sprecher direkt neben ihm.

»... du beschäftigst dich mit Skrophuus, wie ich bemerke.«

»Dann weißt du etwas über ihn, Al?«

»Wissen ist zu viel gesagt. Es gibt da einige Erkenntnisse über ihn, nichts weiter sonst. Ich habe versucht, neue Einzelheiten über ihn herauszufinden. Skrophuus ist ein Begriff aus der Sprache der Horron-Barbaren und bedeutet so viel wie Zelle aus dem Körper des Großen. Für das Wort Großen kannst du auch Myriadus setzen ...«

Björn hatte das Gefühl, als würde jemand mit einer Rasierklinge über seinen Kopf fahren.

»Myriadus!«Er war einer der Hauptdämonen.

»Der Tausendfältige, ja, Björn, der kann überall sein. Teile seines Körpers sind verstreut in alle Himmelsrichtungen wie Staubkörnchen. Im Land Horron nannte man diese Zelle Skrophuus. Er kann klein sein wie eine Mikrobe und gigantisch wie ein Riese, der eine ganze Stadt zertrümmert, als wären die Häuser nur Bausteine, mit denen ein Kind spielt.«

»Es gibt zum Glück keinen Skrophuus in unserer Welt, nicht wahr?«

»Genau das Gegenteil ist der Fall, Björn ... ich habe es nicht miterlebt und kenne die Situation nur aus deinem Bewusstsein. Der Kampf in Horron, die Begegnung mit dem Barbar ... sie war der auslösende Faktor. Wurzeln des Skrophuus wurden durchgetrennt, und er hat sich aus eigener Kraft schließlich befreit. Skrophuus ist in deiner Welt, Björn ...«

»Wo, Al?« Hellmark schluckte. Langsam erhob er sich aus dem steinernen Thron und ging über die Stufen nach unten.

»Der Ort, Björn, ist mir unbekannt. Ich weiß nur, dass es Myriadus, dem Tausendfältigen, gelungen ist, die Grenzen zu überwinden. Er hat die Chance genutzt, auszubrechen und Horron zu verlassen, wo es für ihn nichts mehr gab, was ihn zuletzt gehalten hätte. Die Zeit wurde verändert. Das Leben in Horron hat sich von Grund auf gewandelt. Durch Skashs Eingreifen. Der Keim des Myriadus' ist in deine Welt gekommen. Dies bringt neue, unkalkulierbare Gefahren mit.«

»Das ist meine Schuld«, sagte Björn Hellmark leise. »Ich habe mitgeholfen, die Wurzeln des Skrophuus zu kappen ...«

»Du hast nichts damit zu tun, die Umstände sind schuld daran.«

»Wo ist Skrophuus jetzt? Es genügt mir eine ungefähre Angabe, Al.«

»Ich weiß es nicht. Ich würde es dir sonst sagen. Achte auf die Zeichen, wenn sie auftreten, sie sind unübersehbar.«

Hellmark merkte, wie die Stimme sich aus seinem Bewusstsein zurückzog. Al Nafuur wollte seinen Ausführungen noch etwas hinzufügen, doch dazu reichte die Zeit nicht mehr. Die Verbindung in jenes rätselhafte Zwischenreich brach zusammen. Al Nafuurs Geist musste sich zurückziehen.

Soviel lag Hellmark noch am Herzen, worüber er mit seinem Geistfreund gern gesprochen hätte. Doch die Umstände waren gegen ihn.

Er war nach Marlos zurückgekommen, und der Kampf ging weiter. Die Mächte der Finsternis ließen ihm keine Verschnaufpause.

Er hatte gehofft, durch die Ereignisse im Mikrokosmos einige Verwirrung und Veränderung hervorgerufen zu haben. Wahrscheinlich wusste Apokalypta noch gar nichts von diesen Umschichtungen, die sich ergeben hatten. Ihr Kontakt zu Horron erfolgte nur sporadisch. Die Dämonin war sicher überzeugt davon, dass er nicht mehr lebte. Auf diese Gewissheit wollte er seinen neuen Plan aufbauen, Apokalyptas derzeitigen Aufenthaltsort so schnell wie möglich herauszufinden versuchen und dann zuschlagen. Bei dieser Gelegenheit wollte er als rechtmäßiger Besitzer des magischen Schwertes wieder sein verlorengegangenes Eigentum zurückerobern.

Nun kam das mit Skrophuus dazu ...

Patrick und seine Mitarbeiter mussten informiert werden. Der Herausgeber der Amazing Tales hatte überall in der Welt seine Informanten. Wo es außergewöhnliche Vorfälle gab, waren Patrick und seine Leute gleich zur Stelle. Auf diese Weise bekam Björn Hellmark auf der Insel Marlos verhältnismäßig schnell und aus erster Hand Hinweise über Ereignisse, die nur in ganz wenigen Fällen nicht jenes Gebiet betrafen, auf dem er sich bewegte.

Wenn der Draht zu Al Nafuur funktionierte, dann kam er auch noch früher zu Erkenntnissen. Aber leider geschah dies nur in den seltensten Fällen.

Er erörterte die neuaufgetretenen Probleme gleich darauf im Kreis der Freunde. Arson und Rani Mahay machten fast gleichzeitig den Vorschlag, abzugehen von dem bisherigen Arbeitsschema.

»Ak Nafuur hat sich eingeigelt«, murmelte der breitschultrige Inder. Auf seiner prachtvollen Glatze spiegelte sich die Sonne von Marlos. »Er will in Ruhe gelassen werden. Aus gutem Grund. Carminia und Danielle kümmern sich um ihn. Wahrscheinlich gefällt das dem alten Burschen.« Als er das sagte, spielte ein schmerzliches Lächeln um seine Lippen. Rani wusste ebenso wie die anderen, wie es um Ak Nafuur stand. »Wir haben im Moment einen Mitstreiter weniger. Aber eigentlich ist das falsch. Ich glaube eher, dass Ak durch die Arbeit, die er leistet, mehr als zehn andere Helfer ersetzt. Im Moment aber ist es wichtig, die Wege zu gehen, die uns zur Verfügung stehen, die Gegner nicht zum Verschnaufen kommen zu lassen. Wir wissen alle nicht, ob sie Informationen über unsere Rückkehr haben oder nicht.«

»Gerade das will ich so schnell wie möglich feststellen. Und wenn wir an den kritischen Punkten auftauchen und erkennen lassen, dass wir wieder mit von der Partie sind, wird sich wohl schnell einiges tun. Mit Arsons Zeitkugel könnten wir einen Flug in die Vergangenheit Xantilons machen, wie dies schon mal der Fall war. Würden wir einen Zeitpunkt vor oder nach unserer damaligen Ankunft wählen, hätten wir vielleicht die Gelegenheit, Apokalyptas Rolle von einst zu studieren und einen Hinweis auf den Verbleib des Schwertes zu erhalten. Es befand sich wie Apokalypta zuletzt in der Welt des Mikrokosmos. Dies wäre ein Weg. Der andere der, in unserer Gegenwart nach Apokalyptas Spuren zu suchen. Vielleicht ist die Chance, auf sie zu stoßen, sogar günstiger, als wir jetzt vermuten ...«

»Gehen wir doch beide Wege«, kam Arsons Vorschlag wie aus der Pistole geschossen. »Ich forsche in Xantilons Vergangenheit nach ihr, und ihr in der Gegenwart dieser Welt.«

Sie besprachen Einzelheiten.

»Es gibt da ein Handicap«, wurde Björn ernst. »Ich bin seit der Begegnung mit Nh'or Thruu nicht mehr so beweglich wie zuvor. Ich habe meine Fähigkeit eingebüßt, mich zu verdoppeln. Ich kann mich nicht mehr von Marlos allein entfernen, es sei denn ...«

Der Gedanke kam ihm plötzlich, er setzte ihn sofort in die Tat um und unternahm den Versuch ...

Er konzentrierte sich auf seinen Doppelkörper.

Nur eine Armlänge entfernt, bildete sich eine schemenhaft wahrnehmbare Gestalt, die sich dann rasch verdichtete und scharfumrissene Konturen annahm.

Ein zweiter Björn Hellmark entstand!

Björn sah sich wie in dreidimensionalem Spiegelbild. Er konnte es kaum fassen, dass sein Doppelkörper entstanden war.

Das war Macabros, der feinstoffliche Leib, der zur gleichen Zeit handeln und aktiv sein konnte, den er jetzt, wenn er das wollte, an jeden beliebigen Ort der Welt befördern konnte, ohne selbst auch nur einen Schritt zu gehen.

»Nh'or Thruu, der Wahnsinnige von Zoor, konnte den Bann nur in seiner eigenen unheimlichen Welt auslösen«, murmelte der blonde Mann mit dem braungebrannten Gesicht. »Und auch nur dort konnte er mir die Fähigkeit nehmen, mich zu verdoppeln und meinen Zweitkörper nach Bedarf auszusenden. In meiner Welt aber wirkt der Bann nicht nach. Ich bin frei, ich kann handeln. Meine Fähigkeit war die ganze Zeit über nach der Begegnung mit Nh'or Thruu lediglich verkümmert und auf die Welt des Mikrokosmos begrenzt.«

Ein Stein fiel ihm vom Herzen.

Er löste Macabros wieder auf und sprach mit den Freunden über das weitere Vorgehen. Arson entschloss sich, allein in die Vergangenheit zu reisen, während Rani Hellmark auf der Suche nach Skrophuus und dem Schwert des Toten Gottes begleiten sollte.

Genau zu diesem Zeitpunkt kam Pepe, Hellmarks dunkelgelockter Adoptivsohn, auf sie zugerannt.

Der Junge machte einen völlig aufgelösten Eindruck.

»Björn!«, rief er schon von weitem. »Björn! Jim ist weg ...«

»Das ist kein Grund, so aufgeregt zu sein, Pepe. Ich kann mich an viele Situationen erinnern, da bist du weggewesen, ein kleiner Bummel durch London oder Paris, ein Abstecher auf den Flohmarkt nach Amsterdam und so weiter, auf Abenteuerreise in den Dschungel oder an die See, mit und ohne Gitarre, na, ich könnte die Liste ohne viel Anstrengung noch weiter ergänzen.«

Pepe verdrehte die Augen. »Das alles ist ja noch etwas Natürliches. Aber dass Jim weg ist, hat doch einen ganz anderen Grund.«

Die Wahl der Worte und der Ernst, mit dem sie vorgetragen wurden, machten Björn Hellmark stutzig.

Im Gegensatz zu Pepes abenteuerlichen Ausflügen in die ganze Welt, war der Aktionsradius Jims insofern beschränkt, dass der junge Guuf praktisch in großen Städten nur in der Nachtzeit und da noch mit höchster Vorsicht und an einsamen Orten auch bei Tageslicht auftauchen konnte. Jims Äußeres erschreckte die Menschen. Er wirkte wie ein Dämon, war aber sonst scheu und empfindsam und fürchtete die Menschen.

Jim und Pepe waren dicke Freunde. So war es gekommen, dass – außer bei den Nachrichtenübermittlungen von Richard Patrick zu den Menschen auf Marlos – keiner ohne den anderen etwas auf eigene Faust unternahm.

Wenn Jim wirklich allein die Insel verlassen hatte, dann aus einem triftigen Grund.

»Was für einen Grund, Pepe?«, fragte Björn.

»Es muss mit der verflixten Höhle zusammenhängen ...«

Zwischen Hellmarks Augen entstand eine steile Falte. »Ist zum ersten Mal, dass ich etwas von einer Höhle höre.«

»Kein Wunder, du warst lange Zeit weg, und inzwischen gab es nach deiner Rückkehr noch keine Gelegenheit, dich wegen Jims Zustand anzusprechen.«

»Jims Zustand? Nun packe endlich aus, Pepe, und rede nicht um den heißen Brei herum! Was ist mit Jim? Dass irgendetwas anders sein sollte, ist mir ganz neu ...«

»Er war in der letzten Zeit sehr komisch, Björn, er hat immer von einer Höhle gesprochen.«

»Was ist das für eine Höhle, und wo soll sie sein?«

Pepe zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Davon hat er nie gesprochen, er hat mich nur wissen lassen, dass seit kurzem mit ihm etwas nicht mehr stimme. Er hatte so etwas wie Tagträume. Er hatte das Innere einer Höhle vor Augen und behauptete, diese Höhle hätte etwas mit ihm oder den Guuf zu tun.«

»Weiter, Pepe ...«

»Das ist eigentlich schon alles, Björn. Er wollte diese Höhle suchen.«

»Dann muss er doch einen Anhaltspunkt gehabt haben.«

»Möglich, aber er hat mir keinen gegeben.«Etwas Neues kam hinzu, das Björn beschäftigte. Jim, der Guuf, hatte auf eine Art und Weise die Insel verlassen, die man als ungewöhnlich bezeichnen musste. Jim war auf der Suche nach etwas.

»Wann hat er zum ersten Mal von der Höhle gesprochen?«, fragte Björn.