Macabros 040: Zurück in den Totenbrunnen - Dan Shocker - E-Book

Macabros 040: Zurück in den Totenbrunnen E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Dieser Band enthält die sorgfältige Aufarbeitung folgender Originalromane: Rückkehr in den Totenbrunnen Ein Anfang, um Rha-Ta-N my, die schreckliche Dämonengöttin, zu finden, ist gemacht. Der zweite Umschlag trägt das Stichwort "Totenbrunnen". In Hellmarks Leben hat dieser Totenbrunnen schon einmal eine Rolle gespielt. Björn entsinnt sch aller Einzelheiten und muss nun erfahren, dass damals jemand die geheimnisvolle Welt jenseits des Brunnens als Veränderter verlassen hat. Längst hat er begonnen, eine Schreckensherrschaft zu errichten, und unschuldige Menschen stehen unter seiner Willkür. Ihn gilt es zu bekämpfen, denn Kay Olsen ist ein weiterer Brückenkopf der rach- und herrschsüchtigen Dämonengöttin! Hellmark muss schweren Herzens in den Totenbrunnen zurückkehren ... Höhle des Unheils Vor undenklichen Zeiten landete eine Gruppe dämonischer Kugelköpfe am Horn von Afrika, drang zum Herzen des Kontinents vor und wurde dort als Gottheiten verehrt. Jim, der Guuf, der auf Marlos lebt, weiß darüber bestens Bescheid. Jim bringt Hellmark in Lebensgefahr und setzt alles daran, ihn zu vernichten. Was ist los mit Jim, den Björn einst rettete? Hat er eine giftige Natter an seiner Brust großgezogen, die nun die Gunst der Stunde nutzt ...?

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DAN SHOCKERS MACABROS

BAND 40

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Fachberatung: Gottfried Marbler

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-740-5

Dan Shockers Macabros Band 40

ZURÜCK IN DEN TOTENBRUNNEN

Mystery-Thriller

Rückkehr in den Totenbrunnen

von

Dan Shocker

Prolog

Es geschah mitten in der Stadt. Die Frau stand an der Verkehrsampel, um die Straße zu überqueren, sobald die Ampel auf Grün sprang. Die Münchnerin war nervös und hatte es eilig. In einer Stunde schlossen die Geschäfte, dann musste sie alles erledigt haben. Am Abend erwartete sie Gäste. Plötzlich stutzte die Frau, als ihr Blick auf die gegenüberliegende Straßenseite fiel.

Unwillkürlich stockte ihr Herzschlag. Da lief jemand, den sie kannte, den zu sehen sie aber nicht erwartete. Es handelte sich um eine auffallend schöne, großgewachsene, dunkelhaarige und langbeinige Frau. Die Art, wie sie schritt, wie sie sich gekleidet hatte, zog unwillkürlich den Blick an. »Sonja ...«, entfuhr es der Beobachterin an der Ampel. »Das ... ist doch ... Sonja Wilken!« Angelika Huber glaubte, ihren Augen nicht trauen zu dürfen. »Aber ... das kann nicht sein ... Sonja ist doch seit fünf Jahren spurlos verschwunden ...«

Die Frau hatte das Gefühl, der Boden unter ihren Füßen würde sich öffnen.

Sie schloss zwei Sekunden die Augen und hoffte, dass alles nur auf Einbildung oder einem Irrtum beruhte. Wenn sie zum zweiten Mal hinsah, würde Sonja Wilken sicher nicht mehr da sein und ...

Doch! Da drüben lief sie ... Das Bild täuschte nicht. Ihr aufrechter, schneller Gang ... ganz typisch für sie.

Angelika Huber handelte mechanisch. Sie konnte nicht mehr warten, bis die Ampel umsprang. Sie musste zu dieser Frau dort drüben, musste sie ansprechen, ehe sie in der Menge verschwand.

Angelika Huber lief auf die Straße. Bremsen quietschten. Dicht vor ihr kam ein Wagen gerade noch zum Stehen. Der Fahrer kurbelte das Fenster herunter und schimpfte lauthals über die unvorsichtige Frau.

Angelika Huber blickte sich nicht um.

»Sonja!«, rief sie so laut sie konnte, rannte dabei weiter über die Straße, fuchtelte wild mit den Armen und lief im Zick-Zack zwischen den Autos durch, von denen einige weitere im letzten Augenblick bremsen konnten.

Den Fahrern sträubten sich die Haare über den Leichtsinn und die Unvorsichtigkeit, und sie gaben ihrem Ärger deftigen Ausdruck. Es war ein Wunder, dass es zu keinem Auffahrunfall kam, zu keiner Gefährdung Angelika Hubers.

Die Dreißigjährige rannte, so schnell sie ihre Beine trugen, über den Gehweg und rief den Namen der vermeintlichen Freundin, die jedoch nicht reagierte, sondern weiterlief, ohne sich umzudrehen.

Sie verschwand zwischen anderen Passanten.

Es herrschte lebhaftes Treiben auf der Straße. Angelika Huber stieß mit mehreren Passanten zusammen, murmelte flüchtige Entschuldigungen und rannte weiter.

»Sonja!«, rief sie. »So warte doch ... hallo, Sonja?!«Sie genierte sich über ihr eigenes Verhalten. Leute blieben stehen und blickten ihr kopfschüttelnd nach.

Aber dann war es ihr egal. Dies war ein besonderer Fall. Wenn man jemanden wiedersah, der als verschollen oder gar tot galt, erforderte das ein anderes Verhalten.

Sie konnte nicht einfach ruhig hinterherlaufen und riskieren, dass das Objekt ihres Interesses im Menschengewimmel verschwand.

Ihre Verfolgerin erreichte mit einiger Mühe ebenfalls den Eingang.

Irritiert blieb Angelika Huber stehen und blickte verwirrt nach allen Seiten.

Sie schluckte trocken und ärgerte sich. Von Sonja war weit und breit nichts mehr zu sehen. Es schien, als hätte sie sich in Luft aufgelöst ...

Aber nein! Da war sie ja!

Plötzlich entdeckte Angelika Huber die Boutiquebesitzerin wieder. Sie stand auf einer Rolltreppe und ließ sich ins Basement tragen. Angelika Huber bahnte sich einen Weg durch das Gedränge und schaffte es diesmal, in die Nähe der dunkelhaarigen Frau zu kommen.

»Sonja!«, sagte sie außer Atem. »Mein Gott ... wie bin ich gerannt ...« Sie lief drei, vier Stufen auf der Rolltreppe nach unten, um auf der Höhe der großgewachsenen, elegant gekleideten Frau zu sein. Doch die reagierte nicht auf ihren Ansprechversuch.

»Hey, Sonja? Was ist denn?« Angelika Huber wurde unsicher. Hatte sie sich so getäuscht? War das gar nicht Sonja Wilken? War sie eine Doppelgängerin?

Dieser Gedanke drängte sich nur kurz in den Vordergrund ihrer Überlegungen. Aber gerade die große Nähe zu ihr ließ sie diesen Gedanken wieder verwerfen.

Das war Sonja, wie sie leibte und lebte!

»Entschuldigen Sie?« Angelika Huber lief ihr einfach nach, als die dunkelhaarige Frau in dem figurbetonenden Kostüm die Rolltreppe verließ und zur Lebensmittelabteilung des Kaufhauses steuerte. »Ich muss Sie sprechen«, sagte sie plötzlich förmlich. »Sie sind doch Sonja, nicht wahr?«

Angelika Huber stellte sich der Verfolgten so in den Weg, dass ihr nichts anderes übrigblieb, als stehenzubleiben.

»Ich bitte Sie!«, fauchte die Dunkelhaarige. »Was wollen Sie denn von mir?« Ihre Stimme klang kühl und verärgert.

»Erkennst du mich denn nicht?«, wurde Angelika Huber wieder vertraulicher.

»Ich habe Sie nie gesehen!«

»Das kann ich kaum glauben ... Ich bin Angelika ...«

»Das sagt mir nichts. Sie müssen mich mit jemandem verwechseln.«

»Unmöglich! Ich ...«

»Bitte entschuldigen Sie mich. Ich habe keine Zeit, mich hier aufzuhalten ...

ich bin nicht die Frau, für die Sie mich halten!«

Sonja Wilken ließ sie einfach stehen und verschwand zwischen den Regalen.

Angelika Huber war wie vor den Kopf geschlagen.

Sie bezweifelte noch immer, dass sie sich getäuscht hatte. Wie in Trance erlebte sie die folgende halbe Stunde.

Die Dreißigjährige war unfähig einzukaufen. Sie hielt sich in der Nähe der vermeintlichen Sonja Wilken und beobachtete sie kritisch.

Da stimmte jede Bewegung, jede Geste ... Die typische Mimik, die Art zu sprechen, zu lächeln ... nur eines stimmte nicht: der Ausdruck der Augen. Er war seltsam starr und leer ...

Außerdem war diese Sonja Wilken ein wenig älter geworden ... aber auch das war natürlich. Damals, als sie auf rätselhafte Weise verschwand, war sie achtundzwanzig Jahre alt. Seit diesem Tag waren fünf Jahre vergangen ... Sonja Wilken musste jetzt also dreiunddreißig sein.

Angelika Huber vergaß die Zeit, vergaß einzukaufen und verfolgte die Frau, mit der sie vor fünf Jahren so oft zusammen war. Das Verhältnis zwischen ihnen beiden war so gut gewesen, dass sie sogar oft in einer der beiden Boutiquen aushalf, die Sonja Wilken eröffnet hatte, die eine in der Ludwigstraße, die andere in Schwabing.

Nach dem rätselhaften Verschwinden der Besitzerin hatten Gläubiger den Konkurs und die Versteigerung erzwungen.

Es gab da ein bestimmtes Verdachtsmoment, das Angelika Huber seit damals beschäftigte. Zu gerne hätte sie gerade diese Frage beantwortet gehabt.

Zur gleichen Zeit nämlich, als Sonja Wilken aus München verschwand, tauchte noch jemand unter, über dessen Schicksal man bis zur Stunde genauso wenig wusste: Heinz Marstner ...

Gab es da einen Zusammenhang?

Hatten die beiden – ohne dass es ihre Umgebung rechtzeitig bemerkte – einen gemeinsamen Plan geschmiedet? Hatte Marstner seine Familie verlassen, um mit Sonja zusammenzusein?

Angelika Huber war dunkelblond, einen Kopf kleiner als Sonja Wilken und nicht ganz so hübsch. Man sagte, dass Sonja Wilken eine der schönsten Frauen der Isar-Metropole gewesen sei ...

Sie war noch immer schön, und sie war Sonja, auch wenn sie es abstritt! Sie war aus einem unerfindlichen Grund nach fünf Jahren zurückgekommen, konnte nicht zugeben, dass sie es war, und würde wieder verschwinden, ohne eine Spur zu hinterlassen.

Sonja Wilken schien nicht mehr an die Begegnung zu denken und erst recht nicht daran, dass sie weiterhin beobachtet wurde.

Die große Frau mit den schönen, dunklen Augen und dem aufregenden Gang verließ nach etwa fünfunddreißig Minuten wieder das Kaufhaus. Angelika Huber blieb ihr auf den Fersen.

Sie sah, dass etwa zweihundert Meter vom Haupteingang entfernt in einer Seitenstraße ein Auto parkte, dem Sonja Wilken sich näherte.

Damit begab sich die ehemalige Boutiquenbesitzerin genau in die entgegengesetzte Richtung, aus der sie ursprünglich gekommen war.

Bei dem Fahrzeug handelte es sich um einen hellgrauen, amerikanischen Straßenkreuzer mit einem dünnen, roten Zierstreifen in halber Höhe der Türen und mitten auf der Kühlerhaube.

Am Steuer saß ein Mann. Ein Ausländer mit schwarzem Haar, ein dunkler Typ. Im ersten Moment glaubte die dunkelblonde Münchnerin, dass es sich um einen Schwarzen handelte.

Als sie näher an das Auto herankam, musste sie ihren ersten Eindruck revidieren.

Das war kein Schwarzer, sondern ein Indio. Die Nase war leicht gebogen, die Stirn verhältnismäßig hoch, die Backenknochen traten etwas hervor.

Auf dem Gesicht lag ein leichtes Lächeln, als Sonja Wilken die Straße überquerte.

Der Wartende verließ das Auto und öffnete der gutaussehenden Frau die Tür auf der Beifahrerseite.

Sonja Wilken deponierte ihre Einkaufstüten auf dem Rücksitz, lehnte sich in die Polster, und der Mann neben ihr sagte etwas zu ihr.

Da beging Angelika Huber eine Kurzschlusshandlung. Sie verließ den Gehweg, rannte über die Straßen, winkte Sonja und dem Fahrer zu und gab mit dieser Geste zu verstehen, dass sie noch etwas mitteilen wollte.

Es war der Augenblick, als der Indio startete. Er gab sofort Gas. Das Auto schoss geradezu nach vorn.

Das ging so schnell, dass Angelika Huber diesmal nicht mehr ausweichen konnte.

Reifen quietschten, der Motor röhrte auf. Wie ein Ungeheuer flog die Kühlerhaube auf sie zu.

Die Frau schrie.

Sie sah hinter der getönten Frontscheibe das Gesicht Sonjas und das ihres exotischen Begleiters, der aus den Urwäldern Mexikos oder Yukatans zu kommen schien.

Ein Gedanke zuckte in ihr auf. Sie konnte ihn nicht mehr zu Ende spinnen.

»Halt! Stehenbleiben!« Angelika Huber schrie wie von Sinnen.

Der Fahrer bremste nicht, sondern gab Gas ...

Die Frau versuchte noch zur Seite auszubrechen, wurde aber vom linken Kotflügel erfasst und in die Luft geschleudert.

Es gab zwei dumpfe Schläge, als der Körper erst auf die Kühlerhaube geschaufelt wurde, dann über das Dach des davonpreschenden Fahrzeugs fiel und hinabrutschte.

Angelika Huber flog auf die Straße.

Der Fahrer raste mit hohem Tempo auf die Hauptverkehrsstraße, überholte in waghalsigen Manövern und beeilte sich, so schnell wie möglich zur Ausfallstraße zu gelangen, die direkt auf die Stadtautobahn führte.

Der Fahrer floh und kümmerte sich nicht um das Opfer, das reglos auf der Straße lag und im Nu von zahlreichen Passanten umringt wurde, die den Ablauf der Ereignisse in der Eile kaum mitbekommen hatten ...

1. Kapitel

Die Insel lag zwischen Hawaii und den Galapagos.

Sie hieß Marlos, aber keine Karte der Welt zeigte ihren Standort. Offiziell gab es diese Insel nicht, nur eine Handvoll Menschen wusste von ihr. Björn Hellmark und seine Freunde ...

Marlos war unsichtbar. Sie war ein Vermächtnis an Hellmark, der seinerzeit das Erbe angetreten hatte und gleichzeitig damit mehr als nur dieses übernahm.

Hellmark hatte sein Leben dem Kampf gegen die Mächte der Finsternis geweiht. Überall lauerten die Boten des Bösen und Grauens – nur nicht auf Marlos. Hierher konnte kein Scherge Rha-Ta-N'mys kommen. Marlos war tabu und konnte nur von denen betreten werden, die guten Willens waren ...

Viele gefahrvolle Abenteuer lagen bereits hinter Björn und seinen Freunden. Hier auf Marlos hatten sie dann immer wieder neue Kraft schöpfen können.

Die Insel bot einen tiefen, weichen Sandstrand, der von hohen Palmen gesäumt wurde.

Eine Landzunge wies einen mächtigen Felsblock auf, der die Insel im Südosten scheinbar begrenzte. In diesem, der die Form eines Schädels hatte, befand sich die Geisterhöhle. Sie lag abseits der Blockhütten, die zwischen und auf den sanften Sanddünen standen, umgeben von schattenspendenden Palmen.

Hinter den Hütten lagen Ställe und Schuppen für Gänse, Hühner, Schweine und Ziegen, lagen Äcker und Felder, die Früchte trugen. Die Menschen auf der Insel ernährten sich ausschließlich vom eigenen Anbau.

Die reinen Quellen im Landesinnern versorgten sie mit Frischwasser.

Pepe und Jim, der Guuf, waren damit beschäftigt, große irdene Krüge mit frischem, klarem Wasser herbeizutragen und in die einzelnen Hütten zu bringen.

Rani Mahay, ein Koloss von einem Mann, dessen Haut die Farbe dunkler Bronze hatte, stand bis zu den Knien im Wasser und fischte. Danielle de Barteauliee, eine junge Französin, deren Leben unter einem eigenwilligen Schicksalsstern stand, ging ihm dabei zur Hand.

Jenseits der Hütten gab es einen frischen Grabhügel, auf dem ein einfaches Holzkreuz stand, in das der Name Ak Nafuur eingeschnitzt war.

Ak Nafuur war bis vor wenigen Tagen noch Marlosbewohner gewesen. Der alte Priester, der in einer fernen Vergangenheit der Erde die Entscheidung traf, für Rha-Ta-N'my zu kämpfen, hatte zuletzt doch wieder ein Dasein als Mensch vorgezogen, hatte sein Dämonendasein aufgegeben und die Sterblichkeit gewählt. In kurzer Zeit war er zum Greis geworden.

Ak Nafuur fühlte den Tod nahen, nutzte die Zeit und hinterließ dreizehn versiegelte Umschläge, in denen er all das mitteilte, was er über die Strategie und den Aufbau des Reiches der Finsternis wusste.

In einem letzten, ergänzenden Gespräch kurz vor seinem Ableben ließ er Björn Hellmark darüber hinaus wissen, dass es eine Möglichkeit gab, die Herrscherin in der Dimension des Grauens, die Dämonengattin Rha-Ta-N'my, aufzusuchen und zu vernichten.

Um diesen risikoreichen Weg gehen und das Ziel zu erreichen, musste er genau dreizehn Aufgaben erfüllen.

Nur wenn er die vorangestellte Aufgabe erfolgreich abgeschlossen hatte, war es ihm erlaubt, den folgenden Umschlag aufzureißen.

Das tat er nun.

Björn Hellmark befand sich in der Geisterhöhle.

Die weiträumige Felsenhalle war ein besonderer Ort, ein Refugium und sein ganz persönlicher Besitz. Stufen führten pyramidenförmig nach oben. Auf den Stufen standen steinerne Throne, auf denen kostbar gekleidete Skelette saßen. Jeder Thron trug tief eingemeißelt den Namen des Verblichenen.

Das war die Vergangenheit, Dinge, die bereits geschehen waren ...

Aber es gab auch einen Thron, der zwar einen Namen trug, auf dem aber kein Skelett saß.

Es war Björn Hellmarks Thron, auf dem er saß, um den Umschlag zu öffnen. In der Stunde seines Todes – dies war ihm prophezeit – würde er diesen Platz aufsuchen und so werden wie jene, die ihm in die Ewigkeit vorausgegangen waren ...

Doch bis dahin hatte es noch Zeit, bis dahin gab es noch viel zu tun.

Hellmark war ernst, aber zuversichtlich. Der erste Weg in die Dimension des Grauens war erfolgreich verlaufen.

Dank der Hilfe seiner Freunde hatte er die anstehenden Schwierigkeiten meistern können.

Welche Nachricht, welche Aufgabe erwartete ihn nun in jenem versiegelten Umschlag, der das Stichwort Totenbrunnen trug?

Engbeschrieben waren die Blätter, die er herauszog. Auf einem Extrabogen gab es auch wieder eine Skizze.

Björn nahm sich der Reihenfolge nach die Botschaft vor. Aufmerksam las er den Text, und ihm war, als höre er Ak Nafuurs Stimme ...

Wenn du die zweite Botschaft in der Hand hältst, kann ich dir gratulieren, denn dann hast du die erste Aufgabe mit mehr oder weniger Erfolg hinter dich gebracht. Ich hoffe, ohne große Verluste ... der Weg in die Dimension des Grauens ist nie völlig kalkulierbar. Ich habe versucht, so viele Schwierigkeiten wie möglich zu erkennen und für dich auszuschalten. Aber es sind noch genügend übrig, so dass du dich über harte Arbeit nicht beklagen wirst ...

Es geht um den zweiten Weg in Rha-Ta-N'mys Reich. Dazu muss ich dir ein Geständnis machen.

Ich war lange Zeit dein Feind. Als Dämonenfürst Molochos trachtete ich dir nach dem Leben. Ich setzte alles daran, dir dein Dasein so schwer wie möglich zu gestalten. Mein Ziel war es damals, dich in den Totenbrunnen zu locken, damit du ein Helfershelfer des Schlangengottes würdest. Er steht auf der Seite der Dämonen, und seine Macht ist nicht zu unterschätzen. Er schöpft seine Kraft aus den Opfern, die ihm seit Urzeiten dargebracht werden. Auch noch heute. Die Mayas und Azteken, geheimnisvolle Völker, die unter anderem auf der Insel Atlantis zu Hause waren, haben die schrecklichen Opfer fortgesetzt und weitergereicht an ihre Nachkommen. Es gibt noch heute – zu dieser Stunde in dieser Gegenwart – einen versprengt lebenden Stamm, der die Rituale nach altem Brauch erfüllt.

Junge Maya- und Azteken-Mädchen werden ausgewählt und von Priestern in einen rätselhaften Brunnen geworfen, der jedoch keinen Grund hat. Die Opfer werden aus dieser Welt gestoßen, gelangen in eine andere und werden dort zu Gespielinnen, zu Marionetten des Schlangengottes oder der schrecklichen Ungetüme, die ihm gleich sind ...

In allen Einzelheiten führte Ak Nafuur dann die Ereignisse auf, die Björn Hellmark schon mal in den Bann des Totenbrunnens zogen.

Die Erlebnisse erstanden vor dem geistigen Auge des großen, blonden Mannes mit den kühnen Gesichtszügen des Abenteurers.

Die Begegnung mit Evita, der jungen Mexikanerin aus Mexiko-City ... die Verfolgung mit seinem Zweitkörper Macabros, mit dem er dem Schrecklichen nacheilte, der sich in den Brunnen stürzte ... die Stimme des Schlangengottes, der ihm eine rätselvolle Mitteilung machte ... Wie mit einem glühenden Eisen schien jedes einzelne Wort von damals in sein Gedächtnis eingebrannt worden zu sein.

In der Erinnerung sah er wieder die Dunkelheit, erlebte er die geräuschlose Welt, eine fremde, dumpfe Umgebung, in der die Zeit stillzustehen schien.

Und doch war er nicht allein. Tausend Stimmen, tausend Gefühle ergriffen von ihm Besitz, die wieder spürbar wurden, als er an sie dachte. Eine Stimme – die des Schlangengottes – übertönte jedoch nach wie vor alle anderen. Das Wissen war einfach in seinem Bewusstsein, durch Macabros, seinem Doppelkörper, erfasst und von ihm gespeichert.

»... es wird dir nicht gelingen, mein Reich zu zerstören. Alle, die mich verehrten, hatten ihren Vorteil davon – alle diese werden gegen dich sein. Ich bin so alt wie das Universum. Priester und Magier auf Atlantis haben mich gerufen, und ich bin gekommen.

Als Atlantis in den Fluten versank, überlebten die Mächtigen und Wissenden und suchten nach einer neuen Bleibe, einer neuen Welt. Sie behielten die alten Rituale bei, um meine Gunst nicht zu verlieren.

Nur wenn ich fröhlich bin, wenn ich mich an der Angst und dem Grauen und der Verzweiflung der armseligen Menschen erfreuen kann, bin ich glücklich. Sie nennen mich ihren Schlangengott. Meine Welt liegt jenseits der Dimensionen, in denen du zu Hause bist. Sie kann überall sein und nirgends. Viele Menschen haben sie schon gesehen. Die zu mir kamen, blieben.

Sie mussten bleiben, denn man hatte sie mir geschenkt. Freiwillig ...

In dieser Stunde entscheidet sich Xantilons Schicksal. Und ich bin mit meiner Welt dorthin gekommen, um zu beweisen, dass ich hier sein kann, denn die alten Götter haben ihre Macht verloren. Doch du – du bist gefährlich, und deshalb werde ich mich zurückziehen! Du bestehst nicht aus Fleisch und Blut, ich kann dich nicht zu einem Teil meiner selbst machen.

Ich bin der Schlangengott, ich bin ewig! Wir haben uns das erste Mal getroffen, aber nicht das letzte Mal. Ich bin sicher, dass unsere Wege sich nochmal kreuzen. Dann aber wirst du bei mir bleiben, denn ich werde deinen wahren Körper mein eigen nennen ...«

Unmittelbar nach diesen Worten war seinerzeit Macabros aus dem Brunnen geworfen worden, wie ein ungenießbarer Bissen von einem Tier weggespuckt wird.

Die Worte passten genau zu seiner Situation.

Und sie hatten noch immer Bedeutung.

Der Schlangengott konnte überall sein. Sein Ziel war Tod, Vernichtung, Veränderung. Xantilon war für diese Grauenhaften aus der Tiefe überall ... auch die Welt, wie sie jetzt war, sollte zu Xantilon werden. Ihr Untergang war von den Mächten der Finsternis bestimmt.

Damals, so setzte Ak Nafuur seine schriftlichen Aufzeichnungen fort, war ich an deinem Untergang interessiert. Aber ich war anderweitig so intensiv beschäftigt und so sicher, dass du in einer Sackgasse gelandet warst, dass ich mich zu diesem Zeitpunkt nicht weiter um die Dinge kümmerte.

Du bist seinerzeit durch Arsons Hilfe von dem Kontinent Xantilon und damit aus der Vergangenheit freigekommen.

Zur gleichen Zeit, als dein Lebensschicksal an einem seidenen Faden hing, konnte ein Sterblicher der Versuchung nicht widerstehen, einen Zipfel des Geheimnisses der Schwarzen Macht zu heben.

Dieser Mann drang in den Urwald Yukatans vor und suchte die Opferbrunnen der Mayas. Nur einer kam in Frage für seine Zwecke. Dieser Mann ahnte damals nicht, dass jeder seiner Schritte schon lange Zeit vorher von einem Wissenden beobachtet wurde. Dieser Beobachter schloss sich ihm an, verscheuchte mit Hilfe des Schlangenamulettes die Träger des Abenteurers und führte diesen dann zu jenem gewissen Brunnen, der ihm zum Schicksal wurde.

Sie erreichten das vergessene Dorf, in dem noch heute – abseits jeder Zivilisation – eine Maya-Sippe lebt, und zwar genauso wie vor Jahrtausenden.

Der Abenteurer – sein Name war Kay Olsen, wie ich herausfinden konnte – stieg in den Opferbrunnen und geriet in die Dimensionsspirale des Schlangengottes. Damit hatte sein Begleiter genau das Ziel erreicht, das er ansteuerte.

Olsen sollte zum Verräter, zum Veränderten werden.

Als er den Brunnen wieder verließ, geschah das Unabänderliche: er war kein Mensch mehr, sondern halb Mensch – halb Echse. Seine Gefühlswelt war die des Schlangengottes. Von dieser Stunde an war er besessen von dem Gedanken, anderen Menschen Angst und Grauen zu bringen. Das allein stellte ihn noch zufrieden.

Der ihm damals den Weg zeigte, gab sich als Schwarzer Priester aus. Es war Vartan Konk.

Als ich noch Molochos war, gehörte er anfangs zu der Gruppe meiner engsten Vertrauten. Dann ging er seinen eigenen Weg. Seine besondere Zuneigung galt dem Schlangengott, und so kam es, dass er sich ihm auch ganz zuwandte, ihn verehrte, seine Geheimnisse ergründete und zu seinem Helfer wurde.

Das Amulett mit dem Bild des Schlangengottes verlieh ihm magische Kraft.

Vartan Konk war stets darauf aus, schnell zu einem Erfolg zu kommen. Er war auch sehr ehrgeizig.

Eine Zeitlang schien es, als wolle er mir meine Rolle als führende Persönlichkeit der Schwarzen Priester abspenstig machen. Aber das ließ Rha-Ta-N'my nicht zu. So trennte er sich von uns, er hatte nichts mit der Gemeinschaft der Schwarzen Priester zu tun, obwohl er sich noch als solcher ausgab.

Du wirst auf der Suche nach den 13 Wegen zu Rha-Ta-N'my noch oft die Erfahrung machen, dass es welche gab und noch immer gibt, die sich als Schwarze Priester ausgeben, aber in Wirklichkeit nicht mehr die echten sind. Es gab mit Dwahl, der als erster abtrünnig wurde und sich auf einer Welt in einer anderen Dimension verbarg, insgesamt acht aus den Anfangstagen, die über die größte Macht verfügten. Du hast sie alle getötet. Bis auf mich, den du von der Besessenheit mit Hilfe der versteinerten Augen des Schwarzen Manja befreien konntest ...

Aus der Vereinigung der Schwarzen Kaste sind noch viele vorhanden, sie sind in alle Winde verstreut. Die einen dienen Apokalypta, die anderen Ustur, dritte wiederum warten auf die Ankunft Myriadus', dessen Macht in der Tat nahe bevorsteht. Aber davon wollen wir nicht reden. Der Weg in das Herrschaftszentrum Rha-Ta-N'mys steht zur Diskussion, und nur er kann dir wirklich Erfüllung oder den Tod bringen.

Konzentriere dich nicht auf die Dinge, die am Rand geschehen. Auch sie sind wichtig. Natürlich ... Wenn du dich dem zuwendest, was am Rande geschieht, wird es dich Kraft kosten. Vielleicht auch das Leben. Verkaufe es teurer – das ist mein Rat jetzt, da du dich schon entschlossen hast, den direkten Weg zu gehen ...

Der zweite Weg in die Dimension des Grauens sieht für dich folgendermaßen aus: erstens, du musst nochmal zurück in den Totenbrunnen. Am anderen Ende, in der Vergangenheit des Schlangengottes, befinden sich die Reste einer Stadt, in der junge Menschenfrauen in den Wahnsinn und den Tod getrieben wurden. Du findest dort in den Ruinen die Ewige Flamme der Schlangengöttin Luku-U'moa ... ihr zu Ehren veranstaltet der Schlangengott die Todesriten, denn die Schlangengöttin kam einst von den Menschen, und sie ist wieder zu den Menschen zurückgekehrt ... Seit dieser Zeit rächt der Schlangengott sich an den Opfern, die ihm von seinen Verehrern zugehen. Du musst die Ewige Flamme an dich nehmen. Dies ist äußerst schwierig, aber nicht unmöglich. Nur wenn du die Ewige Flamme besitzt, wird es Sinn haben, den dritten Weg einzuschlagen, von dem ich jetzt jedoch noch nicht reden will.

Zweitens: die Ewige Flamme wird von einem Sandwurm bewacht. Das mehrere hundert Meter große Untier ist verantwortlich für das magische Licht. Du musst das Ungeheuer bezwingen. Mit dem Schwert des Toten Gottes sollte dies kein Hindernis für dich sein ...

Als Hellmark diese Zeilen las, lief es ihm heiß und kalt über den Rücken.

Die kostbare Waffe, die für seine Hand geschmiedet worden war, befand sich nicht mehr in seinem Besitz! Sie war ihm beim letzten Zusammenstoß mit Apokalypta, einer Hauptdämonin, abhanden gekommen ... Nur sie wusste, wo sich die Waffe zurzeit befand.

Sein Freund Arson, der Mann mit der Silberhaut, hatte sich zwar auf den Weg in die Vergangenheit gemacht, um das Schwert des Toten Gottes zu suchen, aber bis zur Stunde gab es kein Lebenszeichen von Arson ...

Hellmark schloss drei Sekunden die Augen, um sich zu innerer Ruhe zu zwingen.

Wenn er nur mit dem Schwert des Toten Gottes eine Chance hatte, das wache Ungeheuer zu erlegen, war seine Mission in diesem Moment zum Scheitern verurteilt, und es gab keine Möglichkeit mehr für ihn, den zweiten aufgezeigten Weg in die Dimension des Grauens zu gehen, um Rha-Ta-N'my das Handwerk zu legen.

Er las weiter. Ak Nafuurs Botschaft an ihn war noch nicht zu Ende.

Drittens: du musst Vartan Konk finden. Er ist noch immer ein Scherge des Schlangengottes. In der Gestalt eines Indio, der sich Manolito nennt, ist er zum ersten Mal mit Kay Olsen zusammengetroffen. Vartan Konk hat diese Identität beibehalten. Du musst ihn finden, denn solange Konk für den Schlangengott bereit ist, alles zu tun, wird es dir nicht gelingen, die Ewige Flamme der Schlangengöttin Luku-U'moa in deinem Besitz zu halten. Und dies ist lebenswichtig für dich ... meine Zeit war zu knapp, um festzustellen, an welchem Ort Konk sich aufhält, welche neuen Pläne er schmiedet. Du musst ihn finden, Björn! Suche Vartan Konk alias Manolito ... in welcher Reihenfolge du bei deinem Unternehmen vorgehst, ist dir überlassen ... ich wünsche dir viel Glück. Du wirst es nötig haben ...

Sie lag im Marien-Hospital.

Unmittelbar nach dem Unfall war Peter Huber telefonisch von der Polizei unterrichtet worden.

Die Gäste für den Abend waren abbestellt worden. Im Leben änderten sich manchmal die Dinge von einer Sekunde zur anderen.

Peter Huber verließ gegen zwanzig Uhr das Krankenhaus. Er war beruhigt, was den Zustand seiner Frau betraf. Anfangs hatte alles viel schlimmer ausgesehen. Der blutig zerkratzte Körper, die Bewusstlosigkeit gaben im ersten Moment Anlass zur Besorgnis.

Eine aufmerksam durchgeführte Untersuchung aber ergab dann, dass alles halb so schlimm war.

Angelika Huber hatte sich nicht mal etwas gebrochen. Außer einer leichten Gehirnerschütterung, einem Schock und blauen Flecken am ganzen Körper hatte sie nichts abbekommen. Es war wie ein Wunder.

Beunruhigt war Huber über das, was er aus dem Mund seiner Frau vernommen hatte. Sie behauptete allen Ernstes, dass es sich um keinen Unfall handelte, sondern um einen Mordanschlag!

Wusste Angelika wirklich, was sie da sagte? Oder warf sie Traum, Wirklichkeit und Vorstellung durcheinander?

Sie behauptete ihrem Mann gegenüber, dass der Anschlag einen ganz plausiblen Grund hatte.

»Ich habe Sonja wiedererkannt, du erinnerst dich doch an sie, nicht wahr?«Die Stimme seiner Frau klang in Peter Huber nach wie ein Echo. »Sie verschwand vor fünf Jahren unter rätselhaften, bis heute nicht geklärten Umständen ... Sonja ist zurückgekehrt aber sie leugnet, Sonja Wilken zu sein! Dabei ist ein Irrtum ausgeschlossen ... ich habe es auch der Polizei gesagt, aber die Beamten scheinen mir nicht zu glauben ...«

Es war auch schwer, dies zu tun.

Hoffentlich war dieser Zustand Angelikas nur vorübergehend und gab nicht zur Besorgnis Anlass.

Die Polizei hatte nach dem flüchtigen Fahrzeug sofort die Fahndung aufgenommen. Bei dem Fluchtfahrzeug handelte es sich um einen silbergrauen Chevrolet Caprice mit roten Streifen. Er trug ein amerikanisches Nummernschild. Die Kennziffern waren leider unbekannt.

Trotz mehrfacher Durchsagen über die Servicewelle waren aus der Bevölkerung keinerlei brauchbare Hinweise gekommen.

Der silbergraue Chevrolet Caprice war wie vom Erdboden verschluckt.

Peter Huber verließ mit gemischten Gefühlen das Marien-Hospital, stieg in sein Auto und fuhr davon.

Er achtete nicht auf die Gestalt, die zwischen den anderen Wagen auf dem dunklen Parkplatz stand.

Es handelte sich um einen Mann, um einen Indio, der einen perfekt sitzenden, maßgeschneiderten Anzug trug.

Manolito blickte dem entschwindenden Fahrzeug nach, bis die roten Rücklichter zwischen vielen anderen nicht mehr zu erkennen waren.

Der Mann mit den rätselhaften schwarzen Augen ließ noch zwei Minuten verstreichen, ehe er dem Parkplatz den Rücken kehrte.

Mit federnden Schritten lief Manolito über die Straße. Nur ein Anthropologe, ein Kenner der Rassen dieser Erde, hätte sofort gemerkt, dass Manolito alles andere als ein Indio war.

Der kühne Gesichtsschnitt, die hohe Stirn, seine ganze Erscheinung deuteten darauf hin, dass er ein reinblütiger Maya war ...

Manolito betrat unbemerkt das Krankenhausgelände, ließ sich vom Lift drei Etagen höhertragen und gelangte in die Station, auf der die Unfallverletzte lag.

Manolito wandte sich direkt an die Stationsschwester und fragte nach dem Zimmer, in dem Angelika Huber untergebracht war.

»Zimmer dreihundertsechzehn«, erfuhr er. »Aber – es tut mir leid – ich kann keinen Besucher mehr einlassen. Frau Huber schläft schon.«

»Nur für einen Moment. Ich möchte nur einen kurzen Blick auf sie werfen ...«Er sprach leise und lächelte freundlich. Aber seine Augen blickten kalt. Während er redete, knöpfte er behutsam sein Hemd auf und zog das Amulett hervor, das er an einem goldenen Kettchen auf der Brust trug. Er hielt den runden Gegenstand vor das Gesicht der Krankenschwester, die im Sprechen sofort innehielt, als sie das Motiv erblickte.

Auf dem Amulett befand sich eine mehrfach in sich verschlungene Schlange, deren Maul weit aufgerissen war. Ein auffallend großer Federschmuck zierte den Schädel des Reptils.

Die grüne Schlange bewegte sich!

Zuckend schnellte der hässliche, große Kopf herum, kalt, bedrohlich und hypnotisierend glitzerten die schwarzen Augen. Aus dem Kopf der Schlange schälte sich ein bleiches Gesicht. Es war ein Mittelding zwischen Menschenantlitz und Echsenkopf! Der Menschenschädel war kalkweiß, wie bleiches Gebein, und ein steifer, kammähnlicher Aufsatz reichte von der Stirnmitte bis über den Schlangenleib.

Der Blick der Krankenschwester wurde starr.

»Hüte dich vor der gefiederten Schlange«, sagte Manolito leise. »Sie kann dich verschlingen, wenn du dich gegen sie stellst. Sie kann dir aber auch das ewige Leben als Schlange schenken, wenn der Schlangengott dies für nützlich und brauchbar hält. Du wirst mich jetzt durchlassen ... Du wirst dich auch nicht daran stören, wenn ich mit der Frau aus Zimmer dreihundertsechzehn in wenigen Augenblicken hier vorbeikomme. Du wirst mich begleiten und für die Situation die richtige Erklärung finden ...«

Noch während er sprach, löste er mit einer unauffälligen Bewegung das Amulett von der Kette und presste es fest gegen die Stirn der Krankenschwester.

Die Berührung mit dem körperwarmen Metall währte nur einige Sekunden. Das genügte.

Als Manolito das Amulett wieder wegnahm, prangte mitten auf der Stirn der wie hypnotisiert stehenden Frau ein spiegelverkehrtes Abbild der grünen, gefiederten Schlange.

Der Abdruck verblasste, das sich bewegende Bild wurde von der Haut des Opfers völlig absorbiert, und es sah aus, als wäre die Miniaturschlange durch die Poren in den Leib der Frau gekrochen ...

Der ganze Vorgang hatte nicht länger als zwanzig Sekunden gewährt.

Ohne von der Schwester angesprochen oder aufgehalten zu werden, betrat Manolito das Krankenzimmer Angelika Hubers.

Die Verletzte lag mit geschlossenen Augen im Bett. Sie atmete tief und ruhig und schlief ihrer Genesung entgegen.

Um die Mundwinkel des Eintretenden zuckte es verräterisch.

Es lief alles wie am Schnürchen. Ehe die Frau wieder bei vollem Bewusstsein war und sich zu erinnern begann, wie eigentlich alles abgelaufen war, würde sie sich in einer anderen Welt befinden, in einer, wo niemand sich dafür interessierte, was sie gesehen und erlebt hatte ...

Wieder griff Manolito nach seinem Amulett.

Gespenstisch grün leuchtete die in sich verschlungene, gefiederte Schlange.

»Du wirst erwachen und keine Schmerzen mehr fühlen. Und dann wirst du mir folgen, ohne zu fragen, wohin ich dich bringen werde ...« Er sprach leise, aber eindringlich.

In kreisenden, fast beschwörenden Gesten führte er das geheimnisvolle Amulett vor den geschlossenen Augen der Frau vorbei.

Angelika Huber begann leise zu stöhnen und richtete sich dann auf, obwohl sie die Augen noch immer geschlossen hielt.

»Komm mit mir ... du wirst eine ganz neue Erfahrung machen! Du sollst Sonja Wilken wiedersehen ... sie wird sich bestimmt freuen, dich begrüßen zu können ...«

Angelika Huber schlug wie in Trance die Decke zurück, während ihre geschlossenen Augen noch immer auf das Amulett gerichtet waren.

Dann öffneten sich ihre Augen.

Sie erkannte nicht ihre Umgebung, nicht den Mann aus dem Wagen, mit dem sie umgebracht werden sollte, sie begriff nichts ... war wie betäubt, wie gelähmt ...

Die Patientin kam auf ihren Beinen zu stehen. Manolito, der Maya, war ihr dabei behilflich. Er fasste sie mit festem Griff unter den Arm.

Angelika Huber stand unter der Einwirkung einer Spritze, aber das Präparat allein hätte diese unvorstellbare Wirkung nicht gehabt.

Sie hatte Schmerzen, war bleich und kraftlos, aber die geheimnisvolle Magie aus dem Schlangenamulett versah sie in diesen Minuten mit einer Kraft, die ihr nicht bewusst wurde und die auch nicht normal war. Sie laugte ihren strapazierten Körper noch weiter aus ...

Mechanisch griff Angelika Huber nach ihrem geblümten Morgenmantel, der an der Tür hing, und schlüpfte hinein.

Sie befand sich auf der Schwelle zwischen Wachen und Träumen und hatte kein Gefühl für die Situation, die sie erlebte.

Manolito führte die Verletzte, deren Gang schwankte, durch die Tür nach draußen. Wie selbstverständlich gesellte sich die Schwester an die Seite der Patientin.

Alles ging glatt. Niemand hielt sie auf, niemand sprach sie an. Der gewählte Zeitpunkt für die seltsame Entführung des bisher einzigen Augenzeugen war günstig.

Der Aufzug brachte sie nach unten.

Noch immer keimte kein Verdacht, auch dann nicht, als eine andere Krankenschwester ihren Weg kreuzte.

Im Gegensatz zum Tag über war um diese Zeit nur noch wenig Personal anwesend.

Ein weiterer Glücksfall kam Manolito zuhilfe.

Und wäre der nicht gewesen, hätte er sich einen anderen Weg gesucht, um mit Hilfe seines magischen Amulettes die Entführte dorthin zu bringen, wo er es für richtig hielt. Vor dem Eingang stand ein Ambulanzwagen. Eine Kranke wurde auf einer Bahre getragen. Die beiden Sanitäter ließen ihr Fahrzeug vor dem gläsernen Portal stehen.

Manolito ergriff die günstige Situation sofort.

Er befahl Angelika Huber in den hinteren Teil des Krankenwagens und verschloss eigenhändig die Tür.

Die Stationsschwester blieb auch dann noch zurück, als er sich bereits ans Steuer klemmte und den Motor startete.

»Der Schlangengott selbst wird wissen, was er aus dir macht«, sagte Manolito einfach, indem er einen letzten Blick auf die Schwester warf, die ihn bis hierher begleitet hatte. »Die Entscheidung liegt ganz allein bei ihm. Ich habe lediglich die Weichen gestellt ...«

Noch während er das sagte, wusste er, dass der Schlangengott die Entscheidung bereits getroffen hatte und die Magie einer anderen, finsteren Welt zu wirken begann.

Die Haut oberhalb der Nasenwurzel schimmerte seidig in den Farben grau, grün und braun. Es sah so aus, als wäre dort eine hauchdünne Schicht entstanden, die sich langsam weiter ausdehnte, und aussah wie eine Schlangenhaut ...

Er fuhr den Krankenwagen der Ausfahrt entgegen.

Schon bei der Annäherung hob sich die Barriere und gab den Weg frei.

Der Portier in der Loge grüßte den Fahrer. Manolito erwiderte den Gruß. Der Mann im Glashaus schöpfte keinen Verdacht.

Der Maya fädelte sich gleich darauf in den fließenden Verkehr ein.

Im Vorüberfahren warf Manolito noch einen raschen Blick auf den Parkplatz, wo der dunkelgrüne Ford stand, mit dem er gekommen war.

Dieser Wagen trug ein französisches Kennzeichen und war in Paris zugelassen.

Nun, so schnell würde niemand Verdacht schöpfen, wenn das herrenlose Fahrzeug einige Stunden dort stand, und kein Mensch würde den silbergrauen Chevrolet Caprice mit diesem Auto in Verbindung bringen.

Dabei handelte es sich um ein- und denselben Wagen.

Mit der Magie Manolitos, die er aus der Welt des Schlangengottes mitgebracht hatte, waren Dinge möglich, die physikalischer Gesetzmäßigkeit Hohn sprachen.

Die Polizei würde weiterhin vergebens nach einem silbergrauen Chevrolet Caprice Ausschau halten. Den gab es nicht mehr!

Manolito fuhr über die Stadtautobahn Richtung Regensburg.

Sein Ziel war ein Haus im Bayerischen Wald, abseits jeglicher menschlichen Ansiedlung.

Dieses Haus gehörte einem Mann namens Kay Olsen ...

Björn Hellmark analysierte die posthume Nachricht Ak Nafuurs mit aller Aufmerksamkeit.

Sie enthielt alles Wichtige. Aber es gab auch viele Lücken. Ak Nafuur hatte zu wenig Zeit gehabt, alle Details zusammenzutragen. Der Tod war schneller gewesen. Doch trotz dieser Löcher in Plan und Ausführung war der zweite Weg in die Dimension des Grauens gangbar, wenn er es geschickt anpackte.

Er besprach die anstehenden Probleme mit Carminia Brado und seinen Freunden. Er wollte ihre Meinung hören und gemeinsam mit ihnen den besten Weg suchen.

Am meisten bedauerte er, nicht mehr im Besitz seines wertvollen Schwertes zu sein. Damit wäre zumindest der Start in dieses neue Abenteuer für ihn einfacher gewesen.

»Es hilft alles nichts«, lautete Björns Kommentar, nachdem sie sich beraten hatten, »wir müssen den Sprung ins kalte Wasser wagen. Allein habe ich kaum eine Chance. Ich brauche eure Hilfe.«

Detektivische Kleinarbeit ließ sich nicht völlig vermeiden. Pepe, sein Adoptivsohn, und Jim, der Guuf, sollten den Kontakt mit Richard Patrick forcieren. Patrick war Herausgeber einer grenzwissenschaftlichen Zeitschrift mit dem vielversprechenden Titel Amazing Tales. Oft in verbrämter Form erschienen darin Berichte und Artikel über geheimnisvolle und rätselhafte Vorgänge in der ganzen Welt. In den meisten Fällen hingen diese Dinge mit irgendwelchen Aktivitäten finsterer Mächte zusammen.

Patricks Mitarbeiterstab und sein umfangreiches Archiv waren für Björn Hellmark und seine Freunde zu einer unbezahlbaren Kostbarkeit geworden.

Gab es in Patricks Archiv möglicherweise einen Hinweis auf einen Kay Olsen oder einen Eingeborenen namens Manolito? Waren sie in irgendwelchen undurchsichtigen Zusammenhängen den Mitarbeitern von Amazing Tales schon mal aufgefallen?

Hellmark ging zur gleichen Zeit einen zweiten Weg. Er beabsichtigte, einen Abstecher nach Mexiko City zu unternehmen.

Die Journalistin Evita hatte ein Erlebnis mit dem Totenbrunnen gehabt. Sie kannte die genaue Lage des Brunnens im Urwald. Wenn Evita ihm genaue Angaben machen konnte, dann kürzte das seine Suche beachtlich ab.

Auf der anderen Seite des Totenbrunnens konnte er dann einen ersten Versuch unternehmen, um herauszufinden, auf welche Weise sein weiteres Vorgehen am günstigsten war.

Carminia und Danielle de Barteauliee sollten bis zu Björn Hellmarks Rückkehr eventuelle Hinweise Richard Patricks überprüfen.

Die Sache wurde zügig angegangen.

Björn ließ seinen Doppelkörper Macabros entstehen, der sich in nichts von seinem wirklichen Leib unterschied. Die beiden Männer, die in diesem Moment nebeneinander standen, glichen sich wie eineiige Zwillinge.

Der eine bestand aus Fleisch und Blut, der andere aus einer ätherischen Substanz.