Macabros 044: Dämonenkrieg - Dan Shocker - E-Book

Macabros 044: Dämonenkrieg E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Das Grab in Lemuria Der blaue Totenschädel des Guuf, den Björn Hellmark in seiner Trophäensammlung aufbewahrt, erlangt entscheidende Bedeutung. Mit Hilfe des Geist-Spiegels muss der Schädel an einen Ort gebracht werden, an dem noch heute regelmäßig Treffen einflussreicher Dämonen stattfinden. Dort gibt es einen Fixpunkt, an dem der blaue Totenkopf zu sprechen beginnen wird. Auf jede Frage, die man ihm stellt, wird er eine Antwort erteilen ... Dämonenkrieg Eine besonders diffizile Aufgabe wartet auf Björn Hellmark. Ein erneuter Gang auf den Urkontinent Lemuria ist unerlässlich - allerdings erst später. Zuvor muss eine verhängnisvolle Entwicklung verhindert werden! Apokalypta will ihre Dämonenheere mit anderen Mächten vereinen. Dies könnte das Tor zur Dimension der Dämonengötin ein für alle mal zuschlagen. Der neue Auftrag, den Björn Hellmark in einem der ihm hinterlassenen Briefe erhält, hat die Brisanz einer Atombombe. Jemand muss versuchen, die innere Struktur der Dämonenkrieger zu erforschen und eine Intrige zu spinnen. So schlägt die Stunde von Jim, dem Guuf ...

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DAN SHOCKERS MACABROS

BAND 44

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Fachberatung: Gottfried Marbler

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-744-3

Dan Shockers Macabros Band 44

DÄMONENKRIEG

Mystery-Thriller

Das Grab in Lemuria

von

Dan Shocker

Prolog

Björn Hellmark kam nicht zur Ruhe. Vor dem Öffnen des zehnten versiegelten Umschlags wollte er die Freunde und sich selbst noch mal einem Test unterziehen. Carminias Beobachtungen waren nicht alltäglich. Schon gar nicht auf Marlos, dem Domizil, das ihnen Sicherheit, Frieden und Geborgenheit vermittelte. In der Geisterhöhle bewahrte Hellmark jene Trophäen auf, die er im Kampf gegen die Dämonen und Schergen der Finsternis errungen hatte und gegen sie einsetzte. Es waren wichtige Waffen, ohne die sie nicht auskamen.

Zu ihnen zählten die versteinerten Augen des Schwarzen Manja, dem heiligen Vogel, der vor rund zwanzigtausend Jahren auf dem in Blüte stehenden Kontinent Xantilon lebte. Solange er sich dort aufhielt, ging es dem Volk gut. Dann kehrten die Tage der Finsternis ein. Die Manjas verschwanden, als der nach ewigem Dämonenleben strebende Oberpriester der Schwarzen Kaste, Molochos, das Signal zum Angriff gab. Dämonenheere wurden mobilisiert und Irregeleitete, die diese Heere unterstützten, zwangen die guten Kräfte zum Kampf. Xantilon zerbrach in mindestens zwei Teile, Millionen Menschen gingen zugrunde, nur eine geringe Anzahl konnte sich retten, und diese vermischten sich mit den Bewohnern und Völkern anderer Inseln und Kontinente.

In vielen Menschen, die in der Gegenwart geboren wurden, in der Hellmark lebte, zeigte sich die bemerkenswerte Tatsache, dass sie das Blut jener in ihren Adern hatten, die damals überlebten. Selbst über Jahrtausende hinweg machte sich nun die Stimme dieses Blutes bemerkbar, und sie gab jenen, die Nachkommen der Verschollenen und Geretteten waren, den Hinweis auf ihre ferne Vergangenheit. So erfuhren viele bewusst von einem früheren Leben, das damals auf Xantilon stattfand.

Zu den Wiedergeborenen gehörte Björn Hellmark, der auf der Insel einst den Namen Kaphoon trug, zu ihnen gehörte Carminia Brado, die Loana, die Tochter des Hestus' gewesen war, und Rani Mahay, der Koloss von Bhutan. Sein ehemaliger Name und seine Tätigkeit vor zwanzigtausend Jahren waren bis zur Stunde unbekannt und unenträtselt.

Es gab noch viel mehr Menschen, die Nachkommen aus jener Zeit waren, die dies auch mehr oder weniger fühlten, die aber nicht offen darüber sprachen, aus Angst, sich lächerlich zu machen. Viele von ihnen wurden krank und in Nervensanatorien eingewiesen, die einen, weil sie an dem Wissen zerbrachen, die anderen, weil sie offen darüber gesprochen hatten. So war es eines der obersten Ziele Hellmarks, jene zu finden, die die Stimme des Blutes hörten, und sie auf der Insel zu integrieren, die ihm zum Vermächtnis gemacht worden war. Hier wollte er all die Kräfte vereinen, die er benötigte, um zum großen Schlag gegen die Mächte der Finsternis auszuholen, die ihr Ziel ebenfalls nicht aufgegeben hatten, die Erde in Besitz zu nehmen und die Menschen zu versklaven.

An alle diese besonderen Faktoren – gerade was die Wiedergeburt betraf – musste er jetzt nachdrücklich denken.

Carminia war einst Loana gewesen – er Kaphoon. Sie waren beide wiedergeboren worden, und ihre Wege hatten sich in der neuen Zeit auf wundersame Weise wieder gekreuzt. Ihre Wiedergeburt war das Gemeinsame. Und doch nahm Carminia von Zeit zu Zeit etwas wahr, das er nicht so sah. Sie behauptete, in der Schatulle, in der eigentlich noch vier Manja-Augen liegen müssten, würden sich nur drei befinden. Eines löse sich des Öfteren auf und verschwimme vor ihren Augen, kehre dann aber wieder zurück.

»Es sieht so aus, als würde jemand versuchen, durch telekinetische Kräfte das Manja-Auge zu rauben«, erklärte Carminia. »Nur so kann ich es beschreiben.«

Dass ein Raub durch einen der Anwesenden, die sich in der Geisterhöhle versammelt hatten, nicht in Frage kam, verstand sich von selbst. Sie alle waren treue Freunde, die gemeinsam mit Hellmark alles daransetzten, das Dämonenreich – und an ihrer Spitze die teuflische Göttin Rha-Ta-N'my – in die Knie zu zwingen.

»Dann kommt also die Gefahr von außerhalb«, warf Rani Mahay ein. Der Mann mit der prächtigen Glatze überragte alle Anwesenden um Haupteslänge.

Björn nickte. »So sieht es zunächst aus. Aber es widerspricht den Gesetzen, denen die Insel unterworfen ist. Marlos ist ein Bollwerk gegen das Böse. Es kann hier nicht eindringen.«

»Dann muss es nicht das Böse sein, das versucht, die Anzahl der Manja-Augen zu dezimieren«, machte sich Danielle de Barteauliee bemerkbar. Sie war eine wichtige Zeugin für einen Vorfall, der erst einen Tag alt war. Carminia hatte Danielle mit in die Geisterhöhle genommen, während Björn sich mit Rani und Arson auf der Welt Xanoeen befand, um den Zweikampf mit dem König der Drachentöter zu forcieren. Bei dieser Gelegenheit hatte auch die junge Französin das Verschwinden eines Manja-Auges bemerkt. Doch dieser Zustand hatte sich nicht wiederholt. Er wiederholte sich auch jetzt nicht, als Hellmark den Versuch unternahm, damit jeder sich einen Eindruck verschaffen konnte.

Alle, die auf Marlos lebten, warfen einen Blick in die betreffende Schatulle. Auch jene Bewohner, die nur von Fall zu Fall auf die Insel kamen, waren benachrichtigt worden. Das waren Camilla Davies, das Ursen-Medium, deren Hauptaufgabe gemeinsam mit Alan Kennan zurzeit darin bestand, Menschen überall auf der Welt ausfindig zu machen, die als Xantilon-Wiedergeborene in Frage kamen oder eine paranormale Fähigkeit entwickelt hatten und dadurch besondere Risiken auf sich nahmen. Dämonenschergen fahndeten nach solchen Personen, wollten sie entweder gefügig machen oder brachten ihnen nicht selten den Tod.

Camilla und Alan zählten je vier Manja-Augen in dem Behältnis. Auch Anka Sörgensen-Belman und Tina Morena entdeckten keinerlei Abweichungen. Selbst das Geschwisterpaar Koster, beide parapsychisch aufs Höchste begabt und seit heute endgültig für immer auf der Insel, bestätigte die Anwesenheit jener vier faustgroßen rubinroten Gebilde, die aussahen wie ungeschliffene Edelsteine.

Als Hellmark und Carminia Brado allein in der Höhle waren, nahm Björn die geliebte Frau in die Arme.

»Es ist wie verhext«, flüsterte sie. Ihr Herz schlug schnell. »Immer wenn es darauf ankommt, tritt das Phänomen nicht auf. Was ist los mit mir, Björn?« Sie blickte ihn besorgt an. »Wieso reagiere ich – manchmal, nicht immer – in diesem speziellen Fall anders?«

»Ich weiß es nicht, Schoko«, sagte er zärtlich. Seine Hand fuhr durch ihr Haar, das wie Seide knisterte. »Ich will es herausfinden, ich muss es herausfinden. Es ist wie eine Botschaft, ein Zeichen, das wir enträtseln werden.«

»Du glaubst mir also?«

»Auch wenn ich es nicht sehen kann – ja. Nichts geschieht ohne Grund.« Es gelang ihm, ihre Bedenken zu zerstreuen, während seine Sorgen wuchsen. Doch er ließ sie sich nicht anmerken.

Er versuchte, nicht weiter daran zu denken und griff in die Felsennische, um den obersten der versiegelten Umschläge herauszunehmen. Er musste die neue Botschaft entgegennehmen, nach jeder erfolgreichen Aufgabe wartete eine weitere darauf, von ihm gelöst zu werden. So wollte es das geheimnisvolle Spiel, auf das er sich eingelassen hatte. Es war ein Spiel mit der Gefahr, dem Abenteuer und dem Tod. Aber einen anderen Weg gab es für ihn nicht, wenn er die Chance wahren wollte, die Dämonengöttin Rha-Ta-N'my höchstpersönlich vor die Klinge des Schwertes des Toten Gottes zu bekommen, das für seine Hand geschmiedet worden war und nur er zu führen verstand.

Er riss den Umschlag auf, der als Hinweis für ihn die Ziffer Zehn und das Wort Grab trug.

Er versuchte sich auf das zu konzentrieren, was Ak Nafuur ihm hinterlassen hatte, wurde aber ständig abgelenkt durch den Behälter, der geöffnet vor seinen Füßen stand. Die vier Manja-Augen schimmerten wie gefrorenes Blut.

Es waren vier Augen, und doch wollte er es mit einem Mal nicht glauben. In seinem tiefsten Innern meldeten sich Zweifel, und Erinnerungen gruben sich an die Oberfläche seines Bewusstseins. Da war etwas, das er nicht begriff, das ihn mahnte und unsicher machte – und doch konnte er nicht sagen, was es war.

Nur eines wurde ihm klar: Sein Schicksal war eng damit verbunden!

Todesahnung erfüllte ihn ...

1. Kapitel

Sie trafen sich in der obersten Etage. Es war die siebzehnte.

In der dunklen Wohnung versammelte sich einer nach dem anderen. Insgesamt waren es vierzehn. Unter ihnen befand sich Richard Patrick, der vom geheimen Treffen der Shoam-Sekte gehört hatte. Dieser stand ein Inder vor, der von seinen Anhängern als Guru bezeichnet wurde und mit vollem Namen Swami Prabhupada Shoam hieß.

Viele, die sich diesen Anstrich gaben und als Guru eine Sekte führten, waren schlichtweg Betrüger. Bei Shoam lag der Fall nicht so einfach. Es gab eindeutige Hinweise dafür, dass dieser Mann über jeden Verdacht des Betruges und der Täuschung erhaben war.

Shoam lebte seit drei Jahren nur von Milch und Bananen, nahm keinen Bissen Fleisch zu sich, hatte geheimnisvolle Andeutungen über ein wiedererstehendes Reich gemacht, das er jedoch nicht näher beschreiben wollte oder konnte.

Wie jeder überzeugte Hindu, so glaubte auch Shoam an die Wiedergeburt, bis er endlich eingehen konnte in das Nirwana, in dem die Kette der Wiedergeburten abriss und er im absoluten Nichts zu Hause war, wo Seele, Geist und Körper nicht mehr existierten.

All dies war nichts Neues und ein Vortrag darüber hätte jene Personen, die am heutigen Abend zusammenkamen, wohl kaum veranlasst, hierher zu kommen.

Shoam hatte seine Gäste genau ausgewählt und sie zu strengstem Stillschweigen über das verpflichtet, was sie zu hören und zu sehen bekamen. Jeder, der in die Wohnung eingelassen wurde, musste ein Kärtchen mit diesbezüglichem Text unterschreiben. Auf dem Kärtchen befand sich ein unerklärliches, fremdartiges Symbol, für das der Guru eine Erklärung abgab.

»Sie, meine verehrten Gäste, werden dieses Zeichen nicht in den Veden, nicht in den Upanischaden, in keinem Heiligen Buch finden. Ich selbst habe es bis vor einem Monat noch nicht gekannt. Es stammt von dieser Erde – und es stammt doch nicht von dieser Erde. Sie werden nachher durch meine Erläuterungen diesen scheinbaren Widerspruch noch verstehen.« Shoam war ein kleiner, sehr dünner Mann, der nur aus Haut und Knochen zu bestehen schien. Das Dhuti, bestehend aus blütenweißem Hemd und knöchellanger Hose, raschelte bei jeder Bewegung.

In dem Raum, wo sie sich versammelt hatten, brannten auf niedrigen Tischen kleine indische Tempellaternen. Das waren mit Löchern durchbrochene Messinghülsen, in denen wohlriechende Kerzen brannten. Durch die Löcher entstand ein sich ständig in Bewegung befindliches Wabenmuster an Decke und Wänden, das einerseits für wohltuende Entspannung sorgte und den Geist doch seltsam wach hielt.

Kein Anwesender kannte den anderen. Shoam hielt das Treffen absichtlich anonym, um gewisse Gefahren – so jedenfalls hatte er sich ausgedrückt – von vornherein zu unterbinden. Diese Gefahren beträfen weniger ihn als jene Personen, die für das Experiment dankenswerterweise als Beobachter gekommen seien.

Der Raum, in dem sie sich aufhielten, war durch einen dunkelroten Vorhang abgetrennt. Die ganze Einrichtung war bescheiden. Shoam fuhr keinen Rolls Royce, die Zahl seiner Schüler war eher klein, und man wusste, dass er nicht auf großem Fuß lebte. Die Miete für seine Wohnung trugen seine Anhänger zusammen, er lebte von jener Milch und den Bananen, die seine Freunde für ihn kauften.

Shoam war trotz seiner geringen Körpergröße eine Persönlichkeit, die etwas Faszinierendes und Einmaliges ausstrahlte. Man konnte sich diesem gewissen Etwas nicht entziehen.

Shoam hatte für diesen Abend keinen seiner Anhänger geladen, und er selbst war es, der seine Gäste mit Fruchtgetränk und frischem Obst bewirtete, das in sauberen Korb- und Messingschalen bereit stand.

Richard Patrick, Verleger der großen Zeitschrift Amazing Tales, die sich mit der Behandlung und Aufklärung geheimnisvoller Vorgänge überall in der Welt befasste, hatte die telefonische Einladung des populären Shoam gern entgegengenommen, ohne genau zu wissen, was für ein großes Experiment da stattfinden sollte.

Niemand wusste etwas. Und doch waren sie gekommen. Dafür bedankte sich der kleine hagere Inder in einer knappen Ansprache. Er ließ noch durchblicken, dass sich diese illustre Gesellschaft aus Vertretern von Kirche, Staat, Wissenschaft und Kultur zusammensetze.

»In Ihren Reihen sind Ärzte und Priester, Schriftsteller, Rechtsanwälte, Verleger und Politiker. Der Kreis ist so auserwählt, dass keiner den anderen persönlich kennt. Würde ich Namen nennen, käme über die Lippen des einen oder anderen Anwesenden ein verständnisvolles Aha. Das Licht in diesem Raum ist so gehalten, dass die Gesichter nicht gut zu erkennen sind. Das Ganze hat nichts mit Hokuspokus und faulem Zauber zu tun, es gehört zu der Vorsichtsmaßnahme, die ich Ihnen noch erläutern muss. Das Experiment, alles, was sie heute Abend erfahren werden, ist notwendig, um Ihnen vor Augen zu führen, dass etwas geschieht, wovon zur Stunde noch niemand weiß. Wenn das Experiment erfolgreich verlaufen wird – und ich zweifle keinen Augenblick daran –, werden Sie die Welt, in der Sie leben, mit anderen Augen sehen. Sie werden das Wissen – noch – für sich selbst behalten müssen, um den Fluch nicht zu provozieren, der in jenem Gebilde steckt, das Sie mit Ihrer Unterschrift gekennzeichnet haben. Es soll Sie schützen, nicht bedrohen. Deshalb ihr Name. Wenn Sie alles gesehen und gehört haben, steht es Ihnen dennoch frei, sich zu äußern – hier, im gemeinsamen Gespräch. Nicht in der Öffentlichkeit, davor möchte ich im Augenblick noch warnen. Hinter verschlossenen Türen sollen und müssen Sie an dem Problem jedoch arbeiten. Sie sollen Berater und Mitarbeiter einweihen. Im Hintergrund muss Großes geschehen, um Furchtbares zu verhindern.«

Das hört sich ja schrecklich an, dachte Richard Patrick unwillkürlich und zuckte zusammen, als die Stimme des Inders wieder ertönte und sich genau der Worte bediente, die ihm gerade durch den Kopf gegangen war. Es schien, als hätte Shoam seine Gedanken erraten.

»... hört sich schrecklich an. Das kann ich Ihnen leider nicht ersparen. Ich muss die Dinge so nennen, wie sie wirklich sind. Jeder einzelne von Ihnen ist bedroht an Leib und Leben, wenn er leichtfertig mit dem Gut umgeht, das ihm hier und heute angeboten wird. Darauf muss ich hinweisen. Und jetzt hat jeder von Ihnen noch die Möglichkeit, zurückzutreten und zu sagen, dass ihm dies alles zu undurchsichtig und gefährlich ist. Dafür habe ich Verständnis. Wer fürchtet, der Erfahrung, die ich Ihnen allen vermitteln werde, unter diesen Umständen nicht gewachsen zu sein, den bitte ich darum, jetzt zu gehen.«

Keiner rührte sich.

Shoam ließ eine halbe Minute verstreichen. »Gut«, fuhr er dann mit der gleichen ruhigen Stimme fort, »wie Sie meine Entscheidung angenommen haben, nehme ich Ihre an.« Er näherte sich dem Vorhang. »Ich werde Ihnen einen kleinen Freund vorstellen, den ich vor etwa sieben Monaten bei einer Reise durch Indien kennen lernte und der schließlich mit mir in die Staaten gekommen ist. Es ist ein Waisenknabe, den ich adoptiert habe. Er ist jetzt zwölf Jahre alt. Der Hinduglaube über die Wiedergeburt ist Ihnen allen bekannt, ich brauche dies nicht extra zu erklären. Es gibt heute – auch in westlichen Ländern – kaum noch Zweifel an diesem Glauben. Wir haben Beweise. Es geht mir also nicht darum, Ihnen jemanden vorzustellen, der schon mal lebte. Das wäre langweilig. Mit Sarash, so heißt der Junge, hat es eine ganz andere Bedeutung. Er war einst ein großer, ein berühmter und ein gefährlicher Mann. Auf einem Kontinent, von dem die meisten Menschen glauben, es hätte ihn nie gegeben, und den sie deshalb in das Reich der Sage, der Legende verlegen. Ich spreche von dem Urkontinent Lemuria.«

Er zog den Vorhang zurück. Dahinter lag ein dämmriger Raum, der mit bescheidenen Möbeln eingerichtet war. Auffallend viele Bücher standen in einem Wandregal.

Unwillkürlich glitten die Blicke der Eintretenden darüber hinweg. Auch Richard Patrick interessierte sich für die Titel der Folianten. Einige Bücher waren sehr alt, und auf ihren ledergebundenen Rücken ließen sich mit einiger Mühe griechische, lateinische, altdeutsche und englische Titel entziffern. Es waren auch Bände in Sanskrit vorhanden. In einem Gestell ruhte eine alte Weltkugel, auf der die Kontinente beige und türkisfarben eingezeichnet waren. Überhaupt hingen viele postergroße Landkarten an den Wänden, die die Kontinente anders zeigten, als man sie aus den herkömmlichen Atlanten kannte. Nur mit einiger Phantasie waren die vertrauten Umrisse Afrikas oder des indischen Subkontinents auszumachen. Auf einer Karte klebten alle Kontinente zusammen und waren wie ein Puzzle aneinandergefügt, so dass die Erdoberfläche einen fremden Eindruck vermittelte.

Dies war die eine Seite der Medaille. Man glaubte einerseits im Zimmer eines Gelehrten zu sein und andererseits in dem eines Kindes. Da standen Jugendbücher in Englisch und Bengalisch in den unteren Regalen, Spielzeugautos und -eisenbahnen, ein riesiger Plüschbär, der auf einem Ecksofa saß und die Eintretenden aus großen, schwarzen Glasaugen anstarrte.

Eine seltsame Mischung!

In der Ecke neben einer aus dem Raum führenden Tür stand ein Bett, das ringsum durch einen Vorhang verschlossen war.

Der Guru zog auch hier den Vorhang zurück. Das Bett war leer. Dann klopfte der Mann an die Tür.

»Sarash«, rief er. »Du kannst hereinkommen.« Und noch ehe die Tür geöffnet wurde, wandte er sich noch mal mit gedämpfter Stimme an die schweigsame Runde. »Ich wollte nicht, dass er Zeuge unseres Vorgesprächs wird.«

Durch die Tür kam ein schlanker, dunkelhaariger Junge. Wie Shoam trug er eine weiße, weite Hose und darüber ein Hemd, das bis über die Knie hinabreichte. Die Haut des Knaben war hellbraun, die Augen, groß und schwarz, blickten klug.

Der Junge begrüßte jeden anwesenden Gast mit Handschlag und machte einen höflichen Diener. Sarash wirkte ungezwungen, fröhlich, und die fremden Gäste schienen ihn überhaupt nicht zu stören.

»Dies alles«, erklärte der Gastgeber nach der Begrüßungszeremonie, »sind Leute, die sich für das interessieren, was du, Sarash, uns erzählen wirst. Ich möchte dich bitten, dich hinzulegen. Ich werde dich, wie schon einige Male zuvor, in Hypnose versetzen, und dann wirst du ruhig und klar die Fragen beantworten, die ich dir stellen werde.«

»Ja, Shoam.« Der Junge lächelte sanft. Er wirkte sehr sympathisch und ließ sich durch die Anwesenheit der Fremden nicht im Geringsten irritieren. Er durchquerte den Raum, kam dabei an dem Plüschbär in der Ecke vorbei und versetzte ihm einen Stupser auf die Nase. Sarash lachte.

»Vielleicht kann ich auch so Antwort geben, Shoam«, meinte er, während er eigenhändig den Vorhang um sein Bett seitlich wegzog.

»Nein, das kannst du sicher noch nicht. Zumindest nicht in dem Umfang, wie ich es erwarte. Und uns kommt es doch beiden darauf an, die Herrschaften zu überzeugen, nicht wahr?«

»Ja, Shoam.«

Er legte dem Jungen die Hand auf den Kopf und ließ sie dann langsam nach vorn über die Stirn gleiten, als wolle er ihm die Augen schließen. Sarashs Bewegungen wurden sofort kantiger. Er glitt langsam auf das Bett. Shoam schob ihn nach hinten und streckte ihm die Beine aus.

Sarash wirkte wie ein Schlafender. Die geladenen Gäste bildeten einen Halbkreis um das Bett.

»Sarash ist in Hypnose gefallen. Er kann das, was ich jetzt zu Ihnen spreche, nicht hören. Erst, wenn ich ihn direkt anspreche, wird er reagieren. Bitte, hören Sie genau zu! Seien Sie ruhig kritisch, meine Herren, das ist Ihr Recht, und deshalb habe ich Sie eingeladen. Was Sarash, der nicht immer Sarash war, Ihnen berichten wird, stellt ihr Weltbild auf den Kopf. Eines möchte ich noch erklärend vorausschicken, ehe ich Ihnen das Experiment vorführe. Es war nie meine Absicht, irgendwelche Versuche mit dem Jungen durchzuführen. Sein eigenes Verhalten hat mich dazu gebracht, den Dingen auf den Grund zu gehen. Mehrere Male hat Sarash im Schlaf gesprochen, verhielt sich sehr unruhig, und Dinge in seiner Umgebung zerbrachen oder bewegten sich. Ein parapsychologisches Phänomen, dachte ich. Bis ich erkannte, dass es etwas ganz anderes war. Sarash begann, aus seinem Unterbewusstsein Dinge ans Tageslicht zu befördern, die irgendwann einmal in einer anderen Daseinsebene für ihn Alltag gewesen sind. Das Zwiegespräch, das ich mit ihm führen werde, betrifft diese Welt. Sie liegt nicht hundert Jahre zurück, keine dreihundert oder fünfhundert Jahre. Sie werden mit Dingen und Begriffen zu tun haben, die Ihr Begriffsvermögen sprengen. Sie sehen einen zwölfjährigen Jungen vor sich. Machen Sie sich bitte von diesem Eindruck frei! Sarash ist so alt wie die Welt, nämlich einige Millionen Jahre.«

Um die Lippen einiger Anwesenden spielte ein amüsiertes Lächeln. Einige Männer nickten sich zu, andere begannen in diesem Moment daran zu zweifeln, ob es überhaupt richtig gewesen war, hierher zu kommen und den Abend nicht auf eine andere Weise zu verbringen.

Richard Patrick, der durch seine Arbeit schon mit vielen, seltsam anmutenden Dingen und Phänomenen konfrontiert worden war, dachte nicht so. Er lauschte der Stimme des Inders.

»... was als Sage und Legende in das Bewusstsein der Menschheit eingegangen ist, hat einen realen Hintergrund. In den meisten Fällen. Es gab in der Anfangszeit der Welt unheimliche Monster, Dämonen und Drachen, geistige Wesenheiten, deren Körper noch nicht ausgebildet waren. Sie stellten das Gros derer dar, die diesen Monstern, Urtieren, Dämonen und Drachen vorausgingen. Aber hören Sie selbst.«

Jeder merkte, dass Shoam, der Inder, gewisse Schwierigkeiten hatte, seinen Gästen die Dinge richtig zu bezeichnen. Er selbst schien die Angelegenheit begriffen zu haben, aber sie in Worten fassbar für andere darzustellen, fiel ihm sichtbar schwer.

»Sarash«, wandte er sich an den schlafenden Jungen, »kannst du mich hören?«

»Ja.«

»Sag mir, wo du geboren bist.«

»In Kalkutta.«

»Sag mir, wo du jetzt wohnst?«

»In New York, im Haus meines Adoptivvaters Shoam.«

»Was weißt du über deine richtigen Eltern?«

»Nichts.«

»Was geschah mit deiner Mutter?«

»Sie starb bei meiner Geburt.«

»Und was war mit deinem Vater?«

»Er hatte einen Unfall vor meiner Geburt.«

»Zu dieser Geburt, Sarash, gehen wir jetzt zurück. Was siehst du, was hörst du?«

»Alles ist sehr dunkel, sehr warm. Ich fühle mich wohl.« Sarashs Stimme klang etwas leiser.

»Wir gehen in die Zeit vor deiner Geburt zurück. Schildere uns deinen jetzigen Zustand.«

»Dunkelheit, Stille, Frieden ... ich schwebe im Nichts ...«

»Wie lange hast du dieses Gefühl schon?«

»Ich weiß es nicht. Es gibt dafür keinen Begriff, der es bezeichnen könnte. Es ist ein Zustand, in dem Zeit und Raum keine Bedeutung haben.«

»Aber zu diesem Zeitpunkt weißt du, dass es dich schon mal gegeben hat?«

Für Richard Patrick war ein solches Frage- und Antwortspiel nichts Neues. Schon mehr als einmal hatte er an Sitzungen teilgenommen, bei denen Versuchspersonen in die Zeit vor ihrer Geburt zurückversetzt wurden.

Shoam bemühte sich, die einzelnen Stationen in die Zeit der Vergangenheit schnell zu überbrücken. Sarash war auf dieses Vorgehen eingespielt. Es klappte alles reibungslos.

»Es hat mich schon mal gegeben, ja«, lautete die Antwort des Jungen.

»In welcher Gestalt, mit welchem Namen?«

»Ich habe keine richtige Gestalt. Ich existiere. Das weiß ich. Einen Namen habe ich nicht. Mein Leben – ist Gefühl ...«

»Und was fühlst du?« Shoam sprach den Jungen nicht mehr mit seinem Namen Sarash an.

»Sehnsucht und Leidenschaft. Nach Freiheit, nach einem Körper ...«

»Hast du denn keinen?«

»Nein.«

»Erkläre es uns genauer.«

Ein Verhör wie dieses in Tiefenhypnose hatte selbst der verwöhnte Verleger noch nie erlebt.

»Bevor der Körper werden kann, geht dem eine Leiblichkeit in feinerer Substanz voraus. Ich weiß alles über mich, bin ein rein geistiges Wesen, bin beseelt, atme und bestehe aus Luft. Ich bin mit Wasser und Luft angefüllt und habe den Geist. Aber die Zeit, dass der Körper voll vorhanden ist, ist noch nicht gekommen.«

Sarashs Stimme klang leise und schleppend. Sein Gesicht wirkte weiß, fast durchscheinend, und man merkte ihm an, dass ihn das Verhör anstrengte. Man sah auch Shoam an, dass er diese Vorstellung so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte.

»Du bist also Luft und Wasser?«, warf der Inder dem hypnotisierten Jungen die Frage hin.

»Ja und nein. Ich bin ein Teil des Wassers und der Luft, habe eine Seele und den Geist, bin von Luft und Wasser kaum zu unterscheiden ...«

»Du hast also keine Haut?«

»Nein.«

»Kein Skelett?«

»Nein.«

Wenn niemand sprach, war es in dem halbdunklen Zimmer so still, dass man die berühmte Stecknadel fallen hören konnte.

»Wie kannst du deine Umwelt wahrnehmen?«

»Ich fühle sie.«

»Was fühlst du?«

»Das Feuer ... die Bewegung ... alles ist in Bewegung, alles im Werden ... Die Erde ist noch nicht fest. Die Glutseen, die alles bedecken, kühlen nur langsam ab. Eine hauchdünne Haut liegt über ihnen ... die Erde lebt ... der Geist ist wach. Viele Geister schweben mit dem Wasserdampf durch die Lüfte. Dies ist ihre Beweglichkeit ... alles bewegt sich ... ich habe eine Ahnung ...«

»Welche?«, hakte Shoam sofort ein. Man gewann bei diesem Gespräch nicht den Eindruck, dass es schon etliche Male stattgefunden habe. Und doch musste es so sein.

»Es wird die Zeit kommen, da das rein geistige Dasein zu Ende sein wird. Nicht mehr der Kern meines Wesens allein wird existieren, sondern die Wärme des Blutes und die Leidenschaft werden einen Leib haben, Substanz sein. Erst der Geist, dann die flüssigen Substanzen, die weich und geschmeidig werden, die nicht mehr über der halb flüssigen Erde schweben, sondern sich auf ihr bewegen ... Diese Welt ist entstanden, aus Geist, ist zu Materie geworden, und so ist es mit dem Geist, der den Menschen, die Urtiere und Urpflanzen formen wird ...«

Sarash beschrieb eine unfassbare, ungeheuerliche Welt. Es schien, als wäre er wirklich beim Geburtsvorgang der Erde, der Jahrmillionen währte, von Anfang an dabei gewesen.

Da war ein glutender Gasball, entstanden aus dem Geist. Der Ball wurde glutflüssig, blasige Lava bedeckte die Erde, die von Urnebeln und Wasserdampf umhüllt war. Die ersten Kontinente formten sich. Und der erste war Lemuria, der Urkontinent, die Wiege des Menschen?

Wie Sarash es beschrieb, überzeugte es, wurden die Zweifel, die in dem einen und anderen sich regten, im Keim erstickt. Geister existierten, hatten Ahnung von dieser Existenz und waren zu diesem frühen Zeitpunkt reiner Wille. Aus Luft und Wasser entstanden dann erste Wesen, die sich von diesen Elementen kaum unterschieden. Dann ein weiterer Entwicklungsschub, Jahrmillionen später. Organismen oder Knochen bildeten sich, weiches Plasma, hauchdünn wie Schleier, Urmenschen, Urtiere, Urpflanzen. Lemuria war Paradies und Hölle zugleich. Hier in der Welt der eruptiven Vulkane wurden erste Gedanken und Sünden begangen, und das leidenschaftliche Temperament nach Freiheit, Beweglichkeit und Besitzergreifung wurde wach, fand in der werdenden Körperlichkeit seinen Niederschlag. Die lemurische Zeit brachte das Leben hervor, und noch ehe der sagenhafte Urkontinent in einer allgewaltigen Feuerkatastrophe unterging, hatten die, die dort geboren worden waren, ihren Weg über Landbrücken zu anderen Kontinenten – Atlantis und Hyperborea – schon längst begonnen. Träume, Visionen der Geister hatten sich in Gestalten manifestiert, die zu einem Zeitpunkt auf Lemuria zu Hause waren, als der Kontinent noch bestand.

Sarash schilderte dies alles mit schwacher, leiser Stimme, und manchmal zitterten seine durchscheinenden Lider, als wolle er sie jeden Augenblick öffnen, um einen Blick auf die Gesichter jener zu werfen, die ihm andächtig wie einem Propheten zuhörten.

Was Richard Patrick und die anderen Anwesenden erfuhren, war so neu, so gewaltig, dass sie anfingen daran zu zweifeln, überhaupt hier anwesend zu sein.

Das konnte nur ein Traum sein! Die ganzen Umstände, die zu der Versammlung geführt hatten, waren schon merkwürdig, und das, was sie an diesem Ort vernahmen, war es erst recht.

Shoams Worte gingen in Erfüllung.

Das hier entworfene Weltbild passte nicht mehr in das, welches ihnen in ihrer Schulzeit beigebracht und als allein richtig hingestellt worden war. Was immer da aus dem Mund eines Zwölfjährigen kam, es hatte die Explosionskraft einer Bombe.

Richard Patrick sah jene fremde Welt der Vergangenheit vor sich wie auf einer Leinwand. Die Darstellung durch Sarash war so farbig, dass man meinte, selbst Zeuge jener Ereignisse und Dinge zu werden. Die Zeitspanne, über die Sarash berichtete, umfasste mehrere Millionen Jahre – die Lebensdauer jener Geister, die aus Luft und Wasser entstanden waren, beseelt wurden und anfingen zu atmen. Das Gute und das Böse wurden wach, Schreckliches und Schönes nahm Gestalt an. Die Urtypen der noch heute auf der Erde lebenden Pflanzen und Tiere entstanden. Viele Menschenformen entwickelten sich. Urgeschöpfe, die dem heutigen Menschen schon ähnlicher sahen als jene Steinzeittypen aus späteren Jahren. Die Darwinsche Lehre, dass der Mensch vom Affen abstamme, wurde von einem Zwölfjährigen ad absurdum geführt.

Nein – alles entstammte einem Lebensprinzip, und die Ursache lag in Lemuria. Doch das war noch nicht alles.

All das Bizarre und Magische, von dem Sarash berichtete, gipfelte in der Erkenntnis, dass alles Wissen aus der Jahrmillionen fernen Vergangenheit sich in ihm gesammelt hatte, dass er Kriege und Katastrophen gesehen und erlebt hatte, und dass der Urkontinent selbst unterging, nachdem alles von dort aus in Bewegung gesetzt worden war – das Leben, die Entwicklung, das Gute und Böse im Menschen. Geheimnisvolle Gestalten aus der Sagenwelt – Zwerge, Riesen, Vogelmenschen, böse Zauberer, Dämonen, Monster, Heroen und Götter – in Sarashs Erzählung wurden sie lebendig.

War es die blühende Phantasie eines Halbwüchsigen? Ging sie mit ihm durch? Wurde ihnen hier ein Schauspiel vorgeführt, das an Lächerlichkeit nicht zu überbieten war und das durch den indischen Guru mit einem Hokuspokus in Szene gesetzt wurde? Aber welchen Sinn hätte dann das Ganze?

Sarash, der ans Ende seiner umfangreichen Darstellung aus den Anfangstagen der Erde gekommen war, konnte ihnen auch das erklären. Und da schloss sich der Kreis wieder.

»... was in der fernsten und fernen Vergangenheit an Ursächlichem vorhanden war, wird sich wiederfinden und seine Wirkung auch in der Zukunft zeigen«, sagte Sarash. »Es gab Katastrophen, ausgelöst durch bösen Willen, Kriege, ausgelöst durch das Böse, durch Magier und Teufel. Diejenigen, die sich dort entwickelten, waren zerstritten – und sie haben diese Saat mitgenommen auf die Kontinente, die später entstanden, später das Leben aus Lemuria trugen. Atlantis, Hyperborea, Mu, Xantilon – Völker entwickelten sich und vergingen wieder. Ich habe viel von dem, was wieder werden wird, schon damals begriffen, in der Zeit, als der Mensch noch keinen Körper hatte. Ich wusste, noch ehe ich sie gesehen hatte, von der Stadt der tausend Flammen, wusste von den Sternenburgen und der Unendlichkeit der Universen, die doch endlich sind, weil sie in sich selbst zurückkehren werden. Ich habe viele Feinde getötet, viele Widersacher und Konkurrenten aus dem Weg geschafft ...«

Richard Patrick hielt den Atem an. Dem Verleger kam es so vor, als wäre die Stimme zuletzt härter, rauer geworden. Sie klang nicht mehr so sanft und silberhell wie die eines Zwölfjährigen. Etwas Bösartiges, Kaltes haftete ihr an.

»Ich bin ein Magier, und die Stunde des Vontox' ist nahe.« Die letzten Worte zischten förmlich aus seinem Mund. Sie klangen wie das Fauchen und Knurren eines wilden Tieres.

Deutlich war zu sehen, wie sich auf den Gesichtern einiger Anwesenden Ratlosigkeit und Erschrecken spiegelten.

Auch das Antlitz des Jungen veränderte sich. Ein bösartiger Zug bildete sich um seine Lippen, die Nase kräuselte sich, und die Haut wurde wie Marmor.

»Du kehrst zurück«, sagte Shoam schnell, als er sah, was sich da ankündigte.

Ein Zittern lief durch den zarten Körper, die Hände ballten sich zu Fäusten.

»Du verlässt Lemuria, du gehörst nicht mehr dorthin. Dein Leben dort ist längst erloschen. Du kehrst zurück – durch das Reich zwischen deinen beiden Existenzen. Du kommst hier an. Du bist Sarash, der Junge, niemand sonst.«

Die Spannung fiel von dem Knaben ab wie eine zweite Haut. Er wirkte wieder völlig normal und schien zu schlafen.

Shoam tupfte sich mit einem blitzsauberen Taschentuch die schweißnasse Stirn ab. »Das war diesmal mehr als ich zu hoffen wagte.« Er wirkte einen Moment ratlos. »Es ist etwas hinzugekommen. Die Drohung war bisher stets allgemein gehalten. Doch diesmal ist seine Erinnerung offensichtlich weiter gediehen. Die Drohung kam direkt durch ihn. Und er hat sich mit Namen genannt. Vontox. Er war Vontox, der Magier, der im fernen, barbarischen Lemuria schwere Kämpfe für das Böse ausfocht. Lemuria ging unter, wie Sie alle wissen. Neu dürfte Ihnen sein, dass durch Sarash – durch Vontox, genau genommen – ein präziser Hinweis über die Lage des Urkontinents erfolgt ist. Ich hätte den Jungen in der Hypnose noch danach gefragt, musste das Experiment jedoch leider vorzeitig abbrechen, wie Sie bemerkt haben. Es ist ein Erregungszustand eingetreten, der mir zu denken gegeben hat. Ich möchte Ihnen noch etwas zeigen. Bitte, schauen Sie her ...«

Er ließ den Jungen noch schlafen und wandte sich den Landkarten an der Wand zu. Eine Karte zeigte die verfremdeten Kontinente, die Richard Patrick und den anderen beim Eintritt schon aufgefallen waren. Afrika hatte eine andere Form und war durch lemurische Teile über Madagaskar mit Südamerika verbunden.

»Diese Landmasse ist heute vom Angesicht der Erde verschwunden«, erklärte Shoam. »Das Meer hat sie verschlungen. Vor dem indischen Kontinent kann man diesen Kontinent auf dem Meeresboden finden, sagt Sarash. Und seine Drohung, dass von Lemuria und von ihm wieder Gefahren ausgehen werden, dürfen nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Es ist heute kaum mehr daran zu zweifeln, dass Menschen, die einst auf Atlantis wohnten, wieder mitten unter uns weilen und Erinnerung an ihr damaliges Dasein haben. Ebenso wenig zweifelhaft ist dies im Zusammenhang mit Lemuria. Nur ist es hier gefährlicher, denn die dämonischen Geister, die von Visionen und durch Visionen und Leidenschaften lebten, ehe sie Körperlichkeit erfuhren, sind ebenfalls wieder mitten unter uns. Sarash ist gewiss keine Ausnahme. Nur die einzige, die wir Heutigen vielleicht kennen. Sarash ist ein Phänomen. Diese Bücher dort ...« Mit diesen Worten deutete er auf die wissenschaftlichen Werke. »Er hat sie alle gelesen – und verstanden. Es scheint, als wirkten viele Leben in ihm fort, als wäre alles, was Menschen jemals entdeckten und erforschten, in ihm in einer latenten Form vorhanden. Wer so viel weiß, wird es eines Tages anwenden. Ob zum Guten oder Schlechten bleibt dahin gestellt. Ich neige zu der Ansicht, dass es zum Schlechten erfolgen wird. Sie haben gesehen, wie er als Vontox reagiert. Ich weiß nicht, welche Kräfte frei werden, wenn er sich ihrer erinnert. Vergessen Sie sein Aussehen, vergessen Sie, dass er nur ein zwölfjähriger Junge ist! Es fällt schwer, ich weiß. Ich habe selbst dagegen anzukämpfen. In Wirklichkeit liegt nur wenige Schritte von uns entfernt eine tödliche Gefahr in Gestalt eines Jungen, in dessen Körper ein bestialischer Geist haust, der die uns bekannte Welt in den Abgrund reißen kann.«

Die zehnte Botschaft seines toten Freundes war die kürzeste, die er bisher in Händen hielt.

Wenn du diese Zeilen liest, hast du bereits Beachtliches geleistet. Die Aufgaben, um den einen möglichen Weg frei zu legen, sind schwer. Mit der Mission, die jetzt vor dir liegt, wird sie noch schwerer.

Ich gehe davon aus, dass du durch den König der Drachentöter einen Hinweis erhalten hast, der das, was ich dir sagen kann, ergänzen wird.

Es geht um Lemuria. Auf jenem Urkontinent begann alles Leben, wie du es heute kennst. Lemuria ist längst versunken – zu einem Zeitpunkt, als Xantilon noch glutflüssige Lava war.

Ich muss dir eine Eröffnung machen. Dort, wo Lemuria jetzt liegt, wirst du hingehen müssen. Von der Sekunde an, da du dich für diesen Weg entschieden hast, wird es außergewöhnliche Probleme für dich geben, denn ich kenne den Weg nach Lemuria nicht. Aber der Magier kennt ihn, der blaue Guufschädel, den du vor geraumer Zeit erbeuten konntest. Du siehst, dass alles ineinander greift wie ein Rädchen ins andere. Jetzt gewinnt ein Beutestück für dich Wichtigkeit, das bisher nur toter Ballast zu sein schien.

Der Ort, an dem du ankommen wirst, ist ein strategisch wichtiger Punkt, an dem sich noch heute Dämonen treffen. Sei auf der Hut, nimm dir Helfer mit für den Fall, dass du den Weg zu jenem Fixpunkt, den ich dir noch genau beschreibe, frei kämpfen musst. Setze alle Mittel ein, über die du verfügst. Nur so kannst du dir eventuell die Übermacht der Feinde vom Hals halten.

Wieder wirst du den Geistspiegel des Hestus benutzen. Er wird dich an den Versammlungsort, eine Art Pandämonium, bringen. Gelingt es dir, die dort befindlichen Hindernisse zu umgehen, wirst du auf direktem Weg durch den Tunnel der Verzweifelten gelangen. Dort findest du einen Altar. Eine Fläche darauf entspricht genau in Form und Größe jenem blauen Guufschädel, der sich in deinem Besitz befindet. Der Kopf des Guufmagiers wurde dort vor unvorstellbar langer Zeit entwendet. Kehrt er an den Ort seiner Herkunft zurück, wird er dir jede Frage beantworten, die du ihm stellst. Frag ihn vor allen Dingen nach dem Grab in Lemuria! Dieses Grab existiert! Es stammt noch aus der Zeit, als ich noch nicht geboren war. Rha-Ta-N'my besitzt Kenntnisse darüber. Es war mir während meiner Zeit als Molochos jedoch nie möglich, selbst genügend darüber in Erfahrung zu bringen. Das Grab gehört zu einem der großen Geheimnisse in der Welt der Finsternis, die nur Eingeweihte kennen. Der Guufmagier war ein solcher Eingeweihter noch vor meiner Zeit. Nutze seine Kenntnisse, die älter als hunderttausend Jahre sind.

Noch ein letzter Hinweis, den ich dir zu geben vermag: Du wirst dich bei der Lektüre dieses Textes sicher verzweifelt fragen, wie es dir möglich sein wird, dich auf einem versunkenen Kontinent, der auf dem Meeresboden liegt, zu bewegen. Lemuria ging zwar in dieser Welt unter, befindet sich dort aber schon lange nicht mehr. Was es damit auf sich hat, wirst du zu gegebener Zeit durch den blauen Totenschädel erfahren.