Macabros 046: Finsterlinge - Dan Shocker - E-Book

Macabros 046: Finsterlinge E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Sturz in das Chaos Ein neuer Zyklus beginnt! Das gigantische Abenteuer erwartet Björn Hellmark, den Gefangenen in zwei Welten! Die Falle ist zugeschnappt! Björn und Carminia sind Gefangene für alle Zeiten. Niemand kann ihnen helfen. Die Freunde sind ratlos, wissen nichts über ihr Schicksal. Macabros wurde von unvorstellbaren dämonischen Psychokräften getrennt und auf die Insel der Vergangenheit - Xantilon - geschleudert. Es ist eine Zeit, da die Kultur dort erst im Werden begriffen ist. Macabros irrt durch das ferne, uralte Xantilon. Die Finsterlinge von Krosh Auf dem Schwarzen Strom lassen sich Macabros und Bolonophom in eine unbekannte Tiefe tragen. Rätsel über Rätsel warten auf Björn Hellmarks Doppelkörper. Er beginnt Al Nafuurs Worte immer besser zu verstehen. 8734 Jahre vor dem Untergang der Insel geschehen eigenartige Dinge, bei denen Dämonen, Geister, Kobolde und Zauberer ihre Hand im Spiel haben. Macabros weiß, dass er es mit tausendfältigen Gefahren aufnehmen muss, um den Namen des Toten Gottes mit ehernen Lettern in das Buch der Vergangenheit zu schreiben.

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DAN SHOCKERS MACABROS

BAND 46

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Fachberatung: Gottfried Marbler

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-746-7

Dan Shockers Macabros Band 46

FINSTERLINGE

Mystery-Thriller

Sturz in das Chaos

von

Dan Shocker

Prolog

Sie waren Gefangene und hatten keine Möglichkeit, auf ihr ungeheuerliches, einmaliges Schicksal aufmerksam zu machen.

Björn Hellmark, der Herr von Marlos, und Carminia Brado, die Frau, die er liebte, hingen in dem riesigen Netz, das Molochos im Schreckenszentrum Rha-Ta-N'mys für sie vorbereitet hatte. Sie hielten die Augen geschlossen und konnten sie vor Schwäche nicht mehr öffnen, selbst wenn sie gewollt hätten. Ihre körperlichen Funktionen waren auf ein Minimum herabgesunken.

Björns und Carminias Geist schwebten auf einer Grenze zwischen Wachsein und Traum. Sie wussten um ihre missliche Lage, konnten sie aus eigener Kraft jedoch nicht ändern. Sie hatten kein Gefühl mehr für den Raum, der sie umgab, für die Zeit, die verging. Alles war aufgelöst. Die beiden Menschen zwischen Wachen und Träumen wurden von den klebrigen Fäden festgehalten. Diese Fäden, die ein spinnwebartiges Gebilde unter der düsteren Kuppel einer zyklopenhaften Halle bildeten, ließen sie nicht leben und nicht sterben.

Unter dem gefangenen Paar dehnte sich eine zerklüftete, höhlenartige Welt von unvorstellbarer Größe aus. Unergründliche Stollen und Tunnel führten in urwelthafte Felsmassive, Schluchten teilten klobige, in Stein gehauene Treppen, deren Stufen in die Endlosigkeit zu führen schienen. Sie waren so gewaltig, dass ein heimlicher Betrachter der Szene den Eindruck nicht los bekam, sie wären einst für Riesen geschaffen worden, um ihnen eine Möglichkeit zu geben, aus der Tiefe der zerklüfteten Schlucht in ferne Himmelshöhen empor zu steigen.

Aber in dieser unheimlichen Welt, die ein einziges Labyrinth psychischer und kosmischer Kräfte war, gab es keinen Himmel, kein Oben und Unten. Hier herrschten die Gesetze des Weltalls und der Dämonenmacht. In diesem furchtbaren Reich, im Innern einer unbeweglichen Sonne, die kein Licht abgab und die Form eines titanenhaften, menschlichen Totenschädels besaß, wurden sie festgehalten. Von Molochos, dem Dämonenfürsten, dem dieses Zentrum von Rha-Ta-N'my zum Geschenk gemacht worden war. Sie hatten keinen eigenen Willen mehr, waren Marionetten, hingen wie diese an Fäden, und Molochos war der große Puppenspieler.

Björn Hellmark hatte in einem letzten verzweifelten Anlauf noch versucht, das Ruder herumzuwerfen. Es war ihm trotz der massiven dämonischen Kraft gelungen, seinen Doppelkörper Macabros entstehen zu lassen. Er wollte Molochos damit angreifen, musste aber zu seinem Entsetzen erkennen, dass er durch eigene Kraft den Materialisationspunkt entweder zu weit entfernt angesetzt hatte oder durch die besonderen Kräfteverhältnis in diesem Ewigkeitsgefängnis dazu veranlasst worden war.

Björn hatte keinen Kontakt mehr zu seinem Doppelkörper, empfing auch keinerlei Einflüsse. Für ihn war Macabros so tot wie er.

Aber dies war ein Irrtum. Macabros lebte – wenn man in diesem außergewöhnlichen Fall von Leben reden konnte.

Es war Björn Hellmarks Psyche, die auf Reisen gegangen war, eine Psyche, umhüllt von feinstofflicher, ätherischer Substanz. Da war tatsächlich ein menschlicher Körper, der durch das Weltall stürzte, ein Körper, der dem Mann in den Netzen des Ewigkeitsgefängnisses wie ein Zwillingsbruder glich. Macabros nahm alles mit wachen Sinnen in sich auf. Aber was er sah und erkannte, wurde nicht mehr Bewusstseinsinhalt Björn Hellmarks. Es schien, als wäre jenes geheimnisvolle Band, das stets zwischen ihnen bestanden hatte, ein für alle Mal zerrissen.

Während Björn Hellmark nichts mehr von seinem Doppelkörper wusste und ahnte, erlebte Macabros alles äußerst aktiv. Er begriff die ungeheuerliche Situation, die Tragweite eines Geschehens, das schicksalhafte Bedeutung erlangte.

Er wollte den rasenden Flug in das Nichts aufhalten und zurückkehren in den Körper, dessen brillanter Geist ihn geboren hatte. Aber er konnte die Kräfte, die ihn gepackt hatten, nicht zähmen. Die fremden Sterne, die ihn umgaben, wirkten plötzlich lang gezogen und fahl wie helle Streifen, die jemand mit unsichtbarer Hand blitzartig ins All malte.

Dann wurde es stockdunkel, und Macabros meinte, in einen unendlichen, lichtlosen Tunnel gerissen zu werden.

Macabros war ein Teil Hellmarks, Geist von ätherischer Substanz umhüllt. Er konnte die absolute Kälte des Kosmos ertragen und verglühte nicht in der Atomglut einer Sonne. Selbst die höchste Geschwindigkeit konnte ihn nicht zerreißen, und er war nicht auf Sauerstoff zum Atmen angewiesen.

Ätherische Substanz lebte aus der Kraft des Geistes. Und je rasender der Sturz ins Ungewisse wurde, desto wilder war Macabros entschlossen, gegen das Schicksal anzukämpfen.

Er allein kannte in dieser Stunde das Geheimnis um die Gefangenschaft, er allein kannte den Ort, wo die Opfer festgehalten wurden. Vielleicht gab es eine Möglichkeit der Rettung. Sie war wohl nur eine Frage der Zeit. Aber damit entschied sich ihrer aller Schicksal.

Es gab keinen Anhaltspunkt dafür, wie lange Geist und feinstoffliche Existenz ohne das kontrollierende Bewusstsein und den Willen Björn Hellmarks zusammenbleiben konnten. Auch Macabros verlor das Gefühl für Zeit und Raum, und dann erlosch sogar seine Fähigkeit, Eindrücke aufzunehmen und zu verarbeiten. Es blieb nur noch ein Körper, der durch Raum und Zeit wirbelte, ein Mikroorganismus, bedeutungslos im unauslotbaren und unberechenbaren Spiel der Kräfte des Werdens und Vergehens.

Bedeutungslos?

1. Kapitel

Mit jedem Einsatz, den sie unternahmen, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie nicht mehr zurückkehrten. In der Vergangenheit war es mehr als einmal zu Situationen gekommen, in denen ihr Leben am seidenen Faden hing.

Die Leute von Marlos – Arson, der Mann mit der Silberhaut, Rani Mahay, der sympathische Inder, Jim und Pepe, Danielle de Barteaulieé und das Geschwisterpaar Marga und Ulrich Koster – wussten davon ein Lied zu singen.

Doch es war eben immer wieder gut gegangen.

»Diesmal aber scheint es eingeschlagen zu haben«, murmelte Rani Mahay, der Koloss von Bhutan. So hatte man ihn genannt, als er noch Attraktion eines weltbekannten Zirkus war. Der Inder war seinerzeit in offener Manege mit ungezähmten Raubkatzen aufgetreten. Er hatte die Tiere mit seinem bloßen Willen unter Kontrolle gehalten. Die Bekanntschaft mit Björn Hellmark und Carminia Brado, die zu einer echten und tiefen Freundschaft geführt hatte, veranlasste ihn damals, seine Karriere aufzugeben und sich diesen beiden Menschen anzuschließen. Auch er hatte erkannt, dass in seinen Adern das Blut der alten Rasse floss. Er war ein Kämpfer, dazu geboren, die Feinde aus dem dämonischen Reich Rha-Ta-N'mys zu erkennen und auszurotten. »Wenn er in der Lage dazu wäre, hätte Björn uns längst eine Nachricht zukommen lassen. Den beiden ist etwas zugestoßen.«

Er war kein Mensch, der immer schwarz sah, kein unverbesserlicher Pessimist. Doch die besonderen Umstände ließen keinen anderen als diesen bedrückenden Schluss zu. Björn Hellmark und Carminia Brado waren aufgebrochen in die Dimension des Grauens. Der 13. und letzte Weg sollte ein entscheidender Schritt sein und eine schicksalhafte Bedeutung haben.

Björn wollte Rha-Ta-N'my, der Dämonengöttin, selbst gegenübertreten und sie zum Zweikampf herausfordern. Was aus dieser Begegnung geworden war, wusste hier auf Marlos niemand. Nach der Zeit zu urteilen, die seit dem Aufbruch der Freunde vergangen war, musste man jedoch Schlimmes annehmen.

Rani machte seine schwerwiegenden Bemerkungen nicht in einem größeren Kreis. Nur Arson und Danielle de Barteaulieé, zu der er sich hingezogen fühlte, erfuhren zunächst davon. Und sie berieten, was zu tun sei. Geschlossen begaben sie sich in die Geisterhöhle. Die Trophäen, die Hellmark gewohnheitsmäßig und aus praktischen Gründen dort aufbewahrte, waren sichtbar zusammengeschmolzen.

Die Schatulle neben dem steinernen Thronsitz auf der obersten Treppe enthielt noch drei Manja-Augen. Die rubinroten, faustgroßen Gebilde standen zuletzt Rani, Arson und Danielle zur Verfügung, um ihnen einen gewissen Schutz vor dämonischen Aktivitäten zu geben.

Verschwunden waren der Trank der Siaris, die Dämonenmaske, Velenas Armreif und das Schwert des Toten Gottes. Mit diesen Dingen waren Björn und Carminia aufgebrochen, um Rha-Ta-N'my zu suchen.

Als letzte Utensilien gab es in der Geisterhöhle noch einen magischen Stab und einen Schlüssel zum Reich Komestos II., der in einer anderen Dimension residierte. In einer Wandnische rechts neben dem Thron, in dessen Sockel der Name BJÖRN HELLMARK eingemeißelt war, lagen die dreizehn Umschläge, die Hellmark nach und nach geöffnet hatte. Obenauf befand sich die letzte Nachricht.

Rani, Arson und Danielle lasen die 13. Botschaft Ak Nafuurs aufmerksam durch, in der Hoffnung, vielleicht auf eine Stelle zu stoßen, an der sie nachhaken konnten. Ak Nafuur, der als ehemaliger Molochos Einblick in die Strategie und Absichten der Mächtigen im Reich der Finsternis hatte, gab Hellmark in seinem Schreiben genaue Hinweise für sein Vorgehen. Dass diese letzte Botschaft der maßgebliche Weg in die Falle gewesen war, in die Hellmark und Carminia Brado tappten, konnte niemand auf Marlos ahnen.

Doch ein Ereignis, auf das sie in diesen Minuten aufmerksam gemacht wurden, ließ sie misstrauisch werden.

»Rani! Arson! Schnell!« Das war Jims Stimme.

Pepe weilte zurzeit nicht auf der Insel. Er hielt sich im fernen Stonehenge auf. Dort waren Carminia und Björn verschwunden, und Pepe war momentan an der Reihe, die Umgebung und die rätselhaften Steine im Auge zu behalten. Jim, der Guuf, stürzte in die Geisterhöhle. Er war ganz außer Atem.

Mahay ging dem Jungen mit dem kugelrunden Kopf, auf dem ein hornartiger Kamm bis tief in den Nacken wuchs, entgegen. »Was ist denn jetzt passiert? Du bist ja ganz aufgeregt.«

»Das wärst du auch, Rani, wenn du gesehen hättest was ich gesehen habe!«

»Und was hast du gesehen?« Unwillkürlich schlug Mahays Herz schneller. »Carminia? Björn? Sie sind zurück?« Das war sein erster Gedanke.

Jim sah ihn traurig an. »Da hätte ich ganz anders geschrien, das kannst du mir glauben. Da ist etwas Merkwürdiges passiert. Das Grab Ak Nafuurs – ist in sich zusammengesunken.«

Jim war zu manchem Scherz aufgelegt, doch dass er sich mit einer derartigen Behauptung einen Spaß erlaubte, war kaum anzunehmen.

Rani, Arson und Danielle sahen sich nur an. Dann folgten sie Jim nach draußen und liefen zum Grab, das an exponierter Stelle auf einem sanften Hügel in Blickrichtung des offenen Meeres lag.

Der Grabhügel war tatsächlich eingesunken. Aber Ak Nafuur war erst vor wenigen Wochen beigesetzt worden!

»Der Sarg kann in dieser Zeit unmöglich verfault sein, so dass vielleicht darauf das Absinken zurückzuführen ist«, murmelte Danielle und sprach damit unwillkürlich auch das aus, was die anderen dachten.

»Nein, das glaube ich auch nicht«, bemerkte Mahay. »Aber einen Grund muss es haben. Wir sehen nach. Arson, wir beide werden das Grab öffnen.«

»Warum diese Mühe?«, fragte da eine Stimme hinter ihnen.

Sie fuhren zusammen, als hätte ein Peitschenschlag sie getroffen. Es war Björn Hellmarks Stimme!

Jim verdrehte seine großen, kugelrunden Augen. Er sah den Sprecher zuerst. Der schwebte über den Köpfen der Gruppe, die sich am schlichten, blumengeschmückten Grab Ak Nafuurs versammelt hatte.

Das Wesen war etwa so groß wie ein Rabe und hatte sowohl etwas Vogelartiges, etwas Schildkrötenartiges und etwas Menschliches an sich. Es besaß zwei kleine Beine, zwei Arme und einen Körper, an dem zusätzlich zwei zarte, regenbogenfarbene Flügel wuchsen. Mit der eleganten Leichtigkeit eines Schmetterlings hielt er sich in der Luft.

Alles andere an ihm aber war weniger schmetterlingshaft. Seine Augen waren dick, kugelrund und quollen förmlich aus den Höhlen. Auf dem Kopf waren elf dunkle Noppen zu zählen. Er konnte sie einzeln und im Verband vorschieben wie dünne Antennen. Mit ihnen konnte Whiss – so hieß der kleine Kerl – starke parapsychische Kräfte senden, die in vielen Aktivitäten wirksam wurden. Was er alles konnte, schien nicht einmal er genau zu wissen. Seine Psi Kräfte waren ein erstaunliches Talent. Aber er verfügte noch über ein anderes. Er konnte jedes Geräusch und jede Stimme imitieren.

Zu allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten bediente er sich eines anderen Organs. Selten kam es vor, dass er Björn Hellmarks Stimme benutzte. Vor dem Herrn von Marlos schien der freche Kerl einen gewissen Respekt zu haben. Doch in dieser Minute war er so gut aufgelegt, dass er sich Hellmarks Stimme bediente.

Er redete jedoch nicht im gleichen Tonfall weiter, als er die betroffenen Gesichter sah, die sich ihm zuwandten. »Stimmt etwas nicht?«, fragte er ernst und mit einer neutralen Stimme, die keiner von ihnen kannte. Er landete mit elegantem Schwung auf der breiten Schulter seines Freundes Rani Mahay.

»Es stimmt insofern etwas nicht, dass du dich der Stimme einer Person bedient hast, die sich eigentlich nicht auf Marlos aufhalten kann und deren Rückkehr wir sehnlichst erwarten«, erklärte der Inder. Durch ihn erfuhr Whiss auch, dass Hellmark auf dem dreizehnten Weg in die Dimension des Grauens verschollen ging.

»Davon habe ich gar nichts mitbekommen«, sagte er verärgert. »Möchte bloß wissen, warum mir keiner etwas gesagt hat.«

»Wäre wohl schwierig gewesen, mein Lieber, du warst ja tagelang verschwunden, nachdem du Carminia mit einem Federkleid beglückt hast. Danach kehrtest du kurz zurück und hast ihre Hautoberfläche wieder in den ursprünglichen Zustand zurückversetzt.«

Jeder, der zu dieser Zeit auf Marlos weilte, hatte es erlebt. Björn Hellmark war nach einer erfolgreichen Expedition in das andersdimensionierte Lemuria und einem erfolgreichen Kampf gegen die dortigen Seelenfresser nach Marlos zurückgekommen. Tayaa, die Vogelfrau, hatte ihn aus einer prekären Lage befreit, und er war voll des Lobes für sie. Das weckte Carminias Eifersucht. Und sie wandte sich an Whiss mit der Bitte, jene Kräfte auf sie wirken zu lassen, die Materie umformend wirkten. Das war für ihn eine Kleinigkeit. Aus Haut wurden Federn. Und lächelnd ging die gefiederte Carminia zu ihrem geliebten Björn, da er doch so sehr für gefiederte Weiblichkeit zu haben sei.

»Nachdem du alles rückgängig gemacht hattest, bist du wieder untergetaucht. Möchte bloß wissen, worauf deine hektische Reiselust mit einem Mal wieder zurückzuführen ist«, beschwerte sich Rani Mahay. »Man sieht dich nur noch etappenweise.«

Whiss zuckte die Achseln und seufzte. »Ich weiß es selbst nicht. Es herrscht eine unerklärliche Unruhe in mir.«

Rani Mahays Augen verengten sich. »Du wirst doch nicht wieder ein Ei ausbrüten?«

»Nein, nein«, beeilte sich der Kleine zu antworten. »Das wüsste ich. So schnell geht's nun auch wieder nicht.«

Der Koloss von Bhutan atmete auf. »Na, Gott sei Dank! Wenn die Vermehrung so rasch stattfände, hätten wir auf unserer kleinen Insel bald keinen Platz mehr und vor lauter Whissen und Blobb-Blobbs nichts mehr zu Lachen.«

Whiss beugte sich etwas nach vorn und fummelte mit seinen kleinen Armen vor Ranis Augen herum. »Du vergleichst mich mit einem Kaninchen«, maulte er. »Das ist unfair! Wir hoppeln nicht. Aber ich wollte mit dir weder über Kaninchen, über Brutprobleme, noch über Eier reden und auch nicht über meine ausgedehnten Reisen kreuz und quer durch Marlos. Gerade das Letztere wäre sicher auch interessant für dich. Marlos ist eine großartige Insel.«

»Damit sagst du nichts Neues.«

»Aber keiner von euch hatte je Zeit, sie ganz zu durchwandern und wirklich kennen zu lernen.«

»Das stimmt allerdings«, musste Rani zugeben. »Irgendetwas hat uns stets davon abgehalten, dies zu tun. Carminia und die beiden Jungen allerdings sind schon tief ins Innere der Insel vorgedrungen.«

»Aber so richtig aus der Höhe hat sie noch keiner gesehen.«

»Vielleicht Björn. Mit Macabros. Er kann ihn überall hinversetzen, wie du weißt. Also könnte er auch über der Insel geschwebt haben.«

»Sie ist rund wie ein Kuchen, allerdings ein ausgefranster Kuchen«, verbesserte er sich. »Es gibt zum Teil tiefe Einschnitte und auf der Nordseite existieren richtige Steilhänge und ...« Er winkte plötzlich ab. »Aber es gibt Wichtigeres. Ihr wollt das Grab öffnen, hab ich beiläufig mitbekommen. Mit viel Kraft und Aufwand.«

»Das liegt in der Natur der Sache, Whiss.«

»Muss nicht sein. Schließlich bin ich wieder da. – Ihr meint es wirklich ernst, dass ...«

Sie nickten fast alle gleichzeitig und wussten, auf welche Zeit sparende Weise er eingreifen würde. Und sie waren alle damit einverstanden. Einer der elf Noppen auf seinem sonst kahlen Schädel glitt lautlos in die Höhe und zitterte leicht wie ein besonders sensibler Fühler. Der bereits fest gewordene Boden, der die Gruft bedeckte, schien von innen heraus aufgelockert zu werden. Die Sandkörner setzten sich in Bewegung wie Ameisen, die plötzlich aus betäubendem Schlaf erwachten.

Es ging alles sehr schnell. Unsichtbare Hände schienen die tief eingesackte Grube aufzugraben. Links und rechts entstanden zwei fast gleichmäßig hohe Hügel. Das Loch zwischen ihnen wurde tiefer. Dann war die einfache Holzkiste zu sehen, in die vor wenigen Wochen der ehemalige Schwarze Priester und spätere Dämonenfürst Molochos gelegt worden war, zu einem Zeitpunkt, als er wieder zurückgekehrt war zu den Menschen, denen er zu helfen beabsichtigte.

Die Kiste war zusammengebrochen. Sie war flach, zwei Bretter dick, die jemand aufeinandergelegt zu haben schien.

Die an der Graböffnung teilnahmen, glaubten ihren Augen nicht trauen zu können. Unwillkürlich drängte sich den Beobachtern der Gedanke auf, dass die schwere auf dem Deckel lastende Erde die Kiste schließlich zusammengedrückt hatte. Aber der Tote hätte als Widerstand fungieren müssen. Deckel und Boden der auf Marlos zusammengezimmerten Totenkiste hätten in diesem Fall nicht dicht aufeinander liegen dürfen.

Schon dieser Eindruck weckte den Verdacht, dass Ak Nafuur, der zu ihrer aller Freund geworden war, sich nicht mehr in dem Sarg befand. Wenige Minuten später wurde aus dem Verdacht Gewissheit. Der Sarg war leer. Aber das widersprach allen Gesetzen. Von außen war an das Grab nicht Hand angelegt worden. Hier auf Marlos konnte niemand Interesse daran haben, die Leiche verschwinden zu lassen.

Danielle war die Erste, die das eingetretene Schweigen brach. »Es ist genauso wie mit dem einen Manja-Auge«, sagte sie leise. »Carminia entdeckte zuerst, dass eines sich aufzulösen begann. Vielleicht ist das gleiche mit Ak Nafuur passiert.«

Rani Mahay kratzte sich im Nacken. »Die Vergleiche passen nicht gut zusammen, Danielle. Aber seit Apokalyptas Versuch, mit dem veränderten Gigantenauge eines Manja Einfluss auf Leib und Leben Björns zu nehmen, ist wohl nichts mehr unmöglich.«

Das leere Grab warf viele Fragen auf. Der Hügel war lautlos und blitzartig in sich zusammengesunken, wusste Jim zu berichten. Aber in der Form, wie sie die Bretter der Totenkiste vorgefunden hatten, brach ein Sarg nicht ein.

»Ich habe einen anderen Verdacht«, meldete sich Arson, der Mann mit der Silberhaut, nachdem er die ganze Zeit über ernst nachgedacht hatte. »Es sieht aus wie ein Zeichen.«

»Ein Zeichen?«, fragten Rani und Danielle wie aus einem Mund. Whiss war erstaunlich schweigsam.

»Jemand will uns damit etwas zu verstehen geben. Fragt sich nur, wer. Björn? Carminia? Oder Ak Nafuur, dessen sterbliche Überreste auf mysteriöse Weise von einer Insel verschwunden sind, die ein Bollwerk darstellt gegen die Mächte des Bösen und der Gewalt? Es ist ein Zeichen, aber wir sind noch nicht imstande, es zu deuten. Vielleicht kommt ein zweites Signal hinzu, mit dem wir mehr anfangen können.«

Sein Geist erwachte, und es war wie ein Emportauchen aus der Finsternis. Ich bin Björn Hellmark, sagte er sich, doch im gleichen Moment, als der Gedanke an seine Identität mit erwachte, musste er schon wieder revidieren.

Nein! Ich bin Macabros, erfüllt mit dem Geist Hellmarks. Mein Körper aus Fleisch und Blut ist gefangen im Schreckenszentrum Rha-Ta-N'mys, in das Molochos, der Dämonenfürst, sich eingenistet hat. Noch ist Leben in diesem gefangenen Körper, auch wenn ich es ... wenn ich ihn nicht mehr spüre. Molochos hat ewige Gefangenschaft prophezeit. Auf der Schwelle zwischen Wachsein und Träumen soll mein Geist schweben. Ich weiß nicht, ob es stimmt, denn ich habe den Kontakt zu meinem Körper aus Fleisch und Blut verloren, ich weiß nicht, was mit ihm geschieht und ob es ihn noch gibt.

Aber es war etwas geschehen, das anders war als sonst. Der Doppelkörper existierte noch immer. Wie lange schon? Macabros kam es vor wie eine Ewigkeit, seitdem ihn die sich überstürzenden Ereignisse in Rha-Ta-N'mys Schreckenszentrum in das Nichts katapultiert hatten. Obwohl keine direkte Verbindung zu seinem Körper aus Fleisch und Blut mehr existierte, war er trotzdem präsent und konnte sich halten.

Er war noch immer überzeugt davon, dass seine rätselhafte Reise ins Ungewisse fortdauerte, als er bemerkte, dass er auf festem Boden lag und sich nichts mehr bewegte.

Macabros erhob sich augenblicklich.

Wo war er angekommen? Wie lange hatte seine Reise durch das Nichts gedauert? Auf beide Fragen gab es vorerst keine Antwort.

Doch da waren Geräusche. Ein fernes Murmeln und Klirren erregte seine Aufmerksamkeit.

Macabros warf einen Blick in die Runde, um sich zunächst mit seiner neuen Umgebung vertraut zu machen. Das Gelände war steppenartig, hügelig. Es gab einzelne, sehr dünne und zerbrechlich aussehende Bäume, hier und da auch Baumgruppen, direkt vor ihm einen Wald. Von dorther drangen die Geräusche.

Zwischen den dicht stehenden Stämmen herrschte gespenstisches Dunkel.

Die Geräusche hörten sich manchmal so furchtbar an, dass sie einen anderen uneingeweihten Zeugen in dieser unbekannten Einsamkeit zur Flucht veranlasst hätten. Die Umgebung wirkte nicht unheimlich. Und doch haftete ihr etwas an, das eine gewisse Furcht verbreitete. Bedrohung lag in der Luft, und dieses Gefühl wurde in erster Linie durch die unerklärlichen Geräusche ausgelöst. Sie hörten sich klagend und qualvoll an.

Macabros konzentrierte sich auf die dunkle Waldzone und versuchte sich mit einem Gedankensprung in die weiter innen liegenden Regionen zu versetzen.

Doch das funktionierte nicht. Er bewegte sich um keinen Millimeter vom Fleck. Er konnte sich nicht mehr versetzen! Was stets ohne Mühe möglich gewesen war, wurde nun zum unüberwindlichen Hindernis.

Macabros reagierte anders als üblich.

Ob es damit zusammenhing, dass es zwischen Original- und Doppelkörper keine direkte Verbindung mehr gab? Eine andere Erklärung für dieses Phänomen hatte er zunächst nicht. Er, der gewohnt war, sich gedankenschnell von einem Ort zum anderen zu begeben, betrat nun zu Fuß die Schattenzone.

Er stellte fest, dass die Bäume am Rand des Waldes dünner waren und weniger Zweige und Äste aufwiesen als die weiter innen liegenden. Der Wald wurde dichter und dunkler.

Macabros näherte sich den klagenden, unheilvoll klingenden Geräuschen. Er nahm schwachen Lichtschein wahr, der von Fackeln oder einem anderen offenen Feuer stammte.

Seine Aufmerksamkeit war geweckt, und er wollte alles daransetzen zu erfahren, wo er sich befand und was für eine Welt dies war. Schon jetzt glaubte er mit hundertprozentiger Sicherheit annehmen zu können, dass seine Anwesenheit hier und seine Existenz überhaupt ein Unglücksfall war, etwas, das Molochos nicht einkalkuliert hatte.

Ihm war es darauf angekommen, seinen Todfeind Björn Hellmark auf ewig zu ketten. Doch auch er, Macabros, war ein Teil Hellmarks. Denn sein Geist, seine Psyche lebten in Macabros, jenem Körper, über den er außerdem verfügte. Zwar war es nicht mehr wie bisher, dass die Psyche des Original- und des Doppelkörpers miteinander kommunizierten. Hellmarks Geist war verbunden mit Macabros, und so erlebte er nur das, was Macabros' Sinnesorgane aufnahmen. Er konnte das, was er registrierte, nicht auf geistigem Weg weitergeben.

Dies alles war ihm bewusst. Es war im Prinzip alles so wie immer – und doch war es anders. Deshalb, weil er von seinem Schicksal im Schreckenszentrum wusste und nichts dagegen tun konnte.

Da es ihn aber gab, war er erfüllt von der Hoffnung, doch einen Weg zu finden, der ihn wieder mit seinem Körper aus Fleisch und Blut vereinigte. Die Gemeinsamkeit war das wahre Leben, und er nahm sich in diesen Sekunden vor, alles daranzusetzen, das Beste aus dem Zwischenfall zu machen, dass es Molochos nicht gelungen war, seinen Doppelkörper unter Kontrolle zu bringen.

Er tauchte weiter ein in den dunklen Wald und näherte sich dem unruhigen Lichtschein.

Und dann war er den Geräuschen ganz nahe. Ein monotoner Singsang erfüllte die Luft. Er hörte sich an, als würden Eingeborene geheimnisvolle Lieder singen.

Jenseits der dicht stehenden Stämme lag ein großer freier Platz, auf dem sich seltsames Geschehen abspielte. Halb nackte, braunhäutige und grell bemalte Gestalten bewegten sich nach den Klängen dumpfer Trommeln und scheppernder Schilde, stampften den Boden und umtanzten kreisförmig eine riesige Götzenstatue. Sie war aus dunkelbraunem Stein und wirkte sehr alt. An vielen Stellen war sie abgeschlagen oder eingekerbt, der Stein wirkte morsch und brüchig.

Die Statue stellte ein Mittelding zwischen Mensch und dämonenfratzigem Ungetüm dar. Es wies zahlreiche rätselhafte Auswüchse auf, bei denen Macabros auf den ersten Blick nicht wusste, ob es sich um zusätzliche Glieder handelte oder um Stellen, die vom Schöpfer des Gebildes nicht vollständig ausgearbeitet wurden.

Der steinerne Koloss hatte eine Höhe von schätzungsweise fünfzehn Metern und reichte damit knapp unterhalb der Wipfel. Die Eingeborenen besaßen menschliche Natur und waren im Durchschnitt einen Meter sechzig groß.

Die steinerne Statue bildete im unteren Drittel einen Brückenbogen, so dass es aussah, als hätte der seltsame Götze die Beine gespreizt. Bei genauerem Hinsehen entdeckte Macabros auch, dass die sich bewegenden Eingeborenen in ihren Tanzfiguren versuchten, dem steinernen Koloss ähnlich zu werden. Sie winkelten die Arme an, stemmten sie in die Hüften und spreizten die Beine.

Diese gespreizten Beine des Steinernen waren der Eingang in eine dunkle, unbekannte Welt. Das war keine Brücke, wie Macabros im ersten Moment geglaubt hatte, sondern ein Durchlass, ein gähnender Schlund, dessen grauenhafte Bedeutung ihm schnell klar wurde.

Als der Kreis der tanzenden, zuckenden und singenden Primitiven sich öffnete, konnte er das ganze Feld vor dem düsteren Einlass in den steinernen Riesengötzen überblicken. Dort lagen Skelette. Viele waren noch erhalten, andere verrottet und zerschmettert, als wären sie unter Schwerthieben niedergemacht worden.

Im flackernden Licht der Pechfackeln, die von einigen Tänzern geschwungen wurden, war aber noch mehr zu sehen.

Auf dem Boden schimmerten dunkle Lachen und zwei große Behälter, die an den Innenseiten der gespreizten Steinbeine des Götzen hingen. Sie waren mit einer dunklen Flüssigkeit gefüllt. An den Rinnsalen, die übergeschwappt waren, ließ sich unschwer erkennen, dass es sich um Blut handelte.

Da wurden Menschen geopfert!

Sein Verdacht wurde im nächsten Moment bestätigt. Aus der Dunkelheit auf der anderen Seite des Waldes kam eine Gruppe von grell geschminkten Eingeborenen, die einen Gefangenen mitschleppten.

Der Mann war von kräftiger Statur, dunkelhaarig und hatte ein helles Gesicht. Die Haare waren gelockt wie bei einem Römer, und er trug eine matt glänzende Rüstung, die seine Brust bedeckte. Der Rock reichte eine Handbreit oberhalb der Knie, die Arme waren frei, und in der metallenen Rüstung gab es eine Vorrichtung zum Tragen eines Schwertes. Doch eine Waffe besaß der Fremde nicht mehr.

Er lief geduckt, die Hände hatte man ihm auf den Rücken gebunden.

Der Kreis der Tänzer war weit geöffnet, so dass der Platz vor dem Eingang zwischen den steinernen Beinen frei war. Aus dem Dunkel neben den Behältern, in denen Macabros das aufgefangene Blut der Opfer vermutete, traten Gestalten. Es waren ebenfalls Eingeborene. Aber sie überragten die Tänzer um mindestens zwei Köpfe. Ihre Haut war auffallend heller. Sie trugen schwarze, bis zu den Knöcheln reichende Gewänder mit weiten Ärmeln. Rings um den Hals und an den Ärmelrändern waren geheimnisvolle Zeichen gestickt, die rot leuchteten wie Glühfäden. Die Männer hatten kahle Köpfe. Auf ihren Glatzen prangten ebenfalls rot glühende Symbole von offensichtlich magischer Bedeutung.

Macabros stand noch immer in seinem Versteck, niemand hatte ihn bisher bemerkt.

Das Opfer wurde bis vor den düsteren Eingang zwischen den steinernen Beinen geschleift. Dann stieß man es mit harter Hand zu Boden.

Der Mann atmete schwer. Er hob den Kopf und starrte auf die drei in den schwarzen Gewändern steckenden Priester, die ihn mit kalt glitzernden Augen musterten.

Der Kreis der Eingeborenen war noch immer geöffnet.

Die Sänger verstummten zuerst, dann folgten die Trommler und schließlich diejenigen, die auf Metallschilder, eiserne Stäbe und Kugeln geschlagen hatten, um den Lärm zu verstärken.

Eine unheimliche Stille kehrte plötzlich ein. Selbst die Natur ringsum schien den Atem anzuhalten. Kein Lüftchen regte sich in den Blättern, es war weder das Summen eines Insekts, noch das Zwitschern eines Vogels, noch sonst ein Laut von einem Tier zu hören.

Dann geschah etwas Erstaunliches.

Zwei der drei Priester lösten sich noch weiter aus der Dunkelzone und näherten sich dem am Boden liegenden Opfer.

Aber – sie liefen nicht und bewegten nicht ihre Beine. Sie schwebten, als ob sich ein unsichtbares Feld unter ihren Füßen befände. Die Schwerkraft war bedeutungslos für sie!

Macabros glaubte, er könne seinen Sinnen nicht trauen. War er auf einen fremden Stern geschleudert worden? Waren die Menschen gar keine Menschen, sondern ihnen nur ähnlich?

Aber dann fielen Worte.

»Erhebe dich!«, wurde der Mann mit dem Brustpanzer aufgefordert. Einer der schwebenden Priester sprach.

Macabros verstand jedes Wort. Es war die Sprache des alten Xantilon! Die Art des Dialektes ließ darauf schließen, dass sie älter war als die Umgangssprache, die gesprochen wurde, als die legendäre Insel den Höhepunkt ihrer Entwicklung bereits überwunden hatte und kurz vor dem Untergang stand.

In Macabros' Brust schlug kein Herz. Dennoch packte ihn Erregung, ausgelöst durch die analysierende und Erkenntnis sammelnde Psyche Hellmarks, die diesen ätherischen Körper mit jeder Faser erfüllte.

Er hatte einen Verdacht, der ihn nicht mehr losließ. Der Weg durch Raum und Zeit schien ihn – ob bewusst gesteuert oder durch Zufall – an einen Ort geführt zu haben, der in seinem Leben eine besondere Rolle spielte. Xantilon war die Wiege Molochos', des Obersten der Schwarzen Priester. Bevor er jedoch geboren wurde, gingen gewisse okkulte und dämonische Aktivitäten voraus, auf denen die Kaste der Schwarzen Priester aufbauen konnte.

Wie dies alles im Einzelnen vor sich gegangen war, wusste er nicht.

Er hörte zu, was der Priester weiter sagte. Und an der Art des Ausdrucks glaubte er zu erkennen, dass er mit seinen Vermutungen nicht allzu weit von der Wirklichkeit entfernt war. Die Sprache war altmodisch, verschnörkelt. Einzelne Ausdrücke waren ihm völlig fremd, und er verstand sie nur im Zusammenhang mit anderem Gesprochenen.

»... du bist der Letzte. Du hast den Kampf verloren. Es ist dir weder gelungen, uns zu besiegen, noch zu fliehen. Erkenne deine Schwäche!«

»Ich denke nicht daran!«, stieß der Mann am Boden erbittert hervor. »Selbst wenn ihr mich tötet, wird es euch nicht gelingen, mein Volk zu unterjochen. Es ist auf der Flucht. Ihr wisst nicht, wohin es sich gewandt hat. Ich weiß es selbst nicht. Aber es wird die Stunde kommen, da sich die sammeln, die jetzt in alle Himmelsrichtungen geflohen sind. Und man wird einen Weg finden, eure unheimliche Macht, die nicht von dieser Welt ist, einzudämmen. Wo die vier Arme des Ondur sich teilen, wird es euch und eure Magie dann nicht mehr geben.«

Der gefesselte Mann am Boden hatte Mut, dies angesichts der Ausweglosigkeit seiner Lage noch zu behaupten. Er war geschwächt, aber sein Kampfgeist schien ihn dennoch nicht verlassen zu haben.

»Du sprichst große Worte!«, entgegnete der Priester. »Es ist das Einzige, was dir noch geblieben ist. Keiner deiner Begleiter ist mehr am Leben. Genügt dir diese Demonstration nicht, Bolonophom? Yanak, der Gott der Vergangenheit, hat die Opfer angenommen und uns die Kraft der alten Götter verliehen. Wie du siehst, bewege ich nicht meine Beine, schreite ich nicht über den Boden – und dennoch kann ich mich dir nähern. Und ich bin auserkoren, dir als Führer der Gruppe, die du in den Tod gelenkt hast, mit dem Schwert Yanaks den Kopf abzuschlagen, damit sich dein Blut mit dem Lebenssaft derjenigen vermischt, die dir vorangegangen sind. Strecke die Hand aus.«

Was dann innerhalb der nächsten zehn Sekunden geschah, spielte sich mit einer solchen Geschwindigkeit ab, dass das Auge den Ablauf kaum verfolgen konnte.

Der schwebende Priester hielt plötzlich wie durch Zauberei ein leuchtendes Schwert zwischen den Fingern. Die Klinge war leicht gekrümmt und außergewöhnlich breit. Die gleichen glühenden Symbole wie auf Gewand und Glatze waren auf der Klinge zu erkennen.

Der Priester umfasste das Schwert mit beiden Händen.

Schon zu diesem Zeitpunkt war für Macabros die Entscheidung gefallen. »Zurück!« Er rief nur dieses eine Wort mit Stentorstimme. Sein Ruf hallte durch die Nacht. Macabros preschte nach vorn und überquerte mit vier, fünf schnellen Schritten den freien Platz zwischen sich und den Eingeborenen.

Er hatte das Überraschungsmoment voll auf seiner Seite.

Der Mann mit dem blonden Haar und dem sonnengebräunten Gesicht tauchte auf wie ein Geist.

Der schwebende Priester mit dem Schwert stand unbeweglich da. Nur einige Sekunden. Aber sie reichten Macabros. Er warf sich dem Mann entgegen, der sich in dieser Sekunde vom Boden aufrichtete und seinem Plan quasi entgegenkam.

Macabros konnte den Fremden packen und herumreißen.

Wäre er eine zehntel Sekunde später gekommen, wäre Bolonophoms Kopf mit einem einzigen Hieb des Henkers abgetrennt worden. So aber traf die Attacke Macabros. Die breite Klinge hackte in seine linke Schulter. Macabros wankte nicht. Aus dem Spalt in seinem Arm quoll kein Blutstropfen.

Hunderte dunkler, vor Schrecken und Erstaunen weit aufgerissener Augen bekamen das außergewöhnliche Schauspiel mit. Ein Mensch aus Fleisch und Blut, ein Normalsterblicher, wäre von diesem kraftvoll geführten Hieb zu Boden geschmettert worden.

Der Priester zog sein Schwert zurück. Die ätherische, feinstoffliche Substanz schloss sich augenblicklich wieder. Da blieb keine Wunde zurück, da wurde der Arm nicht abgetrennt.

Über die schmalen Lippen des schwarz gewandeten, schwebenden Priesters drang erschrecktes Stöhnen.

Macabros riss den Gefesselten in die Höhe. Er selbst ging kein Risiko ein, bei einer Kampfsituation Leib und Leben zu verlieren. Er hätte sich gefahrlos ins Gewühl stürzen können. Kein Pfeil, kein Speer, kein Dolch und kein Schwert hätten ihn zu fällen vermocht.

Aber da war der schwarz gelockte Mann mit dem Brustpanzer. Der Fremde schien der letzte Überlebende einer mehrere Mann starken Gruppe, die offenbar in einem Hinterhalt der Eingeborenen niedergemacht worden war. Das frische Blut auf dem Boden und in den steinernen Anhängseln der Götzenstatue zeugte davon.

Bolonophom hatte keine Chance, wenn Pfeile und Speere ihn trafen.

Macabros rannte, als ob es um sein Leben ging. Er war voller Kraft und Elan. Einen Moment taumelte der Fremde neben ihm her, und Macabros wurde klar, dass sie es so nicht schaffen würden. Kurzerhand nahm er den Gefesselten auf die Arme und schleppte ihn in die Dunkelheit.

Das alles spielte sich innerhalb weniger Sekunden ab.

»Ihm nach!« Es war die Stimme des Priesters, die durch die Nacht hallte.

Da erst schien wieder Leben in die braunen, grell bemalten Gestalten zu kommen. Sie schrien auf, stürzten wie ein Mann los und brachen durch die Büsche. Äste und Zweige knackten, Stimmen hallten durch die Nacht. Macabros warf nicht einen Blick zurück. Ihm kam es darauf an, keine Zeit zu verlieren. Er wollte seinen Vorsprung so weit wie möglich ausbauen.

Er stürmte in die Dunkelheit, ohne zu wissen, wohin es ging. Außer den Geräuschen, die durch die Verfolger verursacht wurden, vernahm er ständiges, monotones Rauschen. Es musste ein Fluss in der Nähe sein. Bolonophom hatte den Ondur erwähnt. Und Macabros wusste, dass es den Ondur im Nordwesten, unweit der violetten Berge zu Molochos' Nordreich auf dem Xantilon-Kontinent gab.

Wo die vier Arme sich teilen, kamen ihm Bolonophoms Worte wieder in den Sinn. Der Ondur verzweigte sich in vier Läufe, um einzumünden in den großen Ozean, in dem die Unerfreulichen Inseln lagen.

Er wusste um die geographische Gestalt Xantilons insofern Bescheid, dass er schon einmal auf der Insel gelebt hatte. Und dies in zweifachem Sinn. In seinem ersten Leben als Kaphoon wurde er auf Xantilon geboren und ging in die Geschichte der Insel als heldenhafter Kämpfer für Recht und Gesetz ein. Ein andermal wurde er als Björn Hellmark in die Vergangenheit verschlagen. Er weilte dort zu einem Zeitpunkt, als Xantilons Endtage angebrochen waren. Aber die Zeit, in die er jetzt mit seinem Doppelkörper geraten war, schien noch vor diesen Ereignissen zu liegen. Vorausgesetzt, dass es sich wirklich um Xantilon handelte, wie er vermutete, und die Bilder und Ereignisse nicht auf äußere Einflüsse zurückgingen. Dies alles konnte eine Halluzination sein, ausgelöst durch seine überstrapazierten Nerven – oder unmittelbar durch Molochos, der ihn in die Falle gelockt hatte.

Vielleicht träumte er nur auf der Grenze zum ewigen Schlaf, in den Molochos Carminia Brado und ihn verbannt hatte.

Über all diese Dinge und Zusammenhänge wusste er noch nichts. Und solange er sich mit Vermutungen herumschlug, hielt er es für richtig, das Gesetz des Handelns nicht aus der Hand zu geben.

»Weiter rechts«, vernahm er da die Stimme des Mannes, den er auf den Armen trug. »Tiefer hinein in die Dunkelheit! Wir müssen es bis zum Ondur schaffen. Dort ist die Gefahr gering, dass sie uns noch finden. Sie fürchten Aka La Yana, den Ort der fremden Götter ... Aber den musst du doch kennen?« Er sagte es mit einer Selbstverständlichkeit, die Macabros überraschte.

»Ich kenne ihn nicht«, erwiderte er daraufhin wahrheitsgemäß. »Ich habe nie von einem solchen Ort gehört.«

»Aber du bist ein Gott«, sagte Bolonophom schwach.

»Nein.«

»Dann bist du ein Halbgott.«

»Ich bin ein Mensch wie du.«

»Unmöglich!«, entfuhr es da dem schwarz Gelockten. »Ich habe alles gesehen. Mit dem Schwert, es hat dich nicht einmal verwundet. Nur ein Gott kann den Gegenkräften widerstehen.«

»Es ist alles ganz anders, als du denkst. Ich werde es dir später erzählen, wenn wir davonkommen.«

Bolonophom lachte leise. »Ich zweifle keine Sekunde an unserem Erfolg, Fremder ohne Namen. In deiner Obhut fühle ich mich vollkommen sicher. Nichts und niemand wird uns aufhalten können.«

Er behielt Recht.

Macabros musste einsehen, dass Bolonophom sich hier auskannte wie in seiner Hosentasche. Er war zwar außerstande, die Flucht noch aus eigener Kraft durchzuführen, aber er war seinem Retter eine wertvolle Hilfe. Sicher lotste er ihn durch die Dunkelheit. Er kannte Fallen der Eingeborenen und wies Macabros auf die tückischen Sümpfe hin, die dieser daraufhin umgehen konnte.

Das Rauschen kam näher, der Wald wurde lichter. Aber die Dunkelheit nahm zu.

»Lass mich herunter«, bat Bolonophom. »Ich glaube, dass ich aus eigener Kraft weitergehen kann. Sie haben es aufgegeben, sie sind nicht mehr hinter uns her.«

Lauschend verharrte Macabros in der Bewegung. Alles hinter ihnen war still. Es knackten keine Zweige, es raschelte nicht im Gebüsch. Die Verfolger hatten offensichtlich ihre Spur verloren – oder sie mieden diesen Ort mit der seltsamen Bezeichnung Aka La Yana, was wörtlich übersetzt Ort der fremden Götter bedeutete. Was war damit gemeint?