Macabros 048: Glasdämonen - Dan Shocker - E-Book

Macabros 048: Glasdämonen E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Jagd auf den Horror-Götzen Macabros und Harry Carson vernehmen die letzten Worte eines Sterbenden: Das singende Fahsaals liegt auf dem Boden eines Sees, der rot ist wie Blut, und in dem die Schreie derer gefangen sind, die versucht haben, es zu finden … doch dort wartet auch der Horror-Götze, der verhindert, dass ein Sterblicher es jemals in seinen Besitz bringt! Eine entscheidende Wende scheint sich anzubahnen, doch es ist eine Wende zu ihrem Unglück! Der Horror-Götze hat die Macht - auch Macabros auszulöschen, denn Rha-Ta-N my ist mit ihm! Die gläsernen Dämonen von Etak Der Weg in das geheimnisvolle Land der drei Zauberinnen nimmt für Macabros unerwartet einen anderen Verlauf. Er weiß bis zur Stunde immer noch nicht, was das singende Fahsaals eigentlich ist … und wenn die Vergangenheitsbilder der drei steinernen Zauberinnen stimmen, dann soll sich am Ausgangspunkt seiner Abenteuer in Xantilon einiges verändert haben. Macabros muss den Weg nach Etak finden. Dass er dabei von einem unsichtbaren Geschöpf beobachtet wird, weiß er nicht. Gleichzeitig schlägt die Stunde von Whiss, dem Kobold aus der Mikrowelt! Mit der Erkenntnis um das Psi-Gebilde im Zwischenreich bereitet er die Befreiung der im Schreckenszentrum gefangenen Freunde vor … und ahnt nicht, was er damit auslöst!

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DAN SHOCKERS MACABROS

BAND 48

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Fachberatung: Gottfried Marbler

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-748-1

Dan Shockers Macabros Band 48

GLASDÄMONEN

Mystery-Thriller

Jagd auf den Horror-Götzen

von

Dan Shocker

Prolog

Es gab keinen Ausweg mehr. Sie waren verloren. Vor ihnen gähnten unüberbrückbare Abgründe, hinter ihnen lauerten die Ungeheuer, die nur darauf warteten, sie wie Vampire auszusaugen. Die Szene hatte eine frappierende Ähnlichkeit mit einem Albtraum. Aber es war keiner. Die Wirklichkeit hatte sie eingeholt, eine Wirklichkeit, die so grauenhaft war, dass ihr Verstand sich weigerte, sie anzuerkennen. Rani Mahay, der treue Inder, und Danielle de Barteaulieé, die alterslose, hübsche Französin, die Tochter des Comte de Noir, starrten sich an.

»Dies ist mein Triumph! Auch über euch! Die Macht der Finsternis erstarkt. Denn diejenigen, die bisher bereit waren, Leib und Leben für die Idee des Kampfes gegen uns einzusetzen, sind dezimiert. Björn Hellmark, der Herr von Marlos, und Carminia Brado befinden sich in meiner Hand. Nun seid ihr an der Reihe.«

»Noch, Molochos, hast du uns nicht!«, dröhnte Rani Mahays Stimme durch die unwirkliche Welt, einer Dimension, in der im wahrsten Sinn des Wortes Grauen und Wahnsinn zu Hause waren. Denn außer den Ungetümen, die eine seltsame Mischung zwischen riesigem Pilz und Kraken darstellten, waren noch Menschen anwesend.

Doch was für Menschen! Sie waren Mischwesen zwischen Mensch und Tier, und nicht einmal das. Groteske, bizarre Geschöpfe, der kranken Phantasie eines Malers entsprungen, der durch einen Spalt in den Vorhof der Hölle geblickt und Dinge gesehen hatte, die sein Gehirn schließlich nicht verkraften konnte.

Es waren Menschen darunter, die Köpfe wie unheimliche Vögel hatten. Sie waren behaart, hatten Hände und Klauen. Andere hatten schwammige, teigige Gesichter, weiß wie gekalkt, und farbiges Haar. Keiner war mehr richtig Mensch. Rani und Danielle wussten auch weshalb. Molochos, der Fürst der Dämonen, der mit Riesenschritten seine unheimliche Macht ausbaute, hatte ihr Denken und Fühlen verändert. Und dies wiederum bewirkte auch körperliche Veränderungen. In ihrer seltsamen, fremdartigen Bizarrheit haftete diesen Molochos-Anbetern, die ihm völlig verfallen waren, ihm mit Haut und Haaren gehörten, das personifizierte Grauen an.

Nur eine noch war menschlich. Von einer Sinnlichkeit und Schönheit, die berauschte. Das war Madame Fraque. Ihre Jugend und Schönheit verdankte sie dem Dämonenfürsten. Mit ihrem neuen Körper war sie dazu ausersehen, Menschen anzuziehen und ins Verderben zu locken. Wie eine schöne Blüte war sie, der man zu spät ansah, dass sie eine Fleisch fressende Pflanze war und ihr Opfer verschlang.

Mahay wandte den Kopf und blickte den Ungetümen und den monsterhaften Menschen des Molochos' ins Auge. Der Inder und seine Begleiterin standen wie auf einer Insel. Jenseits der Schächte, die schwarz und bedrohlich ins Nichts führten, bildeten die Unheimlichen eine lebende Mauer. Die pilzähnlichen Haustiere Molochos', die hier ihre Heimat hatten, überragten die Menschen um etliches. In den pilzähnlichen Köpfen flackerten bedrohliche, kalt glitzernde Augen, die langen Schleier sahen im Halbdunkel aus wie pralle, satte Fangarme, die ringsum mit Saugnäpfen besetzt waren. Unter dem Pilzkopf selbst waren ebenfalls riesige Löcher und rohrartige Auswüchse zu sehen, aus denen es blubberte und zischte wie aus dem Schornstein einer Lokomotive.

Mahays Worte waren in der unheimlichen Atmosphäre noch nicht verklungen, da konzentrierte der Inder sich auch schon auf die grauenvollen Gestalten. Mahay besaß die Gabe, lebende Geschöpfe geistig zu beeinflussen. Mit dieser Fähigkeit war er lange Jahre im Zirkus aufgetreten und hatte in offener Manege ungezähmte Raubtiere mit seinem Willen bezwungen. Bei Gefahr wendete er diese Gabe auch bei Menschen an. Und erst recht bei derart finsteren Gestalten, die ihnen nun ans Leder wollten.

Er riskierte einen Ausfallversuch und konzentrierte sich auf das größte Pilzmonster. Er wollte, dass die Tentakelschleier durch die Luft peitschten und die Unheimlichen davonfegten wie ein Wirbelsturm. Wenn einige dabei in die endlosen Schächte mit den in galaktische Tiefen führenden Treppen verschwanden, umso besser!

Dann nämlich konnte dies eine Kurzschlussreaktion der Bedrohten hervorrufen. Und diese Handlung würde dann – so jedenfalls hoffte er in seiner Ausweglosigkeit – darin bestehen, dass zumindest einer der auf diese Weise Gereizten auf die Idee kam, das Tor zur anderen Seite der Welt zu öffnen, das für sie noch verschlossen war und weder mit Hilfe der Manja-Augen noch durch Danielles Magie aufgesperrt werden konnte. Nur Charmaine Fraque und ihre Nachtgeister aus dem Zwischenreich besaßen dazu den Schlüssel.

Die andere Seite der Welt – das war gleichbedeutend mit einem Bild, das eine mediale Nebellandschaft zeigte, durch die Charmaine Fraque und die anderen hier herübergekommen waren. Den gleichen Weg hatte auch Danielle heimlich benutzt, die das Verhalten der Personen um Madame Fraque beobachtete. Die Bilder waren die Tore. Sie ließen sich von beiden Seiten öffnen und benutzen.

Und sie befanden sich beide in der Nähe dieser Tore. Sie mussten nur geöffnet werden.

Danielle und Rani wussten, dass sie nur noch diese eine Chance hatten, wollten sie nicht – wie alle anderen – bei einem längeren Aufenthalt in dieser Dimension den Verstand und ihre menschliche Gestalt verlieren.

Nie zuvor in seinem Leben hatte er sich kraftvoller und massiver darauf konzentriert. Einen Moment sah es auch so aus, als sollte seine Rechnung aufgehen.

Das Monster, auf das er sich konzentriert hatte, reagierte. Es richtete sich auf. Die Schleier-Tentakel, die eine einzige, verdichtete Masse unter dem hutförmigen Kopf bildeten, wurden wie von einer riesigen, unsichtbaren Hand in die Höhe gerissen. Dann rollten sich die Auswüchse aus.

Danielle und Rani glaubten die Atmosphäre zu ihren Gunsten noch zu verändern, wenn sie die Manja-Augen einsetzten. Auch das stimmte. Die sie Umringenden zeigten einen Moment Betroffenheit und wichen sogar einen Schritt zurück. Molochos' Haustiere wurden unruhig. Noch einmal gerieten die durch die Luft schwingenden Tentakel in stärkere Bewegung. Aber die mit Grauen, Angst und Menschenfeindlichkeit angereicherte Atmosphäre dieses unheiligen Ortes erwies sich als stärker.

Ranis Rechnung ging nicht auf! Mit Manja-Augen und dem Einsatz seines ganzen Willens, dass die Gegner über sich selbst herfallen mögen, war die Atmosphäre des Grauens einen Moment abzuschwächen, aber nicht abzubauen.

Die verdichteten Gliedmaßen der pilzköpfigen Monster rasten über die Köpfe der Gespenstischen der Madame Fraque hinweg – direkt auf Rani und Danielle zu.

Die Begleiterin des Inders versuchte es noch mit ihren Hexenkräften. Die unsichtbare Kraft wurde den Tentakeln förmlich entgegen geschleudert. Sie verschlangen sich ineinander.

Die Gespenstischen, die durch die Tore auf der anderen Seite in den Zimmern des Hotels Fraque gekommen waren, fielen zum Teil um und gerieten durch das ganze Durcheinander bis an den Rand der Schächte. Aber niemand kam auf die Idee – oder war offenbar imstande –, den Weg in die normale dreidimensionale Welt entstehen zu lassen.

Gleichzeitig bemerkten Rani und Danielle einen Druck im Hinterkopf, der sich zunehmend verstärkte. Die junge Französin begriff sofort, was das bedeutete. »Rani! Es fängt an! Meine Gefühle verändern sich. Sie werden seltsam flach, nichts sagend. Mein Aussehen. Wie sehe ich aus?«, fragte sie grauenerfüllt.

Die Gesichter der Menschen, die sie umringten, verzerrten sich in widerlicher, ekelhafter Schadenfreude. Ein Hauch der Hölle wehte das Paar aus Marlos an.

Rani packte Danielle am Arm.

»Das ist der Wahnsinn!«, tönte Molochos' Stimme. Sie kam aus dem Nichts. In der schummrigen, bedrückenden Umgebung, in der selbst die Luft wie ein Körper zu atmen und zu pulsieren schien, war das Abbild des Dämonenfürsten nicht mehr zu sehen. Nur seine Stimme war noch präsent. »Ich habe es euch prophezeit. Es gibt für euch keinen Ausweg. Ihr werdet mir nicht entkommen. Ihr seid mein, wie alles, das hier atmet und lebt. Und ihr werdet mich bis zum Ende eurer Tage verehren, mich mit Hingabe lieben, mir zu Füßen liegen.«

»Niemals, Molochos!« Ranis Stimme war wie ein Aufschrei. »So wie du es erwartest, wirst du uns nicht bekommen. Nicht so einfach.« Er riss Danielle herum. Bis zu den ihnen am nächsten gelegenen Schacht war es ein einziger Schritt. Mahay stand am Rand und starrte in eine nie geschaute Tiefe. Eine Treppe führte in die Endlosigkeit. Treppen hatten einen Sinn. Sie mündeten irgendwo. Vielleicht dort, wo die Welt, aus der sie kamen, anfing?

Zeit zum Überlegen gab es nicht mehr. Jede Sekunde, die sie länger in dieser sie verändernden Atmosphäre des Grauens und des Wahnsinns verbrachten, verringerte ihre Chancen. Falls sie überhaupt noch eine hatten. Und selbst wenn der Weg in die Schwindel erregende Tiefe in den Tod führte, dann zog er diesen dem Wahnsinn in Molochos' Dimension vor.

Mahay begann zu laufen. Er schleppte Danielle, die seltsam ruhig geworden war, kurzerhand wie einen Mehlsack über den Schultern mit.

Die Stufen waren schmal und führten steil in die Tiefe. Sechs, acht Treppen brachte er hinter sich, ohne dass sich über ihm etwas tat. Dann tauchten Schatten auf, verzerrte Gesichter, Köpfe halb Mensch halb Tier.

Hohles Kichern und Lachen begleitete Mahay auf dem Weg nach unten. Dann hatte er zwanzig Stufen hinter sich, später dreißig. Der Schacht dehnte sich noch immer endlos unter ihm aus. Der Inder hatte das Gefühl, sich in einer Röhre zu befinden, die in eine seltsam glühende Dunkelheit vorstieß. Erneut warf er einen Blick zurück.

Die Gesichter über ihm waren klein und verschwommen, hatten sich aber nicht zurückgezogen. Das wertete er als bedenklich. Die Beobachter hätten längst etwas tun können. Zum Beispiel ihn verfolgen. Aber sie taten es nicht. Sie warteten auf etwas.

Er lief weiter, hielt sich nicht auf. Waren es fünfzig oder sechzig Stufen, die er schon gegangen war? Oder noch mehr? Er wusste es nicht, hatte sie nicht gezählt. Wie viele noch vor ihm lagen, entzog sich ebenfalls seiner Kenntnis. Es konnten hundert sein, noch tausend oder gar zehntausend. Wo führten sie hin? Welche Bedeutung kam ihnen zu?

Er hatte gehofft, dass Molochos in seinem Triumph etwas von sich gäbe. Aber der Dämonenfürst schwieg. Auch seine Gespenster und mit ihnen Charmaine Fraque, deren Gesicht ebenfalls dort oben über den Rand des Endlosschachtes ragte.

»Alles in Ordnung, Cherie?«, erkundigte sich der Inder.

Danielle atmete rascher, ihr Herz schlug kräftiger. Sie nickte. »Ja, aber was war los mit mir? Ein Schwächeanfall?«

»So etwas Ähnliches. Wie fühlst du dich jetzt? Spürst du noch etwas von den Einflüssen, die dich vorhin so verwirrten?«

»Welche Einflüsse?«

Mahays Augenbrauen hoben sich unmerklich, während er weiter nach unten ging. »Du hast davon gesprochen, dass etwas mit deinen Gefühlen nicht mehr stimmt.«

Einen Augenblick herrschte Schweigen.

»Tut mir leid«, flüsterte Danielle de Barteaulieé dann, »ich weiß nicht, wovon du sprichst.«

»Hast du Schmerzen?«, fragte er unvermittelt, kaum dass sie geendet hatte.

»Nein.«

»Aber du hattest welche?«

»Ich ... weiß nicht mehr.«

Er schluckte. Seltsam, dass er sich an seine Veränderung entsann, während sie alles vergessen zu haben schien. »Du hattest wie ich plötzlich heftige Kopfschmerzen, Danielle.«

»Ich weiß es nicht, Rani.«

Mahay warf nach all dieser Zeit einen erneuten Blick zurück. Die Schachtöffnung war kaum mehr wahrnehmbar. Sie war nur noch ein winziges Loch, das hinter diffusen Nebeln verschwunden war.

Was bedeutete Danielles Amnesie? Mahay machte sich Sorgen, versuchte sich jedoch seine zusätzliche Beunruhigung nicht anmerken zu lassen. »Konzentrieren wir uns auf den Weg, der vor uns liegt«, wisperte er. »Ich gehe ihn bis zu Ende – und wenn's das nächste Sternensystem sein sollte. Irgendwo muss er aufhören und ...« Er unterbrach sich.

Was war das? Ein kühler Luftzug strömte ihm plötzlich aus der Tiefe entgegen. Die Dunkelheit geriet in Bewegung, als würde sich ihnen etwas nähern.

Der Inder verhielt sofort im Schritt.

»Setz mich ab!«, verlangte Danielle.

»Kannst du denn stehen?«

»Ja.«

Sie kam auf die eigenen Füße, aber dennoch traute Mahay den Kräften der Begleiterin noch nicht ganz. Er hielt Danielle weiterhin am Arm fest.

»Was ist das für eine Luft?«, wollte Danielle wissen.

»Keine Ahnung. Es ist gerade so, als ob jemand eine Tür geöffnet hätte, und nun ist Zugluft entstanden, die den ganzen Schacht hoch weht.«

Da war es ihm, als würde eine eiskalte Hand sich in sein Herz krallen.

Die Treppen in der Schwindel erregenden Tiefe unter ihm – rasend schnell verschwanden sie, eine nach der anderen! Es schien, als wäre die Dunkelheit selbst zum Leben erwacht und würde die Stufen blitzschnell wie ein Rachen verschlingen!

Die Treppenstufen hingen vor ihnen im Nichts und nahmen weiter ab, Stufe für Stufe, in gespenstischer Lautlosigkeit.

»Wieder hinauf!« So lautete Ranis Befehl nun. Und er war bereit, sich erneut in die Arme der Ungetüme zu stürzen, die dort oben auf sie lauerten.

Sie waren vom Regen in die Traufe geraten! Und umgekehrt würde es genau wieder so sein. Wie lange Molochos dieses Katz- und Mausspiel noch weiter treiben wollte, hätte er zu gerne gewusst. Bis sie am Ende ihrer körperlichen und seelischen Widerstandskraft waren?

Es blieb ihnen nicht mehr die Zeit, die Stufen nach oben zu erklimmen. Sie kamen nicht einmal mehr dazu, die Stufe freiwillig zu verlassen, auf der sie gerade standen. Sie verschwand!

Danielle und Mahay stürzten gleichzeitig. Doch der Inder, in mancher Gefahr gestählt, reagierte geistesgegenwärtig. Eine Hand griff nach der absackenden Danielle, die andere nach der Treppenstufe über der, die sich wie ein Schemen aufgelöst hatte.

Ein Ruck ging durch den Körper des bronzehäutigen Mannes. Mahays sämtliche Muskeln spannten sich.

Danielle de Barteaulieé und er schwebten über einem finsteren, unauslotbaren Abgrund.

Eben noch der Ruck, der den Sturz bremste, jetzt der endlose Fall.

Die Treppe, nach der er gegriffen hatte, löste sich ebenfalls auf! Sie stürzten wie zwei Steine in das Nichts. Die vielen tausend Treppen, die sie beide noch wahrgenommen hatten – es gab sie nicht mehr. Auch über ihnen hatte die pulsierende, wie von einem Lufthauch durchwehte Dunkelheit, sie verschlungen.

Der Schacht war leer, bis auf die beiden Menschen, die von einem geheimnisvollen Sog gepackt und mitgerissen wurden wie zwei welke Blätter im Wind.

1. Kapitel

»Geschafft!«

Dieses Wort fiel an einem anderen Ort und in einer anderen Zeit. Der Ort war Xantilon, die legendäre Insel, ein Urkontinent wie Mu, Hyperborea und Atlantis. Die Zeit, das war die Vergangenheit, genau 8734 Jahre vor dem Augenblick, da die Insel unterging und eine hoch entwickelte Zivilisation mit in die Tiefe des brodelnden Meeres riss.

Der Mann, der es sagte, war groß, blond und braungebrannt. An seiner Seite trug er ein Schwert, im Gürtel zwei gekrümmte Dolche. Der Mann trat aus dem violetten Nebel, der wie eine Wolkenlandschaft hinter ihnen lag und die Spitzen der Berge, die die gleiche Farbe hatten, berührte. Nur ein schmaler, nebelfreier Streifen lag vor dem muskulösen, blonden Mann, der seinem Aussehen und seinen Kenntnissen nach kein Mensch dieser Zeitebene sein konnte.

Genauso verhielt es sich. Dieser Mann stammte aus der Gegenwart der Erde, von dem Zeitpunkt seiner Anwesenheit in Xantilon aus gerechnet war diese Gegenwart eine ferne Zukunft. Es war das zwanzigste Jahrhundert. Was den Mann betraf, der das kühn geschnittene, markante Gesicht des Abenteurers hatte, war dies nicht die ganze Wahrheit. Der Mann, der eben gesprochen hatte, war nicht aus Fleisch und Blut. Es war ein ätherischer Körper, der die ferne Vergangenheit der sagenumwobenen Insel durchstreifte.

Der Mann, der diese Kopie sandte, lebte nach wie vor in der Gegenwart, allerdings in einer grausamen Welt und unter Umständen, die die Bezeichnung Leben kaum noch verdienten. Der Mann, der – unbewusst – seinen Doppelkörper aktiviert hatte, praktisch aus seinem gefangenen Leib getreten war und in einer ätherischen, feinstofflichen Substanz noch einmal lebte, hing wie das Opfer einer Spinne in einem riesigen Netz.

Das Gebilde war unvorstellbar groß; winzig und verloren wirkten dagegen die Gefangenen dieses Netzes. Es waren zwei Menschen. Björn Hellmark, der Herr der unsichtbaren Insel Marlos, und Carminia Brado, die Frau, die er liebte, waren Gefangene des Netzes. Es ließ sie nicht verhungern, doch sie konnten darin auch nicht leben.

Ihre Körper klebten auf den riesigen, wie Taue wirkenden Strängen. Die Hände des blonden Mannes und der schwarzhaarigen, rassigen Frau, deren Haut die Farbe von Sahnekaffee hatte, waren einander zugekehrt. Es schien, als hätten diese beiden Menschen kurz vor dem großen, offenbar nie enden wollenden Schlaf noch einmal versucht, einander zu berühren. Sie hatten die Hände ausgestreckt, doch die Fingerspitzen waren einen halben Millimeter voneinander entfernt.

Björn Hellmark und Carminia Brado atmeten kaum, ihre Herzen schienen nicht mehr zu schlagen. Doch dieser Eindruck täuschte. Die organischen Funktionen waren wie bei einem aus medizinischen Gründen absichtlich unterkühlten Menschen auf ein Minimum herabgesetzt.

Björn Hellmark und Carminia Brado schwebten ständig auf einer Grenze zwischen Wachen und Träumen, sie wussten um die Situation, in die sie geraten waren, ohne auch nur das Geringste daran ändern zu können. Sie befanden sich im Schreckenszentrum, im Ewigkeits-Gefängnis des Dämonenfürsten Molochos, der sich anschickte, alle seine anderen dämonischen Kollegen und Mitstreiter zu überflügeln. Molochos stand derzeit bei Rha-Ta-N'my, der geheimnisumwitternden Dämonengöttin, hoch im Kurs. Mit Hinterlist und Heimtücke hatte er den Mann besiegt, der der ärgste Feind der Dämonen auf der Erde war: Björn Hellmark.

Und seit Hellmark hier weilte, schien sich das Blatt mehr und mehr zu Gunsten Molochos' zu wenden. Er hatte das Gesetz des Handelns übernommen, plante und agierte und überließ nichts dem Zufall. Die Heere derer, die ihm dabei zur Verfügung standen, waren Legion. Er verstärkte seine Reihen, wo immer er konnte. Und er war nicht nur erbarmungslos den Menschen gegenüber, aus deren Reihen er hervorgegangen war, sondern auch hochrangigen Dämonen gegenüber, die wie er mächtige Positionen im Dämonenuniversum anstrebten.

Kaltblütig hatte er durch Björn Hellmark eine große Mitstreiterin, aber gleichzeitig auch Nebenbuhlerin – Apokalypta – ausschalten lassen. Sie war nur ein bedeutendes Beispiel.

Unter dem titanischen Netzgebilde, in dem die beiden Menschen klebten, dehnte sich eine triste, albtraumhafte Landschaft aus. Düster waren die scharfkantigen, zerklüfteten Berge und Schluchten. Die Welt unter den beiden Menschen erinnerte frappierend an die Urtage der Erdgeschichte.

Das Licht war trüb und diesig. Nebel wallten zwischen den himmelstürmenden Felsnadeln, scharf gewundene Pfade und Schluchten, die sich selbst aus der Vogelperspektive irgendwo im Nichts verloren.

Ein unheilvoller Horizont schien die Nähe der Hölle anzukündigen. Die Landschaft zwischen den Bergen wirkte unausgegoren, feindselig und sumpfig. Über allem – zwischen den Schluchten und dem Netz – schwebte eine steinerne Plattform. Seltsame Kräfte hielten sie.

Und aus dem Halbdunkeln, in dem sich die Plattform zu allen Seiten verlor, näherte sich eine Gestalt. Sie ging hoch aufgerichtet und stolz. Der Umhang war schwarz-rot, ein mächtiger Stehkragen zierte die Schultern und wurde zu einer dreigezackten Lehne für den Hinterkopf.

Es war ein Mann, der in die Mitte der Plattform trat. Sein Gesicht war abweisend. Tief eingegraben waren die Linien neben Mund und Nase. Die Augen waren groß und schienen fast nur aus den Pupillen zu bestehen. Die Nase war scharf gebogen wie ein Vogelschnabel. Das Antlitz des Vogels war eins der Symbole, mit denen Rha-Ta-N'my sich zeigte und verehren ließ.

Es schien, als würde der Mann, der unter Hellmark und Carminia Brado zu stehen kam, jener rätselhaften Dämonenfürstin immer ähnlicher. Das widerliche, abstoßende Grinsen um die Lippen des Abkömmlings verstärkte sich. »Björn Hellmark!«, rief dann eine laute, weithin hallende Stimme. »Ich bin gekommen, um mit dir zu sprechen. Ich will, dass du mich hörst, dass du aufwachst aus dem Schlaf, in den ich dich geschickt habe.« Er hob die Hand. Die Innenseiten begannen giftgrün zu leuchten. Der Schein kehrte auf den armdicken Strängen, in denen Hellmark hing, wider. Ebenso auf dem Gesicht des blonden Mannes.

Da begannen Hellmarks Augenlider zu zittern wie die Flügel eines Schmetterlings. Und langsam öffnete der Herr von Marlos seine Augen.

Der blonde Mann, Hellmarks Zweitkörper, wurde Macabros genannt. Hier, in der fernen Vergangenheit Xantilons aber, in der grauen Vorzeit eines Kontinents, auf dem Magier und Hexen, finstere Dämonen, seltsame Wesen, Priester und Drachen hausten, wo es Zauberer und Zauberinnen gab, hier nannte man ihn nur den Namenlosen.

Die Abenteuer, die er inzwischen erlebt hatte und in aller Munde waren, hatten das Gerücht in Gang gebracht, bei dem Namenlosen handele es sich um einen Gott. Ein Gott von den Sternen, ein Gott von einer fremden Welt, der hier gestrandet war und andere Götter suchte. In den Legenden und anderen historischen Überlieferungen kam zum Ausdruck, dass es vor noch längerer Zeit, als Xantilon aus den Urnebeln der Welt aufstieg, Besuch von Menschen aus anderen Welten und von anderen Sternen gegeben hätte. Er, der Namenlose, müsse dann wohl ein Nachkomme dieser Götter sein, denn er zeichnete sich dadurch aus, dass weder ein Schwert ihn verwunden noch ein Blitzstrahl ihn fällen konnte.

Was das Letztere betraf, so stimmte es. Macabros war kein Gott, aber er war unverwundbar. Wer nicht aus Fleisch und Blut bestand, den konnte man mit bekannten Mitteln nicht töten. Macabros war eine feinstoffliche Substanz, wurde erhalten durch unbewusste geistige Ströme, durch ein unsichtbares Band, das ihn an den Originalkörper Hellmarks kettete. Kein Feuer konnte ihn verbrennen, die tödliche Hitze einer Sonne ebenso wenig umbringen wie die nicht minder absolute Kälte des Weltraums, kein Schwert konnte seine Haut ritzen, keine Kugel ihn zu Tode bringen.

Und doch war dieser Körper verletzbarer als andere. Auf andere Weise. Es genügte, den Mann zu töten, dessen Geist ihn schuf und dessen Unterbewusstsein ihn erhielt.

In allen Materialisationsfällen vorher hatte Macabros stets mit Hellmark in Verbindung gestanden. Was Macabros sah und hörte, was er auf irgendeine Weise wahrnahm und erfuhr, wurde gleichzeitig zum Bewusstseinsinhalt Hellmarks, der sich dann danach richten konnte. Diese außergewöhnliche Fähigkeit hatte ihn zu einem harten und gefährlichen Gegner für seine dämonischen Feinde gemacht.

Dass Macabros zur Zeit in der fernen Vergangenheit Xantilons operierte und Hellmark nichts von diesen Abenteuern seines Doppelkörpers erfuhr – nur manchmal eine schwache, traumhafte Ahnung davon hatte –, hing damit zusammen, dass das Entstehen seines Doppelkörpers unter sehr zweifelhaften und lebensbedrohlichen Umständen geschehen war. Hellmark hatte noch versucht, der Falle Molochos' zu entkommen. Mit Hilfe seines Doppelkörpers. Aber Macabros war weit außerhalb des molochos'schen Ewigkeits-Gefängnisses materialisiert, war hineingeschleudert worden in Raum und Zeit, war gelandet in der Vergangenheit jener Welt, auf der seine erste Existenz begonnen hatte und von wo seine Unterrichtung erfolgt war.

Er hatte erfahren, dass er schon einmal lebte, als Kaphoon, als ein heldenhafter, kühner Kämpfer für das Recht, für die Freiheit derer, die bedroht waren, gegen feindliche Eindringlinge, ihnen allen voran dämonischer Abkunft, die versuchten, die Erde in ihren Besitz zu bringen. Xantilon war der Ausgangspunkt. In Xantilon hatte einst alles begonnen.

Vielleicht – so war es Macabros seit seiner Anwesenheit in der Vergangenheit schon mehr als einmal durch den Kopf gegangen, aber er hatte bisher zu niemand darüber gesprochen – vielleicht war Xantilon sogar jener Ort, wo in fernster Zeit Rha-Ta-N'mys Thron gestanden hatte. Durch irgendeinen unerfindlichen Grund hatte sie ihn verloren. Doch ihre unstillbare Sehnsucht, ihn auf der Erde wieder zu finden und wieder zu errichten, war geblieben.

»Geschafft?«, fragte da eine Stimme hinter Macabros, und ein ähnlicher Mann, groß, blond, mit breiten Schultern und einem Lendenschurz bekleidet, der ihm einen Tarzan-Touch verlieh, trat aus dem violetten Nebel. »Du irrst dich, jetzt fängt alles erst an. Wir sind an der Grenze des rätselhaften, unerforschten Landes Un, das in den Sagen und Märchen der Eingeborenen einen besonderen Platz einnimmt. Denk an die Geschichte mit den drei Zauberinnen, die ich dir erzählt habe. Hier sind sie zu Hause.«

Macabros nickte. »Ja, ja, ich weiß. Ich habe sie nicht vergessen.« Sein Blick versuchte die andersfarbigen Nebelschleier, die wenige Schritte vor ihm begannen, zu durchdringen. Wie groß das triste, unbewohnte Land Un war, wusste niemand.

Hinter seiner westlichen Grenze begannen der Ewige Nebel und die alles sehenden Augen. Das war eine Zone, von der er gehört hatte, über die aber – wie über so vieles in dieser jungen Welt – kaum jemand etwas wusste. Die sich einst aufmachten, um Dinge und Hintergründe zu erforschen, waren nie wiedergekommen und blieben verschollen. Was aus ihnen geworden war, wusste niemand.

Vielleicht waren sie im Ewigen Nebel zugrunde gegangen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich dort das geheimnisvolle Singende Fahsaals befand, war groß. Es wurde immer mit Nebel in Verbindung gebracht; dies hatte Macabros schon herausgefunden.

Das Singende Fahsaals war so etwas wie ein Rätsel, ein großes Geheimnis, das Unbeschreibliches vermochte. Gegen die Dämonen und deren Statthalter, die hier tätig geworden waren. War es nur eine fromme Legende, eine Hoffnung? Oder gab es das Singende Fahsaals wirklich? Niemand wusste es. Unzählige hatten sich schon aufgemacht, es zu suchen. Sie waren nicht wieder gekommen. Nie waren irgendwelche brauchbaren Berichte eingetroffen.

Doch vom Singenden Fahsaals hatte Al Nafuur, Hellmarks Geistführer aus einem geistigen Zwischenreich, telepathisch zu ihm gesprochen. Al Nafuur war ein Priester der Weißen Kaste, die großen Einfluss auf die Geschicke der Menschen in Xantilon nehmen würde. In etwa neunzehntausendneunhundert Jahren. Dann nämlich würde Al Nafuur leben, dann würde Xantilon den Höhepunkt seiner Entwicklung erreichen. Und es würde sich auch schon der Untergang ankündigen. Eine Zivilisation wurde immer am Scheitelpunkt ihrer Reife ins Verderben gestürzt.

Es waren eigenartige Überlegungen, die ihm durch den Kopf gingen. Er dachte an Dinge, die schon gewesen waren, weil er aus einer noch ferneren Zukunft kam. Und die doch erst sein würden, wenn man den Zeitpunkt zugrunde legte, an dem er sich jetzt befand. Dinge, die unter Umständen deshalb an der Wurzel des Entstehens veränderbar, umformbar waren?

Ganz abzustreiten war diese Tatsache nicht. Doch es war immer gefährlich, die Geschichte zu verändern. Manchmal aber unerlässlich. Al Nafuur hatte ihm einen dementsprechenden Hinweis gegeben. Er, Macabros, sollte die Legende um den Toten Gott neu bilden. Der Tote Gott war ein Begriff, der eng mit Xantilons Vergangenheit, mit einem Herrscher, mit Hellmark, dem Helden Kaphoon und einem Schwert zusammenhing, das sogar das Schwert des Toten Gottes hieß. Dieses Schwert hatte Björn Hellmark beim dreizehnten Weg in die Dimension des Grauens eingebüßt.

War es für immer verloren? Macabros hoffte nicht. Wenn er das Singende Fahsaals fand, dann bestand die Hoffnung, dass er auch wieder in den Besitz des Schwertes und der Dämonenmaske kam, die ihm ebenfalls abhanden gekommen waren. Denn das Singende Fahsaals vollbrachte das Wunder, die Welt des Bösen, in der Molochos zu Hause war, aufzulösen, als wäre sie nie gewesen. Ein gewaltiger Wunsch. Nur ein Wunschtraum oder steckte wirklich etwas dahinter?

Er würde es bald oder auch nie erfahren. Macabros' Mission hing an einem seidenen Faden. Dieser seidene Faden war jenes unsichtbare Band zwischen dem Originalkörper und dem aus ätherischer Substanz. Wenn es zerriss, war alles umsonst. Sobald Molochos eingriff, sobald er sich entschied, Björn Hellmark aus dem langen Schlaf zu wecken oder ihn zu töten, würde jenes Unvorhergesehene passieren, das Macabros verhindern wollte.

Er wusste nie, wie viel Zeit ihm blieb, wie lange er das Singende Fahsaals suchen, wie lange er an der Legende um den Toten Gott weben konnte. Er konnte Wochen, Monate, Jahre dafür zur Verfügung haben, eine halbe Ewigkeit oder auch nur noch ein paar Minuten. Deshalb drängte er stets zur Eile und trieb in atemberaubendem Tempo seine Pläne voran.

Vom Lande Un und von den drei Zauberinnen, die dort lebten, hatte er von einem Bewohner der Wüstenzone Aggar gehört und von Harry Carson, dem Mann, der seit ihrer Bekanntschaft nicht mehr von seiner Seite gewichen war.

Harry hatte ein ungleich grausames Schicksal hinter sich. Vor Jahren wurde er von den rätselhaften Männern in Schwarz entführt und in die Vergangenheit Xantilons versetzt. Die Männer in Schwarz oder auch Men in Black, wie sie genannt wurden, griffen – in den meisten Fällen zumindest – unerkannt in die Geschicke ganzer Völker und einzelner Individuen ein. Nicht zu deren Vorteil.

Harry Carson hatte durch einen Zufall eine Versammlung der Geheimnisvollen beobachtet. Sie entfernten ihn kurzerhand aus seiner gewohnten Umgebung, und Harry Carson wurde zu einem jener Fälle, die als unbekannt verschollen in den Archiven der Polizei abgelegt wurden.

Harry wurde von einem Eingeborenenstamm aufgenommen, lernte dessen Sprache, Umgangsformen, Kampftechniken und verstand es, in dieser lebensbedrohlichen Umwelt zu überstehen. Die Hoffnung, jemals wieder in seine Zeit – es waren die fünfziger Jahre Amerikas, als Elvis Presley seine Karriere begann, James Dean seine ersten Filme drehte, als Namen wie Clark Gable, Marylin Monroe, John Wayne und Bill Haley hoch im Kurs standen – zurückzukehren, hatte er nicht mehr. Er hatte sein Leben den neuen Umständen völlig angepasst und es war erstaunlich, wie anpassungsfähig ein Mensch sein konnte. Menschen in anderen Dimensionen und Zeiten, das war ein Kapitel für sich. Es gab Tausende und Abertausende derart ähnlich gelagerter, ungeklärter Fälle. Menschen verließen morgens das Haus, um ihre Arbeitsstelle aufzusuchen, und kamen nie dort an. Auf dem Weg waren sie entweder in einem Riss zwischen den Dimensionen verschwunden, einem Ufonauten begegnet, in ein magnetisches Feld geraten oder hatten einen Mann in Schwarz gesehen. Es gab verschiedene Möglichkeiten. Auch die Dämonen durfte man nicht ausklammern. Sie hatten oft erstaunliche Macht in der Beherrschung von Zeit und Raum. Nicht alle, aber immerhin einige.

»Im Lande Un gibt es drei Schwestern«, murmelte Harry Carson abwesend. »Die eine ist blind, die zweite stumm, die dritte taub. Aber sie waren einmal vier Schwestern gewesen. Die eine war so schön, dass sie jeden blendete, der sie ansah. Diese vierte – mit Namen Daiyana – entbrannte in Liebe zu einem Menschenmann, zu einem Sterblichen. In Nacht und Nebel machte sie sich auf und ließ die anderen drei allein zurück. Seit dieser Zeit hassen die drei anderen die Menschen, verfolgen, jagen sie und führen sie in die Irre. Seit der Abwesenheit der schönen Daiyana verblühen die Blumen, verdorren die Bäume und verenden die Tiere. Menschen können in Un nicht mehr leben. Und wer das Land betritt, der muss mit mancherlei Gefahren und Überraschungen rechnen.«

Macabros hob die Augenbrauen, und ein verschmitzter Ausdruck lag auf seinem Gesicht. »Die drei Zauberinnen sind sauer auf Männer, ich weiß. Aber einmal machten sie eine Ausnahme. Sie ließen einen, der sich in das Land Un begeben hatte, am Leben.«

»Was dieser ihnen allerdings nicht dankte. Er musste ihnen das Versprechen geben, nie über seine Anwesenheit in Un zu sprechen, nie über die drei Zauberinnen, die dort auf die Rückkehr ihrer Schwester harren. Er hielt sich nicht daran und wurde von ihnen dazu verdammt, für alle Zeiten durch die Welt zu wandern, heimat- und ruhelos. Er soll mithelfen, die vierte Schwester zu finden, dann ist auch seine Wanderschaft zu Ende und in Un werden die Blumen wieder blühen und die Bäume wieder ausschlagen. Aber das Land zwischen dem Schattengebirge und dem Ewigen Nebel ist noch immer wie ein großes, schwarzes Loch. Seit über tausend Jahren schon, und so lange sucht auch jener, den sie am Leben ließen und schließlich verfluchten, nach Daiyana.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Mädchen nach all dieser Zeit noch so frisch und knusprig ist. Tausend Jahre sind eine verdammt lange Zeit! Für den einen hat es wohl keinen Zweck mehr zu suchen, und ich nehme an, dass die drei Zauberinnen – wie hießen sie doch noch ...?«

»Amona, die Blinde; Berana, die Taube und Coroka, die Stumme.«

»Richtig! Sie wird es wahrscheinlich auch nicht mehr geben. Tausend Jahre, Harry, sind eine lange Zeit.«

»Für die Zauberinnen aus Un, sagen die Eingeborenen, sind tausend Jahre wie ein Tag und ...« Er unterbrach sich abrupt. »Björn«, wisperte er dann, den Mann an seiner Seite mit dem Namen ansprechend, mit dem er angesprochen werden wollte, »da ... im Nebel ... ein Schatten ... es kommt jemand direkt auf uns zu!«

»Nun?«, höhnte eine Stimme, die er wie durch Watte wahrnahm. »Kannst du mich hören? Du bist mein liebster Feind, wie du weißt, und deshalb habe ich den Wunsch, dir ein paar Neuigkeiten mitzuteilen. Neuigkeiten, die dich interessieren werden.«

Björn Hellmark erwachte wie aus einem langen, Kräfte raubenden Schlaf. Er fühlte sich matt und wie gerädert. Was war los mit ihm? Warum fühlte er sich so elend?

Sein Blick klärte sich, sein Verstand kam in Gang. Die Begegnung mit Molochos! Seine Niederlage, seine Gefangennahme! Und nicht nur seine. Auch Carminia war in die geschickt aufgebaute Falle geraten. Molochos, der Dämonenfürst, hatte eine wirklich meisterhafte Dämonie entwickelt, um die Menschen, die seinen Plänen im Weg standen, auszuschalten.

Björn wandte den Kopf, um die Frau anzusehen, die wie er in dem Netz hing und sich nicht bewegte. Ihr Gesicht war still, wie verklärt. Sie atmete kaum. »Carminia, Schoko«, flüsterte er. »Kannst du mich hören?«

»Nein, das kann sie nicht. Ich habe nur dir die Ehre gegeben, mich zu vernehmen. Ist dir das nicht genug?« Molochos' Stimme dröhnte durch die eigentümlich fremde Welt des Schreckenszentrums, das Rha-Ta-N'my ihm zum Geschenk gemacht hatte und in dem er seine Feinde gefangen hielt, in dem er sie sammelte wie Trophäen in einem besonderen Raum.

Diese Gefangenschaft – so bitter sie war – hielt Hellmark vor Augen, wie sehr er die Macht derer unterschätzt hatte, die dem Dämonenreich angehörten. Ob er mit dieser Erkenntnis, diesem neuen Wissen allerdings jemals etwas anfangen konnte, bezweifelte er in der Lage, in der er sich befand, gründlich.

»Carminia, Schoko!«, rief er ein zweites Mal. Das Gesicht der schönen Brasilianerin blieb reglos wie das einer Puppe.

»Und wenn du stundenlang ihren Namen rufen würdest, sie kann dich nicht hören. Erst, wenn ich sie aufwecken würde. Und daran habe ich kein Interesse.«

Hellmark drehte den Kopf und starrte in die Schwindel erregende Tiefe, in die zerklüftete Welt zyklopenhafter Schluchten, in der ein Titan zu Hause sein könnte.

Er sah Molochos im schwarzen Gewand. Und er sah ihn mit seinem widerwärtig verzogenen Gesicht, den kalten Augen. Er war der Dämonisierte, der den Verführungen und Verlockungen einer schlimmen Lebensform voll erlegen war. Er war ein Teil des Dämonenuniversums, in das auch die Erde und die Menschheit einbezogen werden sollten – die Menschheit in lebender Form als Sklave und die Toten im Jenseits als Gefangene, damit der Weg der seelischen Weiterentwicklung in die verschiedenen Sphären unterbrochen sein sollte.

Molochos' Pläne waren ihm bekannt, und Hellmark wusste, dass es niemals einen Weg gab, den Dämonenfürsten von seinem Ziel abzubringen. Der Zeitpunkt, als dies scheinbar möglich war mit sieben Manja-Augen, wie die Überlieferung ursprünglich übermittelt hatte, war verpasst. Molochos selbst hatte rechtzeitig die Initiative ergriffen. Ihm war dieser Umstand, der ihn hätte zu Fall bringen können, längst bekannt gewesen. Und so hatte er aus der Not eine Tugend gemacht. Es gelang ihm, Björn Hellmark zu täuschen, in dem er ein verändertes, mutiertes Manja-Auge, das mit Dämonenkraft vollgesaugt war, in Hellmarks Besitz brachte. Dieses Auge bewirkte, dass Hellmark und alle, die mit ihm zu tun hatten und auf Marlos lebten, ein zusätzliches Auge zu sehen bekamen, ohne darüber nachzudenken, wie dieses zusätzliche Auge in Björns Besitz hätte kommen können.

Nun, im Nachhinein, wurde Hellmark klar, dass dieses Täuschungsmanöver schon sehr früh begonnen hatte und er darüber Auskunft hätte finden können, wäre es ihm seinerzeit gelungen, die Gesamtinformation, die in der Geisterhöhle auf Marlos steckte, entgegen zu nehmen. Damals aber waren ihm beim Loslösen der Geister auf der Insel viele Kenntnisse entgangen.

Doch nun war nichts mehr daran zu ändern. Durch eigene bittere Erfahrung hatte er neue Erkenntnisse gewonnen. Aber damit konnte er in seinem jetzigen Zustand nichts mehr anfangen.

»Warum hast du mich dann aufgeweckt?«, fragte Hellmark rau. Seine Stimme klang nach dem langen Traumschlaf belegt. »Nur, um mich zu quälen?«

»Es wäre ein Grund«, lachte Molochos. »Schließlich halte ich dich nicht zu deinem Vergnügen hier fest. Ständig wird dir vor Augen geführt, dass du dich in meiner Gewalt befindest. Und dies für ewig. Das weißt du. Es gibt nichts und niemanden, der dich aus dieser Lage befreien könnte. Das Schreckenszentrum ist nicht für jedermann zugänglich. Und es wird streng bewacht, wie du dir denken kannst. Ich will dich – außer deiner Abhängigkeit von mir – mehr wissen lassen. Es ist in der Zwischenzeit einiges geschehen, das dich interessieren wird.«

Hellmark schluckte. Der Triumph in Molochos' Stimme war unüberhörbar. Er verhieß nichts Gutes.

»Die anderen, deine Freunde, wissen inzwischen, dass du vom dreizehnten Weg in die Dimension des Grauens nicht wieder zurückkehren wirst. Sie haben eine große Such- und Rettungsaktion eingeleitet. Aber sie wird dir nicht viel nützen. Höchstens mir.«

»Du bluffst, Molochos.«

»Habe ich das nötig? Nötig in dieser Situation, da ich mich auf dem Siegespfad bewege? Du könntest ebenfalls auf der Seite des Siegers sein, Hellmark. Du hättest dich mir früher anschließen sollen. Gemeinsam könnten wir die Welt beherrschen. Eine wunderbare Vorstellung.«

»Für dich, nicht für mich«, stieß Björn hervor. Er versuchte seine Lage zu verändern. Doch die Klebekraft des Netzes war so stark, dass er nicht einmal die Stellung seiner Hand verändern konnte. »Würdest du mir die Möglichkeit der Wahl lassen, an deiner Seite zu herrschen oder den Tod, ich würde mich für das Letztere entscheiden!«