Macabros 049: Der Druide - Dan Shocker - E-Book

Macabros 049: Der Druide E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Mord-Clan der Männer in Schwarz Macabros und Harry Carson kehren nach Xantilon, 8734 Jahre vor dem Untergang, zurück! Es ist unerlässlich, die drei versteinerten Zauberinnen noch einmal aufzusuchen. Auf dem Weg stoßen sie auf ein seltsames Gefährt, das frappierende Ähnlichkeit … mit einem UFO hat, wie es schon in den verschiedensten Ländern der Erde gesehen wurde! Harry Carson trifft wieder auf jene, denen er sein Schicksal zu verdanken hat: Die Männer in Schwarz! Macabros und er versuchen, die Herkunft und Absicht der Männer in Schwarz zu ergründen. Doch sie ahnen nicht, dass diese ihr Vorhaben längst bemerkt haben. Haus des grausamen Druiden Whiss versucht mit Hilfe des Psi-Feldes den Ort ausfindig zu machen, an dem das Schwert des Toten Gottes und die anderen magischen Utensilien verborgen liegen, die gegen Molochos eingesetzt werden können. Gleichzeitig gehen die Abenteuer von Macabros und Harry Carson weiter, deren Ziel, das singende Fahsaals, in unerreichbare Ferne gerückt zu sein scheint! Mitten in der Nacht landet im Irland der fünfziger Jahre ein UFO. Drei unbeteiligte Menschen werden zufällig Zeuge!

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DAN SHOCKERS MACABROS

BAND 49

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Fachberatung: Gottfried Marbler

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-749-8

Dan Shockers Macabros Band 49

DER DRUIDE

Mystery-Thriller

Mord-Clan der Männer in Schwarz

von

Dan Shocker

Prolog

In dem Haus war es vollkommen still und dunkel. Kein Mensch schien sich darin aufzuhalten. Doch das täuschte. Da atmete jemand. Leise und regelmäßig.

Der Mann, der in der Dunkelheit am Schreibtisch saß, hieß Jerome Culmer. Er war dreiundvierzig Jahre alt, Archäologe, und sein Hobby war die Fotografie. Eine außergewöhnliche Fotografie allerdings. Culmer fotografierte nur nachts, benutzte Spezialobjektive, entwickelte und bearbeitete alle Bilder grundsätzlich selbst.

Das hatte seinen Grund. Culmer war ein Sonderling, ein Einzelgänger, der schon in frühester Jugend der Meinung war, dass es überall in der Welt Rätsel und Geheimnisse gab, die man noch nicht gelöst hatte und die in den meisten Fällen als Unfug abgetan und deren Existenz einfach geleugnet wurde.

So befasste er sich schon früh mit übersinnlichen Phänomenen. Während die meisten Menschen undurchschaubare Ereignisse mit einem Achselzucken oder einem Abwinken abtaten, versuchte er, ihnen auf den Grund zu gehen. Geisterspuk und Okkultismus faszinierten ihn ebenso wie das Auftauchen von Ufos, Dämonen, Abgesandten geheimnisvoller Mächte und Götter.

Auf seinen Reisen durch die Welt und bei seinen Arbeiten, die ihn mit Vergangenem konfrontierten, stieß er immer wieder auf Rätsel, die ihm bewiesen, dass sich schon Generationen vor dieser mit seltsamen Erscheinungen und Ereignissen abgaben.

Außer Legenden und Gerüchten, von denen man nicht wusste, wie viel Wahrheitsgehalt sie enthielten, war jedoch nichts übrig geblieben. Und genau das, so hatte Culmer sich vorgenommen, sollte anders werden.

Er begann, sich ein Archiv anzulegen. Notizen und Zeichnungen. Dann wandte er sich der Fotografie zu, weil er der Meinung war, dass das Objektiv einer Kamera im wahrsten Sinn des Wortes auch objektiv und unbeeinflussbar durch Emotionen war.

Blieb nur das Problem, rätselhafte und unerklärliche Ereignisse auch auf Film bannen zu können.

Im Lauf vieler Jahre spezialisierte sich Culmer auf Himmelserscheinungen. So interessierten ihn unter anderem die viel verspotteten Ufos. Gab es sie oder gab es sie nicht? War alles nur ein einziger großer Betrug?

Kamera und Film waren seither stets parat, und in sternenklaren Nächten hantierte Culmer in einer Dachkammer, die er im Stillen als sein Beobachtungszimmer bezeichnete.

Jahr für Jahr wurden aus aller Welt Hunderte von Ufo-Sichtungen gemeldet. Von einem bestimmten Punkt an nahm dieses eine Phänomen im Leben der Menschen eine Stelle ganz vorn in seinem Interessenkatalog ein.

Unter anderem hatten ihn Bücher und Texte eines Schweizers namens Friedrich Chancell auf einige Besonderheiten und Abstufungen aufmerksam gemacht. Chancell war der Ansicht, dass die Erde von nichtmenschlichen Wesen beobachtet und besucht wurde. Es gab da seiner Ansicht nach mehrere Möglichkeiten. Die Erde erhielt in prähistorischer Zeit Besuch von anderen Sternen und wurde auch heute noch beobachtet. Das war eine Version, und die andere: Die Erde erhielt in prähistorischer Zeit sowohl Besuch von den Sternen als auch aus dem Mikrokosmos. Es gab für Friedrich Chancell eindeutige Hinweise, die ihn zu dieser spektakulären wie sensationellen Meinungsäußerung veranlasst hatten.

Chancell war Privatforscher wie er und konzentrierte sich darauf, die Spuren der Besucher aus dem Mikrokosmos zu entdecken. Diese Besucher – so Chancell – wurden in dieser Dimension, im Universum der Erde, den relativen Größenverhältnissen angepasst. Das bedeutete, dass sie als normalgroße Gestalten unter Umständen bei verschiedenen Völkern in der Vergangenheit auftauchten, ohne als Wesenheiten aus dem Mikrokosmos erkannt worden zu sein.

Beide Theorien enthielten viel Sprengstoff. Culmer, der eigene Gedankengänge hinzu entwickelt hatte, war seit geraumer Zeit daran, Kontakt zu Friedrich Chancell aufzunehmen. Der Schweizer war jedoch seit einiger Zeit spurlos verschwunden. Er war nach einer Expedition zum Amazonas nicht mehr zurückgekehrt.

Culmer saß wie eine Statue im dunklen Raum. Die Vorhänge verdeckten die Fenster, die Läden waren geschlossen. Er war eingesperrt wie in einem Sarg. Und dies schon seit vier Tagen. Er lebte in der Dunkelheit, nahm keine Post in Empfang und schickte keine weg. Er erweckte absichtlich den Eindruck, dass sich zurzeit niemand im Haus aufhielt.

Auch sein Auto war nicht in der Garage abgestellt, in der es normalerweise sein müsste. Der Wagen stand bei einem Freund rund vierzehn Meilen von dem kleinen Haus entfernt.

Tagsüber reichte ihm das spärliche Sonnenlicht, das durch die Ritzen der Türen und Läden fiel, um sich in den einzelnen Räumen zurechtzufinden. Nach Einbruch der Dunkelheit hatte er sich während der letzten Tage meistens ins Bett gelegt und bis zum Morgengrauen geschlafen.

Er hatte es peinlichst unterlassen, auch nur ein einziges Mal Licht anzuknipsen. Nicht einmal eine Kerze oder ein Streichholz hatte er angezündet, um sich nicht zu verraten. Er benahm sich wie ein Wahnsinniger. Aber Jerome Culmer war alles andere als verrückt. Sein Vorgehen war Berechnung.

Er wusste, dass er so handeln musste, um die anderen zu täuschen. Er war an einem Punkt angelangt, an dem es kein Zurück mehr für ihn gab. Jetzt galt es, die gewonnenen Kenntnisse weiterzugeben und zu überleben.

Das Theater, das er seinen Mitmenschen vorspielte, hatte nur für den einen Sinn, der wusste, worum es ging. Es ging um alles. Um das Leben und die Wahrheit! Er wollte nicht – wie andere vor ihm – auf der Strecke bleiben. Er war überzeugt davon, es geschickter angefangen zu haben als jene.

Da schlug das Telefon an. Das laute Klingeln ließ ihn zusammenfahren. Im ersten Moment spannte er sich und seine Hand zuckte über die Tischplatte.

Dann schien er wieder zu erstarren.

Es läutete ein zweites, drittes und viertes Mal.

Jerome Culmer ignorierte es.

Das Läuten zerriss die nächtliche Stille und hallte auch noch nach, als das Telefon verstummte. Culmer atmete tief durch und lehnte sich in den bequemen, lederbezogenen Sessel zurück. Die Rückenlehne knarrte leise. Dann klingelte wieder das Telefon. Einmal. Zweimal. Dann herrschte wieder Stille. Es vergingen keine zehn Sekunden, und der Apparat schlug erneut an. Das war das verabredete Zeichen. Zweimal klingeln lassen, wieder auflegen, neu wählen. Dieser Anruf hatte mit dem zuvor nicht das Geringste zu tun. Dennoch war Culmer auch jetzt noch vorsichtig. »Ja?«, fragte er leise. »Ich bin's, Jack«, sagte eine dunkle Männerstimme. »Okay.« Culmer atmete auf. »Dann kann's also losgehen.«

Der Weg, den sie gingen, war so real, wie die Welt, die sie umgab. Aber es war eine Welt, die in der Vergangenheit lag. Die athletischen Männer und großen, schön gewachsenen Frauen, zwischen denen Macabros und Harry Carson sich bewegten, wussten jedoch nichts von dem Geheimnis der Zeit. Für sie war diese Welt die Gegenwart.

Für Harry Carson und Björn Hellmarks Doppelkörper Macabros aber bedeutete das Jahr 8734 vor dem Untergang Xantilons die ferne Vergangenheit.

Carson und Macabros waren auf grundverschiedenen Wegen in den Strudel der Zeit und Raum geraten. Björn Hellmark, der in die tödliche Falle des Dämonenfürsten Molochos ging, hatte noch versucht, sich mit Hilfe seines Doppelkörpers aus der Gefahr zu retten. Er war einer der wenigen Menschen, die in der Lage waren, einen aus ätherischer Substanz bestehenden Zweitkörper zu bilden, der vom echten aus Fleisch und Blut nicht zu unterscheiden war.

Aber Macabros – das war Hellmarks unverwundbarer und eigenständig lebender Doppelkörper – materialisierte nicht wie gewünscht in unmittelbarer Nähe des Gefahrenortes, sondern weit außerhalb eines riesigen Gefängnisses, das die Größe eines Planeten hatte.

Macabros wurde hineingeschleudert in Zeit und Raum, und besondere Umweltbedingungen mussten dafür verantwortlich sein, dass Hellmarks Doppelkörper über diese unvorstellbaren Barrieren hinweg unablässig weiter agierte und inzwischen sogar eine wichtige Rolle dabei übernommen hatte, um ihn und Carminia Brado zu befreien. Die schöne Brasilianerin war wie Björn Hellmark im Schreckenszentrum Rha-Ta-N'mys gefangen.

Macabros war von dem Originalkörper unvorstellbar massiv getrennt durch Raum und Zeit. Und die unfreiwilligen Abenteuer, die er in der Vergangenheit eines Urkontinents erlebte, wurden Bestandteil einer Geschichte, die für spätere Generationen maßgeblichen Einfluss haben sollte. In der urzeitlichen Stimmung eines Kontinents, auf dem dämonische und magische Einflüsse herrschten, wo Zauberinnen und Geister existierten und viele Völker eine unterschiedliche Entwicklung nahmen, wurde eine Legende geschmiedet, die schon jetzt in aller Munde war. Die Legende des Toten Gottes.

Macabros war dieser personifizierte, Tote Gott. Er hatte sich als unschlagbar und unverwundbar erwiesen. Dies lag in der Natur der Sache. Eine ätherische Substanz konnte niemand ätzen, verbrennen, ertränken oder mit einem Schwert zerteilen.

In der Vergangenheit stieß Macabros auf einen Mann, der ebenfalls von der Erde stammte, aussah wie ein blonder Tarzan, über trainierte Muskeln verfügte und der es verstand, mit dem Schwert umzugehen. Dieser Mann war Harry Carson. Mitte der fünfziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts war er aus seiner gewohnten Zeit, seiner gewohnten Umwelt entführt und im Xantilon 8734 Jahre vor dessen Untergang abgesetzt worden.

Carson war durch Zufall Zeuge eines Treffens jener berühmt-berüchtigten Men in Black – Männer in Schwarz – geworden, deren Erscheinungen seit Jahrhunderten durch die Geschichte der Menschheit geisterten. Um nie über das sprechen zu können, was er beobachtet hatte, war er kurzerhand in die Vergangenheit verbannt worden.

Seit den ersten Stunden seiner Anwesenheit auf der Insel der Vergangenheit war Macabros mit Harry Carson zusammen. Nun befanden sie sich mit den Loarks, den Angehörigen eines Wüstenvolkes, auf dem Weg in die Stadt der schlafenden Götter. Von den Loarks hatte Macabros inzwischen erfahren, dass sie ihm zu Ehren diese Stadt – eine reine Denkmalstätte – gegründet hatten.

Die Nähe von Aggars Wüstenzone machte sich bemerkbar. Die Luft war heiß und trocken. Auch in der Nacht kühlte es erstaunlicherweise nicht ab. Seit drei Tagen waren sie unterwegs. Am Abend dieses Tages schlugen sie ihr Lager schon im Grenzbereich auf.

Die Gruppe der Loarks bestand aus etwa zwanzig Kriegern und vierzehn Kriegerinnen. Die Frauen waren phantasievoll gekleidet, trugen kurze, seidenartige Röcke, die mit Silber- oder Goldfäden durchwirkt waren. Braun und makellos schimmerte die Haut durch das dünne Gewebe.

Die Loarks kamen aus der Wildnis aus dem Lebensraum der Traphilen. Die Traphilen, ein Dschungelvolk, war von Priestern geführt worden, deren Absicht es war, dieses Volk zur herrschenden Spezies über alle anderen Völker Xantilons zu machen. Durch Macabros' massives Eingreifen war dies verhindert worden.

Die Priester, die nicht von dieser Erde stammten, sondern von einem anderen Stern, waren vor langer Zeit auf Xantilon havariert. In ihrer Begleitung hatte sich der Tschonn befunden, einer jener gläsernen Dämonen von Etak, denen Macabros ebenfalls inzwischen das Handwerk gelegt hatte. Über eine geheimnisvolle Brücke war es den Gläsernen gelungen, Eingang in diese Welt zu finden und Einfluss auszuüben, den sie weiter ausbauen wollten.

Macabros tötete den Tschonn und lud einen Fluch auf sich. Der Tschonn verdammte ihn dazu, dass die Zeit stets sein Gegner sein sollte. Anfangs wusste Macabros nicht, wie er diesen Fluch auffassen sollte. Dann erlebte er am eigenen Leib, welche Wirkung die Worte eines Wesens hatten, das in der Zeit zu Hause war. Je weiter er sich von dem Ort entfernte, an dem er den Tschonn getötet hatte, desto mehr geriet er auch in eine zukünftige Phase der Insel Xantilon. Er brachte nicht nur räumlich Entfernung hinter sich, sondern auch zeitlich.

So war er in Wirklichkeit vor etwa drei Wochen in der Wildnis gewesen, hatte sich die sieben Priester der Traphilen zu Freunden und Verbündeten gemacht. Aber als er auf Geheiß der drei versteinerten Zauberinnen an diesen Ausgangspunkt zurückkehrte, weil von Etak aus bedrohliche Einflüsse wirksam wurden, musste er feststellen, dass seit seiner Abwesenheit für die Natur und die Menschen, die er zurückgelassen hatte, über dreihundert Jahre vergangen waren.

Die Freunde von damals – Bolonophom zum Beispiel – waren nicht mehr. Die Generation, die damals lebte, mit der er zu tun hatte, war längst zu Staub geworden.

Diese Zeitfalle, in die er geraten war, hatte unter anderem zum Zweck, ihn daran zu hindern, das legendäre und kostbare Singende Fahsaals zu finden. Jeder, der auf Xantilon lebte, hatte irgendwann etwas darüber gehört. Genaues aber wusste niemand. Das Singende Fahsaals schuf die Möglichkeit, einen großen Einflussbereich der Mächte der Finsternis zu eliminieren, hatte angeblich die Wirkung einer gigantischen Bombe. Macabros suchte das Singende Fahsaals, weil es ihm die Möglichkeit bot, Molochos' Ewigkeits-Gefängnis auszulöschen und die Gefangenschaft für Hellmark und Carminia Brado zu beenden.

Nach seinem Abenteuer in Etak hatte er den Loarks versprochen, mit ihnen die Stadt der schlafenden Götter aufzusuchen, in der unter anderem auch sein Standbild aufgestellt war. Die Loarks waren stolz darauf, dass er sich ihnen anschloss, und noch stolzer darauf, dass er ihnen überhaupt begegnet war.

In ihrer Legende besagte der Begriff Toter Gott so viel wie abwesend, im Moment nicht körperlich greifbar, aber irgendwo für andere sichtbar und tätig. Sie hatten da eine sehr feine sprachliche Abstimmung.

Und nun war dieser Tote Gott zurückgekehrt, der gleiche, der vor dreihundert Jahren den Krieg zwischen den Traphilen und den Loarks beendet und dem Grauen einer anderen Dimension im Körper eines Steinernen Götzen ein für allemal ein Ende gesetzt hatte.

Ein kleiner stämmiger Mann, der den Namen Bolonophom trug – in Erinnerung an jenen Bolonophom, der an Macabros' Seite einige Abenteuer bestanden hatte – wich nicht von der Seite des großen, blonden Mannes.

Die Loark-Männer und -Frauen legten nur eine kurze Rast ein, versorgten sich mit frischem Wasser, nahmen eine Kleinigkeit zu essen zu sich und setzten in der einbrechenden Dunkelheit ihren Weg fort. Noch ein Tagesmarsch bis in die Stadt der schlafenden Götter lag vor ihnen. In der Kühle der Nacht, wenn die Sonne nicht direkt vom Himmel brannte, sondern nur die Erdwärme abstrahlte, war ein Fußmarsch angenehmer.

Macabros hatte sich schon gewundert, dass die Loarks nicht mit Llonolls gekommen waren. Dies waren Flugtiere, die gewisse Ähnlichkeit mit Bären und Raubkatzen hatten, aber über kräftige Flügel verfügten. Er hatte erfahren, dass Wallfahrer in die Wildnis der Traphilen zu Ehren des Toten Gottes stets zu Fuß gingen.

Nach einem Fußmarsch von schätzungsweise drei Stunden in östliche Richtung, direkt auf die Stadt der schlafenden Götter zu, erfolgte die nächste Rast.

Aggar's Wüstenzone breitete sich flach und scheinbar endlos vor ihnen aus. Die Dörfer und Städte der Loarks waren nur an den ringförmigen Dünen zu erkennen, die wie ein Wall riesige Landstriche umgaben. Diese akkurat gezogenen Kreise waren jedoch am besten aus der Luft zu erkennen.

Die Loark-Rasse lebte im Innern der Erde. Es gab dort endlose Boulevards, Alleen, Parks und Plätze, gewaltige Bauwerke, die mit großen Keramikplatten verschalt waren. Diese Platten waren mit bunten Mustern und Linien verziert. Jede Stadt im Innern der Wüste hatte eine eigene Farbe und ein eigenes Muster. Das gab jeder einen ureigenen, unverwechselbaren Charakter.

Jenseits der nur mannshohen Wälle standen Kanonen und Schleudern, die feindliche Eindringlinge davon abhalten sollten, die Städte in der Tiefe der Erde zu überfallen. Und jenseits der Wälle lagen auch die wenigen, nur den Bewohnern selbst bekannten Eingänge, die in die Städte führten.

Normalerweise patrouillierten Wachen vor und hinter den Wällen, und auf den breiten, sauber angelegten Wüstenstraßen herrschte reger Verkehr. Doch als sie eintrafen, war alles wie ausgestorben. Kein Loark auf den Straßen, kein Wächter vor oder hinter den Wällen.

Rabathanan, ein Loark mit Schultern so breit wie ein Kleiderschrank, ein namhafter Schwertkämpfer aus Varone und Führer der kleinen Gruppe, blickte finster drein. »Merkwürdig«, sagte er, »dass sich niemand sehen lässt.«

Das Erscheinungsbild dieser Welt war ungewöhnlich, und die Freunde beschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen. Sie waren noch eine Tagesreise von der Stadt der schlafenden Götter entfernt. Die Straße, die sie kamen, führte genau zwischen den Wällen hindurch und kerzengerade nach Osten. Alle Straßen sammelten sich dort aus allen Himmelsrichtungen.

Die Stille, die sie umgab, war ungewöhnlich und erfüllte sie mit Sorgen. War während ihrer Abwesenheit hier in der Wüste etwas passiert, von dem sie keine Ahnung haben konnten? Waren kriegerische Stämme aus einem anderen Teil der Insel hier eingefallen und hatten die Bewohner der Städte getötet? War der Überfall so überraschend erfolgt, dass die Wachen keine Gelegenheit mehr gefunden hatten, die Loarks in der Tiefe zu warnen?

Es war förmlich zu sehen, wie die Muskeln der Frauen und Männer sich spannten, als sie sich dem Wall näherten, wie die meisten ihre Schwerter zogen und Verteidigungsstellung einnahmen, bereit, sofort zu reagieren, wenn die Situation es erfordern sollte.

Die Städte der Loarks waren nicht leicht einzunehmen. Es gab nur wenige Zugänge in die Welt außerhalb. Feinde konnten nur vereinzelt eindringen und wurden deshalb leicht von Zusatzwachen an den Zugängen, die wie Tore in einer Stadtmauer waren, erkannt und eliminiert werden.

Macabros, der ein wenig die Kultur und Lebensart des Wüstenvolkes kannte, merkte ebenfalls sofort, dass hier etwas nicht stimmte.

»Wir werden nach dem Rechten sehen«, schaltete er sich ein. Es ergab sich von selbst, dass er aufgrund der Tatsache, dass er unverwundbar war, die Führung der kleinen Gruppe übernahm. Sie bestand außer ihm noch aus Harry Carson, Rabathanan, dem kleinen Bolonophom, und zwei Loark-Kriegerinnen.

Zweihundert Schritte von der Straße entfernt war in der zunehmenden Dämmerung kaum das Loch im Wüstensand zu erkennen, durch das man die Stadt betreten konnte. Die Stadt hieß Monar und hatte vier Zugänge. Der Weg nach unten erfolgte über eine sehr steile, gewundene Treppe, wie man sie in alten Schlössern und schmalen, sehr hohen Türmen fand.

Doch die Treppen waren nicht alt. Auch sie bestanden aus jenen farbigen, für die Stadt Monar typischen Keramikplatten, die leicht aufgeraut waren, damit man auf ihrer Oberfläche nicht ausrutschte.

Wie im Gänsemarsch mussten die Eindringlinge hintereinander gehen. Die Treppen waren zu schmal, boten nur jeweils einer Person Platz. Auf den Windungen nach unten gab es Aussparungen und Nischen für die Stadtwächter.

Sie fehlten.

Ein angenehmes Halbdunkel herrschte. Das weit geschwungene Deckengewölbe bestand aus quarzartiger Substanz, in dem es schimmerte und matt blinkte. Das Gewölbe war wie ein Netz, in dem das Sonnenlicht gespeichert wurde und nach Bedarf mehr oder weniger stark auf die Stadt einwirkte.

Monar lag wie alle Loark-Städte unter der Oberfläche der Wüste, und doch herrschte hier natürlicher Tages- und Nachtwechsel. Die Quarzdecke leuchtete am Tag hell wie die Sonne und wurde schwächer, wenn sie hinter dem Horizont versank.

Auf den farbenfrohen Platten hörte man die hellen Schritte der Menschen, die nach unten kamen, dann die zweite und schließlich die dritte und letzte Kontrollstelle passierten, ohne auf einen einzigen Wächter zu stoßen.

Dann war auch die Stadt schon zu sehen. Unter dem anheimelnden, rötlichen Licht der Quarzdecke dehnte sich eine gewaltige Siedlung aus, die in ein Tal hineingebaut zu sein schien. Die Häuser waren alle mit den bunten Kacheln versehen, in denen regelmäßig ein violett-orangefarbenes Muster wiederkehrte, das an zwei ineinander verschlungene Schlangen erinnerte.

Die Treppe schien frei über einem Platz zu schweben. Grüner, saftiger Rasen breitete sich unter ihnen aus. Er war durch verschieden große und unterschiedlich geformte Blumenbeete unterbrochen. Zwischen Bäumen, die zum Teil ebenfalls blühten oder grotesk geformte Blätter als Zierde aufwiesen, sprudelten schmale Bäche, gab es farbige Springbrunnen und kleine Seen, in denen bunt schillernde Fische ihre Kreise zogen.

Monar, die Stadt unter der Wüste, war ein liebens- und lebenswertes Kleinod. Die Häuser hatten unterschiedliche Formen, erweckten Kleinstadtcharakter, Geborgenheit und Sicherheit. Die bunten Kacheln verliehen dem Ganzen ein fremdartiges, ungewohntes Bild.

Die in die Tiefe führende Treppe schien Teil eines Kunstwerks zu sein, das sich wie ein gigantisches Perpetuum mobile aus der Rasenfläche erhob. Hinter den kleinen quadratischen Fenstern der auch sehr quadratisch wirkenden Häuser brannten zum Teil Lichter. In den Straßen zeigte sich kein Mensch. Auch hier lag alles ausgestorben. Die Luft roch würzig und frisch wie in einem Palmenhain.

Die Männer und Frauen blieben dicht beisammen, als sie den Rasenpfad zur Straße vorgingen. Weniger als eine Steinwurfweite entfernt lag auf der anderen Seite der parkähnlichen Anlage ein Gebäude. Es war halb von Bäumen verdeckt. In den unteren Fenstern brannte Licht.

Macabros und Harry Carson gingen an der Spitze der kleinen Gruppe. Unmittelbar hinter ihnen folgten die beiden Frauen und dann die zwei Krieger. An der braunen Holztür klebte eine handgroße Kachel, auf die die Augen einer Schlange gemalt waren. Als Macabros die Platte leicht berührte, war ein leiser Gong im Innern des Hauses zu hören.

Das Licht hinter den Fenstern zeigte an, dass jemand zu Hause sein musste.

Aber niemand öffnete. Macabros handelte ohne weiter zu überlegen. Die Situation war alles andere als normal. Eine Stadt wie Monar konnte nicht ohne Menschen sein. Irgendwo mussten sie hingegangen sein. Die Tür war nicht verschlossen. Einladend schwang sie zurück, als Macabros gegen den schimmernden Knopf drückte, der die Form eines Schwertes hatte.

Der Korridor hinter der Tür sah aus wie ein schmaler Miniatursäulengang in einem griechischen Pantheon. Dahinter folgte ein großer Raum, der mit weißen Marmorplatten ausgelegt war. Kleine Brunnen und Blumenbeete auch hier. Die Loark liebten das Leben. Es zeigte sich in allem, mit dem sie sich umgaben. Sie waren große Ästhetiker.

»Hallo? Herr des Hauses?« Macabros rief laut und deutlich. Seine Worte hallten durch den saalartigen Raum.

Keine Antwort.

Die kleine Gruppe sah sich jeden Raum an. Nirgends hielt sich ein Loark auf. Alles war sehr sauber, es gab keinerlei Anzeichen von Verwüstung oder Zerstörung. Draußen im Garten, der wie ein kleiner Hain angelegt war und in dem großblättrige, sonnengelbe Blüten dufteten, standen Krüge und Schüsseln. Essen und Getränke befanden sich darin.

Rabathanan roch daran. »Es ist ganz frisch«, sagte er nachdenklich. »Es scheint eben erst zubereitet worden zu sein. Gift?«, bemerkte er plötzlich. Dann schüttelte er heftig den Kopf und beantwortete sich seine Frage selbst. »Nein, das kann es nicht sein. Es ist niemand da. Etwas hat sie vertrieben. Es muss ganz plötzlich, ganz unerwartet gekommen sein.«

Das seltsame Vorkommnis hatte nicht nur die Bewohner dieses Hauses in Mitleidenschaft gezogen, sondern offensichtlich alle, die in Monar lebten. Alles war so wie immer.

Auf den Feuerstellen standen dampfende Speisen und Getränke, in einer Schmiede glühte noch das Feuer, und mehrere unfertige Schwerter lagen darin und mussten bearbeitet werden. Aber es war niemand da, der die Arbeit fortführte. Die Menschen hatten ihre Wohnungen und Arbeitsplätze verlassen.

»Wohin sind sie gegangen?«, murmelte Rabathanan.

Macabros und seine Begleiter untersuchten insgesamt acht nebeneinander liegende Häuser. In allen war es das gleiche. Die Menschen fehlten, hatten alles liegen und stehen lassen. Die Stille, die sie umgab, war unnatürlich und unheimlich. Sie kamen an einem Freigehege vorbei, das mitten zwischen zwei großen Blöcken lag, in dem speziell Krieger der Loarks untergebracht waren, die die Aufgabe hatten, die grenznahen Bezirke zu überwachen und zu verteidigen. Die riesigen Freikäfige waren leer.

Harry Carson, der die ganze Zeit über noch kein Wort gesprochen hatte, blickte Macabros von der Seite her an. »Langsam wird es mir hier unheimlich. Ich werde das dämliche Gefühl nicht los, dass wir dauernd beobachtet werden und ebenfalls jeden Augenblick verschwinden können wie die Bewohner dieser Stadt. Sie können sich doch nicht einfach in Luft aufgelöst haben! Sie müssen doch irgendwo geblieben sein! Dinge, die ich nicht begreife, machen mich nervös. Weißt du nichts darüber zu sagen, Björn?« Er redete ihn wieder mit dem Namen an, den Macabros am liebsten zu hören wünschte.

Es störte ihn, wenn auch Harry die Bezeichnung Gott wählte. Er wollte wie die anderen damit ausdrücken, dass Macabros über Möglichkeiten und Fähigkeiten verfügte, die ihn über das von Menschen übliche Maß hinaushoben. Besonders seine Fähigkeit, allen Elementen unversehrt zu entgehen, den Schwerthieben und Pfeilschüssen nicht zum Opfer zu fallen, hatte ihn zum Gott werden lassen. Die Legenden um seine Person hatten inzwischen bemerkenswerte Ausmaße angenommen.

»Tut mir leid, Harry«, murmelte Macabros gedankenversunken. »Wenn ich's wüsste, wäre mir auch wohler. Vor allem in einem Zusammenhang.«

Harry Carson wusste sofort, was in Macabros vorging. »Du denkst an Etak, nicht wahr?«

»Dort ist durch unser Eindringen einiges in Bewegung geraten. Vielleicht wirkt es sich hier in den Städten der Wüstenzone so aus. Wenn es so ist, Harry, dann war die Bindung und der Einfluss der gläsernen Dämonen von Etak größer, als wir ahnen konnten.«

Eine der jungen Kriegerinnen, die ganz nah an ihn herangetreten war, hatte aufmerksam zugehört. »Aber es muss nicht unbedingt mit Etak zusammenhängen, was hier geschehen ist, nicht wahr?«, fragte sie leise. Ihre großen, dunklen Augen waren auf Macabros gerichtet.

»Nein, das muss es nicht. Es kann etwas völlig Neues sein, etwas von dem bisher niemand eine Ahnung hatte. Ihr kommt aus den Wüstenstädten. Aggar's Wüstenzone ist eure Heimat. Gab es in der letzten Zeit irgendetwas Besonderes, etwas, das euch aufgefallen ist, dem ihr aber möglicherweise keine Bedeutung zugemessen habt?« Er blickte aufmerksam einen Loark nach dem anderen an.

»Nein, es war alles so wie immer.«

»Dann suchen wir weiter, bis wir etwas finden.« Das war typisch seine Art. Er musste den Dingen auf den Grund gehen. Hier war etwas Ungeheuerliches passiert, für das es keine Erklärung gab. Und er schätzte das Risiko sehr hoch ein. Aus diesem Grund wollte er auch, dass die anderen an die Oberfläche zurückkehrten, während er hier in Monar allein weiterforschte.

Doch davon wollte niemand etwas wissen.

»Ob hier oder draußen«, meinte Rabathanan, und er sprach das aus, was alle empfanden. »Worin liegt da der Unterschied? Niemand kennt die Ursache dessen, was hier passiert ist. Uns kann das gleiche unbekannte Schicksal treffen. Hier in Monar und draußen auf den Wüstenstraßen. Denn auch dort ist niemand.«

»Wir müssen des Rätsels Lösung finden«, murmelte Macabros. Doch das war leichter gesagt als getan. Wie und warum die Menschen verschwunden waren, entzog sich ihrer Kenntnis. Sie wussten nicht einmal, ob dieses Terrain hier ein Ausnahmefall und in den anderen Loark-Städten alles in Ordnung war.

Doch das ließ sich schnell feststellen. Er bestimmte Bolonophom dazu, zu den anderen, draußen Wartenden zurückzukehren und drei Krieger oder Kriegerinnen auszuwählen, die sich umgehend auf den Weg in eine Nachbarstadt machen sollten, um festzustellen, wie die Dinge dort aussahen. Bolonophom eilte davon und entschwand wenig später ihren Blicken, während sie ihren Weg weiter in die tote Stadt fortsetzten.

Sie sprachen kein Wort. Das einzige Geräusch weit und breit waren ihre Schritte auf den Plattenwegen. Aber auch sie waren nicht mehr zu hören, wenn sie über den weichen, teppichartigen Rasen gingen.

Umso deutlicher vernahmen sie plötzlich das schwere, qualvolle Atmen.

Es war ganz in der Nähe und kam direkt hinter der Hausecke her.

Macabros spurtete sofort los. Das Schwert, das er von der Erscheinung der Zauberin Daiyana erhalten hatte, funkelte in seiner Hand, als er um die Ecke bog.

Wie von einer unsichtbaren Wand prallte er zurück, als er sah, was dort geschah.

1. Kapitel

Es war soweit. Die Stunde der Wahrheit war gekommen. Nun gab es kein Zurück mehr.

Jerome Culmer atmete tief durch. Die Tasche mit den Papieren und Fotos, die durchschlagende Beweiskraft hatten und jede Überprüfung aushielten, stand griffbereit neben ihm. Er fand sie auch in der Dunkelheit mit traumwandlerischer Sicherheit, und nicht weniger sicher bewegte er sich durch das stille, dunkle Haus, ohne irgendwo anzustoßen.

Hinter der Tür zum Flur wartete Culmer ab. Der entscheidende und gefährlichste Punkt in seinem Leben war gekommen. Er wusste, dass er sich jetzt keinen Fehler mehr erlauben durfte. Das Material, das er geheim im Lauf vieler Jahre zusammengetragen und durch eigene Beobachtungen ergänzt hatte, würde nun an die Öffentlichkeit geraten. Jede Zeile, jedes Bild würde einschlagen wie eine Bombe.

Jack Ruston hatte sich gemeldet. Ihm konnte er vertrauen. Er war die ganze Zeit über der Einzige gewesen, mit dem er den Kontakt nach außen aufrecht erhalten hatte. Jack war ein guter Freund, Berater und Beschützer. Er arbeitete für die CIA. Er kannte manche Tricks, die sich ein anderer nicht träumen ließ. Und er konnte vor allem auch mit der Waffe umgehen. Im Notfall war dies lebensrettend.

Die Beweise, die Jerome Culmer in seiner Tasche trug, würden einige Leute empfindlich treffen, vor allen Dingen auch jene aufschrecken, die großes Interesse daran hatten, weiterhin im Geheimen zu fungieren. Die rätselhaften Men in Black, die Männer in Schwarz, waren seine größten Feinde. Es gab eindeutige Beweise dafür, dass sie stets dann eingriffen, wenn Dinge an die Öffentlichkeit drangen, die besser nicht bekannt werden sollten. Sie waren oft in Erscheinung getreten, wenn es darum ging, Wahrheiten zu verfälschen oder zu vernichten.

Jerome Culmer hörte das ferne Motorengeräusch die Straße entlang kommen. Er warf einen Blick auf das Leuchtzifferblatt seiner Armbanduhr.

Seit Jacks Anruf waren genau drei Minuten vergangen.

Auch das stimmte. Jack hatte wie verabredet von der nächsten Telefonzelle aus angerufen. Wenn er die Geschwindigkeit wie vereinbart beibehielt, würden bis zu seinem Eintreffen am Haus noch zwei Minuten vergehen. Genau zwei Minuten später rollte das Fahrzeug vor der Haustür aus. Der Motor wurde nicht abgeschaltet.

Culmer zog den Riegel zurück und warf einen Blick durch den entstehenden Spalt nach draußen. Ein dunkelgrüner Pontiac stand vor der Einfahrt.

Jacks Wagen.

Nun gab es für Culmer keinen Grund mehr, auch nur eine Sekunde länger zu zögern. Er verließ das dunkle Haus, schloss ab und lief die drei Meter bis zu dem wartenden Fahrzeug, das mit abgeblendeten Scheinwerfern stand. Die Tür zum Beifahrersitz schwang nach außen. Jack saß am Steuer und nickte ihm mit freundlichem Lächeln zu.

Jerome Culmer zog die Tür ins Schloss, und der Fahrer startete sofort wieder.

Jack war ein Kopf kleiner als Culmer und sah in seinem grauen Straßenanzug und der dezent gemusterten Krawatte aus wie ein Versicherungsagent. Culmer drückte den Sicherungsknopf an seiner Tür herunter und hielt die prall gefüllte Aktentasche mit beiden Händen fest.

Jack Ruston seufzte und hob kaum merklich die Augenbrauen. »Weißt du, altes Haus«, sagte er leutselig, »manchmal denke ich mir, dass du etwas übertreibst.«

»Ich übertreibe nicht.«

»Doch, den Eindruck habe ich. Du bist vorsichtiger als mancher Pennäler in der Liebe.«

»Du weißt, um was es geht.«

»Ich bin überzeugt davon, dass du während der letzten Wochen weiterhin ein ganz normales Leben hättest führen können. So hast du dich in deinem eigenen Haus versteckt gehalten.«

»Es war das einzig Richtige, das ich tun konnte, Jack. Jeder musste glauben, dass ich mich noch auf Reisen befand. Wer mein Haus beobachtet hat, musste die Überzeugung gewinnen, dass sich niemand darin aufhält. Mehr wollte ich nicht erreichen.«

Der Schotterweg ging steil bergab. Das abseits gelegene Haus, das Culmer vor fünf Jahren erwarb, hatte früher einem spleenigen Schriftsteller gehört, der sich von seinen Freunden und Bekannten völlig zurückzog, weil er der Meinung war, dass die ganze Menschheit nichts tauge. Diese Meinung manifestierte sich so in ihm, dass er sich schließlich entschied, noch einsamer zu leben. Er machte alles zu Geld, was er besaß, und reiste nach Europa. In Dänemark oder Norwegen siedelte er sich auf einer einsamen Insel an, um den Menschen so fern wie möglich zu sein.

Vom Hinterland her stieß eine schmale, befestigte Straße auf den breiteren Weg, den Jack mit seinem Pontiac benutzte. Rechts fiel der Schotterweg noch steil ab. Unten standen Büsche und Bäume.

Culmer, der seinen Blick Richtung Fahrer gewandt hatte, sah den schwarzen Wagen zuerst.

»Gib Gas, Jack!«, brüllte er noch.

Der Mann an seiner Seite wusste nicht, warum er es tun sollte, und als er es endlich begriff, war es schon zu spät. Der Wagen, der auf dem Seitenweg auftauchte, war unbeleuchtet. Eine riesige, schwarze Limousine. Wie ein urwelthaftes Tier, schnell und lautlos, stieß sie von der Seite auf den Pontiac zu.

Ein Krach, ein Stoß. Metall knirschte auf Metall.

Jack gab noch Gas, aber da überschlug sich der Wagen schon und stürzte krachend den Abhang hinunter. Steine wirbelten durch die Luft, Unkraut und Gras wurde vom Wegrand mitgerissen, Zweige und Äste knackten.

Der Pontiac blieb verbeult auf dem Dach liegen, seine Räder drehten sich rasend schnell. Jerome Culmer wurde in die Polster gedrückt und spürte einen gewaltigen Druck im Kopf. Ein dumpfes Gefühl breitete sich in seinem Körper aus. Culmer schwamm sekundenlang zwischen Wachsein und Bewusstlosigkeit.

Raus hier!, hämmerte es in ihm. Der Wagen kann jeden Augenblick in Flammen aufgehen! Zu diesem Gedanken war er noch fähig, aber dann sank er in die unauslotbare Tiefe seines Bewusstseins zurück und war auch unfähig, die Gurte abzulösen und sich aus dem Sitz zu befreien.

In der Dunkelheit nahm er verschwommen und seltsam perspektivisch verzerrt Jack Ruston wahr. Er lag in verkrampfter Haltung am Steuer, das ihn einklemmte. Er blutete aus einer Stirn- und einer Brustwunde.

Grauen schnürte Culmer die Kehle zu. Er wollte schreien und auf sich aufmerksam machen, doch kein Laut kam über seine Lippen. Es schien ihm, als sei er schon eine Ewigkeit in dem verbeulten und auf dem Kopf liegenden Auto eingeschlossen. In Wirklichkeit war seit dem Sturz in die Tiefe noch keine Minute vergangen.

Da wurde von außerhalb heftig an der Tür gezogen. Mit einiger Mühe ging sie auf.

Jerome Culmer war zu benommen, um Einzelheiten mitzubekommen. Eine Gestalt tauchte vor ihm auf. Sie war ganz in Schwarz gekleidet und trug auch einen schwarzen Hut, den sie tief ins Gesicht gezogen hatte. Der Mann sah aus, als würde er zu einer Beerdigung gehen.

Hände streckten sich Culmer entgegen und tasteten zuerst nach der Aktentasche, die zwischen die Beine des Verletzten gerutscht war. Der Mann in Schwarz nahm die Tasche an sich. Dann begutachtete er Culmer und erkannte, dass er atmete und lebte.

In dem bleichen Gesicht des Fremden bewegte sich kein Muskel. Der Mann in Schwarz kroch weiter in das Fahrzeug, während er wortlos die Tasche nach hinten reichte. Da stand ein zweiter Mann in Schwarz und nahm den Gegenstand in Empfang.

Der in das havarierte Fahrzeug kriechende Mann untersuchte Jack Ruston nur flüchtig. Ruston atmete nicht mehr.

Dies war dem Fremden Signal genug. Mit raschen Griffen löste er den benommenen Jerome Culmer aus den Gurten und zerrte ihn nach außen. Culmer merkte, dass etwas mit ihm geschah. Rettung war schon da?

Er schlug halb die Augen auf und sah die dunkle Gestalt. Und zu der Angst, schwer verletzt zu sein und sterben zu müssen, kam eine weitere hinzu. Ein Mann in Schwarz! Sie waren also doch noch aufgekreuzt.

Culmer wurde von harter Hand nach draußen gezogen. Er bekam alles nur halb mit. Man schleifte ihn den Abhang hoch. Dann hörte er einen laufenden Wagenmotor. Verschwommen sah er das Auto vor sich. Ein großer, schwarzer Cadillac!

Culmer wurde hineingeschubst und fiel auf die Rücksitze. Wieder zwei Hände, die ihn aufrichteten. Er spürte es ganz deutlich. Man meinte es nicht gut mit ihm. Dies war keine Rettungsaktion, dies war eine Notwendigkeit für die Gestalten, die er seit Wochen wie die Pest fürchtete und von denen er geglaubt hatte, sie in die Irre zu führen. Es war ihm nicht gelungen.

»Nicht«, murmelte er schwach, »lasst mich los. Helft mir. Ich bin verletzt und brauche Hilfe.«

Der Motor heulte auf. Der Cadillac fuhr mit einem Ruck an. Die unterbrochene Fahrt ging weiter. Nur in einem anderen Auto.