Macabros 052: Das Grab - Dan Shocker - E-Book

Macabros 052: Das Grab E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Die Wahnsinnskugeln Für Molochos wird es selbst kritisch - er muss das Jenseits verlassen! Carminia Brado bleibt dort allein zurück. Die Seherin Kaithal spricht von einem Kristallfelsen, an dem Wunder geschehen. An einer Stelle des Felsens trete der unterirdische Fluss Skorokka ans Tageslicht. Und Skorokka münde direkt ins Totenreich … Aber diesmal scheint sich Kaithal getäuscht zu haben. Als Björn den Felsen erreicht … warten die Wahnsinnskugeln auf ihn! Kaphoons Grab Zwischen den Kristallfelsen haben sich räumliche und zeitliche Verschiebungen ergeben. Sie lassen die Verwirrung komplett werden. Jeder ist auf sich allein gestellt. Xantilons trübste Tage stehen unmittelbar bevor. Alles weist darauf hin, dass Rha-Ta-N mys Dämonen eine siegreiche Schlacht nach der anderen schlagen. Doch das Wissen der wahren Herren der Alptraumstadt ist enorm … und sie sprechen von einem Grab in dieser Region. Dem Grab Kaphoons! Und Ungeheuerliches kann geschehen!

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DAN SHOCKERS MACABROS

BAND 52

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Fachberatung: Gottfried Marbler

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-752-8

Dan Shockers Macabros Band 52

DAS GRAB

Mystery-Thriller

Die Wahnsinnskugeln

von

Dan Shocker

Prolog

Hinter dem mit dornigem Gestrüpp bewachsenen Erdhügel lagen drei Menschen. Sie schliefen.

Vor einem hohen schwarzen Stein, der wie verloren zwischen Büschen und Erdhügel aus dem Boden ragte, hockte eine dunkel gekleidete Gestalt. Auf ihren Knien lag eine brüchige Pergamentkarte, die das Land Xantilon zeigte.

Der Himmel war bewölkt, hin und wieder blinkten vereinzelte Sterne zwischen den dunklen Wolken und spendeten schwaches Licht. Aber es reichte dem Wächter in der Dunkelheit offensichtlich, um auf der Karte das zu erkennen, was er sehen wollte.

Evonts ganze Aufmerksamkeit galt keineswegs dem Studium der Karte allein, in die er mit einem fingerlangen Stift eine Markierung setzte.

Der Mann, der sich durch seine schwarze Kleidung von der Nacht kaum abhob, ließ immer wieder von unten herauf seinen Blick in die Umgebung schweifen und lauschte auf jedes Geräusch. Alles war aber gleich bleibend. Das monotone Rauschen des nahen Flusses beruhigte, erweckte jedoch nur das Gefühl der Stille und Friedlichkeit.

Genau das Gegenteil war der Fall, und so war es verständlich, weshalb der Mann mit dem rostroten Vollbart neben sich einen Speer in den Boden gerammt hatte und unter der Karte auf seinen angewinkelten Knien ein breites Kampfschwert lag.

Überall lauerte die Gefahr. Geister und Dämonen waren unterwegs, die Brandschatzer Kyrtas, der Stadt, die in Flammen aufgegangen war und Tausenden den Tod gebracht hatte. Jene, die rechtzeitig den Flammen entkommen konnten, waren in alle Himmelsrichtungen geflohen.

Evont hatte sich mit seiner Frau, seinem Sohn und Bruder nach Süden gewandt. Sie hielten sich nach anstrengendem Marsch an der Biegung des so genannten Dunklen Wassers auf. Bei Tagesanbruch wollten sie ihren Weg weiter nach Süden fortsetzen.

Jenseits der Kristallfelsen, so erzählte man sich, lag so etwas wie ein verheißenes Land, wo Ruhe und Frieden herrschten. Die Dämonen und unheimlichen Geschöpfe der Finsternis, die sich wie die Pest über das Land ausdehnten, sollten dort kaum oder gar nicht in Erscheinung treten. Im Norden des Landes wäre Außergewöhnliches passiert, dort hätten sich finstere Mächte etabliert, die die Ankunft eines großen Führers ihres Reiches erwarteten.

Er folgte seinem Gefühl. Was wirklich war, wusste niemand. Die Zeiten waren unsicher geworden. Mörder gingen um, menschliche und dämonische, und niemand wusste, ob sie nicht hinter der nächsten Wegbiegung auf der Lauer lagen. Man konnte es nicht mehr wagen, in diesen unsicheren Zeiten unbewaffnet zu gehen.

Leises, kaum hörbares Rascheln schreckte ihn auf.

Er faltete die Karte zusammen und steckte sie in die Innentasche seines Mantels. Evont blickte in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Der Fluss lag nur eine Steinwurfweite von dem Erdhügel entfernt, in der sie nach dem Marsch immer am Flusslauf entlang ihre erste Lagerstätte errichtet hatten. Die Reste der Feuerstelle am Rand der Mulde waren noch zu sehen. Gebratenes duftete wie ein Hauch in der Luft.

Evont erhob sich. Seine kräftige Hand umspannte den Griff des Schwertes, die andere zog mechanisch den Speer aus dem Boden. Der Mann aus Kyrta verließ langsam den Platz, begab sich lautlos und geduckt auf den Hügel und spähte hinüber zum Flusslauf. Das Wasser wälzte sich träge durch das breite Bett. Leises Rauschen und Schwappen, wenn die Flüssigkeit in eine Mulde oder einen Stein übersprang.

Evonts Blicke schienen die Dunkelheit zu durchdringen. Er konnte nichts Außergewöhnliches feststellen und doch wurde er das Gefühl nicht los, dass da etwas war. Er spürte die Gefahr beinahe körperlich. Es lag etwas in der Luft. Unheil wehte ihn an, und er vermochte nicht zu sagen, woher es kam.

Er musste die anderen wecken. Doch es war schon zu spät.

Der schwarze Boden vor seinen Füßen bewegte sich wie ein lebender Teppich und stieg in dieser Sekunde blitzartig vor ihm in die Höhe.

Zu spät zum Schreien!

Wie ein feuchtes, schmutziges Tuch legte sich etwas auf seinen Mund, sein Gesicht, erstickte jeden Laut.

Evont sah nichts mehr, setzte sich aber zur Wehr. Er stieß sein Kampfschwert nach vorn und rammte den Speer gleichzeitig in den Boden vor seinen Füßen, weil er wusste, dass die Gefahr wie ein schleichender Schatten durch die Nacht und aus dem Fluss gekommen war.

Blindlings stieß er um sich und merkte die weich fließende, schwammartige Masse, in der Schwert und Speer versanken.

Er traf den Angreifer! Aber der ließ dennoch nicht los! Die weich fließende Masse war unverwundbar, oder es gelang ihm nicht, ein lebenswichtiges Organ zu treffen.

Evont wurde zu Boden gerissen und merkte, wie er davon geschleift wurde. Er schlug um sich, ohne dass er etwas damit erreichte. Der Speer wurde ihm aus der Hand gerissen, wackelte wie ein Stab hin und her, der zu locker im Boden steckte, und fiel schließlich seitwärts in die Büsche.

Das Grauen lief fast lautlos ab, und die Schläfer in der Mulde, erschöpft von dem anstrengenden Marsch, bekamen von allem nichts mit.

Evont war bedeckt von schwarzem Schlamm. Die Konturen des Opfers zeichneten sich unter der Masse ab, die ihn nun vollends umgab. Noch hielt er sein Schwert in der Hand. Aber auch die Waffe war inzwischen von dem schmierigen Film überzogen, der einen Durchmesser von etwa fünf Metern hatte und im Moment noch rund fünfzig Meter lang war.

Der lebende Schlamm zog sich in das schmutzige Flusswasser zurück. Die Ausbeulung – Evonts Körper – rutschte über den steinigen Boden, geriet dann in die Nähe des Ufers und verschwand in gurgelndem Wasser.

Evont wurde von der unheimlichen Bestie aus dem Strom in die Tiefe gezogen, spürte den Druck und das Wasser, das über ihm zusammenschlug.

Evonts Herz raste. Er war das Opfer eines Ungeheuers geworden. Bis zur Stunde hatte er nicht gewusst, dass im Dunklen Wasser Wesen existierten, die nachts an Land krochen und dort offensichtlich ihre Beute jagten.

Der schwarze Film zog sich von seinem Gesicht zurück, und das schmutzige Wasser traf ihn jetzt voll. Evont riss die Augen weit auf und nahm nur verschwommene Konturen wahr. Das schwache Licht der Sterne reichte nicht aus, um die Oberfläche des Flusses zu durchdringen.

Evont wurde weiter mit ruckartigen Bewegungen in die Tiefe gezerrt. Offenbar wollte das Flussungeheuer ihn nicht sofort verschlingen, sondern ihn als Vorrat anlegen.

Noch war er imstande, die Luft anzuhalten und mit dem Sauerstoffrest in den Lungen auszukommen. Aber mit jeder weiteren Sekunde wurde die Angst zu ertrinken größer und stieg wie ein Schreckgespenst in ihm auf.

Es musste einen Weg geben, sich zu befreien! Er war stark und noch bewaffnet und doch klebte er wie eine Fliege im Spinnennetz an diesem merkwürdigen Schleimkörper.

Vor seinen Augen begann alles zu kreisen, der Druck in seinem Kopf wurde unerträglich. Dann begann er Wasser zu schlucken, ohne es zu wollen. In panischer Angst mobilisierte er alle Kräfte, doch es war ein Kampf, den er nicht gewinnen konnte.

Die Bestie war stärker. Er verschwand bis zu den Schultern in der sackartigen Ausstülpung, war praktisch ein Teil des unheimlichen Wesens.

Plötzlich sah er etwas Helles. Seine strapazierten, schon beeinträchtigten Sinne erhaschten einen Eindruck.

Aus dem dunklen, aufgewühlten Boden ragte eine menschliche Gestalt.

Groß, breitschultrig, kühne Gesichtszüge, blond. Wie ein Geist aus dem Nichts tauchte die Gestalt auf, nahm schärfere Konturen an und schnellte auf Evont zu.

Der Mann aus Kyrta fühlte den Tod kommen und reihte die Bilder, die er wahrnahm, in das Reich der Halluzinationen ein, die von seinem absterbenden, mit Sauerstoff unterversorgten Gehirn herrührten.

Das war eine Erscheinung. Er wünschte sie sich, aber sie konnte ihm nicht helfen. Gerade in dieser schweren, gefahrvollen Zeit war der Name des Mannes, auf den die Legende zurückging, wieder in aller Munde.

Die Generationen vor Evont hatten ihm die Bezeichnung Toter Gott gegeben, der Begriff Tod im Sinn von abwesend, gerade nicht hier. Seine Anwesenheit oder Abwesenheit war nie etwas Endgültiges. Er tauchte unerwartet an verschiedenen Orten auf, half in Not Geratenen und Bedrohten und tötete die Geister und Dämonen. Er hatte ein Schwert bei sich, das die Geschöpfe der Finsternis in eine Wolke verwandelte. Er selbst war unverwundbar. Kein Feuer konnte ihn verbrennen, kein Schwert fällen, keine Säure ihn zerstören. Der Tote Gott – eine lebendig gewordene Legende!

So, wie er ihn eben gesehen hatte, beschrieb man ihn. Es ging alles so schnell, dass Evont die Dinge nicht mitbekam. Es ging ein Ruck durch seinen Körper. Er wurde seitwärts weg geschleudert, und rings um ihn stieg sprudelnd das Wasser auf.

Der Fluss, in den er getaucht wurde, geriet in Bewegung. Das unheimliche Schleimgeschöpf, das hier im Dunklen Wasser zu Hause war, peitschte mit seinem gewaltigen, zerfließenden Körper die Fluten und wirbelte den Boden des Flussbettes auf. Fische, Sand, kleine Steine und Fetzen von Wasserpflanzen wurden wild durcheinander geschleudert.

Ein Schwert teilte die Fluten und hieb auf das große schwarze Schleimmonster herab. Die Klinge drang tief in den Leib, eine schwarzblaue Brühe quoll ruckartig hervor und verteilte sich im Fluss. Das Wasser ringsum wurde aufgepeitscht wie vom Schwanz eines riesigen Alligators, der um sein Leben kämpfte.

Mechanisch bewegte Evont die Arme. Er war nur noch halb bei Bewusstsein. Das Geschehen ringsum, den Krach, die Todesangst, die Aktivität der Erscheinung, die er als den Toten Gott identifiziert hatte, bekam er wie im Traum mit.

Der blonde Mann, der nicht ganz materialisierte, war niemand anderes als Macabros, Björn Hellmarks Doppelkörper! Macabros setzte das Schwert ein, das er aus der Hand der schönen Zauberin Daiyana erhalten hatte. Er drängte die schleimigen Schleier zurück, die auseinander fächerten, um auch ihn zu erreichen.

Die Flussbestie war kein Geschöpf aus dem Reich der Finsternis. Unter der Berührung des magischen Schwertes löste es sich nicht in Form einer schwefelgelben Wolke auf, wie es bei Wesen aus dem Reich Rha-Ta-N'mys üblich war.

Es war ein Raubtier, das nachts auf Beutefang ging. Das Schwert hatte es verletzt, und es zog sich zischend und sprudelnd zurück, als es einen zweiten Hieb erhielt.

Macabros, luftig wie ein Geist, stieg an die Oberfläche.

Der schwere bärtige Mann, den er aus dem Zugriff der Bestie befreit hatte, drohte erneut unterzugehen. Evont wusste nicht, wo er war. Er hatte zu viel Wasser geschluckt. Aus eigener Kraft hätte er es nicht mehr geschafft und wäre ertrunken.

Macabros zog den aus Kyrta Geflohenen ans Ufer.

Evont lag da wie ein nasser Sack. Macabros riss ihm die Arme hoch, presste sie ihm auf den Magen und drückte das Wasser aus den Lungen.

Evont begann zu husten und zu spucken. Er röchelte, lag schließlich auf dem Bauch, und ein Schwall schmutzigen Wassers schoss aus seinem Mund. Dann wurde sein Atem ruhiger. Das Hämmern in den Schläfen und der Druck auf seinen Hinterkopf gingen zurück. Seine Augen waren noch verschleiert. Verschwommen nahm er die Umrisse einer Gestalt wahr, die sich über ihn beugte.

»Danke«, flüsterte er. »Es war aussichtslos. Ich ... ich hatte keine Chance. Es gibt dich also tatsächlich. Du bist nicht nur eine Legende. Viele haben dich schon gesehen. Nun erlebe ich es auch.«

»Ich war zufällig in der Nähe.« Auch Macabros bediente sich der alten Sprache Xantilons.

Sein feinstofflicher Körper war seltsam leicht und wirkte geisterhaft. Es schien, als sei er nicht ganz in dieser und ganz in der anderen Dimension. Genau so war es. Macabros war nicht freiwillig hier. Es handelte sich tatsächlich um einen Zufall. Die rätselhaften Männer in Schwarz hatten die Absicht gehabt, sich seiner zu entledigen. Es war ihnen gelungen, ihn in die Vergangenheit und die Region des Unsichtbaren hinein zu zwingen. Aber sie hatten ihn nicht, wie es ihr ursprünglicher Plan war, vollends auslöschen können. Mit der Vernichtung des Doppelkörpers hatten sie auch den Mann, der diesen erzeugen konnte, töten wollen: Björn Hellmark. Beides war nicht gelungen. Sie hatten es allerdings geschafft, eine Spannung zwischen beiden Körpern aufzubauen, sodass Hellmark seinen Zweitkörper nicht zurückrufen und kontrollieren konnte. Macabros arbeitete vollkommen und unabhängig, im Sinn des Mannes, der er auch war, ohne dass seine Erkenntnisse über die unsichtbare Verbindungsschnur, die immer noch zwischen ihnen existierte, zu Hellmarks Bewusstseinsinhalt wurde. Was Macabros erlebte, blieb Hellmark unbekannt.

»Die Zeit der Bedrängung und des Unheils hat begonnen«, flüsterte Evont. »Die Tage waren nie so düster.«

»Es hat immer Gefahren gegeben. Sie kamen aus der gleichen Quelle«, widersprach Macabros. Wie ein Hauch aus Licht und Luft hockte er vor dem Mann, dessen Sinne immer wacher wurden. »Schon in früheren Zeiten gab es die Bedrohung durch die Dämonen. Nun allerdings versuchen sie, ihre Macht zu manifestieren. Jeder Einzelne kann etwas dagegen tun.«

»An mir soll es nicht liegen. Ich war wachsam. Aber ich rechnete nicht mit dem Angriff einer Flussbestie. Auch das ist ein Zeichen dafür, dass sich auf Xantilon die Gewichte verlagern. Es gibt plötzlich an Orten wilde, Menschen fressende Tiere, die es vorher nicht gab.«

»Das ist ein Irrtum.« Macabros schüttelte den Kopf. »Xantilon zeigt die Spuren einer Welt, die jede durchmacht, in der das Böse und das Gute aufeinander prallen. Dem Bösen keine Chance geben, es an der Quelle bekämpfen, sodass keine negativen Kräfte wach werden und sich im Lauf von Jahrhunderten und Jahrtausenden summieren können. Xantilon ist ein Versuchsfeld. Was hier gelingt oder nicht gelingt, wird Maßstab sein für ferne Ereignisse.«

»Ich verstehe es nicht.«

»Es würde zu weit führen, dir alles in der kurzen Zeit erklären zu wollen. Tu das, was du für richtig hältst, und du tust das Beste für das, was nachkommt.«

»Ich muss es den anderen sagen«, stieß Evont plötzlich hervor, und Aufregung packte ihn.

»Was willst du ihnen sagen?«

»Dass ich dir begegnet bin, dass du mir das Leben gerettet hast.«

»Das ist nicht so wichtig. Du musst wieder auf die Beine kommen und Kraft schöpfen, um die Menschen zu beschützen, die dir anvertraut sind. Wohin willst du sie geleiten?«

Evont nannte sein Ziel. »Die Kristallfelsen, sagt man, sind ein Ort der Ruhe und des Friedens. Die Dämonen meiden diese Landschaft. Niemand weiß warum.«

»Dann begib dich weiter nach Süden.«

Macabros war Evont auf die Beine behilflich. Der muskulöse Mann war bis auf die Haut durchnässt. Zum Glück war die Nacht nicht kühl, sodass er nicht fröstelte.

»Ich werde die anderen wecken«, sagte er schnell, als er ehrfürchtig vor Macabros zurückwich. »Sie sollen dich sehen, sie sollen mit eigenen Augen sehen, dass du wirklich da bist.«

Macabros blieb zurück. Sein Körper war noch blasser und durchsichtiger geworden, und es schien, als würde er im nächsten Moment unsichtbar werden.

Da hörte er den Schrei. Er kam über Evonts Lippen. »Sie sind weg!«

Macabros spurtete los und warf sich nach vorn, das Schwert in seiner Hand blinkte matt im Sternenlicht. Er erreichte den Erdhügel, blickte in die Mulde zwischen dem dornigen Gestrüpp und sah Evont wie von Sinnen darauf zulaufen.

»Sie sind verschwunden! Heran! Baia! Malek! Wo seid ihr? Könnt ihr mich hören?« Er hatte die Hände trichterförmig an den Mund gelegt und brüllte lautstark in die Nacht.

Da kam ihm etwas entgegen geflogen, das aussah wie ein Ball.

Aber es war kein Ball.

Es war ein Kopf.

1. Kapitel

Der Mann, der die mit phantastischen Reliefs verzierte Tür aufstieß, war groß, braun gebrannt, blond und glich der Erscheinung, die Evont gesehen hatte, aufs Haar.

Dieser Mann war Björn Hellmark. Er ahnte nicht, dass sich sein Zweitkörper in dieser Minute ein paar hundert Meilen weiter südlich aufhielt und zum Lebensretter des Kämpfers Evont geworden war.

Björn war seinem Doppelkörper ebenfalls erst kürzlich begegnet. Macabros hatte ihn aus einer prekären Situation befreit. Zu einer Verschmelzung des Originalkörpers und des feinstofflichen war es jedoch nicht gekommen. Was normal und natürlich war, ließ sich wegen des entscheidenden Eingriffs der Männer in Schwarz nicht durchführen, die in diesem Fall zu echten Handlangern der Dämonenmächte geworden waren.

Hellmark suchte jene Halle auf, die Museum, Mausoleum und Tempel gleichzeitig zu sein schien. Tausende von mannshohen Porzellanfiguren waren hier aufgestellt. Jede einzelne war mit großer Detailliebe ausgeführt. Jede Figur stellte eine Persönlichkeit dar und hatte unverwechselbare Züge trotz der zum Teil uniformen Kleidung.

Krieger und Gesellschafterinnen eines ehemaligen Herrschers der Stadt Gigantopolis waren in langen Reihen aufgegliedert. Die Porzellan- oder Elfenbeinmenschen waren teilweise bewaffnet. Besonders die Krieger der ersten Reihen. Es waren mindestens achthundert bis tausend.

Der riesige Saal war unüberschaubar. Björn musste die außergewöhnliche Halle durchqueren, um in das Halbdunkel zu gelangen, in dem sich die Lichtkuppel befand. Sie wurde von bis an die Zähne bewaffneten, finster dreinblickenden Gestalten bewacht.

Aber es waren auch junge Mädchen da, in hübschen, luftig schwingenden Kleidern und mit Blumen im Haar. Sie umtanzten das kugelförmige Lichtfeld mit glücklichem Ausdruck auf ihren Gesichtern.

Von diesem erhöhten Standpunkt aus ließ Björn noch einmal seinen Blick in die Weite der Halle schweifen. Hier waren ein Teil der Kultur und vor allem das Wissen jener Wesen verankert, die sich Soomans nannten. Das Licht inmitten der Bewacher und Tanzenden war Licht aus dem Sternenkristall, mit dem es seine besondere Bewandtnis hatte.

Hellmark mied absichtlich allzu große Nähe mit dem Kreis der Bewacher und Tanzenden. Ihm kam es nicht darauf an, in das Lichtfeld zu geraten und erneut das zu sehen, was beim ersten Eintritt für ihn wichtig gewesen war. Er wollte sich die Gestalten ansehen, die in dieser riesigen Halle standen.

Sie wirkten seltsam lebensecht, als würden sie nur den Atem anhalten. Er legte seine Hand auf einen Jüngling, der mit Pfeil und Bogen bewaffnet war, ein goldfarbenes Hemd und eng anliegende Beinkleider trug. Die braunen Arme waren muskulös und nackt. Das Material, aus dem die Statue bestand, fühlte sich glatt und kalt an.

Björn Hellmark war der Einzige, der hier lebte und atmete. Und doch wollte er es nicht wahrhaben. Der Erbe von Marlos und Herr über die ehemalige Albtraumstadt Gigantopolis wurde das Gefühl nicht los, dass es doch wenigstens einen der Fremden hier gab, der lebte.

Es war etwas geschehen, für das seine Begleiter und er noch keine Erklärung gefunden hatten. Die riesige Stadt mit den tausend Türmen hatte sich erhoben und das von Molochos gerufene Totenheer Nekromos zerschmettert. Zu diesem Zeitpunkt war außer Arson niemand sonst von ihnen in der Stadt gewesen.

Gigantopolis aber gehorchte nach allem, was er über die Stadt aus dem Sternenkristall erfahren hatte, nur seinem Willen.

Aber nach den Ereignissen stimmte das nicht mehr. Es gab jemanden, der die Kräfte auch aktivieren konnte, dessen Psyche mit der der unglaublichen Stadt in Verbindung stand. Es war kein Feind. Schließlich hatte er ihnen geholfen.

»Wo immer du bist«, sagte Björn mit klarer Stimme, und seine Worte hallten durch den riesigen Saal mit den Statuen. »Warum verbirgst du dich vor uns? Ich vermute, dass du hier irgendwo stehst. In der Masse verschwindet der Einzelne, sie ist sein bester Schutz. Warum zeigst du dich nicht? Wir haben überall nach dir gesucht, dich aber nicht gefunden. Aber wir wissen, dass es dich gibt. Du brauchst dich nicht vor uns zu verstecken. Zeige dich.«

Er wartete auf ein Zeichen, und es kam auch eines.

Aber was sich da zeigte, das hatte er am wenigsten erwartet. Es war groß wie ein Rabe und konnte fliegen, hatte aber außer den seidenweichen, schmetterlingsähnlichen Flügeln menschliche Arme und Beine, ein Gesicht wie ein Mensch, nur alles vielfach verkleinert. Die hervorquellenden, wimpernlosen Augen passten allerdings eher zu einer Schildkröte als zu einem Menschen.

Was aus der Tiefe der schummrigen Halle angeflogen kam und sowohl Ähnlichkeit mit einem Vogel, einer Schildkröte und einem Menschen hatte, das konnte nur einer sein.

»Whiss!«, entfuhr es Hellmark ungläubig, denn der kleine Kerl mit den besonderen Fähigkeiten galt seit über einer Woche als verschollen!

Der Mann war einen Augenblick wie gelähmt.

Er starrte auf den Kopf, der ihm entgegenflog, der ihn getroffen hätte, wäre er nicht im letzten Augenblick weggetaucht.

Evont stöhnte. Das Grauen, vorhin mit dem Angriff der schwarzen formlosen Masse aus dem Fluss begonnen, setzte sich fort. Baia, seine Frau, und sein Sohn waren weg. Auch von Malek, seinem Bruder, gab es keine Spur.

»Hilf mir!«, stieß Evont flehentlich hervor, und sein Blick suchte den blonden Mann, der ihn aus dem Wasser gezogen hatte. »Hilf mir noch ein einziges Mal, und ich werde dir aus Dankbarkeit eine Gedenkstätte errichten und deine Taten in Lobeshymnen berichten, dass jedermann im Land davon erfährt.«

Während er sprach, tauchte ein zweiter Kopf aus dem Dunklen auf und jagte wie ein Geschoss auf ihn zu.

Das fremde Gesicht war ihm ganz nahe. Evont hielt das Schwert bereits in der Hand und holte aus, um diesen dämonischen Angriff, wie er vermutete, zurückzuschlagen.

Da veränderte sich das dämonenfratzige Antlitz. Aus dem Fremden wurde etwas Vertrautes.

Er wollte noch inne halten. Doch es war schon zu spät.

Das Kampfschwert traf voll den Kopf, der ihm wie ein Ball entgegen geschleudert worden war. Die Klinge spaltete ihn.

Er fiel vor seine Füße, und Evont starrte voller Entsetzen in das blutige Antlitz seiner Frau Baia!

Alles in ihm wehrte sich gegen das Grauen, das von ihm Besitz ergriff. Er glaubte, der Boden unter ihm würde sich öffnen. Sein Verstand stand auf der Kippe.

Evont schrie wie von Sinnen.

Macabros hörte den Schrei wie durch eine meterdicke Wand. Er setzte sich in Bewegung, aber er kam am Ort der Ereignisse nicht an. Eine unsichtbare Wand hielt ihn zurück! Er konnte nicht auftauchen aus der Welt des Unsichtbaren, in die er gebannt worden war. Immer wieder musste er die gleiche Erfahrung machen. Hin und wieder gelang es, dass er in der dritten Dimension materialisieren und eingreifen konnte. Doch die Augenblicke gingen auf Zufälle zurück und ließen sich vorher nicht bestimmen.

Er setzte seine ganze Willenskraft ein, um aus dem Unsichtbaren herauszutreten und das Schwert einzusetzen, mit dem das Dämonische sich bezwingen ließ.

Er hatte den Boden unter den Füßen verloren. Er schwebte. Aber nicht auf den bedrängten und dem Wahnsinn nahen Evont zu, sondern genau in entgegengesetzter Richtung.

Die Welt des Unsichtbaren, die er aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen nur von Fall zu Fall verlassen konnte, hatte ihn wieder voll im Griff. Vorhin hatte er eingreifen können, nun war es ihm versagt.

Macabros zerdrückte einen Fluch zwischen den Zähnen.

Das Schicksal und das Leid dieses Mannes dauerten an. Evont war verzweifelt und wurde an die Grenze seiner Existenz geschleudert.

Er sah sich schreiend um und schien Macabros zu suchen, den Mann, den man den Toten Gott nannte. Nun traf die Bezeichnung in einem Maß zu, wie es auch für Macabros nicht unerträglicher sein konnte.

Er war im Sinn der altxantilonischen Sprache tot, abwesend. Er konnte nicht auftauchen und eingreifen, obwohl ein schreckliches Geschehen direkt vor seinen Augen abrollte und niemand in der Nähe weilte, um zu helfen.

Ein Sog, dem er nichts entgegen setzen konnte, wirkte sich auf ihn aus.

Er entfernte sich immer weiter vom Ort des Geschehens, während Evont verzweifelt nach ihm rief und sogar an die Stelle zurückrannte, wo sie sich voneinander getrennt hatten.

Für den Mann aus Kyrta musste eine Welt zusammenbrechen. Er war vom Regen in die Traufe geraten. Da hatte ihn jene legendäre Gestalt aus tödlicher Gefahr befreit, um ihn in den Wahnsinn zu schicken.

Macabros bot seine ganze Willenskraft auf, um wieder in Evonts Nähe zu kommen und gegen das Unheil anzukämpfen, mit dem dieser Mann konfrontiert wurde.

Macabros ahnte das Grauen mehr, als er es sah. Die Luft war erfüllt mit etwas Bösem, Beklemmendem. Die Dunkelheit rings um den Ort des Geschehens nahm zu. Macabros konnte die Stelle nur noch aus weiter Entfernung sehen, und dunkle Nebelschleier verbargen Einzelheiten.

Evont und der Erdhügel wurden eins: Dunkelheit!

Macabros konnte dem Zwang, der auf ihn ausgeübt wurde, nichts entgegen setzen. Er glitt in seiner unsichtbaren Welt hinein in eine unbekannte Ferne. Es schien, als würde er an geheimnisvollen Fäden gezogen. Die Welt rings um ihn versank. Er war wieder Gefangener im Unsichtbaren.

Was seine Odyssee ihm weiter brachte, wusste er nicht. Er trieb wie ein Korken auf der Oberfläche eines wild bewegten Meeres und konnte nur hoffen, bald an Land gespült zu werden. Dieses Land war die sichtbare Welt, in der er sich frei bewegen und aktiv sein konnte, in der er denen helfen konnte, die der aufkommenden Dämonengefahr kaum oder nichts entgegen setzen konnten.

Evont wusste nichts von den Ereignissen, die sich jenseits seines Wahrnehmungsvermögens abspielten. Er rief nach dem Toten Gott und gab es nicht auf. Einmal hatte er ihm geholfen, warum ließ er ihn jetzt im Stich? Evont verstand die Welt nicht mehr.

»Der Wille der Götter!«, schrie er gepeinigt. »Er ist unerforschlich! Warum hast du das zugelassen? Hast du mich nur gerettet, um mich in noch tiefere Verzweiflung zu stürzen? Ich hätte in diesem Fall den Tod vorgezogen! Gib mir Antwort! Warum zeigst du dich nicht mehr? Warum lässt du mich jetzt allein, wo ich dich am nötigsten brauche?«

Seine Stimme verhallte.

Evont wirbelte herum. Vielleicht war alles nur eine Täuschung, durchzuckte ihn plötzlich der Gedanke. Ich habe die Wache in dieser Nacht. Der Tag war anstrengend. Ich habe mich mit Mühe wach gehalten, war erschöpft wie die anderen. Nun bin ich doch eingenickt. Ich muss wach werden. Da ist eine Gefahr im Anzug, ich darf nicht länger träumen.

Er riss die Augen so weit auf, dass sie schmerzten. Er kniff sich in die Wangen. Der spitze Schmerz war deutlich zu spüren.

»Ich träume nicht. ich bin hellwach! Wenn ...«

Was er noch sagen wollte, blieb ihm wie ein Kloß im Hals stecken. In der Dunkelheit bewegte sich etwas. Es war groß und massig und überragte ihn um mindestens zwei Köpfe.

Ein widerliches Lachen drang ihm entgegen.

»Du begehst einen Fehler nach dem anderen«, sagte eine unheimliche Stimme. »Warum wendest du dich an einen, der dir sowieso nicht helfen kann und dessen Auftauchen nichts weiter war als eine Fata Morgana. Wende dich an mich! Ich kann dir helfen! Deine Frau, dein Bruder, dein Sohn, Evont – ich weiß, wo sie sind und wie du zu ihnen kommen kannst. Mich musst du fragen, nicht den anderen.«

Evont stöhnte. Die Dunkelheit vor ihm wurde kompakter. Es war eine Gestalt, groß und grausam anzusehen. Das Böse das in diesen Tagen überall Unsicherheit verbreitete, hatte Form und Gestalt angenommen. Eine dämonische Welt hatte einen ihrer Bewohner ausgespien.

Evont hob langsam das Schwert. Sein Gegenüber lachte. Das große, fleischige Gesicht war rund, auf dem Schädel wuchs borstig abstehendes Haar, das aussah wie die Wurzel eines Kohlkopfes. Die Augen waren schräg angesetzt und glühten rot. Pupillen gab es keine. Der riesige Mensch fletschte die Zähne. Das Gebiss war spitz, unregelmäßig und scharfkantig.

»Du schneidest dir ins eigene Fleisch«, dröhnte es aus der Kehle der unheimlichen, übergroßen Gestalt, »wenn du dein Schwert einsetzt. Niemand außer mir kann dir helfen. Wenn du die Menschen, mit denen du zusammen warst, wiedersehen möchtest, dann tu, was ich von dir verlange.«

»Wer bist du?«, wisperte Evont. Auf seinem Gesicht lag ein ungläubiger Ausdruck.

Teuflisches Lachen, das bei ihm eine Gänsehaut erzeugte, drang ihm entgegen. »Welchen Namen willst du hören?«

»Deinen wahren.«

»Ich habe viele wahre Namen, denn ich habe schon viele Male gelebt. Der Name, unter dem mich die meisten kennen, ist Menat.«

Der Polizeiwagen rumpelte über die schlecht asphaltierte Straße. Der Kastenwagen hatte hinten zur Linken wie zur Rechten jeweils zwei winzige, vergitterte Fenster. Durch das fiel hin und wieder ein schwacher Lichtschein, wenn ein Fahrzeug entgegen kam oder überholte.

Der Lichtstreifen huschte dann über das Gesicht der blassen, ernst wirkenden Frau, die neben einem uniformierten Beamten auf der harten Holzbank saß.

Die Frau war Pamela Kilian. Der Staatsanwalt hatte ihre Einweisung in eine geschlossene Anstalt für psychisch Kranke verfügt. Pamela Kilian war für das, was sie getan hatte, nicht verantwortlich zu machen. Sie hatte ein Landhaus in die Luft gesprengt und dabei zwei Menschen getötet.

»Wie weit sind wir noch vom Ziel entfernt?«, fragte sie abwesend. Sie trug Handschellen.

»Noch eine Viertelstunde«, antwortete der Beamte an ihrer Seite.

Pamela atmete tief durch. Sie reckte sich und streckte die Beine. In dem engen Wagen schmerzten die Glieder.

»Eine Viertelstunde. Zeit für eine Zigarettenlänge.« Sie wandte dem Mann an ihrer Seite das Gesicht zu und lächelte. »Würden Sie mir eine anzünden?« Sie legte die Beine übereinander. Der Rock rutschte über die Knie und gab den Blick auf wohlgeformte Schenkel frei.

Der junge Mann an ihrer Seite bemühte sich, weg zu sehen. »Es ist nicht erlaubt, Gefangenen eine Zigarette zu reichen. Nicht in Ihrem Fall«, sagte er leise.

»Weil ich verrückt bin, nicht wahr?«, fragte sie lauernd.

Keine Antwort erfolgte.

Sie befeuchtete ihre Lippen und legte den Kopf in den Nacken. »Glauben Sie auch, dass ich nicht ganz richtig ticke? Sehe ich wirklich aus wie eine Verrückte?«

Er blickte sie an. »Nein, so sehen Sie nicht aus.«

»Aber Sie halten mich trotzdem für verrückt?«

»Wir haben einen Auftrag, Miss Kilian, den müssen wir erledigen.«

»Auftrag ist Auftrag für Sie, nicht wahr?«

»Ja.«

»Sie würden also auch jemanden in diese Anstalt bringen, nur weil Sie einen Auftrag dazu haben, stimmt's? Der Gedanke, dass ein Irrtum vorliegen könnte, ist Ihnen noch nie gekommen? Es könnte doch auch sein, dass ich völlig normal bin. So normal wie Sie. Sie würden mich trotzdem in diese Anstalt bringen?«

»Unser Auftrag ließe uns keine andere Wahl, Miss Kilian. Wir haben eine Zwangseinweisung. Es tut mir sehr leid, dass Ihnen das widerfahren ist. Wenn es sich um einen Irrtum handelt, wird sich der sehr schnell aufklären.«

Sie lachte. »Wie ahnungslos Sie sind! Sie wissen selbst, wie das ist, wenn man dort eingeliefert wird. Die Tore schließen sich hinter einem und man ist vergessen. Psychische Anstalten haben etwas Endgültiges. Aus eigener Kraft kommt man nicht mehr heraus. Man ist abgestempelt. Aber ich habe noch zehn Minuten Zeit.« Sie suchte den Blick des jungen Mannes an ihrer Seite.

»Wie meinen Sie das?«

»Zeit, um Ihnen meine Unschuld zu beweisen.«

»Damit habe ich nichts zu tun. Sie können mir alles erzählen, wenn Ihnen dadurch leichter ums Herz wird. Aber ich kann die Entscheidung, die Sie erwarten, nicht treffen. Ich bin lediglich Ihr Begleiter.«

»Mein Aufpasser.«

»Richtig.« Der Uniformierte nickte. »So kann man es auch ausdrücken.«

Sie hielt ihm die Hände hin. »Wenn man so abtransportiert wird, kann man eigentlich auf einen Aufpasser verzichten, finden Sie nicht auch?«

»Genau genommen, ja«, bestätigte er. »Selbst ohne Handschellen wäre die Chance zu entkommen gleich Null. Man kann den Wagen nur von außen öffnen. Ich bin quasi mit Ihnen hier eingesperrt.«

»Hm, auch keine angenehme Situation für Sie. Sie sind Gefangener wie ich. Nur mit einem Unterschied. Wenn der Wagen am Ziel ist, fahren Sie wieder zurück, während ich in der Anstalt bleibe. Damit bin ich abgeschirmt vor der Welt. Ich bin hier, weil ein Komplott gegen mich geschmiedet wurde. Ich habe niemanden umgebracht. Es geht etwas vor, das niemand durchschaut. Die Menschen, die etwas geahnt haben, mussten sterben. Billy Sheridan war ein Opfer. In der gleichen Nacht starb Inspektor Hainley von Scotland Yard. Beide starben – so scheint es – an den schweren Verletzungen, die sie sich bei dem Unfall auf nächtlicher Straße zugezogen hatten. Um den Unfall, der auf dem Weg zwischen Farnham Common und London passierte, gibt es nach wie vor einige ungelöste Rätsel. Es gibt eine Person, die Zeuge des Unfalls war und noch lebt. Bei ihr handelt es sich um einen Beamten von Scotland Yard. Er saß in dem Nachfolgefahrzeug, er hat alles gesehen. Auch das Licht, das gar nicht hätte vorhanden sein dürfen.« Sie unterbrach sich plötzlich. »Ah, ich langweile Sie, ich weiß. Sie sind froh, wenn ich abgeliefert bin. Reden wir nicht mehr davon.«

Pamela Kilian senkte den Blick, der Beamte an ihrer Seite sagte nichts.

»Kann ich eine Zigarette von Ihnen haben?«, fragte sie nach einer Minute des Schweigens.

»Eigentlich darf ich nicht ...« Noch während er sprach, zog er jedoch die Schachtel aus der Brusttasche, nahm eine Zigarette heraus und steckte sie ihr in den Mund. Er zündete sie an. Pamela Kilian inhalierte tief.

Sie dachte verzweifelt darüber nach, wie sie es anstellen könnte, ihr Schicksal noch zu verändern, ehe sich die Tore der Anstalt hinter ihr schlossen. Dann gab es niemanden mehr, der etwas für Sie tun konnte.

»Nicht gerade angenehm, so zu rauchen«, sagte sie beiläufig und hielt ihre von den Handschellen umklammerten Hände an den Mund. »Können Sie mir die Dinger nicht so lange abnehmen, bis ich fertig bin?«

»Ausgeschlossen!«

»Bitte«, sagte sie mit einem Augenaufschlag, der Steine erweichte. »Gönnen Sie mir das Gefühl, meine Zigarette aus dem Mund und in die Hand zu nehmen. Ich komme mir vor wie ein Penner, der eine Zigarette ständig im Mundwinkel hängen hat.«

Da musste der Beamte lachen. Pamela stimmte fröhlich in das Lachen mit ein und schien mit einem Mal alle Bedrückung abgestreift zu haben.

»Na, sehen Sie!«, sagte sie. »Sie haben wenigstens keine Angst vor mir.«

»Weshalb sollte ich Angst vor Ihnen haben?«

»Mit einer gefährlichen Verrückten allein in einem Auto zu sitzen, gehört schließlich nicht zu Ihren Alltagsbeschäftigungen.« Sie hielt ihm die Hände vors Gesicht. »Nun tun Sie mir den Gefallen. Nur fünf Minuten, um die Zigarette zu Ende zu rauchen.«

»Es tut mir leid. Ich darf nicht. Wenn ich zu entscheiden hätte ...«

»Würden Sie's tun?«

»Natürlich.«

»Also doch Angst?«

»Nein. Ich halte mich an meine Vorschrift.«

»Niemand sieht es«, flehte sie leise mit verführerischer Stimme, ohne ihren Blick von seinem Gesicht zu wenden. »Nur fünf Minuten.«

»Tut mir leid.«

»Drei Minuten? Bitte. Lassen Sie mir doch mal das Gefühl.« Pamela Kilian nahm ihre Hände nicht zurück.

»Na schön«, presste der junge Mann schließlich hervor. »Sie können ja wirklich nicht raus.«

»Sie sagen es.«

Er schloss die Handschellen auf.

Aufatmend lehnte Pamela sich zurück, nahm die Zigarette aus dem Mund und warf sich in dem Moment herum, als der Mann an ihrer Seite dies am wenigsten erwartete.

Pamela Kilian war ausgebildet in chinesischen und koreanischen Kampftechniken. Ihr Körper glich einer Feder, leicht beweglich, unangreifbar in dem Moment, als die junge Frau den Angriff startete. Blitzschnell stieß ihre Rechte vor, während ihre Linke den Mund des verdutzten Mannes verschloss, und sie ihre Knie gegen seine Brust stemmte.

Ehe der Beamte begriff, wie ihm geschah, war der Überfall schon zu Ende.

Mit der Fingerfertigkeit eines Taschendiebs hatte Pamela Kilian ihm die Pistolentasche geöffnet und die Waffe herausgezogen. Leises Klicken, als der Hahn sich spannte.

»Keinen unnötigen Laut«, zischte die junge Engländerin. »Wenn Sie tun, was ich von Ihnen verlange, wird Ihnen nichts passieren.« Sie hielt ihm die Mündung entgegen.

Der Mann war weiß wie ein Leinentuch. Zorn und Verärgerung spiegelte sich in seinen Augen.

»Ich bin gemein, ich weiß«, sagte sie, während sie ihm die Handschellen anlegte. »Aber ich muss so handeln. Dies ist meine einzige Chance. Wenn ich erst hinter den Mauern bin, sind mir alle Wege versperrt. Ich muss meine Unschuld beweisen. Ich sage es Ihnen noch einmal: Ich bin unschuldig! Ich habe die Sprengladung gezündet, das stimmt! Aber zu diesem Zeitpunkt hielten sich keine Menschen mehr im Haus auf.«

»Waren Stuart Mayburry und Alec Hampton keine Menschen?«, fragte der Beamte hart.

»Sie haben den Fall scheinbar genau studiert. Alle Achtung!«

»Die Zeitungen standen voll davon! Mayburry und Hampton, zwei bekannte Persönlichkeiten, kamen bei dem Anschlag ums Leben.«

»So behaupten die Artikelschreiber.«

»Scotland Yard und die Staatsanwaltschaft kamen zu demselben Ergebnis!«