Macabros 053: Im Totenland - Dan Shocker - E-Book

Macabros 053: Im Totenland E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Skorokka - Strom ins Totenland Das Fazit der letzten Wochen ist kein Gutes: Björn hat Molochos nicht entscheidend schlagen können, und Carminia ist hermetisch von ihrer Umwelt abgeschnitten. Whiss ist spurlos verschwunden. Dies sind düstere Zeiten. Nur noch eine Hoffnung bleibt. Skorokka, der Strom ins Totenland. Björn Hellmark wagt den Vorstoß! Er überschreitet die Grenze des Weges ohne Wiederkehr … Die Droge der Götter Der Aufenthalt im Totenreich wirkt sich ungünstig aus. Carminia liegt in tiefem Schlaf, niemand kann sie wecken. Kaithal, die geheimnisvolle Prophetin der Vorzeit, weiß allerdings Rat. Sie taucht in neuer Gestalt auf und erwähnt die Droge der Götter. Es ist gefährlich, sie einzunehmen, doch Björn geht das Wagnis ein. Seine Reise in einen Traumkosmos beginnt.

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DAN SHOCKERS MACABROS

BAND 53

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Fachberatung: Gottfried Marbler

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-753-5

Dan Shockers Macabros Band 53

IM TOTENLAND

Mystery-Thriller

Skorokka – Strom ins Totenland

von

Dan Shocker

Prolog

Als er den Rolls in die Avenue lenkte, wusste der Mann am Steuer noch nicht, dass diese Nacht sein Leben von Grund auf ändern würde.

Er lächelte. „Da vorn ist es, Darling.“ Sein Gesicht glänzte, seine Augen nicht weniger. Ronald Myers hatte einiges getrunken. Viel Champagner. Dementsprechend war seine Stimmung. Heiter, fröhlich und unbeschwert. Er hätte die ganze Welt aus den Angeln heben können, so fühlte er sich.

Die Frau auf dem Beifahrersitz legte den Kopf an seine Schultern und kraulte seinen Nacken. Das schwere, rassige Parfüm stieg Myers in die Nase. Der Duft passte zu Clarissa. Frauen wie sie waren seine Schwäche. Langbeinig, schwarzhaarig, vollbusig. Er freute sich auf das Wochenende mit ihr. Hier draußen in seinem Haus, rund zwanzig Meilen nördlich von Londons Zentrum, waren sie ungestört. Schließlich lebte er nach seiner Scheidung allein in der großen alten Villa und trug niemandem gegenüber eine Verantwortung.

Links und rechts der Straße wuchsen alte Eichen, dahinter lagen sündhaft teure Villen. Die meisten waren von hohen Mauern umgeben und durch ein nicht minder hohes Tor zu erreichen.

So auch das Anwesen Myers', der als Transportunternehmer wohlhabend geworden war. Im ganzen Land fuhren seine LKWs. Er transportierte Frischfleisch, Käse und Milchprodukte, Waren für die Industrie, er hatte seine Finger auch in fast jedem Umzug, der vom Norden bis zum Süden durchgeführt wurde.

Der Rolls rollte langsam auf das reich verzierte, schmiedeeiserne Tor zu. Ein breiter Weg führte zwischen alten Bäumen zur Villa.

„Ein schönes Haus“, sagte Clarissa mit bewunderungswürdigem Augenaufschlag.

„Warte erst mal, bis du drin bist.“ Myers strahlte. „Es wird dir bestimmt gefallen.“

„So wie ich dir gefalle?“ Ihre schlanke Hand streichelte seine Wange.

„Ja. So wie du mir gefällst. Du weißt, dass ich schon lange verrückt nach dir bin.“ Er hielt vor dem großen Tor, beugte sich zu Clarissa hinüber und zog sie an sich.

„Ron, noch ein bisschen Geduld“, wisperte die Frau lachend. „Im Haus ist es bestimmt bequemer.“

Er ließ seine Hände durch ihr dichtes, langes Haar gleiten, das seidig schimmerte und verführerisch duftete.

In einem Seitenfach steckte die Fernbedienung für das große, auf Ultraschall reagierende Tor. Mit dem unhörbaren Signal öffnete er es und fuhr den Weg zum Haus entlang, während sich das Tor automatisch hinter ihm wieder schloss.

Das Haus lag im Dunkeln. Hinter keinem einzigen Fenster brannte Licht. Es war leer und verlassen.

Doch der äußere Eindruck täuschte. Am hintersten Parterrefenster stand abwartend eine dunkle Gestalt und sah durch die zugezogenen Vorhänge die Ankunft des Wagens. Das Paar stieg aus und küsste sich leidenschaftlich vor dem Hauseingang.

„Das wird dein letztes Vergnügen sein“, flüsterte die Gestalt hinter dem Fenster und verzog die Lippen zu einem teuflischen Grinsen. „In ein paar Minuten, Myers, werde ich deine Rolle, dein Auto, dein Leben und deine Geliebte übernehmen.“

Der Mann, der das sagte, sah aus wie Ronald Myers. Nicht den geringsten Unterschied gab es im Gesichtsschnitt.

Ronald Myers schloss die Haustür auf, nachdem er die Alarmanlage ausgeschaltet hatte.

»Hast du Angst, dass mal etwas passieren könnte?«, fragte Clarissa.

»Heutzutage muss man mit allem rechnen, Darling.«

Er nannte jede Frau Darling. Bei dem Verschleiß, den er gerade auf diesem Gebiet aufzuweisen hatte, lohnte es nicht, dass er sich einen Namen merkte.

Er knipste das Licht an, trat zur Seite und ließ seine elegante Begleiterin, die er aus dem Horse-Club mitgebracht hatte, vorangehen.

Clarissa bewegte sich mit dem wiegenden geschmeidigen Gang eines Mannequins. Sie war eine Frau, die die Blicke der Männer auf sich zog. Und sie gehörte – dies wortwörtlich – zu den besten Pferden im Stall des Horse-Clubs.

Der Klub existierte seit zwei Jahren. In ihm traten – wie im weltberühmten Moulin Rouge und anderen namhaften Pariser Nachtklubs – die schönsten Frauen der Welt auf, wie der Manager des Horse-Clubs auf seinen Plakaten verkündete.

Clarissa hatte im Horse ihren Solopart. Wenn sie ihre Lieder sang und dabei – kaum bekleidet – wie eine Traumerscheinung über die Bühne wirbelte, machte sie alle Männer verrückt.

Seit Monaten bemühte sich Myers, die Australierin an seinen Tisch zu bekommen – und erst recht in sein Bett. Bisher hatte er sich mit anderen Freundinnen zufrieden geben müssen. Schöne und verführerische Frauen waren sein Lebensinhalt. Alle, die er mit nach Hause genommen hatte, konnten bei jeder Schönheitskonkurrenz bestehen. Clarissa schoss den Vogel ab.

Er war ihr behilflich beim Ablegen der Nerzjacke, hängte sie auf einen Bügel und führte seinen nächtlichen Gast dann ins Wohnzimmer. Er berührte beim Vorbeigehen nur leicht die Kontaktplatte des Dimmers, und das gedämpfte Licht schuf sofort die richtige Atmosphäre.

Das riesige Wohnzimmer war ein einziger Luxus.

»Du hast eine Schwäche für teure und schöne Dinge«, gab die Australierin ihrer Bewunderung Ausdruck.

»Das ist der Grund, weshalb ich so lange gehofft habe, mit uns beiden könnte es schließlich doch mal etwas werden«, sagte er leise.

Sie schmiegte sich an ihn. Sie trug ein ärmelloses Kleid aus hauchdünner Seide, das von schmalen Spaghettiträgern gehalten wurde. Myers fühlte Clarissas warmen geschmeidigen Körper und jede Bewegung durch den Stoff.

Er schaltete die Stereoanlage ein.

»Verträumte Musik, gedämpftes Licht – was braucht man mehr?« Clarissa lächelte, breitete ihre Arme aus, sang ein paar Takte mit und machte einige Tanzschritte. Dann ließ sie sich auf das breite, weiche Sofa fallen.

»Jetzt fehlt noch ein gutes Glas Champagner – und ein bisschen mehr Gemütlichkeit.« Während er das sagte, löste er schon die weinrote Seidenschleife am Kragenknopf und schlüpfte aus seinem Jackett.

»O ja, Champagner! Aber eiskalt.«

»Du bekommst ihn genauso, Darling, wie du ihn dir wünschst. In einer halben Minute bin ich wieder zurück.«

Er holte zuerst Champagner, füllte zwei Gläser, und sie tranken gemeinsam.

Als Clarissa das Glas absetzte und Myers sie erneut küssen wollte, legte sie plötzlich den Zeigefinger an die Lippen. »Psst. Hast du das gehört?«

»Gehört? Was?«

»Ein Geräusch. Da hat eine Tür geklappt.«

»Unmöglich, Darling! Außer uns beiden ist kein Mensch hier im Haus.«

»Aber ich hab's doch ganz deutlich gehört.«

»Du hast dich sicher getäuscht.«

Nach diesen Worten herrschte eine halbe Minute Schweigen.

»Hast du vielleicht ein Haustier? Einen Hund oder eine Katze? Vielleicht sind die irgendwo gegen gestoßen«, sagte Clarissa unvermittelt.

»Ich hab 'ne Menge Haustiere.«

»Na also!«

»Aber die sind stumm. Fische. Goldfische in einem Aquarium. Komm mit, ich zeig sie dir.« Er legte seinen Arm um ihre Hüfte und zog die Frau mit.

Clarissa hielt ihr Glas mit spitzen Fingern, nippte daran und durchquerte das riesige Wohnzimmer. Dem Panoramafenster gegenüber an der Wand stand ein großes Aquarium. Im Halbdunkeln sah man das Glas und das Wasser grün schimmern.

»Prachtexemplare. Sie kommen aus ...« Was Myers noch sagen wollte, blieb ihm wie ein Kloß im Hals stecken.

Die prachtvollen Goldfische, von denen Myers gerade noch etwas Besonderes hatte mitteilen wollen, bewegten sich nicht! Mit ihren hellen Bäuchen nach oben schwammen sie reglos unterhalb der Wasseroberfläche. Sie waren alle tot.

»Aber was ist denn los mit ihnen?«, fragte Clarissa erschrocken. »Wieso sind sie denn tot?«

Er zuckte die Achseln. »Ich verstehe das nicht, ich verstehe es wirklich nicht.« Kopfschüttelnd beugte er sich nach vorn und klopfte gegen die Glasscheiben des Aquariums, als erwarte er, dass die Fische zusammenzuckten und auseinander fuhren.

Es blieb alles unverändert.

Er winkte ab. »Lassen wir das. Ich kümmere mich morgen darum. Lebendig werden sie eh nicht mehr. Darunter soll diese Nacht nicht leiden.« Er zog einen Vorhang vor das Aquarium. »Damit uns der Anblick nicht stört.«

Myers ging mit der Tänzerin in die Mitte des Zimmers zurück.

»Ich ziehe mir nur rasch etwas Bequemeres an«, sagte er zu ihr. »Ich bin gleich wieder da. Und vor Einbrechern und anderen zwielichtigen Gestalten brauchst du keine Angst zu haben. Dieses Haus ist sicher wie die Bank von England. Die Alarmanlage ist eingeschaltet. Da braucht von draußen nur einer etwas heftig ans Fenster zu klopfen, und schon heult die Sirene. Komm mir also nicht auf die Idee, die Balkontür zu öffnen oder auf die Terrasse zu gehen. Dann unterbrichst du den Kontakt und löst sie ebenfalls aus. Ich möchte nicht, dass die Nachbarn zusammenlaufen und die Polizei hier auftaucht. Das, Darling, wirkt sich nicht vorteilhaft auf die Liebe aus.«

Lachend verschwand er nach draußen. Sein Ziel war das Schlafzimmer. Im Nu hatte er Jackett, Hemd und Hose ausgezogen und griff mechanisch nach dem Hausmantel, der gewohnheitsgemäß an einem großen verzierten Goldknopf neben der Tür hing.

Myers griff ins Leere.

Zwischen seinen Augenbrauen entstand eine steile Falte. Der Hausmantel war nicht da? Er liebte Ordnung und ließ seine Sachen nicht einfach irgendwo im Haus herumliegen. Es sei denn, dass er in der Eile heute Abend, im Bad ...

Er lief an den beiden flachen Betten vorbei, die in einen mächtigen Wandschrank gebaut waren, der sie auch links und rechts noch flankierte. Vom Schlafzimmer aus führte ein Durchlass direkt in das große, luxuriös eingerichtete Bad.

Und dann entschied sich Myers Schicksal.

Er sah sich seinem anderen Ich gegenüber! Wie in einem Spiegel!

Im ersten Moment dachte er auch, es handele sich um sein Spiegelbild. Derjenige, der ihm da gegenüberstand, das war doch er wie er leibt und lebte! Aber dieses andere Ich trug den Hausmantel, den er gesucht hatte!

»Was soll das? W-wer sind Sie? Ich ...«, stotterte er, und es fehlten ihm die Worte, um das auszudrücken, was er in diesen Sekunden empfand.

Sein Gegenüber lachte leise. »Ich bin Ronald Myers. Das ist doch ganz deutlich zu sehen.« Der Sprecher, der beide Hände tief in den Taschen des weichen Hausmantels stecken hatte, schlenderte gemächlich, beinahe gelangweilt näher. Aber der äußere Eindruck täuschte. Der Mann im Hausmantel war einzige, gespannte Aufmerksamkeit.

Der echte Myers schluckte trocken. Er war weiß wie ein Leintuch. »Unsinn. Ich bin Ronald Myers. Sie haben sich meinen Hausmantel angezogen und spielen Myers. Verschwinden Sie hier – oder ich rufe die Polizei!«

»Richtig!« Der andere nickte. »Genau das Letztere sollen Sie tun, Myers. Man wird Sie packen und wegschleppen. Schließlich halten Sie sich in meinem Haus auf.«

»Das ist eine Frechheit!« Ronald Myers, der nur in Unterhosen und Unterhemd vor dem Mann stand, der ebenfalls behauptete, Ronald Myers zu sein, konnte sich nicht mehr unter Kontrolle halten. Er warf sich nach vorn. Der reichlich genossene Champagner beflügelte ihn und unterdrückte jegliche Scheu, ließ ihn aber auch das Risiko nicht erkennen, das er einging.

Der Mann im Hausmantel streckte nur seine Rechte aus. Myers rannte voll hinein und hatte das Gefühl, gegen einen Rammbock zu prallen.

Sein Gegner hielt ihn fest. Die Faust des anderen traf ihn, ehe Myers begriff, was geschah.

Der Transportunternehmer, körperlich kein Schwächling, war dem anderen an Körperkraft jedoch weit unterlegen.

Ronald Myers flog zurück, kam mit den Kniekehlen gegen die Badewanne und rutschte nach hinten weg. Benommen blieb er darin liegen.

Der Eindringling im Hausmantel griff nach der Brause. »Ich könnte jetzt die Wanne voll laufen lassen«, sagte er mit bösem Grinsen. »Aber das würde die ganze Prozedur nur in die Länge ziehen. Die Puppe, Myers, die du mitgeschleppt hast, werde ich an deiner Stelle heute Nacht vernaschen. Und sie wird nicht mal wissen, dass es nicht der Mann ist, der sie heute Abend hierher gebracht hat! Ich werde einfach deine Stelle übernehmen, Myers. Jetzt bin ich am Zug. Ich musste lange darauf warten, doch dafür wird das Ganze auch sehr gründlich durchgeführt.«

»Nehmen Sie die Maske ab«, keuchte Myers. »Ich will sehen, wer Sie wirklich sind.«

»In ein paar Minuten kannst du das. Du brauchst dich dann nur noch im Spiegel betrachten, und es wird dir wie Schuppen von den Augen fallen.«

Der Sprecher bückte sich und warf dem in der Wanne Hockenden ein Bündel nach Schweiß riechender Kleider zu.

Ronald Myers rümpfte die Nase.

»Zieh dich aus«, sagte der Geheimnisvolle im Hausmantel.

»Aber ...«

»Kein Aber! Runter mit der Hose, weg mit dem Unterhemd. Und dann ziehst du die Klamotten an, die ich dir zugeworfen habe.«

»Ich verstehe nicht.«

»Du wirst sehr schnell verstehen. Los, ich habe keine Zeit! Ich möchte die Puppe draußen nicht abkühlen lassen.«

»Ich weigere mich.«

Weiter kam er nicht. Er wurde von harter Hand gepackt und in die Höhe gerissen. Ronald Myers hatte keine Chance, dieser Kraft etwas entgegenzusetzen. Er wusste nicht, wie es geschah. Mit zwei, drei schnellen Griffen wurden ihm das Unterhemd und die Shorts vom Körper gerissen.

»Rein in die Klamotten! Oder ich helfe nach.«

Wie durch Zauberei hielt der Mann im Hausmantel plötzlich ein großes Messer in der Hand, das er die ganze Zeit über in der Tasche versteckt hatte. »Ich zähle bis drei. Wenn du dann immer noch wie einst Adam pudelnackt vor mir stehst, ist meine Geduld zu Ende. Eins. Zwei ...«

Myers begriff, dass mit dem anderen nicht zu spaßen war.

Clarissa, dachte er. Verdammt noch mal. Tu etwas, ruf die Polizei an ...

»Ron?«, fragte da eine Frauenstimme vor der Schlafzimmertür. »Hallo, Ronny? Ist etwas?«

Der Mann im Hausmantel schien mit dem Teufel im Bund zu stehen. Wie ein Wiesel war er bei Myers, riss diesen herum und legte ihm das Messer an die Kehle. »Kein Laut!«, zischte er. »Es war dann garantiert dein letzter.«

Myers brach der kalte Schweiß aus. »Nein, Darling. Alles in Ordnung. Ich bin gleich wieder drüben. Gedulde dich noch einen Moment.« Der Mann im Hausmantel rief es laut und deutlich, und da er die gleiche Stimme wie Myers hatte, schöpfte die vor der Tür stehende Australierin keinen Verdacht.

»Mir war, als hätte ich dich rufen hören.«

»Nein, bestimmt nicht.«

Unter der Bedrohung ergab sich Ronald Myers in sein Schicksal. Er fragte sich, was dies alles für einen Sinn ergab. Der andere, der ihm wie aus dem Gesicht geschnitten war, glaubte doch selbst nicht, dass es genügte, wenn er die entsprechenden Kleider anzog, dass er dann nicht mehr als der Transportunternehmer Myers erkannt würde!

Bei diesem Gedankengang jedoch ging es plötzlich wie ein elektrischer Schlag durch den Körper des echten Ronald Myers, der glaubte, die Lösung für sein Problem gefunden zu haben, ohne allzu viel zu riskieren.

Der andere war verrückt! Er sah aus wie er, gab sich als Myers, trug seinen Hausmantel und wollte ihn, den echten Myers, in der Kleidung, mit der er hier in dieses Haus gekommen war, hinauswerfen.

Das war seine Chance! Er brauchte nur auf das Spiel des Verrückten einzugehen, von einem Nachbarn oder einer Telefonzelle aus das nächste Polizeirevier zu verständigen, und man würde den Irren abholen. Myers beeilte sich mit dem Anziehen. Er fand es widerlich, in die fremden Kleider zu schlüpfen, doch wenn er damit seinen Kopf rettete, sollte es ihm egal sein.

»Du hättest gleich so folgsam sein sollen, Myers. Dann hätten wir uns Zeit und Umstände sparen können. Und nun sieh in den Spiegel! Ich finde, du bist ein schickes Kerlchen.«

Der Fremde im Hausmantel drückte langsam seine Schultern herum.

Aus der Kehle des echten Myers kam ein unterdrücktes Stöhnen. »Nein«, sagte er, und seine Augen weiteten sich vor Ratlosigkeit, Verwirrung und Entsetzen. Er sprach mit fremder Stimme – und aus dem Spiegel starrte ihn ein fremdes Gesicht an. In ihm bewegten sich die Lippen genauso wie er sprach! »Das ist doch ... das bin nicht ich ...«

»Doch, von nun an bist du das, Myers. Du bist von dieser Minute an Marvin Cooner. Der kleine Lastkraftwagenfahrer Cooner, der keine Arbeit mehr bekommt, weil du ihn überall schlechtgemacht hast. Du trägst Cooners Kleidung. Meine Kleidung. Und mit dem Anziehen dieser Kleidung hast du einen Identitätswechsel vollzogen. So einfach ist das.« Der falsche Ronald Myers versetzte dem Überraschten einen Stoß vor die Brust und trieb ihn vor sich her. »Und nun verschwinde! Sonst werde ich unangenehm! Lass dich hier nie mehr sehen, Cooner. Diesmal sehe ich noch mal davon ab, dich der Polizei zu melden. Das nächste Mal aber ist eine saftige Anzeige wegen Einbruchs fällig, darauf kannst du dich verlassen. Raus hier, ehe ich ungemütlich werde!«

Er schubste den Veränderten durch die Tür.

Die Australierin, auf halbem Weg ins Wohnzimmer, wirbelte herum, als der vermeintliche Fremde auf den Korridor gestoßen wurde, und gab einen Aufschrei von sich.

»Darling«, stieß der Mann hervor, der vor wenigen Minuten noch Ronald Myers gewesen war.

»Ich geb dir – von wegen Darling!«, brüllte der falsche Myers im Hausmantel. »Er hat uns belauscht. Dieser miese Kerl hat sich in meine Wohnung eingeschlichen.«

»Also habe ich vorhin doch richtig gehört!«

»Ja, Darling, aber ich wollte dich nicht beunruhigen. Hier, mit diesem Messer hat er mich bedroht.«

»Ronny!«, stieß Clarissa entsetzt hervor und wurde blass unter ihrem Makeup.

»Er hat eine Menge getrunken. Das war mein Glück. Diese Kerle wissen nicht mehr, was sie tun, wenn sie in Zorn geraten.«

»Clarissa!«, schrie da der Fremde mit dem zerwühlten Haar und dem Anorak. »Glaub ihm kein Wort! Die Maske – so sieht er nicht wirklich aus. Er hat sich mein Aussehen gegeben.«

»Raus, Cooner! Lassen Sie sich nie mehr hier sehen!«, unterbrach der falsche Myers im Hausmantel den Wortschwall des echten, der nun Marvin Cooner war. Er stieß den Mann vor sich her.

»Er lügt, Clarissa! Ich bin nicht Cooner. So glaub ihm doch nicht.«

»Wieso kennt er meinen Namen?«, wandte sich die Australierin an den falschen Myers.

»Er war schließlich lange genug hier im Haus und konnte uns hören und sehen.«

»Aber wie kam er hier herein? Ich dachte, die Alarmanlage ...«

Der falsche Myers antwortete nicht gleich, schubste den Mann, der durch eine unheimliche, dämonische Macht in einen anderen verwandelt worden war, als er in die fremden Kleider schlüpfte, durch die Tür vor das Haus.

Aber Myers, der aussah wie Marvin Cooner, hatte noch die ganze Erinnerung an seine gesellschaftliche Stellung, an das Leben, das er bisher geführt hatte. Und das war das Grausame.

Der Myers im Hausmantel atmete tief durch, als der ungebetene Gast vom Hauseingang zurücktaumelte, schwer atmend herüber starrte und drohend die Faust schüttelte. »Dieser Cooner, Darling, ist ein armes Schwein. Er hat mal für mich gearbeitet. Ein unzuverlässiger Bursche. Kam dauernd zu spät, die Abrechnungen stimmten nicht, da hab ich ihn kurzerhand rausgeworfen. Eine Zeit lang war er hier so etwas wie Mädchen für alles. Er hat den Garten in Ordnung gehalten, die wichtigsten handwerklichen Arbeiten erledigt, die angefallen sind. Aber der Alkohol. Er konnte die Finger nicht von der Flasche lassen. So kam schließlich eins zum anderen, Darling. In der Zeit, als er hier im Haus tätig war und ich ihm mein ganzes Vertrauen schenkte, muss er sich einen Nachschlüssel angefertigt haben. Damit war ihm natürlich jederzeit so etwas möglich – wie es heute Nacht schließlich passiert ist. Mit dem Schloss wird die Alarmanlage scharfgeschaltet und entschärft. Er konnte also bedenkenlos eintreten, ohne befürchten zu müssen, Alarm auszulösen.«

»Und was hat er hier im Haus gesucht?«

»Wahrscheinlich Bargeld. Er ist völlig heruntergekommen und findet keine Arbeit. Du siehst ja, wie er aussieht in seinem zerdrückten billigen Anzug.«

»Cooner!«, brüllte der Mann vom Gartenweg her durch die Nacht. »Ich werde Sie entlarven! Sei vorsichtig, Clarissa. Er ist nicht Myers! Ich bin Ronald Myers. Ich bin es ...«

Der Mann im Hausmantel lachte leise, und auch die Australierin fiel in sein Lachen ein.

»In drei Minuten, Cooner, ist die Polizei auf diesem Gelände. Wenn Sie bis dahin nicht verschwunden sind, wissen Sie, was Ihnen blüht.« Mit diesen Worten schlug der falsche Myers die Tür zu und sicherte sie, indem er die Schlüssel von innen umdrehte und damit die Alarmanlage einschaltete.

Der Mann, der aussah wie Ronald Myers und seit Stunden im dunklen Haus auf die Rückkehr des echten gewartet hatte, triumphierte. Er hätte jubeln können, so wohl fühlte er sich.

Wie kurz erst war die Zeit, seitdem er wusste, dass er über eine Kraft verfügte, die nicht jedermann zugänglich war. Mit der Stimme, die er gehört hatte, begann alles. Ein dämonisches Wesen machte sich in seinem Bewusstsein bemerkbar und ließ ihn wissen, dass er über Tod und Leben von Personen entscheiden könne, die ihm nicht passten. Er konnte Mensch und Tier auf diese Weise den Tod bringen. Ein Versuch in diesem Haus waren die Goldfische gewesen.

Drei Sekunden stand er nachdenklich, blickte auf seine rechte Hand, gezielt auf Daumen und Zeigefinger, und dachte an den Mann, der nun verzweifelt und wie halb von Sinnen als Marvin Cooner durch die Nacht taumelte und die Welt nicht mehr verstand.

Wenn er die Kuppen von Daumen und Zeigefinger zusammenbrachte ...

»Nein«, murmelte er gedankenversunken. »Nein, das wäre zu einfach. Er soll das Leben als Cooner führen.« Es wurde ihm nicht bewusst, dass er die Worte halb laut ausgesprochen hatte.

»Wieso soll er sein Leben als Cooner weiterführen? He, Ronny, was ist nur los mit dir?« Clarissas Stimme riss ihn in die Wirklichkeit zurück. In eine neue Wirklichkeit, die nun für immer zu ihm gehören würde.

Er lächelte. »Was, Darling, sollte er sonst tun? Und nun, lass uns den Zwischenfall vergessen. Wir wollen uns den Abend nicht vermiesen. Komm, gehen wir zum gemütlichen Teil über.«

Auch während er das sagte, musste er an den unsichtbaren Dämon denken, der sich ihm zuerst als Stimme offenbart hatte, dann als eine wiederbelebte Leiche aus dem Grab, die imstande war, die Gestalt einer blutrünstigen Bestie anzunehmen, eines Panthers, der auf einem Londoner Friedhof und in der Innenstadt bereits Opfer gerissen hatte. Dieser Dämon hatte ihm Macht verliehen, ihn zu Ronald Myers werden lassen, während Myers die Identität des Mannes angenommen hatte, der Marvin Cooner hieß, von der Hand in den Mund lebte und in Sohos schlimmstem Viertel lebte.

Von all diesen unheimlichen und rätselhaften Vorgängen aber wusste Clarissa nichts.

Als im Wohnzimmer bei Kerzenlicht und leiser Musik ein Mann ihr das Kleid von den Schultern streifte, ahnte sie nicht, dass es eigentlich ein Fremder war und nicht derjenige, der sie nach ihrem Auftritt im Horse-Club mit nach Hause genommen hatte ...

Das unheimliche Spiel eines namenlosen Dämons, der sich rächen wollte, ging weiter.

1. Kapitel

Zur gleichen Zeit in der Vergangenheit des Urkontinents Xantilon.

Sie waren noch immer im Gebiet der Kristallfelsen, jener rätselhaften Landschaft, von der Kaithal, eine seltsame Prophetin, gesagt hatte, dass sich hier noch Wunder ereigneten.

Sie – das waren Björn Hellmark und seine Freunde – befanden sich wieder im Rhythmus der Zeit. Mit Gigantopolis, der fliegenden Stadt der Soomans, hatten sie die schimmernden und farbenprächtigen Ebenen und Schluchten durchstreift, die hohen Plateaus überflogen, um den verschollenen Harry Carson und einen auffälligen Wasserfall zu suchen. Mit diesem Wasserfall hatte es seine besondere Bewandtnis.

Durch die Seherin wusste Björn, dass hinter dem Wasser der Eingang ins Totenland lag. Skorokka, der Fluss ins Land der Toten, sollte ihn direkt in jene Region des Jenseits tragen, in dem seine geliebte Carminia gefangen gehalten wurde. Molochos, der Dämonenfürst, hatte sie noch immer in seiner Gewalt.

Carminia Brado als Lebende unter Toten, hermetisch abgeriegelt vom Leben, eine grauenhafte Vorstellung, die immer unerträglicher wurde für ihn, je länger dieser Zustand anhielt.

Aber auf der anderen Seite bedeutete diese Tatsache auch einen Hoffnungsschimmer. Carminia lebte, man musste sie nur befreien. Aber gerade dieses nur bereitete so unendliche Schwierigkeiten.

Wenn es nicht gelang, über den Totenfluss in das jenseitige Reich zu gelangen, dann war Carminia Brados Dasein schlimmer als der Tod. Das Wissen um die Endgültigkeit ihres Schicksals konnte sie in den Wahnsinn treiben. Vielleicht war dies längst schon geschehen. Schließlich wusste niemand von ihnen, was in der Zwischenzeit alles passiert sein konnte. Dämonen kannten kein Erbarmen. Ein Menschenleben war für sie etwas, mit dem sie spielten. Und Molochos war ein grausamer Vertreter dieser Rasse, ein treuer Diener der Dämonengöttin Rha-Ta-N'my, die im Anbeginn der Zeiten auf der Erde herrschte, als der Geist der Dämonen entstand und das Chaos die Erdoberfläche bedeckte.

Der große, blonde Mann mit dem sonnengebräunten Gesicht, den blaugrauen Augen und den kühnen Zügen eines Wikingers ging auf gleicher Höhe mit seinen Begleitern auf den entdeckten Wasserfall zu.

Die kleine Gruppe, die sich um Björn Hellmark geschart hatte, bestand aus Rani Mahay, dem Koloss von Bhutan, einem Mann, breit wie ein Kleiderschrank und stark wie ein Bär. Mahays bronzefarbene Haut schimmerte unter der hoch stehenden Sonne, die die Kristallfelsen ringsum in vielen tausend Farben aufglühen und glänzen ließ. Dieses Farbenspiel war so intensiv und zauberhaft, dass alle das Gefühl hatten, durch die bunte Welt eines Regenbogens zu gehen.

Außer Rani befand sich Arson, der Mann mit der Silberhaut unter Hellmarks Begleitern. Arson war ein Mann aus einer fernen Zukunft. Vor geraumer Zeit war er auf Hellmark gestoßen und hatte sich ihm angeschlossen. Auch er interessierte sich für das Werden und den Aufbau der Dämonenwelten. Arson war im Auftrag seiner Zeit unterwegs und mit einer jener rätselhaften Kugeln gekommen, die man manchmal irrtümlich als UFOs oder andere mysteriöse Himmelserscheinungen bezeichnete. Seine Zeitkugel war in Gigantopolis havariert, als er versuchte, Hellmarks Schicksal zu klären. Dies war zu einem Zeitpunkt gewesen, als Molochos noch Gigantopolis befehligte und sie den Beinamen Alptraumstadt trug. Seit dem Wiedererwachen der wahren Herren, der Gründer der fliegenden Stadt, taten sich dort einige merkwürdige Dinge. Organisches und Anorganisches wurde beeinflusst. Die positive Kraft der Gedanken, des Willens und des Geistes, die in Gigantopolis stets eine besondere Stellung einnahmen, wirkten sich auf alles aus, was es hinter den riesigen Mauern und Toren der fliegenden Stadt gab. Auf Blumen, Gräser und Bäume ebenso wie auf versiegte Quellen, die wieder zu sprudeln begannen, auf zerstörte oder beschädigte Einrichtungen, die von den Dämonen und ihren Herrschern in jener Stadt benutzt worden waren. Die Zeitkugel Arsons schien sich ebenso zu regenerieren wie das Leben der Soomans und alles, was mit ihnen zu tun hatte. Die Kraft aus dem Sternenkristall, der das wahre Herz der fliegenden Stadt war, durchdrang auf unsichtbare Weise alles wie die Strahlen der Sonne, die Licht, Wärme und Leben garantiert.

Außer Rani und Arson war eine dritte Person mit von der Partie. Danielle de Barteauliee, reizende Französin, Tochter des berühmt-berüchtigten Comte de Noir. Dieser Comte hatte eine Abmachung mit den Mächten der Finsternis getroffen, die seiner Tochter ewige Jugend und Schönheit versprach. Dafür war Danielle ursprünglich als Kämpferin für die Dämonenwelt auserwählt. Die Begegnung mit Björn Hellmark in einem früheren Abenteuer aber hatte ihr Denken und Fühlen verändert.

Sie hatte damit den Unwillen und Hass der Dämonengöttin auf sich gezogen. Danielle verfügte über Kräfte, die sie nicht für das Böse einsetzte – wozu sie ursprünglich gedacht waren –, sondern für das Gute. So war sie zu einer hartnäckigen und wertvollen Mitarbeiterin für die Mission des blonden Mannes geworden, den man auch den Herrn von Marlos nannte. Marlos war jene unsichtbare Insel, die auf keiner Landkarte der Welt verzeichnet war und doch existierte. Fast genau in der Mitte zwischen Hawaii und den Galapagos-Inseln, in der Clarion-Graben-Zone, einer Untiefe im Pazifischen Ozean.

Björn verhielt im Schritt. Der Blick des Herrn von Marlos schweifte in die Umgebung.

Der Wasserfall stürzte rauschend in die Tiefe. Der sanfte Wind trieb hauchdünne Feuchtigkeitsschleier in ihre Gesichter.

»Glaubst du, dass wir hier richtig sind?«, fragte der Inder und sah seinen Freund von der Seite an.

»Zumindest sieht er dem Wasserfall ähnlich, den Kaithal mir in einer Vision gezeigt hatte.« Björn Hellmark warf einen Blick zurück. Jenseits der sie wie verzaubert umgebenden Bergwelt der Kristallfelsen waren die Zinnen und Türme der riesigen Stadt zu erkennen, die etwa zwei Meilen hinter ihnen auf einem Hochplateau aufgesetzt war.

Gigantopolis schien zu dieser Stunde nicht verlassen. Shaloona, der König der Soomans, und die wiedererwachten Bewohner aus den riesigen Tempelhallen hielten sich dort auf, warteten auf ihre Rückkehr und beobachteten aus der Höhe die gesamte Umgebung nach allen Seiten. Sollte unerwartet Gefahr auftauchen, dann würden Boten von dort losgeschickt, um sie zu warnen.

Voraussetzung dabei war allerdings, dass jenseits des Wasserfalls keine andere tödliche Gefahr sie bedrohte und gleich verschlang, sodass sie wiederum den Sooman-Wächtern nicht rechtzeitig einen Hinweis von ihrer wahren Lage geben konnten.

Nichts in dieser Welt, die dem Untergang geweiht war, ging ohne Risiko. Das kannten die Freunde schon aus Erfahrung.

»Er könnte es sein«, fuhr er unvermittelt fort. »Bei der Suche zwischen den Kristallfelsen haben wir keinen anderen entdeckt. Er scheint in der Tat eine Ausnahme zu sein.«

»Es ist auch zu dumm, dass die Prophetin dir keine genaueren Hinweise geben konnte«, warf Danielle ein.

»Das ist oft der Nachteil bei Propheten«, entgegnete Björn. »Leider. Man weiß etwas, aber man weiß es nie genau. Obwohl Kaithals Bilder recht klar und ihre Aussagen bis auf minimale Abweichungen äußerst genau waren. Es bleibt also dabei. Wir gehen so vor, wie abgesprochen: Ich tauche zuerst ein. Wenn ich binnen fünf Minuten nicht zurück bin und euch ein Zeichen gebe, dann ist etwas faul im Staate Dänemark. Dann ist davon auszugehen, dass ich in einen Hinterhalt geraten bin und keine Gelegenheit mehr gefunden habe, euch rechtzeitig zu warnen. Da ich nicht weiß, was jeden einzelnen von uns erwartet, und die Möglichkeit besteht, dass noch Hilfe nötig sein könnte, werden Rani und Arson folgen und nach dem Rechten sehen. Tauchen die beiden auch nicht mehr auf, dann bist du an der Reihe, Danielle. In diesem Fall musst du dich mit Shaloona beraten. Alles verstanden?«

Sie nickten.

»Okay. Zuerst also du, Danielle. Verschaff uns einen freien Blick hinter den Wasserfall, damit wir uns einen ersten Eindruck machen können.«

Die Französin blickte auf den rauschenden Wasserfall. Sie konzentrierte sich auf die urwelthafte Kraft, die das Wasser in Bewegung setzte.

Das Rauschen war noch unverändert, das donnernde Geräusch pflanzte sich zwischen den in tausend Farben glühenden Felsen fort.

Doch dann war es ganz deutlich zu hören. Das Rauschen und Gurgeln wurde schwächer, die schäumende Gischt, die sich an der Aufschlagstelle bildete, schien plötzlich zu gefrieren, die herabstürzende Flut stand still!

Plötzlich ging die Bewegung von unten nach oben, der Wasserfall folgte nicht mehr dem Gesetz der Schwerkraft.

Mit ihren Hexenkräften, die zwar abgeschwächt, aber niemals ganz verschwunden waren, bezwang Danielle de Barteauliee die Elemente.

Der Wasservorhang rollte sich im wahrsten Sinn des Wortes nach oben auf. Dies alles geschah in gespenstischer Lautlosigkeit. Der äußere Rand des smaragdfarbenen Sees, in den die Fluten gestürzt waren, glättete sich.

Der See war rund wie ein Kreis. Von ihm führte kein Flussbett weg, in dem die aus dem Felsen kommenden Wassermassen abtransportiert hätten werden können. Die ewige Wasserzufuhr aus dem Innern der Kristallfelsen aber musste notgedrungen zur Folge haben, dass der See selbst einen unterirdischen Abfluss besitzen musste. Sonst wäre dieser Ort ständig überschwemmt gewesen.

Die Freunde hielten den Atem an.

Danielle war die Anstrengung anzumerken. Sie atmete schneller, auf ihrer Stirn bildete sich hauchdünner Schweiß.

Der Wasservorhang wich bis zum letzten Drittel seiner Gesamthöhe zurück. In unwirklichem, phantastischem Licht, das direkt aus den Kristallfelsen sickerte, lag der Hohlraum vor ihnen.

Diese Höhle, der etwas Fremdartiges, Magisches anhaftete, war nicht einfach ein Loch im Bauch des Berges. Der gigantische Eingang jenseits des Wasservorhangs war terrassenförmig gestaltet. Der Weg führte stufig bergauf bis auf ein Plateau, das so weit oben lag, dass sie es nur noch ahnen konnten.

Von dort oben kam das Wasser. Dort musste der Fluss Skorokka liegen, der als Wasserfall ans Tageslicht kam und wieder in dem smaragdgrünen See verschwand. Der Strom in das Totenland schien unterirdisch von seinem eigenen Wasser wieder gespeist zu werden und in sich zurück zu fließen.

Diese Gedanken gingen Björn Hellmark durch den Kopf, während er sich der offen vor ihm liegenden Höhle näherte.

Die Felsen jenseits des erstarrten Wasservorhangs sahen aus wie geschliffene Edelsteine.

»Wie die Wohnung eines Magiers aus einem Märchen«, bemerkte Rani Mahay. Er traf mit diesen Worten genau die Atmosphäre und das Empfinden, das auch die anderen hatten.

»Wirkt fast freundlich«, fügte Arson hinzu, der neben dem Herrn von Marlos auftauchte, um aus allernächster Nähe ebenfalls einen Blick in das Innere der Höhle zu werfen, deren Ausmaße unbeschreiblich waren.

Die geheimnisvollen, berauschenden Farben waren hier noch klarer, noch brillanter als im Gestein, das dem Sonnenlicht ausgesetzt war. Es schien, als würde das Sonnenlicht von den Felsen gespeichert und hier in der Dunkelheit in reinsten und klarsten Farben wiedergegeben.

»Auch hinter Freundlichkeit kann sich eine Gefahr verstecken«, murmelte Hellmark. Er war alles andere als ein Pessimist, doch der Umgang mit den Geschöpfen aus dem Schattenreich hatte ihn Vorsicht gelehrt. »Und hier eventuell noch mehr als in den Regionen, die bereits hinter uns liegen. Wenn es der Weg ist, der direkt ins Totenland führt, dann herrschen hier andere Gesetze als sonst wo.«

Er überschritt die Schwelle. Die anderen blieben zurück. Hellmark hielt das Schwert des Toten Gottes in der Rechten. Lauerten auch hier Monster aus einer anderen Welt, Dämonen aus dem Reiche Rha-Ta-N'mys – oder war dieser Ort für sie tabu?

Sie wussten nichts darüber. Kaithal, die Seherin, hatte nicht die kleinste Andeutung darüber gemacht, kein Bild in die Visionen eingeflochten, aus dem sie in dieser Beziehung etwas hätten entnehmen können.

»Alles retour, Danielle«, wandte sich der blonde Mann mit dem Schwert an die Französin. »Mal sehen, ob auch dann alles so friedlich bleibt, wenn wir den ursprünglichen Zustand wieder haben.«

Danielle de Barteauliee nickte.

Rani und Arson traten zur Seite.

In den erstarrten Wasservorhang kam wieder Bewegung. Ein Ruck ging durch das wie Eis aussehende Wasser, dann stürzte es donnernd in die Tiefe, und der Wasservorhang verdeckte ihnen die Sicht in die terrassenförmig angelegte Höhle, in der sich nun Björn Hellmark befand.

Die draußen wartenden Freunde blickten unverwandt auf den rauschenden Wasserfall. Fontänen spritzten am Rand des smaragdgrünen Sees wieder hoch, das bis vor wenigen Augenblicken ruhige Wasser kräuselte sich wieder. Die Spiegelbilder der drei Menschen wurden zu grotesk verzerrten Schemen.

Die nachfolgenden Minuten wurden zu einer Ewigkeit für sie.

Das vereinbarte Zeichen kam nicht. Björn Hellmark ließ sich nicht sehen.

Betroffen blickten Danielle, Rani und Arson sich an.

Der Mann, der den altmodischen Anorak trug, ballte die Fäuste und presste halb laut einen Fluch zwischen den Zähnen hervor.

Ronald Myers, der das Aussehen von Marvin Cooner angenommen hatte, verstand die Welt nicht mehr. Etwas Metaphysisches war geschehen. Myers war überzeugt davon, dass er dies alles nicht wirklich erlebte. Dieser Unfug, den er zusammenträumte, konnte niemals wahr sein.

Aber obwohl er sich das einredete und krampfhaft zu erwachen versuchte, änderte sich nichts an seinem Zustand. Er war hellwach, bekam alles mit jeder Faser seines Körpers mit und begann an seinem Verstand zu zweifeln. Dieser Körpertausch trieb ihn an den Rand des Wahnsinns.

Myers wusste nicht, wie er den machtvoll aufkommenden Gefühlen, Ängsten und Zweifeln Herr werden sollte.

Er wankte die nächtliche Straße entlang, an Häusern, die er kannte und die ihm vertraut waren. Hier gehörte er hin, hier lebte er, hier kannte er jeden Nachbarn. Was würde geschehen, wenn er jetzt zum Beispiel bei Stuart klingelte? Er sah noch Licht hinter den zugezogenen Fenstern. Stuart war oft bis spät in die Nacht hinein auf. Er sammelte leidenschaftlich Briefmarken. Die ganze Welt war sein Metier. Er ließ sich die bunten Papierchen von überall her kommen, unterhielt einen zeitraubenden und umfangreichen Briefwechsel, um den ihn jedes Großraumbüro beneidet hätte.

Myers nagte an seiner Unterlippe. Unverwandt starrte er zu den beleuchteten Fenstern hinüber und hatte nur den einen Wunsch, dass sich die Tür des Hauses öffnen und Stuart mit seinem Schäferhund herauskommen würde. Das Tier lag stets hinter der Haustür, und sein Besitzer führte es nachts kurz noch mal aus, bevor er sich schlafen legte.

Der Hund kannte Myers!

Ronald Myers merkte, wie er in eine andere Richtung zu denken begann. Er schöpfte wieder Hoffnung, während er nervös die Hosentaschen durchwühlte, die Taschen des Anoraks, um anhand dieser Dinge – wie er ebenfalls hoffte – etwas mehr über seine Identität zu erfahren.

Er trug eine Brieftasche mit Ausweispapieren, Fahrzeugerlaubnis und Zulassung eines Triumph Vitesse bei sich, der ein Londoner Kennzeichen hatte.

Aus den Papieren entnahm er die derzeitige Wohnung Marvin Cooners.

Im Licht der Straßenlaterne sah er sich die Dinge an, die er aus den Taschen befördert hatte.