Macabros 056: Höllenmarionetten - Dan Shocker - E-Book

Macabros 056: Höllenmarionetten E-Book

Dan Shocker

0,0

Beschreibung

Höllenmarionetten Auf einem Rummelplatz gibt es ein Panoptikum der besonderen Art: Nachbildungen von Menschen und Rassen aus allen Entwicklungsstufen der Erde. Dort spielen sich nach Einbruch der Dunkelheit entsetzliche Szenen ab. Nicht alle kommen wieder heraus … so wie Danielle de Barteauliee! Björns Rettungsaktion wird zu einer Reise in eine fantastische Welt, in der das Dasein zum Alptraum wird. Doc Shadow - Geist der Schattenwelt Aus dem Jenseits meldet sich eine Stimme. Dahinter muss Shawn Addams stecken, ein Mann, der Jahrzehnte auf einer geheimnisvollen Insel lebte und dort von einer Zauberin gefangen gehalten wurde. Nun nennt er sich … Doc Shadow, und er sucht Björn Hellmark, um ihm einen ungeheuerlichen Plan zu unterbreiten! Er sucht einen Tauschpartner, der an seiner Stelle stundenweise die Wanderung durch die Schattenwelt fortsetzt. Dort gilt es, die Omega-Menschen zu finden, die das Ende der Menschheit herbeiführen wollen. Die phantastischen Abenteuer eines Toten nehmen ihren Lauf!

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 302

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



DAN SHOCKERS MACABROS

BAND 56

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Fachberatung: Gottfried Marbler

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-756-6

Dan Shockers Macabros Band 56

HÖLLENMARIONETTEN

Mystery-Thriller

Höllenmarionetten

von

Dan Shocker

Prolog

Susan Kelly wohnte allein und ging einer geregelten Arbeit nach. Von Geburt Engländerin, lebte die Neununddreißigjährige in einem achtgeschossigen Neubau am Stadtrand von Utrecht.

Susan Kelly schlief seit einiger Zeit schlecht. Freunde meinten scherzhaft, das hinge wohl damit zusammen, dass sie zu viel allein wäre und sich nicht mit Mann und Kindern herumärgern müsse, weshalb sie abends auch nicht todmüde ins Bett falle.

Die Frau war Alleinsein und Einsamkeit gewöhnt und fand ihr Leben in Ordnung. Nicht jeder war für die Ehe geschaffen, und Susan Kelly hätte sich nicht vorstellen können, ihre Privatsphäre und ihren Tagesablauf mit einem Partner teilen zu müssen.

Sie führte die Störungen darauf zurück, dass sie wohl weniger Schlaf brauchte. Sie wurde älter.

So nutzte sie die Zeit, um in einem Buch zu lesen, wozu sie sonst nicht kam. Das war auch so in dieser Nacht. Susan wurde wach, schaltete die Leselampe ein und griff nach dem Buch auf ihrem Nachttisch.

Plötzlich vernahm sie ein Geräusch. Im Zimmer nebenan quietschten leise die Scharniere eines Schrankes. Die Frau fuhr in ihrem Bett hoch, hielt den Atem an und lauschte.

Da war es wieder. Susan Kelly schluckte trocken. Jemand war in der Wohnung! Ein Einbrecher!

Aber trotz der Angst, die plötzlich in ihr aufstieg, war sie noch in der Lage, einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Sie wohnte in der vierten Etage. Die Tür war von innen verschlossen und verriegelt, und auch über den Balkon war ein Einstieg unmöglich, da die Hausfassade glatt war. Außerdem lohnte ein Einbruch bei ihr nicht. Sie besaß nur das Notwendigste zum Leben.

Susan Kelly fasste Mut, warf die Decke zurück und schlich auf Zehenspitzen zur Tür. Die Geräusche aus dem Nebenzimmer waren verebbt. Aber das Gefühl, dass sich eine fremde Person in der Wohnung aufhielt, wollte nicht weichen.

Schon lag ihre Hand auf der Türklinke und wollte sie herabdrücken, als die Frau in letzter Sekunde zusammenzuckte.

Die Nachttischlampe! Wenn Susan jetzt die Tür öffnete, fiel Licht in die Diele. Das würde sie verraten. Susan Kelly huschte zum Bett zurück, löschte das Licht und öffnete lautlos die Tür.

Draußen war es dunkel. Der Einbrecher, oder wer immer sich in ihrer Wohnung befand, hatte kein Licht eingeschaltet und benutzte auch keine Taschenlampe. Die Tür zum Wohnzimmer, aus dem die Geräusche gekommen waren, stand weit offen. Das war nichts Besonderes. Diese Tür war immer geöffnet.

Susans Blick ging quer durch das kleine Zimmer zum Fenster, durch das sie den sternenübersäten Nachthimmel sehen konnte. Im Zwielicht erkannte sie den runden Tisch, die beiden Sessel neben dem Fenster und die Umrisse der Möbel. Was sie nicht sehen konnte, war der Schrank. Er stand hinter der Tür. Die Scharniere hatten gequietscht. Das Geräusch kannte sie.

Atemlos näherte sie sich dem Wohnzimmer. Sie verursachte kein Geräusch, um den vermeintlichen Dieb nicht zu erschrecken. Stand er hinter der Tür und räumte den Schrank aus? Aber dann wäre etwas zu hören gewesen.

Susan Kellys Unruhe und Angst nahmen zu. Sie spähte um die Tür, bereit, sie blitzschnell zuzuziehen und von außen zu schließen, um den Einbrecher zu fangen.

Die Schranktüren standen weit offen. Herausgerissen waren mehrere Fotoalben und eine kunstvoll verzierte Pappschachtel, in der Susan ebenfalls Fotografien aufbewahrte.

Die Schachtel war geöffnet, die Bilder waren durchwühlt. Das alles schien reichlich merkwürdig. Fotografien? Wer interessierte sich für Fotografien? Sie hätte angenommen, sich vorhin bei dem Geräusch geirrt zu haben, wenn die Fotoalben und die Schachtel mit den Bildern nicht aus den Schrankfächern gezerrt gewesen wären.

Die Balkontür war verschlossen, die Wohnungstür unbeschädigt. Als Susan Kelly sicher war, dass wirklich niemand hier sein konnte, betätigte sie den Lichtschalter. Hell flammte die Deckenleuchte auf. Die alleinstehende Frau schaltete sämtliche Lichtquellen in der Wohnung ein. Die Dunkelheit verging, und ihre Angst verlor sich.

Da war niemand! Aber es musste jemand da gewesen sein. Die Spuren seiner Anwesenheit waren unübersehbar. Susan Kelly konnte es nicht fassen. Sie glaubte zu träumen, als sie das Durcheinander betrachtete. Hauptsächlich Bilder ihrer Familie und aus ihrer Kindheit und Jugend waren hervorgeholt worden. Fotos, auf denen sie eine Rolle spielte. Und ihr Großvater.

Grandpa. Einen Moment kamen Wehmut und Nostalgie auf. Der alte Mann mit dem schneeweißen Haupthaar und dem dichten Vollbart, der das wettergegerbte Gesicht rahmte, war eine der Personen in ihrem Leben, die sie besonders geliebt hatte. Mehr noch als ihren Vater und ihre Mutter.

Grandpa Bill, wie sie ihn stets zu nennen pflegte, war eine Seele von Mensch gewesen. Wie kein Zweiter wusste er spannend und interessant aus seinem abenteuerlichen Leben zu erzählen.

Dieser große alte Mann, der die ganze Welt gesehen hatte und mit dem sie auf zahllosen Fotos abgebildet war, gehörte mit zu den schönsten Erinnerungen ihrer Kindheit. Im Alter von fünfundsiebzig Jahren entschloss er sich, mit einem Einhandsegler die Welt zu umschiffen.

Die letzte große Tat, bevor's ins Grab geht, sagte er damals, halb scherzend, halb im Ernst. Er war kerngesund und kräftig, und keiner konnte ihn von seinem Tun abbringen. Der Mann, der seine Tage in den Wäldern Kanadas bei Wind und Wetter verbracht hatte, der den Spuren der Goldsucher nachgegangen und viele Jahre lang auf den unmöglichsten Frachtern die ganze Welt bereist hatte, wollte ein letztes großes Abenteuer erleben.

Genau dreiundzwanzig Jahre war das her. Susan Kelly war damals sechzehn, als ihr Großvater die Reise antrat und nicht mehr zurückkehrte. Drei Monate später entdeckte man sein Schiff nahe den Bahama-Inseln. Leer. Von Grandpa Bill keine Spur.

Sein Verschwinden blieb ungeklärt. Es stand fest, dass er mit dem Wetter bis zu diesem Zeitpunkt großes Glück hatte. Auf dem bisherigen Weg hatte es keine Schwierigkeiten gegeben. Zwei Tage vor seinem spurlosen und rätselhaften Verschwinden war von einer Küstenstation noch ein Funkspruch von ihm aufgefangen worden. Bis zu diesem Zeitpunkt war alles noch in Ordnung und der Einhandsegler offensichtlich in bestem Zustand.

Doch in den nächsten achtundvierzig Stunden musste dann etwas passiert sein, was nie geklärt werden konnte. Die offiziellen Vermutungen liefen darauf hinaus, dass es dem Seefahrer schlecht geworden war und er einen Schwächeanfall erlitten hatte. Dabei musste er über Bord gefallen sein. Auf dem Segelboot fand man alles unberührt. Nichts wies auf einen Kampf hin. Alles war da. Nur Grandpa Bill fehlte.

Er war also fünfundsiebzig gewesen, als er sich still schweigend von der Welt verabschiedete. Ein erfülltes Leben, würde manch einer meinen. Nicht so für Grandpa Bill. Seine Kraft und sein Elan hatten ihn jünger wirken lassen als manchen Fünfziger.

Seltsam, dass ihr jetzt diese Dinge durch den Kopf gingen. Sie lagen schon so weit zurück, aber durch diese Bilder wurden sie neu geweckt.

Mechanisch und geistesabwesend begann Susan damit, Fotos und Alben wieder einzuordnen. Dem ersten Unbehagen folgte die Vernunft. Die Frau war plötzlich überzeugt davon, dass sie offensichtlich noch im Halbschlaf etwas mitbekommen hatte. Aber nicht richtig. Die Alben und Bilder waren vielleicht von selbst ins Rutschen geraten, und gerade das Gewicht hatte von innen gegen die Schranktüren gedrückt. Die waren offensichtlich nicht sorgfältig genug verschlossen, sodass sie sich unter dem Druck öffneten. Eine andere Erklärung fand Susan Kelly nicht.

Sie seufzte und räumte weiter auf. Plötzlich sah sie die Fußspitzen vor sich.

Mit einem Aufschrei warf sie den Kopf in die Höhe, denn sie war nicht mehr allein im Zimmer!

Susan Kelly sprang empor, ihr Aufschrei verebbte und ging unter in dumpfes, ungläubiges Stöhnen.

Ein Mann stand vor ihr.

»Aber das kann nicht sein«, entrann es zitternd ihren Lippen. Die Frau konnte nicht schreien und davonlaufen. Sie war schockiert und fasziniert zugleich. »Ich bin nicht mehr normal«, hörte sie sich weinerlich wispern. »Schlaflosigkeit ist ein Zeichen einer beginnenden Krankheit. Ich bin geisteskrank.«

Der Mann vor ihr blickte nur stumm. Er war groß, kräftig, hatte schneeweißes Haar und einen ebenso dichten Vollbart, der ein wettergegerbtes Gesicht rahmte.

»Grandpa Bill«, hauchte Susan Kelly. Dann verdrehte sie die Augen und fiel ohne einen weiteren Laut auf den Teppich neben ihre Alben und noch nicht aufgeräumten Bilder.

Als sie erwachte, schien die Sonne durch die Vorhänge. Susan Kelly blinzelte.

Ich muss zur Arbeit, war ihr erster Gedanke. Doch dann fuhr sie zusammen. Ich habe verschlafen!

Sie wollte sich aufrichten. Das ging nicht so schnell wie sonst. Sämtliche Glieder taten ihr weh. Da merkte sie, dass sie auf dem Boden lag. War sie aus dem Bett gefallen?

Das war nicht ihr Schlaf-, sondern ihr Wohnzimmer! Plötzlich fiel ihr alles wieder ein. Susan Kelly kam langsam in die Höhe. Die Bilder auf dem Boden raschelten, als sie hineingriff.

Sie hatte von einem Geräusch geträumt, von ihrem Großvater ... und war dann hierher gekommen, um sich die Bilder anzusehen. Oder war es anders gewesen?

Die Neununddreißigjährige fühlte sich wie gerädert, als hätte sie die ganze Nacht kein Auge zugetan. Gebückt wie eine alte Frau ging sie zum Fenster und zog die Vorhänge zurück.

Strahlend blauer Himmel lag über Utrecht. Es musste mindestens neun Uhr sein. Susan wunderte sich, dass vom Büro noch niemand angerufen hatte. Sie war als pünktlich und zuverlässig bekannt. Sie musste anrufen und Bescheid geben, dass sie nicht kommen konnte. Nicht in diesem Zustand! Sie fühlte sich krank und elend.

Da schlug das Telefon in der Diele an.

»Das sind sie«, flüsterte die Frau im Selbstgespräch, wankte nach draußen und hob beim vierten Klingelzeichen ab. »Ja?«

»Hallo, Susan? Jetzt sag nicht, das ich dich aus dem Bett geholt habe?«, sagte eine helle, freundlich klingende Frauenstimme.

»Grit?«, fragte sie ungläubig. »Aber wieso rufst du jetzt hier an? Um diese Zeit? Woher wusstest du, dass ich noch im Haus bin?«

Grit Boerhave war ihre langjährige Freundin und wohnte nur einige Häuserecken entfernt, in einem typischen Hollandhaus mit roten Backsteinen und winzigen Räumen.

»Ich verstehe dich nicht«, klang es nicht minder überrascht zurück. »Wo solltest du denn sonst sein? Sonntags um diese Zeit bist du doch immer zu Hause.«

»Sonntags?« Da fiel es Susan Kelly wie Schuppen von den Augen. Heute war ja Sonntag. Sie hatte es völlig vergessen. Nach dem seltsamen Traum, den sie in der letzten Nacht hatte, war sie total durcheinander.

Traum. Wirklichkeit. Was stimmte eigentlich?

»Ich habe etwas Schreckliches erlebt heute Nacht, Grit«, entschloss sie sich unvermittelt ihrer Freundin anzuvertrauen. »Ich glaube, ich hatte eine Erscheinung.«

Einen Moment herrschte am anderen Ende der Strippe betroffenes Schweigen. Dann war ein langer, tiefer Atemzug zu hören. »He, Susan, das musst du mir näher erklären.«

Sie tat es, so gut sie konnte, und berichtete der Reihe nach. »Ich habe einige Sekunden meinen vor dreiundzwanzig Jahren verschollenen Großvater lebendig vor mir gesehen. Ich weiß es genau«, schloss sie ihre Ausführungen.

»Hat er etwas gesagt?«

»Nein.«

»Kann es nicht sein, Susan, dass Traum und Wirklichkeit nicht mehr zu unterscheiden waren?«

»Das versuche ich mir auch schon die ganze Zeit einzureden, Grit. Aber das war es nicht. Ich habe das Geräusch gehört und nachgeschaut. Aus dem Schrank waren die Sachen herausgerissen.«

»Vielleicht ist das auch im Traum passiert?«

»Wie meinst du das?«

»Ganz einfach. Hast du noch nie etwas von überschießenden, geistigen Kräften gehört oder gelesen? Kräfte, die in jedem Menschen schlummern und manchmal bewusst, ein andermal unbewusst durch ihn ausgelöst werden. Solche Probleme werden sogar ernsthaft erforscht.«

»Du meinst Parapsychologie?«

»Ja, so nennt man es, soviel ich weiß.«

Susan Kelly schüttelte den Kopf. »Solche Fähigkeiten habe ich nicht.«

»Vielleicht weißt du nur noch nichts davon. Du hast geträumt, und durch die geistige Energie, die dabei entwickelt wurde, die Aktionen ausgelöst. Ursache kann in der Tat ein Geräusch gewesen sein, das du im Unterbewusstsein wahrgenommen hast. Du warst der Meinung, dass sich jemand am Schrank im Nebenzimmer zu schaffen machte. Durch diesen plötzlichen, heftigen Gedankengang hast du möglicherweise das Öffnen der Türen und das Herausfallen der Alben und der Schachtel mit den Fotos selbst in Gang gesetzt.«

»Und wie erklärst du dir dann, dass ich meinen Großvater leibhaftig vor mir sah?«, warf Susan Kelly schnell ein, als Grit Boerhave eine Sprechpause machte.

»Vielleicht bist du wie eine Traumwandlerin ins Wohnzimmer gegangen. Im Halbschlaf glaubt man manchmal Dinge zu sehen und zu hören, die gar nicht vorhanden sind.«

»Ich habe ihn gesehen. Ich weiß es genau.«

»Dann ist dir sein Geist erschienen«, erwiderte Grit Boerhave leichthin, als handele es sich um die normalste Sache der Welt.«

»Ja, das glaube ich auch.«

»Dein Großvater spielte in deinem Leben eine große Rolle. Vielleicht hast du dir immer gewünscht, ihn wiederzusehen.«

»O ja«, gestand Susan Kelly der Freundin, »das habe ich oft.«

»Na, siehst du! Und dann kam der Augenblick, in dem du glaubtest, ihn wirklich vor dir gesehen zu haben.«

Susan Kelly seufzte und fuhr sich durch das zerwühlte Haar. »Ich bin völlig durcheinander, Grit. Ich weiß nicht, was ich noch denken soll.«

»Das kann ich mir vorstellen. Dann ist es gut, dass ich jetzt angerufen habe.

Das Wetter ist herrlich. Wir fahren raus. Nach Amsterdam oder zum Strandbad Scheveningen. Irgendwie kriegen wir den Tag schon herum. Es wäre idiotisch, bei solchen Temperaturen zu Hause zu sitzen. Und für dich ist es wichtig, dass du Abwechslung hast und so schnell wie möglich auf andere Gedanken kommst.«

Susan Kelly war froh, dass die Freundin die Initiative ergriff. Sie beeilte sich, um fertig zu werden. Nach einer kalten Dusche fühlte sie sich bereits wohler, ihre Lebensgeister waren neu geweckt. Sie trank eine Tasse heißen Kaffee, räumte sämtliche Bilder weg und verließ eine Stunde nach dem Anruf der Freundin ihre Wohnung.

Susan Kelly benutzte nicht den Lift, sondern ging über die Treppe nach unten. Vier Stockwerke tief. Aber sie kam nie unten an!

Auf dem Treppenabsatz zur zweiten Etage stand plötzlich wie aus dem Boden gewachsen eine Gestalt vor ihr. In Gedanken versunken wollte die Neununddreißigjährige ausweichen, um der anderen Person Platz zu machen.

Da sah sie, dass es sich um ihren Großvater handelte.

Er nahm sie mit.

1. Kapitel

Grit Boerhave wartete vergebens.

Sie suchte auf ihrem Autoradio einen Sender, der flotte Musik brachte, und summte die Melodie fröhlich mit. Aus der Fröhlichkeit wurde schließlich Verärgerung und dann Sorge. Susan war stets pünktlich. Man konnte sich auf sie verlassen, wenn sie etwas sagte. Zwanzig Minuten über der Zeit, das war mehr als ungewöhnlich.

Nachdenklich verließ die fünfunddreißigjährige Holländerin ihren cremefarbenen Daf und lief zur Haustür. Grit Boerhave legte den Finger auf den Klingelknopf und drückte mehrere Male fest darauf. Dann wartete sie.

Als sich weder Susan Kellys Stimme in der Sprechanlage meldete noch das Fenster der Wohnung zur Straße sich öffnete, wurde die Frau nervös. Sie eilte durch den Flur und ließ sich mit dem Lift nach oben tragen. An Susan Kellys Wohnungstür klingelte und klopfte sie. Aber niemand rührte sich.

Da wurde aus Grit Boerhaves Unruhe Angst. Die Niederländerin wusste nicht, was sie von dieser Situation halten sollte. Vor rund zwanzig Minuten – nach ihrer Ankunft mit dem Wagen – hatte Susan sich noch auf dem vorderen Balkon gezeigt, ihr zugewunken und hinuntergerufen, dass sie kommen werde. Seitdem wartete Grit Boerhave vergebens.

Da war etwas passiert! Susan war möglicherweise wieder ohnmächtig geworden wie schon mal in der vergangenen Nacht.

Der Hausmeister wohnte im ersten Stock. Ihn suchte Grit Boerhave auf.

»Sie müssen sofort die Wohnung öffnen«, verlangte sie. »Bei Frau Kelly. Sie ist in Gefahr und braucht möglicherweise einen Arzt.«

»Was ist denn passiert?«, wollte der Mann wissen.

»Wenn ich das wüsste, wäre mir auch wohler. Beeilen Sie sich! Vielleicht ist jede Minute kostbar.«

Sie liefen rasch nach oben, und der Mann vergewisserte sich erst durch Klingeln, dass Susan Kelly wirklich nicht aus eigener Kraft imstande war die Tür zu öffnen. Dann schraubte er das Schloss ab. Drei Minuten später betraten sie gemeinsam die Wohnung.

»Niemand da«, sagte der Hausmeister verwirrt. »Was für eine Geschichte haben Sie mir denn da aufgetischt?«

Grit Boerhave war blass geworden. Nervös fuhr sie sich durch das glatte, aschblonde Haar. »Das verstehe ich nicht«, stammelte sie verwirrt. »Sie wollte herunterkommen, ich habe vergebens auf sie gewartet.«

»Sie wird das Haus verlassen haben, ohne dass Sie es bemerkten.«

»Nein.« Grit Boerhave schüttelte heftig den Kopf. »Ich parke mit meinem Wagen genau vor dem Eingang. Ich hätte Frau Kelly aus dem Gebäude kommen sehen müssen.«

»Aber sie ist nicht gekommen?«

»Nein.«

»Kein Mensch kann sich in Luft auflösen.«

»Normalerweise nicht«, bemerkte Grit Boerhave mit belegter Stimme.

Die Dinge nahmen ihren Lauf.

Grit Boerhave und der Hausmeister durchsuchten das ganze Gebäude. Als sich keine Spur von Susan Kelly fand, benachrichtigte die Frau die Polizei, die eine Viertelstunde später am Ort des Geschehens eintraf. Noch einmal erzählte Grit Boerhave ihre Geschichte, die man ihr nicht so recht abnehmen wollte. Auch die beiden Polizeibeamten, die sich gründlich in der nun schon geöffneten Wohnung umsahen, meldeten ihre Zweifel an.

»Vielleicht hat sie es sich im letzten Moment anders überlegt und wollte allein ausgehen«, meinte der erste Polizist, ein hagerer, sommersprossiger Mann mit heller Haut und fahlem Haar.

»Wir waren verabredet«, beharrte Grit Boerhave auf ihrer Aussage.

»Sie kann sich trotzdem anders entschieden haben«, meinte der zweite Uniformierte. Er war einen Kopf größer als der Sommersprossige. »Und um Ihnen nicht zu begegnen, hat sie schließlich den Hinterausgang benutzt.«

»Das klingt aus Ihrem Mund zwar logisch, und es ist verständlich, dass Sie diese Überlegung anstellen«, entgegnete die Frau leise, »aber es passt überhaupt nicht zu dem Verhältnis, das ich zu Frau Kelly habe.«

»Vielleicht hat es sich plötzlich geändert. Sie kann von sich aus das Verhältnis gelöst haben.«

Die beiden Beamten sahen das alles mit anderen Augen.

»Meine Freundin Susan ist verschwunden, und Sie haben die Pflicht, sie zu suchen«, sagte sie unwillig. »Ich gebe hiermit eine Vermisstenanzeige auf.«

»Meinen Sie nicht, dass es dazu noch ein bisschen zu früh ist?«, fragte der erste Polizist. »Vielleicht ist sie nur spazieren gegangen oder hat sich einen Scherz mit Ihnen erlaubt, und in zwei, drei Stunden taucht sie wieder auf. Sie sehen doch selbst ein, dass jemand vom vierten Stock bis zur Haustür nicht einfach spurlos verschwinden kann.«

»Ja, das sehe ich ein«, murmelte Grit Boerhave kleinlaut. »Aber irgendetwas stimmt da nicht. Sie war heute Morgen schon so merkwürdig.«

»War sie anders als sonst?« Der Polizist wechselte rasch einen Blick mit seinem Kollegen.

Die Frau erzählte, was Susan Kelly ihr anvertraut hatte.

Da nickte der Uniformierte. »Sie scheint wohl ein bisschen durcheinander gewesen zu sein, wie?«

»Wenn Sie mich so fragen, muss ich natürlich mit ja antworten.«

Damit bestätigte sie indirekt eine Art Verwirrungszustand bei ihrer Freundin, und dementsprechend erfolgte die Mitteilung über Funk an die Polizeizentrale.

Grit Boerhave konnte eine sehr gute Beschreibung ihrer Freundin geben; nicht angeben konnte sie allerdings die Kleidung, die sie trug. Schließlich hatte sie Susan Kelly seit dem kurzen Winken vom Balkon aus nicht mehr gesehen. Und das war so schnell gegangen, dass sie sich an Einzelheiten nicht mehr erinnerte.

Es begann das große Warten. Etwas anderes blieb gar nicht übrig.

Grit Boerhave fuhr nachdenklich und bedrückt nach Hause. Der Wunsch, eine Fahrt nach Amsterdam oder Scheveningen zu unternehmen, war bedeutungslos geworden.

Sie wusste nicht mehr, was sie von all den Ereignissen der letzten Stunden denken und halten sollte.

Auf dem Rummelplatz war allerhand los. Hämmernde Musik, Ansager, die über Lautsprecher ihre Sensationen anpriesen, Menschen, die lachten. Ein kunterbuntes Durcheinander, eine schillernde, unwirkliche Welt, die für einige Stunden Spaß, Entspannung und Vergnügen versprach.

Aus der Geisterbahn wurden die Schreckensschreie ins Freie hinausgetragen. Menschen drängelten sich an diesem milden Sommerabend in den Bierzelten und Losbuden. Schiffschaukeln und Karussells waren gut besetzt.

Viele Kinder und Jugendliche waren zu sehen. Einige von ihnen trugen Lampions oder große Herzen mit Aufschriften aller Art. Wieder andere waren maskiert als Hexen, Vampire, Tiermenschen oder Monster. Mit Einbruch der Dunkelheit hatte ein Unternehmen, das Masken und Kostüme dieser Art fertigte und ebenfalls einen Stand auf dem Rummelplatz hatte, zum Monsterfest geladen. Viele, die daran teilgenommen hatten, trugen auch beim weiteren Bummel über den Platz ihre Masken und Kostüme.

Neugierig verfolgten einige Besucher diese Jugendlichen mit Blicken. So fand auch ein Junge, der mit zwei anderen auf dem Weg zu einer Schiffschaukel war, das Interesse einiger Leute.

Ein Halbwüchsiger, der mit seinen Eltern unterwegs war, bekam große Augen, als er einen Jungen sah, der einen kugelrunden Kopf hatte, runde, wimpernlose Augen, einen breiten Mund, der ein eigenartiges Grinsen zauberte. Auf der Mitte des kugelrunden Kopfes begann ein hornartiger Kamm, der bis tief in den Nacken ragte.

»Daddy!«, brüllte der Junge und zupfte seinen Vater am Rockärmel. »So eine Maske möchte ich auch.«

Ehe der Vater sich versah, stürmte der Junge auf den Maskenträger los. »He, du da!«, rief er dem Kugelköpfigen zu und rannte vor ihn hin, sodass der andere abrupt stehen bleiben musste, um ihn nicht zu rempeln. Die beiden anderen Jungen in seiner Begleitung verhielten ebenfalls sofort im Schritt. »Wo kann ich so eine Maske bekommen?«

Der Angesprochene schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Tut mir leid.«

»Aber irgendwoher musst du sie doch bekommen haben?«

»Er hat sie selbst gebastelt«, schaltete sich der Begleiter des Kugelköpfigen ein. Dieser Junge hatte schwarzes, gelocktes Haar und eine auffallend braune Hautfarbe.

»Toll!« Die Augen des Jungen, der von der auffälligen Maske so begeistert war, wurden groß wie Untertassen. »Gibt es dazu eine Vorlage?«

Da schüttelte der Maskenträger den Kopf und deutete den Weg die Budenstraße zurück. »Da vorne ist allerdings ein Stand, an dem es eine Menge Masken gibt. Vielleicht findest du etwas Ähnliches.«

»Danke für den Tipp.« Der Junge rannte zu seinem wartenden Vater zurück und redete aufgeregt auf ihn ein.

Der mit dem Kugelkopf blickte seine beiden Begleiter an. Der Dunkelgelockte grinste von einem Ohr zum anderen. »Wenn der wüsste, dass das gar keine Maske ist«, murmelte er und schlug dem dämonisch aussehenden Geschöpf an seiner Seite auf die Schulter.

Der Knabe mit dem schwarz gelockten Haar war niemand anderes als Pepe. Und der Junge mit dem Kugelkopf war Jim, der Guuf. Und dies war in der Tat sein wahres Aussehen. Jim war das Kind einer Menschenfrau und eines kugelköpfigen Guuf. Die Guuf waren ein rätselhaftes Volk, das der Dämonengöttin Rha-Ta-N'my verpflichtet war und sie in der Vergangenheit beim Untergang der legendären Insel Xantilon unterstützt hatte.

Jims Mutter war in die Vergangenheit entführt und von Guuf gefangen genommen worden. Nach ihrer Rückkehr aus der Gefangenschaft brachte sie Jim zur Welt. Ihr wurde mitgeteilt, dass das Kind bei der Geburt gestorben sei. Doch in Wirklichkeit wurde Jim im dunklen Keller eines Hospitals von einem Arzt großgezogen und versorgt. Erst später lernte er seine Mutter kennen und auch die Unberechenbarkeit der Menschen, denen er sich zugehörig fühlte, obwohl er äußerlich nichts Menschliches an sich hatte.

Er wurde von den Guuf verfolgt, weil sie fürchteten, er könne sich eines Tages an besondere Dinge erinnern, die die Dämonenrasse betrafen. Und er wurde von den Menschen verfolgt, weil er so fremdartig und gefährlich aussah. In Wirklichkeit konnte er keiner Fliege etwas zuleide tun und litt unsäglich unter der Isolierung, die ihm durch das Verhalten der Menschen auferlegt wurde.

Björn Hellmark, der Herr der unsichtbaren Insel Marlos, hatte sich seiner angenommen und ihm auf dem Eiland eine neue Heimat gegeben. Hier lebten auch Menschen. Aber sie respektierten ihn und verfolgten ihn nicht oder störten sich auch nicht an seinem Aussehen.

Gelegentlich hatte Jim die Insel verlassen. Stets dann, wenn in diesem oder jenem Teil der Welt Nacht herrschte und er nicht das Risiko einging, in jenen Städten, die er gern aufsuchte und durchstreifte, auf Menschen zu stoßen. Menschenleere Straßen und Gassen waren bisher seine bevorzugten Aufenthaltsorte gewesen.

Seit einiger Zeit erst hatte er auch außer Pepe, dem Adoptivsohn Hellmarks, einen weiteren Freund, der ihn schätzte und der sich nicht an seinem Aussehen störte. Er hatte ihn durch Zufall kennengelernt. Der kleine Engländer namens Bobby Failman war in die Gewalt eines wirklichen Dämons geraten, und Jim hatte ihn befreien können. Seither besuchte Jim seinen neuen Freund in dessen Haus, und die beiden kamen vortrefflich miteinander aus.

Dass Jim sich heute mitten im Menschengewimmel bewegte, war eine Besonderheit ersten Ranges. Sie hing damit zusammen, dass auf diesem Rummelplatz jenes Monsterfestival stattgefunden hatte, das so viele besucht hatten. Jim, Pepe und Bobby waren allerdings nicht dort gewesen. Aber jedermann, der Jim, den Guuf, sah, war der Meinung, dass er seine Maske noch trug.

Hinter den drei Jungen war ein leises Lachen zu hören, während sie sich unterhielten. Fast gleichzeitig wandten sie die Köpfe und sahen ein Paar, das ihnen nicht unbekannt vorkam.

Der Mann war mindestens zwei Meter groß, breit wie ein Kleiderschrank und hatte eine prachtvolle Glatze. Die Begleiterin an seiner Seite wirkte jung und mädchenhaft und war ausgesprochen reizend. Das waren Rani Mahay, der Koloss von Bhutan, und Danielle de Barteauliee, eine Französin, die mit der Dämonenwelt und Rha-Ta-N'my schon ihre eigenen Erfahrungen gemacht hatte.

»Na, ihr drei Ausgeflippten?«, fragte der Inder heiter. »Wollt ihr noch immer hierbleiben oder habt ihr die Nase voll? «

Allgemeiner Protest erhob sich.

»Jetzt fangen wir erst richtig an«, ließ Pepe sich vernehmen. »Mit der Schiffschaukel sind wir noch nicht gefahren.«

Rani kramte aus seiner Tasche einige Münzen und steckte sie den Jungen zu. »Das könnt ihr noch verbrauchen. Aber dann geht's zurück! Bobby wird bestimmt auch schon ungeduldig erwartet. Einer muss ihn noch nach Hause bringen, und das sind immerhin ein paar tausend Meilen.«

Sie grinsten sich an, und Jim boxte seinem neuen Freund in die Seite. Sie waren im Staat Kalifornien, am Stadtrand von San Francisco, wo dieser Rummel durchgeführt wurde. Dass Bobby Failman hier war, war ein Wunder für ihn und mehr als ungewöhnlich. Ungewöhnlich war auch seine Reise von England bis hierher gewesen. Sie hatte ihn keinen Pfennig gekostet und war innerhalb von wenigen Sekunden über die Bühne gegangen. Jim hatte Bobby Failman mit nach Marlos genommen, und von dort aus waren sie dann nach San Francisco gesprungen. Wer längere Zeit auf der unsichtbaren Insel lebte, entwickelte die wunderbare Fähigkeit der Teleportation, was bedeutet, dass man sich mit der Hilfe seiner Gedanken an jeden beliebigen Punkt der Erde versetzen kann.

»Und du wurdest dazu abkommandiert, uns zu überwachen, wie?«, fragte Pepe den Inder und seine Begleiterin. »Wo sind Björn und Carminia?«

»Auf Marlos.«

»Carminia schält Kartoffeln, und Björn poliert die Skelettschädel in der Geisterhöhle?« Der dunkelhäutige Junge grinste. Er kam – ebenso wie Jim – manchmal auf komische Gedanken. Was er gelegentlich so anzettelte, wurde oft von Whiss und erst recht von Blobb-Blobb, dem kleinsten und frechsten Bewohner der Insel, übernommen.

Whiss und Blobb-Blobb waren außer Jim die exotischsten Bewohner der Insel. Die beiden waren so etwas wie Vater und Sohn. Whiss war etwa so groß wie ein Rabe, aber in allen Details ein Miniaturmensch mit einigen körperlichen Merkmalen, die ein Mensch nicht hatte. So gab es auf seinem Kopf elf kleine schwarze Noppen, die er bei Bedarf ausfahren konnte wie Teleskopantennen. Und so etwas wie Antennen waren diese Gebilde auch. Mit ihnen funkte er seine Para-Kräfte in die Atmosphäre. Zwischen den Schulterblättern wuchsen zarte, seidig schimmernde Flügel, und er hatte außerdem die Gabe, jedes Geräusch und jede menschliche Stimme täuschend ähnlich nachzuahmen.

Blobb-Blobb war sein Nachwuchs. Er war nur drei Zentimeter groß, seinem Ausbrüter ähnelte er aufs Haar wie ein Ei dem anderen. Sein loses Mundwerk und sein stetes Aufgelegtsein zu irgendwelchem Schabernack hatten ihm den Beinamen des kleinsten und frechsten Bewohners der Insel Marlos eingetragen.

Jim, Pepe und Bobby Failman kamen überein, spätestens in einer halben Stunde den Platz zu verlassen und auf die Insel zurückzukehren. Je eine Fahrt mit der Schiffschaukel und mit dem Riesenrad wollten sie sich noch gönnen. Rani und Danielle wollten ebenfalls einen Bummel über den Platz machen und dabei ein wenig Zerstreuung suchen.

Zerstreuung war ein Wort, das sie kaum noch kannten. Die Fußangeln, die ihnen die bösen Mächte dieser Welt stets in den Weg legten, ließen ihnen dazu kaum Zeit. Rha-Ta-N'my und ihre Schergen lagen auf der Lauer, um die Menschen, die es wagten, sich ihren unheimlichen Plänen in den Weg zu stellen, massiv zu bekämpfen. Selbst hier auf einem Rummelplatz, wo die Leute heiter und ausgelassen waren, konnte wieder ein gut getarnter Feind lauern. Die Magie einer grauen Vorzeit und die Boten eines dämonischen Reiches schliefen nicht und hatten überall auf der Welt Helfershelfer. Björn Hellmarks Freunde und Vertraute, die sich das Aufspüren und Vernichten der Feinde aus dem Reich der Finsternis auf ihre Fahnen geschrieben hatten, rechneten jederzeit mit einem Angriff auf Leib und Leben.

Dass auf diesem Rummelplatz allerdings die Weichen zu einem unglaublichen Schicksal für sie gestellt waren, ahnten sie nicht.

Rani und Danielle schlenderten weiter, blieben hier und da stehen. Die Jungen brachten ihre Fahrt mit der Schiffschaukel hinter sich und rasten dann über den Platz, um noch die Runde mit dem Riesenrad zu schaffen, ehe es nach Marlos zurückging.

Jim, Pepe und Bobby Failman konnten aus großer Höhe, wo die Kabinen des Riesenrades hielten, auf Buden, Karussells und auf die Menschen herabschauen, die wie Ameisen aussahen.

»Da sind Rani und Danielle!«, sagte Bobby Failman und deutete in die Tiefe.

In der hell erleuchteten Budenstraße sahen die drei Freunde, wie der Inder und seine Begleiterin auf ein Zelt zugingen, vor dem riesige Plakate mit mannsgroßen Figuren standen. Die Figuren stellten Menschen verschiedener Rassen aus allen Zeiten und Epochen dar. Im hellen Licht der auf die Plakate gerichteten Scheinwerfer erkannten die Freunde einen Indianerhäuptling in geduckter Haltung, der drohend ein steinernes Messer mit der Rechten umklammert hielt. Ein drittes Bild zeigte einen Römer in voller Rüstung. Auf einem Podest vor dem torähnlichen Eingang lief ein Mann in greller Kleidung, hielt ein Mikrofon in der Hand und sprach die Vorübergehenden an, lockte sie mit sensationellen Mitteilungen an die Kasse und in sein Panoptikum der Zeiten, wie es in riesigen, beleuchteten Buchstaben über dem Eingang zu lesen war.

Was er den Menschen vor der Zeltbude sagte, konnten die Jungen in der großen Höhe und wegen des allgemein herrschenden Lärms nicht vernehmen. Aber sie konnten sehen, dass Rani und Danielle sich zur Kasse begaben und dann hinter dem Vorhang des Panoptikums verschwanden.

Jim war es, der im gleichen Augenblick noch etwas sah. An der Rückwand der Zeltbude schlich ein Mann vorüber, blieb einen Moment ängstlich stehen und blickte sich um, als würde er verfolgt. Er trug etwas unter dem Arm. Jim konnte nicht genau erkennen, was es war. Es sah aus wie ein Kleidungsstück, in dem etwas eingewickelt war.

Das, was im Augenblick geschah, sah er aber ganz genau: Aus der rückwärtigen Bretterwand stieß ein Arm. Er steckte in einem dunklen Ärmel, das vorschauende Hemd war mit auffallend großen Rüschen besetzt. Die Hand umklammerte einen Dolch und stieß einmal kurz und ruckartig zu.

»Da unten!«, schrie Jim seinen Freunden zu.

Aber da konnten sie alle schon nichts mehr sehen.

»Was ist denn los?«, fragte Pepe verwirrt, als er die Aufregung des Guuf bemerkte.

»Da unten wurde eben ein Mann ermordet! Hinter der Rückwand des Panoptikums. Ich bin gleich wieder zurück.«

Seine Worte hallten noch nach, da war er schon verschwunden. Jim konzentrierte sich auf die Insel. Im gleichen Moment löste sich sein Körper auf. Die Stelle in der Gondel des Riesenrades, an der er eben noch gestanden hatte, war leer, und leise fauchend schlug dort die Luft zusammen.

Jims Umgebung veränderte sich schlagartig. Das Rummelplatzmilieu versank hinter wehenden Schleiern. Lärm, Hektik und buntes Lichtermeer erloschen. Statt seiner schälte sich eine friedliche paradiesische Landschaft aus dem durchsichtigen Grau. Meeresrauschen. Sanft spielte der Wind in den mächtigen Blättern der Palmen. Weißer Strand und eine Ruhe die von keiner Maschine, keinem lauten Wort unterbrochen wurde.

Jim kam rund fünfzig Meter entfernt von den Blockhütten an, die am Strand standen und den bisherigen Marlos-Bewohnern als Unterkünfte dienten. Weiter rechts war eine Bucht, aus der ein merkwürdig geformter Felsen empor wuchs. Die Formation hatte das Aussehen eines riesigen Totenschädels. Dort drinnen lag die Geisterhöhle, die in Björn Hellmarks Leben eine gewichtige Rolle spielte.

Kein Mensch war am Strand. Björn und Carminia hielten sich wahrscheinlich in der Geisterhöhle auf. Dort befanden sich die Trophäen des Herrn von Marlos. Das berühmte Schwert des Toten Gottes, einige versteinerte Manja-Augen, der Trank der Siaris, der Schlüssel zum Reich Komestos II. und die Dämonenmaske. Außerdem das Buch der Gesetze, das von Weisen und Priestern im alten Xantilon verfasst wurde und direkte Botschaften für Björn Hellmark enthielt. Nachrichten, die mehr als zwanzigtausend Jahre alt waren, hatten noch heute ihre Bedeutung für einen Menschen, der zum zweiten Mal lebte.

Sicher studierten Björn und Carminia in diesen Minuten das Buch der Gesetze. Hellmark suchte nach neuen Wegen und Formen, um seine Todfeindin, die Dämonengöttin Rha-Ta-N'my, unschädlich zu machen.

Die neue Umgebung erlosch ebenso schnell wieder, wie sie in Jims Bewusstsein gedrungen war. Kaum war er materialisiert, versetzte er sich erneut. Wieder auf den Rummelplatz am Stadtrand von San Francisco, das Tausende von Meilen von der unsichtbaren Insel zwischen Hawaii und den Galapagos entfernt lag. Jim stellte sich genau die Stelle vor, an der seiner Meinung nach das Verbrechen geschehen war.

Dort kam er an, hinter der Rückwand der Zeltbude, in der das Panoptikum der Zeiten untergebracht war. Lärm und die hektischen Lichtreflexe hüllten ihn sofort wieder ein. Jenseits der Budenstraße stand das Riesenrad, das sich langsam drehte. In welcher Gondel Pepe und Bobby Failman saßen, konnte er von hier unten nicht erkennen. Er bemühte sich auch nicht. Seine Aufmerksamkeit galt in diesem Sekunden dem Platz, an dem der Mord passiert war.

Eigentlich hätte Jim über die Leiche stolpern müssen. Aber der Boden vor seinen Füßen war leer!

Jim war einen Moment verwirrt. Hatte er sich an den falschen Platz versetzt? War es eine andere Bude gewesen, die ...

Nein. Er wusste es genau. Aus dieser Rückwand war die Hand mit dem Dolch gekommen und hatte den Mann niedergestochen.

Der Boden vor der Wand war nicht aufgewühlt. Auch Blut war nicht zu sehen. Jim hielt es für angebracht, Rani Mahay, der in der Nähe war, seine Beobachtungen mitzuteilen.

Er kramte ein paar Münzen aus seiner Hosentasche. Das Geld reichte nicht mehr aus, um eine Eintrittskarte zu lösen. Aber daran sollte es nicht scheitern.

Nochmals versetzte sich Jim nach Marlos zurück. Das war jedes Mal notwendig, um eine erneute Teleportation durchzuführen. Marlos musste stets der Ausgangspunkt für einen neuen Sprung sein. Anders funktionierte es nicht.

Diesmal materialisierte er nicht außerhalb des Panoptikums, sondern im Inneren. Halbdunkel umgab ihn. Schmale Stege führten zwischen den wächsernen Gestalten vorbei, die lebensgroß vor ihm empor ragten. Wachsfiguren. Nachbildungen von Menschen aus verschiedenen Epochen und Rassen. Franzosen und Spanier, Römer und Griechen. Menschen in der Kleidung des Mittelalters und des letzten Jahrhunderts waren ebenso vertreten wie eine Darstellung der Personen aus der Steinzeit und des Raumfahrtzeitalters.

Aus versteckten Lichtquellen wurden die einzelnen Figuren mehr oder weniger intensiv angestrahlt. Das Halbdunkel schuf eine gespenstische, unwirkliche Atmosphäre. Dies war offensichtlich nur eine willkommene Begleiterscheinung. Der Hauptgrund aber war offensichtlich, Beschädigungen und Unsauberkeiten an den Gestalten und deren Kleidung zu verdecken.

Sie waren – wenn man genau hinsah – teilweise in erbarmungswürdigem Zustand. Andere Personen wiederum – vor allem ein Grieche, ein Spanier und ein französischer Adeliger – trugen offensichtlich neue Kleider, die prunkvoll und aufwendig gearbeitet waren.

Jim lief an den Figuren vorüber. Das Kabinett war nur schwach besucht. Hier und da hatten ein paar Interessenten Karten gelöst.

Irgendwo in einem der schmalen Gänge, die von den Wachsfiguren flankiert wurden, mussten sich auch Rani und Danielle aufhalten. Er entdeckte sie auch verhältnismäßig schnell.