Macabros 059: Mann der Geheimnisse - Dan Shocker - E-Book

Macabros 059: Mann der Geheimnisse E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Frank Morell träumt vom Fliegen - und von einem alten Magier. Nach einigen Anschlägen auf sein Leben steht er schließlich dem Magier gegenüber, der ihm ein Geheimnis offenbart, das Morells Leben völlig verändern wird.

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Band 59

Dan Shocker

MANN DER GEHEIMNISSE

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Illustration: www.ralph-kretschmann.de

Fachberatung: Gottfried Marbler

Satz: Winfried Brand

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-759-7

Die junge rothaarige Frau hinter der Verkaufstheke sah gut aus. Gert Kassner lächelte die Neunzehnjährige an, und sie erwiderte sein Lächeln. Er suchte ein Geschenk für seine Mutter, die in diesen Tagen ihren fünfzigsten Geburtstag feierte. Es sollte etwas Besonderes sein. In dem Spezialgeschäft in der Nähe der alten Oper hoffte er, etwas Geeignetes zu finden.

Die Beratung durch die hübsche Verkäuferin dauerte länger als erwartet. Eigentlich war er ein kurz entschlossener Käufer, doch heute wollte es partout nicht gelingen. Ob das damit zusammenhing, dass er während des Gesprächs an persönliche Worte dachte? Ihr Charme bezauberte ihn, und Kassner nahm sich vor, die junge Dame direkt zu fragen, ob sie für den Abend schon etwas vorhatte. Dieser Annäherungsversuch durfte allerdings nicht plump wirken, sonst würde er gar nichts erreichen. Sie schien zugänglich und ein modernes Mädchen zu sein. Das würde sein Vorhaben erleichtern. Er nahm sich vor, die Gelegenheit zu nutzen.

Die Verkäuferin öffnete die gläserne Tür an der Vitrine, um dort den kostbaren Schmuckkasten herauszunehmen, der ihm ins Auge gefallen war und den er gern aus der Nähe gesehen hätte.

Kassner machte sich Gedanken über die aufregenden Formen der Schönen, die sich unter dem eng anliegenden Rock abzeichneten. Sie hatte ein rundes Gesäß und lange Beine. Er mochte langbeinige Mädchen, aber sie punktete nicht nur beim Aussehen. Es kam noch mehr hinzu. Die Art, wie sie sich bewegte, wie sie sprach, wie sie lächelte. Da passte einfach alles.

Sie griff mit beiden Händen nach der Schmuckkassette. Schlanke, gepflegte Finger zeigten auserwähltes Geschmeide, das Aufmerksamkeit weckte.

Gert Kassner war so in den Anblick der hübschen Verkäuferin versunken, dass er im ersten Moment gar nicht begriff, was vor ihm geschah. Er lächelte gedankenverloren – doch dann gefror das Lächeln auf seinen Zügen.

Das Mädchen – wo war es geblieben?

Die Umrisse der Verkäuferin schimmerten noch flackernd vor der großen Glasvitrine. Dann war da nichts mehr außer Luft. Die schöne junge Verkäuferin war verschwunden, als hätte der Boden sie verschluckt. Gert Kassner rieb sich die Augen, doch der Eindruck blieb. Er wandte den Kopf. Narrte ihn ein Spuk? Erlebte er eine Halluzination? War er einen Moment lang unaufmerksam gewesen und es ihm nicht aufgefallen, dass sie vielleicht durch eine Glastür in einen hinter der Verkaufstheke liegenden Raum gegangen war?

Unsinn! Das hätte er sehen müssen.

Kassner blickte in das Gesicht einer älteren Verkäuferin, die nur vier Schritte von ihm entfernt auf den Platz starrte, wo die junge Kollegin eben noch gestanden war. Die Frau mit dem grau melierten Haar und der goldgerahmten Brille, die an einer fein gearbeiteten Kette an ihrem Hals hing, hatte ihre Augen weit aufgerissenen. „Liane!“, entfuhr es ihr tonlos. Ihr Blick irrte hin und her und begegnete Kassners nervösen Augen. „Aber das gibt es doch nicht! Ein Mensch kann sich doch nicht in Luft auflösen!“ In ihren flackernden Augen war die Angst zu lesen.

„Sie haben es also auch gesehen?“, fragte Gert Kassner, mehr um es sich selbst zu bestätigen als eine Antwort zu erwarten.

Die Frau nickte, warf einen Blick unter die Verkaufstheke, lief dann zu einer Kollegin und sprach hastig mit ihr. Der geheimnisvolle und durch nichts erklärbare Vorgang sollte offenbar zunächst nicht über Gebühr beachtet werden. Aber noch jemand hatte das Geschehen beobachtet. Eine Kundin, die vor einem hohen, schmalen Spiegel stand und eine über zwei Meter lange Silberkette um ihren Hals geschlungen hatte, war ebenfalls Zeuge dieses Vorfalls geworden.

Ein Mensch hatte sich in Luft aufgelöst!

Liane Martens wurde im ganzen Haus gesucht. Man fand sie nirgends. Zwei Kolleginnen gingen sogar auf die Straße hinaus. Aber das war Unsinn. Um zur Tür zu kommen, hätte Liane Martens das übersichtliche Geschäftslokal durchqueren müssen. Aber dass dies nicht der Fall gewesen war, dafür legte auch Kassner seine Hand ins Feuer. Welchen Grund sollte sie auch gehabt haben, plötzlich auf die Straße zu laufen?

Er deutete auf die Schmuckkassette, die er hatte sehen wollen. Der linke Rand des Objektes ragte über den polierten Regalboden hinaus. Der Schmuckkasten stand schräg, so, wie Liane Martens ihn noch nach vorn gezogen hatte.

Davon konnte sich auch die Polizei überzeugen, die zwanzig Minuten nach der Anforderung eintraf. Die beiden Beamten hörten sich die mysteriöse Geschichte an und konnten sich ebenso wenig einen Reim darauf machen wie die Kolleginnen der Verschwundenen, die Geschäftsinhaberin und die beiden Zeugen.

„Menschen können sich nicht in Luft auflösen“, lautete der Kommentar eines der Uniformierten.

Sie schauten in jeder Ecke nach, fragten nach jeder Tür, die es gab, und kamen zu dem Schluss, dass jegliche Erklärung für das plötzliche Verschwinden der jungen Verkäuferin fehlte.

Der Vorfall führte zu einer Schlagzeile in der Nachtausgabe, die am frühen Abend den Frankfurtern auf der Straße, an den Kiosken und im Hauptbahnhof angeboten wurde. Die druckfrische Farbe verschmierte noch unter den Fingern der Leser, die die Zeitung in die Hand bekamen.

Junge Verkäuferin löst sich in Luft auf! Und darunter: Wer hat Liane Martens gesehen?

Das mysteriöse Ereignis sollte nur der Auftakt zu weit Schlimmerem sein. Doch davon ahnte in der Mainmetropole an diesem kühlen Maitag niemand etwas.

Als die grauen Dämpfe träge in den trostlosen, stumpfroten Himmel aufstiegen, wusste er: Ich bin zu Hause. Dies ist meine Heimat. Ich bin Mirakel. Ich habe nur geträumt vom Leben eines Mannes, der sich Frank Morell nennt, in Frankfurt wohnt und als Konstrukteur in einer kleinen Firma tätig ist.

Er stand mitten auf der Straße. Mächtige Platten breiteten sich unter seinen Füßen aus. Der Untergrund war schwarz-braun und darunter flirrte und schimmerte es, als bahne sich ein riesiger unterirdischer Fluss seinen Weg durch das kristallene Gestein.

Doch er wusste, dass dieser Eindruck täuschte. Es gab keine Flüsse mehr. Schon lange waren die letzten Quellen versiegt. Auch die Quellen des Lichtes, aus denen sie die Kraft schöpften, waren nicht mehr stark genug, das Volk zu nähren und den hoch entwickelten Organismus mit kosmobiologischer Kraft aufzufüllen.

Tödliche Stille lastete über dem Ort, an dem er stand. Hinter fernen Nebeln erblickte er die Umrisse der sterbenden, unter glimmernder, riesiger Sonne liegenden Stadt.

Tala-Maron.

Hier lebten die Freunde, die Eltern … Hier hatten sie gelebt, verbesserte er sich selbst in Gedanken. Er würde niemanden mehr finden. Er war als Einziger heimgekehrt.

Warum?

Er wusste es nicht.

Er blickte an sich herab. Sein Körper war umhüllt von einem rubinroten, eng anliegenden Gewand, das ihm wie eine zweite Haut anhaftete. Er trug hohe, goldschimmernde und weiche Stiefel, in denen sein Schritt federnd und leicht erfolgte. Seine Hände waren umschlossen von langen Stulpenhandschuhen, die ebenfalls goldfarben glänzten. Auf seiner linken Brustseite befand sich ein Symbol, das sich hell und strahlend von dem roten, geschmeidigen Stoff abhob. Dort prangte das Abbild eines handtellergroßen Kristalls, der aus einer flachen Scheibe, die man in der Mitte geteilt hatte, herausgeschnitten zu sein schien. Sieben hell flammende Strahlenbündel stachen wie Dornen aus dem geheimnisvollen Kristall.

Das war das Zeichen der Dykten, denen er angehörte, jener Rasse, die aus dem Kosmos ihre Kraft schöpfte, für die es keine Ernährungs- und Entwicklungsprobleme mehr gab, die den Höhepunkt der kosmischen Erkenntnis erreicht hatte, weil sie die Verbindung zum reinsten Geist des Universums gefunden hatte.

Und doch waren Glück, Frieden und Freude zerstört worden. Tala-Mar, die glückliche Welt, selbst legte Zeugnis ab davon, dass die Verbindung zu jener Geisteskraft abgerissen war. Die Welt lag im Sterben. Eine kosmische Katastrophe löschte sie aus.

Aber war das wirklich die ganze Wahrheit?

Während er so dastand und die ferne Stadt als Silhouette wahrnahm, vernahm er das trockene Knistern. Es hörte sich an, als ob Glas zerspringe. Er richtete den Blick nach links, woher die Geräusche kamen. Neue Risse zeigten sich in den gigantischen Platten, und die Fugen zwischen ihnen verschoben sich.

Unwillkürlich ging ein Ruck durch den Körper des Mannes mit der rubinroten Kleidung, und seine Muskeln spannten sich.

Dumpfes Knirschen erscholl aus der glosenden Tiefe unter seinen Füßen. Mehrere Fugen dehnten sich so weit auseinander, dass Abgründe entstanden, in denen ein ausgewachsener Mensch ohne Schwierigkeiten hätte versinken können.

Mensch? Wie komme ich auf Mensch? Ich bin doch ein Dykte …

Mirakel ging drei Schritte vor. Dumpf und hohl klang es unter seinen Füßen, und er warf einen Blick in die Spalten. Dort unten gähnte eine erschreckende, rötlich glimmende Tiefe, und stoßweise drang grauer, dunkelvioletter Rauch daraus hervor und stieg ätzend in seine Augen.

Es schien, als ob dort unten ein urwelthaftes Ungetüm schlafe, als müsse man die Abgründe meiden, um ja kein Geräusch in deren Nähe zu verursachen, ein Geräusch, das den schlafenden Titan wecken könne. Tobend würde er dann die düstere Tiefe durchbrechen, die schwarz-braunen Platten wie welkes Laub auseinanderschieben und ihn verschlingen.

Er fürchtete sich nicht. Es waren andere Gefühle, die ihn erfüllten. Neugierde und Wissensdurst hatten von ihm Besitz ergriffen, und vor allem zwei Fragen ließen ihm keine Ruhe mehr: Wieso glaubte er immer wieder, ein gewisser Frank Morell zu sein? Wieso fiel er immer wieder in diesen öden Traum, in dem er meinte, Pläne zu zeichnen, die wiederum dazu gebraucht wurden, um neue Maschinen zu bauen?

Er gehörte hierher; er hatte nur geträumt, ein anderer zu sein. Aber Tala-Maron war leider nicht mehr so, wie er gehofft hatte, es vorzufinden. Er war lange unterwegs gewesen. Warum er so lange der Stadt den Rücken gekehrt hatte, wusste er allerdings nicht mehr.

Unruhe erfüllte ihn. Er wusste, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmte, aber er hätte nicht zu sagen vermocht, was es war.

In seiner Erinnerung stellte sich Tala-Maron, die Stadt der Glücklichen, ganz anders dar, und doch wusste er gleichzeitig, dass ihr Schicksal vorherbestimmt war, dass sie den Gesetzen des Werdens und Vergehens unterworfen war wie alles andere in diesem Universum. Aber dass die Katastrophe so schnell hatte eintreten können, das irritierte ihn.

Er hatte den Ruf vernommen: Tala-Maron ist in Gefahr! Kehre dorthin zurück, wenn du die Freunde, die Eltern und Geschwister noch einmal sehen willst!

Und er war gekommen, ohne zu wissen, woher er kam. Plötzlich stand er hier – in diesem ausgetrockneten Flussbett.

Er streckte die Arme aus und löste sich im gleichen Augenblick vom Boden, als ob eine unsichtbare Kraft ihn empor und schnell durch die kühle, rötliche Luft ziehe. Rasch fiel die ausgetrocknete, rissige Erde unter ihm zurück. Er fand nichts dabei, zu fliegen. Es war ganz selbstverständlich. Er glitt über die hohen, ausgedörrten Bäume hinweg, deren blatt- und fruchtlosen Zweige einen grauen, schimmelähnlichen Belag aufwiesen.

Es war der Odem der Hölle, der aus der Tiefe der Erde wehte und alles absterben ließ.

Lebte überhaupt noch jemand in Tala-Maron oder waren alle, die er kannte und liebte, schon vergangen?

Sein Herz verkrampfte sich, als er an diese Möglichkeit dachte, und sein Körper streckte sich und durcheilte die Lüfte dieser seltsamen Welt, die ihm so vertraut und gleichzeitig so fremd vorkam. Er beeilte sich.

Der Himmel spannte sich schwarz-rot wie die Schwingen eines gigantischen Vogels über ihm. Der Fliegende hob sich vom Hintergrund dieses Himmels kaum ab und schien mit ihm verschmolzen zu sein.

Die prächtige Stadt lag unter ihm. Schlanke, helle Säulen stachen wie verdichtete und gebündelte Lichtstrahlen in den glimmenden Himmel. Die Sonne, die über der Stadt lag, war riesengroß und nahm fast den gesamten Himmel ein. Es schien, als wolle die glosende Titanenscheibe die ganze Welt über kurz oder lang erdrücken.

Glutrote Schatten spielten auf den massigen Säulen und den flachen Kuppeldächern. Die Stadt bestand aus einer Vielzahl sanfter Kuppeln. Wie Blattwerk hingen sie zwischen den Strahlenbauten, wie Trauben klebten sie aneinander und schraubten sich terrassenförmig immer mehr in den Himmel.

In rotem Nebel verschwindend, zeigten sich die Schemen eines rechteckigen Gigantengebäudes, das aus Türmen, Säulen und Kuppeln mit vergoldeten Dächern bestand. Hohe, schimmernde Mauern umschlossen die ausgetrockneten Gärten, in denen sich kein Dykte mehr bewegte. Der Tempel der Weisheit, der auf sieben aufeinanderfolgenden Terrassen erbaut war und die sieben Stufen der Entwicklung und der Glückseligkeit symbolisierte, war eine Stadt für sich und gliederte sich wie ein Auswuchs Tala-Maron an.

Schwerelos glitt Mirakel zwischen den Strahlensäulen entlang und näherte sich den großen ovalen Fenstern, in denen sich der blutrot gefärbte Himmel spiegelte. Die Straßen waren leer. Niemand befand sich auf den Plätzen, niemand hielt sich in den Gärten auf. Auch die Häuser wirkten verlassen.

Wie eine kalte Hand krampfte sich die Angst in sein Herz. Was war aus dem Volk geworden, dem er angehörte? Wohin waren die anderen gegangen? Warum waren sie verschwunden? Das hatte nichts mehr mit dem natürlichen Ablauf der kosmischen Katastrophe zu tun, die diesen Teil des Universums heimgesucht hatte.

Eine Idee wühlte sich in sein fieberndes Gehirn. Sie hatten zu guter Letzt doch noch eine Möglichkeit gefunden, Tala-Mar zu verlassen, hatten auf ihn gewartet, aber er war zu spät gekommen, und nun wusste er nicht, wohin sie sich begeben hatten.

Er schwebte vor einem der Ovalfenster. Es war nur angelehnt, und er konnte es ohne Schwierigkeiten aufdrücken. Normalerweise hätte ihm mit Ozon angereicherte Luft entgegenschlagen müssen. Die Luft aber war stickig, verbraucht und sauerstoffarm. Die Pflanzen in den bernsteinfarbenen Kübeln ließen das verdörrte Blattwerk hängen und standen krank und oder bereits tot in den Wohnräumen.

Mirakel bewegte sich vorsichtig von einer Tür zur anderen und warf einen Blick in jedes der Zimmer, die in verhaltenen Farben glühten und denen eine angenehme Atmosphäre anhaftete.

Da hielt der Eindringling den Atem an. Ein leises Geräusch drang an sein Ohr. Die Laute kamen aus den Wänden, dem Boden, der Decke und schwollen an. Die Wände ringsum erbebten, und das Licht begann im Rhythmus der Schallwellen zu vibrieren.

Mirakel warf ruckartig den Kopf herum.

Der Raum wankte. Der Boden zu seinen Füßen wogte wie unter heftigen Wellenbewegungen hin und her.

Gefahr! Der Gedanke durchzuckte das Hirn des einsamen Heimkehrers. Unwillkürlich warf er sich dem offen stehenden Fenster wieder entgegen und versuchte sich mit Schwung in die Freiheit hinauszukatapultieren. Er kam nur einen mühsamen Schritt vorwärts, hatte auf einmal das Gefühl, als würden Zentnergewichte an seinen Armen und Beinen hängen. Er taumelte, fing sich und stürzte nicht, aber seine Füße fühlten sich an, als klebten sie am Boden.

Der kreischende Lärm aus allen Wänden wuchs zu einem ohrenbetäubenden Crescendo an. Risse und Sprünge zeigten sich in der Decke. Die Wände platzten auf wie Eierschalen, gewaltige Brocken lösten sich über ihm aus der Decke, während gleichzeitig der Boden unter seinen Füßen aufriss. Eine gähnende Leere breitete sich unter ihm aus, in die er brüllend, wild um sich schlagend und nach einem Halt suchend stürzte.

Mit Donnergetöse stürzte die Kuppel über ihm ein, und er verschwand unter den Schutttrümmern, die sich wie ein Grabhügel berghoch über ihm türmten.

Er war eingeschlossen und lag still in der Finsternis. Die Luft wurde knapp. Er befand sich in einem winzigen Luftloch, eng wie ein Sarg, in dem er sich nicht mehr rühren konnte.

Er schrie. Vergebens versuchte er, die massigen Wände zurückzudrängen, die sich über ihm türmten. Ebenso gut hätte er versuchen können, einen Berg zu verschieben.

Mirakel brachte es nicht fertig, die Hände anzuheben und gegen seine Ohren zu pressen, um sich vor den schrecklich dröhnenden Lauten zu schützen. Es rasselte und klirrte, und die Töne erreichten eine solche Stärke, dass sich alles in ihm dagegen wehrte. Mirakel wusste aber eines: Wenn die Lautstärke weiterhin zunahm, dann war er verloren.

Was er befürchtete, geschah. Risse zeigten sich in seiner rubinroten Kleidung und in seinen goldfarbenen Stulpenhandschuhen. Die Spalten erweiterten sich schnell, und dann zeigten sich die Risse auf seiner Haut. Er würde unter den mörderischen Geräuschen zerbröckeln wie die Kuppel, in die er sich wie in eine Falle begeben hatte. Es schien, als würden hundert glühende Messer gleichzeitig auf ihn herabsausen. Tiefe Schlitze bildeten sich in seinem Leib, der auseinanderfiel wie die Teile eines Puzzlespiels.

„Neeeiiinnn!“

Gellend schrie er auf, riss die Hände empor und vernahm das nervenzerfetzende Rasseln. Noch halb im Schrei hielt er inne. Er schlug die Augen auf. Sein Körper dampfte. Er war in Schweiß gebadet. Der Wecker rasselte. Das Geräusch kam ihm noch immer sehr laut vor, und mit der Rechten griff er auf den Nachttisch und stellte den Störenfried ab.

Ein Albtraum! Aber was für einer! Frank Morell atmete tief durch. Der Neunundzwanzigjährige konnte sich nicht daran erinnern, jemals so intensiv und schrecklich geträumt zu haben. Es gab zwar viele seltsame Träume in seinem Leben, aber keiner hatte ihn jemals so mitgenommen.

Er knipste Licht an. Draußen auf der Straße rauschte schon der Verkehr. Es war sechs Uhr morgens. Der unablässige Strom der Autos, der auch nachts in der Großstadt nie versiegte, erhielt nun Verstärkung durch die anreisenden auswärtigen Arbeitnehmer, die in Frankfurt zu tun hatten. Frank Morell bekam die Geräusche nur im Unterbewusstsein mit. Sein Bewusstsein war erfüllt von abklingendem Grauen. Er fuhr sich über das Gesicht. Was war nur los mit ihm? Warum fing es schon wieder an? War er ernsthaft krank? Seit Tagen ging das so. Jede Nacht diese intensiven Träume, die seine Kräfte aufzehrten. Er wachte schweißgebadet auf, und den ganzen Tag noch hing er in Gedanken den Traumerlebnissen nach. Nacht für Nacht diese Qual. So war es schon einmal gewesen. Vor seinem Unfall. Davon hatte er sich bis heute noch nicht ganz erholt.

Mit Mühe war er vor einem knappen Jahr einer Querschnittslähmung entgangen. Eine sofort durchgeführte Operation hatte ihn seinerzeit gerettet und vor dem Rollstuhl bewahrt, den er jedoch fünf Monate lang benutzen musste.

Während der Zeit der Rekonvaleszenz legte er sich Rechenschaft über sein bisheriges Leben ab. Er stieß dabei auf viele Fragen, auf die er keine Antwort wusste. Etwas stimmte mit seinem Unterbewusstsein und mit seinem Wahrnehmungsvermögen nicht. Noch heute war ungeklärt, wie es zu dem Unfall seinerzeit auf der Autobahn zwischen dem Frankfurter Kreuz und Bad Homburg hatte kommen können. Sein Fahrzeug war plötzlich zur Mitte ausgeschert. Wegen überhöhter Geschwindigkeit, so hieß es im Polizeibericht, habe der Fahrer die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren.

Aber das stimmte nicht. Jemand hatte ihm ins Steuer gegriffen. Er hatte diesen Eindruck später auch aktenkundig niederlegen lassen. Aber niemand glaubte ihm. Zum Zeitpunkt des Unfalls saß er allein im Auto. Da hätte es höchstens ein Geist