Macabros 063: Ruf ins Vergessen (Mirakel 05) - Dan Shocker - E-Book

Macabros 063: Ruf ins Vergessen (Mirakel 05) E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Alexandra Becker, die Freundin von Frank Morell, wird während ihres Spanienurlaubs von einem Insektenkrieger in den Mikrokosmos verschleppt. Morell trifft als Mirakel währenddessen auf Otth, den Urvater der Dykten. Er versucht, sich dem suggestiven Ruf des Geistwesens zu entziehen. Doch die Gefahr aus dem Mikrokosmos nimmt zu.

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Band 63

Dan Shocker

RUF INS VERGESSEN

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Illustration: www.ralph-kretschmann.de

Fachberatung: Gottfried Marbler und Robert Linder

Satz: Winfried Brand

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-763-4

Nur wenige Fahrzeuge benutzten am Spätnachmittag die schmale, kurvenreiche und holprige Straße an der Costa Brava. Es gab einen bequemeren Weg, um nach Roses zu kommen, doch der war weniger romantisch und abwechslungsreich als diese Route, die jedem Betrachter die ganze Pracht der Costa Brava vor Augen führte.

Paul Denner saß verkrampft und müde am Steuer. Man sah dem Mann an, dass er seit Stunden unterwegs war. Er kannte sehr wohl die leichtere Strecke, die er auch lieber genommen hätte, aber er hatte vor allem seiner mitfahrenden Frau diese herrliche Aussicht nicht vorenthalten wollen.

Er wollte noch vor Einbruch der Dunkelheit am Ziel sein. Nach einem Blick auf die Armbanduhr nickte er zufrieden. „Wir schaffen es noch“, sagte er zu seiner neben ihm sitzenden Frau. „Bevor die Sonne untergeht, sind wir in Roses.“

Elke Denner machte es sich bequemer in ihrem Sitz und blickte an ihrem Mann vorbei auf das blaue, schäumende Meer jenseits der zerklüfteten Steilküste, die sie in schwindelerregender Höhe passierten. Die 42-jährige Ehefrau wollte etwas über die Landschaft sagen, als sie plötzlich einen leisen, spitzen Schrei von sich gab.

Denner fuhr zusammen. Instinktiv stieg er auf die Bremse. Der Wagen stand sofort.

„Verdammt noch mal, was ist denn los? Warum schreist du denn so?“, stieß er hervor. Sein Gesicht war puterrot.

„Schau doch dort hinüber! Mein Gott, Paul … was ist denn das?“

Elke Denner deutete mit der ausgestreckten Hand in die angegebene Richtung.

Der Kopf ihres Mannes flog herum. Der Urlauber aus Darmstadt glaubte, seinen Augen nicht zu trauen.

Groß und mächtig wuchs über den zerklüfteten, von schaumigen Wellen umspülten Felsen ein riesiger Kopf vor ihnen in die Höhe! Der Schädel war riesig wie ein Gebirge, und ein leises Stöhnen entrann den Lippen des Fahrers.

Eine Halluzination! Ein Albtraum! Oder was ging hier vor, abseits jeglicher menschlicher Siedlung, unbeobachtet von anderen Zeugen?

Einige Sekunden saßen die beiden Menschen in ihrem Fahrzeug wie erstarrt.

Schon die Tatsache, dass mitten über dem Meer ein riesiger Kopf quasi aus der Dämmerung des grauen Himmels vor ihnen auftauchte, war bemerkenswert genug. Noch unheimlicher war die Tatsache, dass an diesem Kopf die Proportionen nicht stimmten. Das Gesicht wirkte klein und zusammengepresst unter der Last eines riesigen, sich auftürmenden Gehirns, das mehr als zwei Drittel des Gebildes einnahm.

„Den Fotoapparat. Schnell!“, reagierte Paul Denner. „Im Handschuhfach … so beeil dich doch!“

Endlich gelang es ihm, sich aus der Erstarrung zu lösen. Er warf einen Blick zurück, um sich zu vergewissern, dass kein weiteres Fahrzeug unterwegs war, dachte automatisch daran, die Warnblinkanlage einzuschalten und drückte dann die Tür auf.

Mit zitternden Händen reichte Elke Denner ihrem Mann die Kamera. „Sei vorsichtig“, wisperte sie erregt.

Paul Denner lief bis zum Rand der Straße, die durch faustdicke Rundeisen und einen einfachen Draht notdürftig vom Abgrund getrennt wurde.

Der Wind an der Steilküste war scharf und nahm plötzlich ohne ersichtlichen Grund orkanartige Ausmaße an. Gleichzeitig fuhr er einer Windhose ähnlich um ihn herum und schob ihn so nach vorne.

Paul Denner erkannte die Gefahr zu spät. Der Mann musste sich gegen die Bö stemmen, wollte er nicht in den Abgrund gerissen werden, an dem er stand.

Doch er schaffte es nicht mehr.

„Paul!“ Der Aufschrei der Frau, die im Auto zurückgeblieben war, zerschnitt die Luft.

Elke Denner riss die Hände vor den Mund, als sie sah, was geschah.

Ihr Mann verlor den Halt.

Er taumelte bis zu dem dünnen, gespannten Draht, kippte nach vorn und riss instinktiv die Arme in die Höhe, als wolle er sich gegen eine Wand stützen.

Paul Denner geriet in eine wirbelnde Bewegung, wurde wie an unsichtbaren Fäden emporgezogen und von dem Orkan mitgerissen. Wie ein welkes Blatt wirbelte er durch die graue, tobende Luft. Noch immer hielt er die Kamera umspannt und jagte direkt auf das riesige, violett-blaue Gesicht zu.

Das Antlitz war voller Runzeln und Falten. Der schreiende, sich um seine eigene Achse drehende Tourist war dem Gesicht schon so nahe, dass er die Sinnesorgane nicht mehr wahrnehmen konnte.

Vor ihm dehnte sich eine violett-blaue, zerklüftete Landschaft aus, in die er hineinjagte.

Jeden Augenblick musste er mit diesem Gesicht kollidieren.

Der Orkan brauste. Die Luft um ihn herum pfiff. Denner glaubte, wie ein menschlicher Bohrer durch die Atmosphäre gejagt zu werden.

„Paul! Paul!“ Die Frau schrie den Namen ihres Mannes immer wieder. Sie wusste in diesem Augenblick nicht, was sie tat und handelte ganz mechanisch. Zur Felsenseite hin öffnete sie die Tür, stemmte sich gegen den Sturm und versuchte, nach draußen zu kommen. Wie eine Wand traf sie die kalte Luft, die in ihr Gesicht biss, als würde sich jemand mit scharfen Fingernägeln darin verkrallen.

Die heftige Luftbewegung wirbelte Sand und Steine auf und brachte Geröll oben auf dem Felsen in Bewegung, das über die bizarren Steinwände kullerte. Wie von einer unsichtbaren Hand wurde Elke Denner förmlich in den Wagen zurückgeworfen. Die Tür knallte mit solcher Wucht ins Schloss, dass der ganze Wagen erbebte. Schluchzend richtete die Frau sich auf.

Fauchend raste der Sturm über den Wagen, der eigenartig zu wackeln und zu schaukeln begann, von der Wucht des Orkans langsam von der Felswand weggedrückt und quer über die Straße geschoben wurde.

Sowohl das eine wie das andere verfolgte Elke Denner mit Entsetzen. Das widersinnige Verhalten des Orkans fiel ihr auf, und sie war sicher, dass es sich nicht um einen Wirbelsturm natürlichen Ursprungs handeln konnte.

Während der Wagen aus Darmstadt langsam dem Abgrund entgegenrutschte, zischte Paul Denner wie ein Geschoss durch die Luft direkt auf ein riesiges, schwarzes Loch zu, das plötzlich anstelle des überdimensionalen Schädels vor ihm erschien.

Endlose Schwärze, eisige Kälte … die Verlorenheit des Weltenraums … Paul Denner wurde von ihr aufgenommen.

Es war das Tor zu einer anderen Welt …

Hinter ihm schloss es sich wieder, und der eintönig graue Himmel in der Dämmerung der romantischen Costa Brava lag wieder über dem Land. Alles war wie zuvor …

Die attraktive Blondine mit den hellblauen Augen saß entspannt und fröhlich am Steuer des kanariengelben Alfasud. Der Wagen mit Frankfurter Kennzeichen fuhr dieselbe Straße an der Costa Brava entlang, die auch Paul Denner eingeschlagen hatte.

Alexandra Becker, eine junge Mitarbeiterin aus dem Büro Gering & Krollmann, war auf dem Weg nach Roses, um dort ihren Urlaub zu verbringen. Zwei Tage später wollte Frank Morell nachkommen, um die Zeit gemeinsam mit ihr zu verleben. Darauf freute sich Alexandra am meisten. Ihre Gedanken waren schon weit entfernt von ihrer alltäglichen Arbeit, weg vom Büro, und es war eigentlich nur Frank Morell, mit dem sie sich beschäftigte, und der Urlaub, den sie bis ins Detail geplant hatte.

Die 24-jährige technische Zeichnerin fuhr so zügig, wie es die Straßenverhältnisse erlaubten. Dann kam die scharfe Kurve, und Alexandra ging mit dem Gas herunter. Hinter der Kurve stand quer auf der Straße ein weißer Ford aus Darmstadt. Mit dem linken Vorderrad stand er am Drahtgeflecht, das rechte Hinterrad hing tief in der Federung. Der Wagen hatte sich dadurch etwas schräg nach vorn geneigt. Nur durch ein Wunder war er nicht in den Abgrund gestürzt!

Es schien, als würde eine eisige Hand nach dem Herzen der jungen Fahrerin greifen.

Alexandra Becker, die nicht wissen konnte, was sich vor wenigen Minuten hier abgespielt hatte, war überzeugt davon, dass es zu einem Unfall gekommen war.

Sie handelte richtig und überlegt.

Sie ließ ihren Wagen zehn Meter zurückrollen, um ihn vor der Kurve abzustellen. Sie sicherte das Fahrzeug durch Einlegen des Ganges und der Handbremse und schaltete die Warnblinkanlage ein, um nachfolgende Fahrzeuge auf die Gefahr aufmerksam zu machen.

Rasch lief die junge Frau dann auf dem holprigen Asphaltuntergrund nach oben zu dem weißen Ford, um zu sehen, was los war.

Denn Menschen sah sie weit und breit keine …

Plötzlich hörte sie ein Schluchzen. Es kam aus dem Inneren des Autos.

Alexandra Becker lief nach vorn, riss die Tür auf und sah eine Frau, die quer über die beiden Vordersitze lag und haltlos weinte.

„Kann ich Ihnen helfen? Hatten Sie einen Unfall?“, fragte die junge Deutsche mitfühlend.

Elke Denner drehte langsam den Kopf. In ihrem Gesicht zuckte es. Ihre Haut war blass und von Tränen gezeichnet. „Ein Unfall … ich weiß nicht … ja, es war einer …“

„War ein anderes Fahrzeug beteiligt? Sind Sie die Fahrerin des Wagens?“, hakte Alexandra sofort nach, während sie der Fremden beim Aufrichten behilflich war.

Die Frau begann wieder zu weinen.

„Kein Auto … da war ein Kopf … ein riesiger Kopf, groß wie ein Berg … Ich habe so etwas noch nie gesehen … es war ein Albtraum …“, sagte Elke Denner mit belegter Stimme.

Zwischen Alexandra Beckers Augen entstand eine steile Falte. Was sagte die Frau da? Das ergab doch keinen Sinn.

„Sehen Sie ihn?“, fragte Elke Denner tonlos.

„Wen sollte ich sehen?“

„Meinen Mann … aber er ist nicht da, nicht wahr?“ Sie riss ihre Augen weit auf. „Es war kein normaler Unfall, Fräulein … und mein Mann ist weder die Steilküste hinuntergefallen noch den Berg nach oben geklettert. Der Wind hat ihn emporgerissen wie ein welkes Blatt, und dann ist er in einem tiefschwarzen Loch verschwunden, das im Himmel gähnte und sich schloss wie das Tor zu einer anderen Welt …“

Elke Denner sagte es mit einer Stimme, die Alexandra Becker eine Gänsehaut über den Rücken jagte.

Hatte die Frau den Verstand verloren?

Elke Denner gab sich alle Mühe, ihre Gefühle wieder unter Kontrolle zu bringen und so sachlich und klar wie möglich den Vorgang zu schildern.

„Wir müssen die Polizei verständigen“, sagte die junge Blondine aus Frankfurt.

Sie überlegte rasch. Portbou lag einige Kilometer hinter ihr. Die nächstgrößere Stadt war Llançà und da war sicher auch eine Polizeistation.

„Bitte warten Sie auf mich. Ich fahre nach Llançà und gebe dort Bescheid …“

Elke Denner schüttelte heftig den Kopf. „Nein! Bitte, lassen Sie mich nicht allein zurück. Ich habe Angst, dass es noch mal anfängt …“

Dann erzählte sie wieder von dem furchtbar kalten Wind, der so stark gewesen sei, dass er sogar den Wagen quer über die Straße schob und beinahe in den Abgrund drückte.

Alexandra Becker hatte Verständnis für die Frau. „Gut.“ Sie nickte. „Selbstverständlich können Sie gern mitkommen. Aber wir können unmöglich den Wagen mitten auf der Straße stehen lassen. Wenn andere Fahrzeuge auftauchen, gibt es noch mehr Blechschaden.“

Alexandra Becker ging um den Ford herum und öffnete die Tür zum Fahrersitz.

„Was haben Sie denn vor?“, fragte Elke Denner mit zitternder Stimme.

„Das Auto an die Seite fahren. Da, die Einbuchtung rechts am Felsen reicht gerade aus als Parkplatz.“

„Aber das Vorderrad … hängt über dem Abgrund … Es ist ein Glück, dass der Wagen noch nicht in die Tiefe gestürzt ist.“

„Ich passe schon auf.“ Mit diesen Worten drückte Alexandra Becker mutig die vordere Tür ganz auf und stemmte sich vorsichtig mit ihrem Gewicht dagegen, um zu sehen, inwieweit das Fahrzeug aus dem Gleichgewicht geriet. Unter dem linken Vorderrad begann es bedrohlich zu ächzen. Geröll löste sich und kullerte hörbar in die Tiefe. Zu Tode erschrocken wich Alexandra Becker einen Schritt zurück und hielt den Atem an. Einige Sekunden später herrschte wieder Stille.

Nein! Das wagte sie doch nicht, sich ans Steuer zu setzen und den Wagen im Rückwärtsgang auf die Straße zu fahren. Durch die Gewichtsverlagerung konnte der Ford noch abrutschen und in die Tiefe stürzen. So blieb ihr nichts anderes übrig, als den Zustand zu belassen.

Sie bat Elke Denner, einen Moment auf sie zu warten. Sie wollte von der Frau nicht verlangen, hundert Meter nach unten zu laufen, wo ihr Alfasud stand.

Alexandra Becker fuhr zur Unglücksstelle, stellte ein Warndreieck gut sichtbar vor der Kurve hin, nahm Elke Denner auf und lenkte ihr Fahrzeug dann vorsichtig um den weißen Ford herum. Es ging um Haaresbreite.

Das Ziel der beiden Frauen war Llançà.

Auf dem Weg dorthin saß Elke Denner steif wie ein Stock neben der jungen Frankfurterin und sprach kein einziges Wort. Wie leblos blickten ihre Augen durch die Windschutzscheibe.

In der Polizeistation von Llançà führte Alexandra Becker das erste Gespräch. Elke Denner fühlte sich außerstande, den Wagen zu verlassen. Sie brauchte dringend einen Arzt. Offensichtlich setzte nun erst die Schockwirkung ein. So brachte man die Darmstädterin umgehend in ein nahes Hospital, wo sie sofort behandelt wurde.

Capitán Forgas schüttelte nur den Kopf, als Alexandra Becker, die ein einigermaßen verständliches Spanisch sprach, ihm all das erklärte, was sie von Elke Denner gehört hatte.

„Hirngespinste! So etwas gibt es nicht …“

Zusammen mit einem uniformierten Polizisten fuhr er im Jeep zuder angegebenen Stelle. Auch Alexandra Becker befand sich in dem Wagen.

An der Unglücksstelle angekommen, sorgten Capitán Forgas und Teniente Santos gleich dafür, dass der Ford aus der Gefahrenzone gebracht wurde.

In der Zwischenzeit war ein Lastkraftwagen angekommen, der die verengte Fahrbahn Richtung Llançà nicht mehr benutzen konnte. Mithilfe dieses Lkw war es verhältnismäßig leicht, den Unglückswagen vom Rand des Abgrunds wegzuziehen. Der Lkw und zwei weitere wartende Fahrzeuge konnten ihre Fahrt fortsetzen.

Forgas sah sich zusammen mit Santos die Umgebung an. Er suchte auch mit einem Fernrohr die Tiefe ab und hielt Ausschau nach dem Fahrer.

Da war nichts zu finden.

Es wurde dunkel, und Forgas bedauerte, unter diesen Umständen keine Suchaktion mehr starten zu können.

Er war noch immer überzeugt davon, dass das Ehepaar offensichtlich betrunken gewesen war.

„Im Hospital wird man feststellen, wie viel Alkohol sie im Blut hatte“, sagte er rau. „Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass an diesem Unfall kein weiteres Fahrzeug beteiligt war. Es sieht vielmehr so aus, als wäre der Wagen mit Señor Denner am Steuer zu schnell in die Kurve gegangen und auf die entgegengesetzte Straßenseite geschleudert worden. Möglicherweise bei dem Versuch, nachzusehen oder einen Stein unter das nach vorn abgekippte Vorderrad zu drücken, ist der Fahrer dann in die Tiefe gestürzt …“

Alexandra Becker schloss drei Sekunden erschrocken die Augen, als sie sich vorstellte, wie der Körper unten auf den von dicht umspülten Wellen zerklüfteten Felsen aufschlug.

„Kommen Sie, Señorita“, hörte sie die dunkle, markante Stimme des Capitán. Er legte seine große, fleischige Hand auf ihre linke Schulter und begleitete die Frankfurterin dann zum wartenden Jeep, an dessen Steuer Santos bereits Platz genommen hatte. „Sie können sich aussuchen, ob Sie lieber mit ihm oder mit mir fahren wollen“, sagte er lächelnd. Er hatte gleichmäßige Zähne, deren Weiß im Kontrast zu seiner intensiv gebräunten Haut stand. Ein schmaler, gepflegter Bart zierte seine Oberlippe. „Wir können dieses Auto schließlich nicht die ganze Nacht über auf der Straße stehen lassen. Ich werde nach Llançà zurückfahren. Zum Glück steckt der Schlüssel. Alles andere wird dann seinen Gang nehmen.“

Alexandra Becker entschloss sich, mit Forgas zu fahren. Die harte Federung des Jeeps behagte ihr nicht.

Santos fuhr wie der Teufel bergab. Eine riesige Staubwolke wirbelte hinter ihm auf.

Forgas musste bereits die Lichter einschalten, um den Verlauf der Straße zu erkennen.

Während der Fahrt erkundigte sich der Capitán nach Alexandras Plänen und wünschte ihr für den weiteren Aufenthalt in Roses erholsame Ferientage. Mit einem zweifelnden Blick zum Himmel allerdings schränkte er ein, dass die Sonne wohl in den nächsten Tagen nicht so freigiebig scheinen würde.

„Seit drei Tagen haben wir diesen verhangenen, grauen Himmel“, bemerkte er leise. „Und es sieht nicht so aus, als ob sich da so schnell etwas ändern würde. Aber mit dem Wetter ist es ja heutzutage so wie mit den meisten Menschen. Man erlebt immer wieder seine Überraschungen …“ Er lachte fröhlich.

Dann kam schon das Ortsschild von Llançà. Forgas hielt vorm Polizeigebäude, wo Alexandras Wagen stand. Der Capitán verabschiedete sich von der Deutschen und bedankte sich für die Mühe, die sie sich gemacht hatte.

Alexandra Becker fuhr nicht direkt nach Roses weiter. Sie machte einen Abstecher zum Hospital, in dem Elke Denner lag. Dort konnte sie jedoch nicht mit der Frau sprechen. Man hatte ihr eine Beruhigungsspritze gegeben, und die Patientin schlief tief und fest.

Hoffentlich ihrer Genesung entgegen …

Der jungen Frankfurterin ging das unheimliche Ereignis, das ihr durch Elke Denners Worte nahegebracht worden war, nicht aus dem Kopf. Sie sah die Bilder, die Elke Denner beschworen hatte, vor ihrem geistigen Auge auftauchen und konnte sich einen genauen Eindruck von dem riesigen Kopf machen, der nur aus Hirnmasse zu bestehen schien.

Die trüben Gedanken verblassten endlich, als sie in Roses ankam. Der malerische Ort lag in einer windgeschützten Bucht. In den Bodegas und Restaurants brannten die Lichter. Hinter den kleinen Fenstern sah die Deutsche die Silhouetten der Menschen.

Das Ferienhaus, das Alexandra gemietet hatte, gehörte zu der Gruppe der Las Jardines. Das war eine terrassenförmige Anlage mit kleinen Gärten, traumhaft schön, in denen ein Springbrunnen plätscherte. Das Ferienapartment bestand aus drei Zimmern, einem Wohnzimmer, zwei Schlafzimmern, Küche und Bad. Um Alexandra Beckers Lippen zuckte es, als sie die beiden Schlafzimmer besichtigte. In dem einen standen drei Betten, in dem anderen zwei.

„Na ja“, murmelte sie im Selbstgespräch nach dieser ersten Inspektion. „Wenn Frank kommt, dann kann er ja wählen, in welchem Bett er liegen möchte. An Auswahl mangelt es nicht …“

Frank Morell, der Mann, von dem beinahe niemand wusste, dass er zwei Identitäten hatte, hielt sich noch in seiner Frankfurter Wohnung auf.

Der junge, dunkelhaarige und gut aussehende Konstrukteur aus dem Büro Gering &Krollmann stand vor dem Spiegel und band sich eine Krawatte um.

Frank warf beiläufig einen Blick auf das Zifferblatt seiner Armbanduhr. Er hatte noch eine halbe Stunde Zeit. Dann war er im City Hotel mit Dr. Chancer aus New York verabredet.

Chancer war Mitarbeiter der D-Abteilung der UNO. Lange schon existierte diese besondere Einrichtung, ohne dass die Öffentlichkeit darüber informiert war. In ihr arbeiteten Ärzte, Wissenschaftler, Theologen und Politiker aus aller Welt. Vor Jahren wurde die Einrichtung geschaffen. Aus einem besonderen Grund. Lange Zeit hatte eine Versuchsgruppe von Männern und Frauen außergewöhnliche Vorfälle in der ganzen Welt studiert, untersucht und katalogisiert. Sie gingen übersinnlichen, parapsychischen, okkulten und magischen Ereignissen nach, fühlten den Betroffenen auf den Zahn, entlarvten viele Dinge als Schwindel und Scharlatanerie. Doch insgesamt siebenunddreißig Prozent aller zur Kenntnis gelangten Fälle blieben ungelöst!

Diese hohe Zahl ungeklärter Fälle veranlasste die UNO, die Arbeit der Gruppe weiter zu unterstützen und auszubauen. Man konnte davon ausgehen, dass es übersinnliche und parapsychologische Phänomene gab, dass Geister und Dämonen existierten und sogar getarnte Dämonen in Menschengestalt unter der Bevölkerung lebten. In einwandfrei nachgewiesenen Fällen wurde den Verantwortlichen bewusst, dass Dämonen nicht selten Menschen manipulierten, seelisch, geistig und körperlich von ihnen Besitz ergriffen, sodass sie gewissermaßen zu Besessenen wurden.

Diese Dämonen-Agenten, im Fachjargon einfach D-Agenten genannt, arbeiteten unter strengster Geheimhaltung. Der Aufmerksamkeit und Konsequenz bei der Kleinarbeit war es zu verdanken, dass man schließlich auch auf den geheimnisvollen fliegenden Mann stieß, der angeblich in den letzten Monaten immer wieder beobachtet worden sein sollte.

Menschen, die Gedanken lesen konnten, bezeichnete man als Telepathen; Menschen, die imstande waren, sich durch reine Gedankenkraft an eine andere Stelle zu teleportieren, wurden Telekinetiker genannt. Darüber wusste man schon einiges aufgrund der Untersuchungen und Forschungsergebnisse in den Labors der Parapsychologen. Dass es aber auch einen Menschen gab, der sich pfeilschnell durch die Luft bewegte und von zahllosen Zeugen schon gesehen worden war – dies war ein absolutes Novum und erinnerte an die Geschichten des erfundenen, aber legendären Superman.

Spezialisten hatten es schließlich geschafft, herauszufinden, dass Frank Morell und jener geheimnisvolle fliegende Mensch ein und dieselbe Person sein mussten. Über eine Kontaktperson – eine junge Frau, die ein Reisebüro in Frankfurt leitete – war es zu einem Gespräch gekommen.

Da erfuhr er zum ersten Mal von der D-Abteilung der UNO. Als er dann längere Zeit nichts mehr von ihr hörte, nahm er an, dass offensichtlich weitere Untersuchungen stattfanden, um ganz sicherzugehen, dass er auch derjenige war, für den man ihn hielt. Zu einem Zeitpunkt, als er schon gar nicht mehr damit rechnete, noch mal darauf angesprochen zu werden, wurde ihm vor drei Tagen mitgeteilt, dass ein Verbindungsmann aus New York heute Abend im City Hotel auf ihn warten und ihn in die Problematik der D-Abteilung einführen werde.