Madame Bovary - Gustave Flaubert - E-Book + Hörbuch

Madame Bovary E-Book und Hörbuch

Gustave Flaubert

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Beschreibung

Ein Klassiker der Weltliteratur über eine junge Frau auf der vergeblichen Suche nach Glück und Liebe: Die schöne junge Emma heiratet den Landarzt Charles Bovary, doch das Landleben und ihr Mann langweilen sie schon bald und erste Anzeichen einer Depression zeichnen sich ab. Sie flüchtet in die Literatur und teure Käufe, die ihr immer mehr zum Verhängnis werden. Dann beginnt sie eine Affäre mit dem Grundbesitzer Rodolphe, doch der Abwärtsstrudel ist auf lange Sicht nicht aufzuhalten...-

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Zeit:13 Std. 28 min

Sprecher:Uta Kroemer
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Gustave Flaubert

Madame Bovary

Übersetzt Hans Reisiger

Saga

Madame Bovary ÜbersetztHans Reisiger Coverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 1856, 2020 Gustave Flaubert und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726539981

 

1. Ebook-Auflage, 2020

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

 

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

ERSTER TEIL

1

Wir waren im Arbeitszimmer bei den Schulaufgaben, als der Direktor eintrat. Ihm folgte ein Neuer, der hoch „Zivil“ trug, und ein Schuldiener mit einem großen Pult. Wer gerade schlief, wachte auf, und alle sprangen von den Plätzen und taten, als seien sie mitten aus der eifrigsten Arbeit herausgerissen worden.

Der Direktor winkte ab: Setzen! und wandte sich dann an den Klassenlehrer.

„Herr Roger“, sagte er halblaut, „hier ist ein Schüler, den ich Ihrer Obhut empfehle. Er kommt zunächst mal in die Quinta. Wenn seine Leistungen und sein Betragen entsprechend sind, soll er zu den Großen aufrücken, zu denen er seinem Alter nach gehört.“

Der Neue, der in der Ecke hinter der Tür stehengeblieben war, so daß man ihn kaum sah, war ein Junge vom Lande, etwa fünfzehn Jahre alt und größer als wir alle. Er trug die Haare über der Stirn geradegeschnitten wie ein Dorfkantor und sah ganz verständig aus, nur sehr verlegen. Obgleich er nicht breitschultrig war, schien ihm seine grüne, mit schwarzen Knöpfen besetzte Tuchjacke doch zu eng unter den Achseln zu sein. Durch den Schlitz der Ärmelaufschläge schauten rote Handgelenke hervor, denen man ansah, daß sie für gewöhnlich unbedeckt waren. Seine Beine, die in blauen Strümpfen steckten, kamen aus einer gelblichen, von den Trägern übermäßig straff gespannten Hose. Er trug derbe, schlecht geputzte Nagelschuhe.

Man begann mit dem Vorlesen der Schularbeiten. Der Neue war ganz Ohr, aufmerksam wie bei der Predigt, und wagte weder die Beine übereinanderzuschlagen noch den Ellbogen aufzustützen. Als um zwei Uhr die Glocke läutete, mußte ihn der Klassenlehrer erst eigens auffordern, mit uns anzutreten.

Es war bei uns Brauch, beim Eintritt ins Klassenzimmer unsere Mützen auf den Boden zu schleudern, um die Hände frei zu haben; und zwar mußte man sie gleich von der Tür aus so unter die Bank feuern, daß sie bis an die Wand sausten und möglichst viel Staub aufwirbelten. Das gehörte zum „Schick.“

Entweder hatte der Neue dieses Manöver nicht bemerkt, oder er wagte nicht, gleich mitzumachen – jedenfalls war das Gebet schon beendet, als er seine Mütze noch immer auf den Knien hielt. Es war dies eine jener nicht näher zu bezeichnenden Kopfbedeckungen, die aus den verschiedenartigsten Elementen zusammengebaut sind, eine Mischung aus Bärenmütze, Tschapka, Filzhut, Pelzbarett und Zipfelmütze, kurz, eines jener bedauernswerten Dinge, deren stumme Häßlichkeit einen so unergründlich anblickt wie das Gesicht eines Idioten. Eiförmig und durch Fischbeinstäbchen versteift, kamen erst drei wurstartige Wülste, dann folgten, durch rote Einfassungen voneinander getrennt, rautenförmig Flicken aus Samt und Kaninchenfell, darüber eine Art Beutel, der oben von einem mit verzwickter Bortenstickerei überzogenen Vieleck aus Pappe abgeschlossen wurde, von dem an einer langen, unverhältnismäßig dünnen Schnur eine kleine Troddel aus Goldfäden herabhing. Die Mütze war neu, denn ihr Schirm glänzte noch.

„Steh auf!“ sägte der Klassenlehrer.

Er stand auf, seine Mütze fiel herunter. Die ganze Klasse fing an zu kichern. Er bückte sich, um sie aufzuheben. Ein Nachbar schubste sie mit dem Ellbogen wieder runter; er hob sie abermals auf.

„So trenne dich doch endlich von deinem Helm“, sagte der Lehrer, der ein Mann von Humor war.

Das darauf losplatzende Gelächter brachte den armen Jungen so aus der Fassung, daß er nicht wußte, ob er die Mütze in der Hand behalten, sie auf dem Boden liegenlassen oder sich auf den Kopf stülpen sollte. Schließlich setzte er sich hin und legte sie auf seine Knie.

„Steh auf“, begann der Lehrer wieder, „und sage mir, wie du heißt.“

Der Neue stieß stammelnd einen unverständlichen Namen hervor.

„Noch mal!“

Wieder ließ sich unter dem Hohngeschrei der Klasse das gleiche Silbengehaspel vernehmen.

„Lauter!“ rief der Lehrer. „Lauter!“

Da faßte der Neue einen verzweifelten Entschluß, riß seinen Mund überweit auf und schrie aus vollem Halse, als wolle er jemanden rufen: „Scharbovari!“

Mit einem Schlage erhob sich ein Spektakel und wuchs zum Orkan an; spitze Stimmen schrillten dazwischen, man heulte, bellte, trampelte und echote immer wieder: „Scharbovari! Scharbovari!“, bis das Getöse schließlich in einzelne Ausrufe verebbte und sich nach und nach legte. Nur hie und da zischte hoch auf einer Bank ein halbersticktes Lachen auf, ähnlich wie ein Schwärmer, der am Verlöschen ist.

Unter dem Hagel von Strafarbeiten, der auf die Klasse niederprasselte, trat wieder Ruhe ein, und nachdem es dem Lehrer endlich gelungen war, den Namen Charles Bovary zu verstehen, indem er ihn sich buchstabieren und dann nochmals vorsprechen ließ, befahl er dem armen Schlucker sogleich, sich auf die Faulenzerbank dicht vor dem Katheder zu verfügen. Charles Bovary setzte sich in Bewegung, zögerte jedoch noch, seinen Platz zu verlassen.

„Was suchst du denn?“ fragte der Lehrer.

„Meine Mü . . .“, brachte der Neue schüchtern hervor und schaute mit unruhigen Blicken um sich.

„Fünfhundert Verse die ganze Klasse!“

Dieser Satz, von wütender Stimme gedonnert, erstickte wie das Quos ego einen neuen Sturm im Keim.

„So gebt doch Ruhe!“ fuhr der entrüstete Schulmeister fort und wischte sich mit dem Taschentuch, das er unter seinem Käppchen hervorholte, den Schweiß von der Stirn. „Und du, der Neue da, du wirst mir zwanzigmal aufschreiben ,ridiculus sum‘.“ Dann fuhr er mit milderer Stimme fort: „Na, und deine Mütze wirst du schon wiederfinden; gestohlen hat sie keiner.“

Alles war wieder still. Die Köpfe beugten sich über die Hefte, und der Neue verharrte zwei Stunden lang in mustergültiger Haltung, ungeachtet dessen, daß ihm von Zeit zu Zeit eine Papierkugel, von einer Federspitze abgeschnellt, ins Gesicht flog. Er wischte sich jedesmal nur mit der Hand ab und blieb mit niedergeschlagenen Augen unbeweglich sitzen.

Am Abend holte er im Arbeitszimmer seine Ärmelschoner aus seinem Pult, brachte seinen kleinen Kram in Ordnung und liniierte sorgfältig sein Papier. Wir sahen, daß er mit großer Gewissenhaftigkeit arbeitete, alle Vokabeln im Wörterbuch nachschlug und sich viel Mühe gab. Sicherlich hatte er es auch hur dem guten Willen, den er bekundete, zu verdanken, daß er nicht in eine niedrigere Klasse kam, denn wenn er auch leidlich seine Regeln konnte, so war er doch ganz ungewandt in Stil und Ausdruck; er war nur durch den Pfarrer seines Dorfes in die Anfangsgründe des Latein eingeführt worden, weil ihn seine Eltern aus Sparsamkeitsgründen erst so spät wie möglich in die Schule geschickt hatten.

Sein Vater, Charles-Denis-Bartholomée Bovary, ein ehemaliger Stabsarzt, war um 1812 in Durchstechereien bei Rekrutenaushebungen verwickelt worden und hatte seinen Abschied nehmen müssen. Daraufhin hatte er seine persönlichen Vorzüge ausgenutzt und sich beiläufig in den Besitz einer Mitgift von sechzigtausend Francs gesetzt, die sich ihm in der Person der Tochter eines Mützenfabrikanten bot, der er mit seinem Auftreten den Kopf verdreht hatte. Ein schöner Mann, ein Renommist, der sporenklirrend daherkam, den Schnurrbart so trug, daß er in den Backenbart überging, die Finger stets mit Ringen schmückte und sich in auffallende Farben kleidete, vereinte er das Aussehen eines schneidigen Soldaten mit der schwungvollen Gewandtheit eines Geschäftsreisenden. Nach der Heirat lebte er zwei, drei Jahre von dem Vermögen seiner Frau, aß gut, stand spät auf, rauchte aus großen Porzellanpfeifen, kam abends erst nach Schluß des Theaters nach Hause und saß Tag für Tag in den Cafés. Dann starb der Schwiegervater, der nur wenig hinterließ. Empört darüber, verlegte sich Bovary nun selber auf die Fabrikation, setzte aber nur Geld dabei zu und zog sich aufs Land zurück, wo er den Verlust wieder herauswirtschaften wollte. Da er jedoch vom Ackerbau nicht mehr verstand als von Mützen und Mützentuchen, seine Pferde selber ritt, statt sie aufs Feld zu schicken, seinen Apfelwein selber trank, statt ihn zu verkaufen, das beste Geflügel seines Hofes aufaß und seine Jagdstiefel mit dem Speck seiner Schweine schmierte, dauerte es nicht lange, bis er merkte, daß es mit dem Herauswirtschaften auch nichts war.

Schließlich fand er in einem Dorf an der Grenze zwischen Caux und der Picardie ein Anwesen, halb Bauernhof, halb Herrenhaus, das er für zweihundert Francs jährlich mietete. Dorthin zog er sich mit fünfundvierzig Jahren zurück, vergrämt, von Reue geplagt, mit seinem Schicksal hadernd und auf alle Welt neidisch. Die Menschen ekelten ihn an, erklärte er, er wolle in Frieden leben.

Seine Frau hatte ihn in der ersten Zeit ihrer Ehe rasend geliebt und sein Herz durch tausend demütige Unterwürfigkeiten zu gewinnen versucht, die aber nur bewirkten, daß er sich noch mehr von ihr abwandte. Von Natur heiter, mitteilsam und liebevoll, war sie mit zunehmendem Alter – so wie abgestandener Wein sich in Essig verwandelt – reizbar, weinerlich und nervös geworden. Sie hatte anfangs, ohne sich zu beklagen, unsäglich gelitten, wenn sie mit ansehen mußte, wie er hinter jeder Dorfdirne herlief und abends abgestumpft und nach Fusel riechend aus irgendwelchen üblen Lokalen heimkam. Dann war es darüber zu heftigen Szenen gekommen, später aber empörte sich ihr Stolz, und sie schwieg dazu; sie schluckte ihren Kummer hinunter und hüllte sich in einen stummen Stoizismus, den sie bis an ihren Tod bewahrte. Sie war ständig in irgendwelchen Angelegenheiten unterwegs. Sie lief zu den Rechtsanwälten, zum Gericht; sie dachte daran, wenn Wechsel fällig waren, und erwirkte Zahlungsaufschub. Zu Haus plättete, nähte und wusch sie, beaufsichtigte die Arbeiter und beglich die Rechnungen, während der Herr Gemahl, ohne sich um irgend etwas zu kümmern, immer nur mißgelaunt und schläfrig am Kamin hockte, rauchte und in die Asche spuckte und aus seinem Dösen nur aufwachte, um seiner Frau etwas Gehässiges zu sagen.

Als sie ein Kind bekam, mußte sie es zu einer Amme geben. Nachdem der Kleine wieder ins Elternhaus zurückgebracht worden war, wurde er verwöhnt wie ein Prinz. Die Mutter fütterte ihn mit Süßigkeiten; seih Vater, den Philosophen à la Rousseau spielend, ließ ihn barfuß gehen und behauptete, eigentlich müsse er ganz nackt herumlaufen wie die Jungen der Tiere. Im Gegensatz zu den Ansichten der Mutter schwebte ihm ein gewisses Ideal von Männlichkeit vor, nach dem er seinen Sohn zu modeln versuchte. Spartanisch sollte der Junge erzogen werden, damit er recht stark und abgehärtet werde. Er ließ ihn im ungeheizten Zimmer schlafen, Rum mußte der Bengel trinken lernen, in großen Schlucken wie ein Mann, und sich über die Prozessionen lustig machen, das gehörte auch dazu. Da der Kleine jedoch von Natur friedfertig war, schlug diese Methode nicht recht an. Seine Mutter hatte ihn immer am Schürzenbändel. Sie schnitt ihm Pappfiguren aus, erzählte ihm Geschichten und unterhielt sich mit ihm in endlosen, melancholisch spaßigen, kindlich geschwätzigen Selbstgesprächen. Vereinsamt und in ihren Lebenserwartungen getäuscht, übertrug sie jetzt alle ihre Hoffnungen auf den Knaben. Sie träumte von hohen Stellungen, sah ihn schon als schönen, klugen jungen Mann vor sich, wohlbestallt bei der Straßen- und Brückenbauverwaltung oder bei der Stadtbehörde. Sie lehrte ihn lesen und brachte ihm sogar ein paar Lieder bei, die sie auf ihrem alten Klavier begleitete. Alles das erklärte Herr Bovary, der nicht viel vom Lernen hielt, für nicht der Mühe wert. Würden sie denn jemals in der Lage sein, den Jungen auf eine höhere Schule zu schicken oder ihm ein Amt oder ein Geschäft zu kaufen? Im übrigen: „Mit ein bißchen Maulwerk kommt einer sowieso schon durch die Welt.“ Frau Bovary biß sich auf die Lippen, und der Junge trieb sich im Dorf herum.

Er lief den Feldarbeitern nach und scheuchte die Krähen mit Erdklumpen auf. Er aß von den Brombeeren an den Rainen, hütete wohl auch einmal mit der Gerte in der Hand die Truthühner, half beim Heuwenden oder streifte im Wald umher. An Regentagen spielte er unter dem Kirchenportal Murmeln, und an den hohen Feiertagen bettelte er den Küster, ihn die Glocken läuten zu lassen. Dann hängte er sich mit seinem ganzen Gewicht an das Seil und ließ sich von seinem Schwung mittragen.

Bei all dem wuchs er auf wie eine Eiche, bekam starke Hände und eine gesunde Farbe.

Als er zwölf Jahre alt war, setzte seine Mutter endlich durch, daß er Unterricht erhielt. Man beauftragte damit den Pfarrer. Die Stunden waren jedoch so kurz und wurden so unregelmäßig gehalten, daß nicht viel dabei herauskam; sie wurden meist nur so nebenbei in der Sakristei erteilt, in aller Eile, im Stehen, zwischen einer Taufe und einer Beerdigung. Manchmal auch ließ der Herr Pfarrer, wenn er nicht ausgehen mußte, seinen Schüler abends nach dem Angelus zu sich kommen; dann stiegen sie hinauf in sein Zimmer und setzten sich zurecht. Nachtfalter und Fliegen tanzten um die Kerze. Es war heiß; der Junge schlief ein und bald auch der gute Mann, der nun, die Hände auf dem Bauch gefaltet, mit offenem Munde schnarchte. Manchmal wieder, wenn der Herr Pfarrer einem Kranken in der Umgebung die letzte Wegzehrung gebracht hatte und auf dem Heimweg Charles erwischte, der sich gerade auf dem Feld herumtrieb, rief er ihn heran, redete ihm ein Viertelstündchen ins Gewissen und benutzte die Gelegenheit dazu, ihn rasch unterm nächsten besten Baum ein Verb konjugieren zu lassen, wobei sie denn freilich des öfteren durch den Regen oder durch einen vorbeikommenden Bekannten unterbrochen wurden. Im übrigen war er immer mit ihm zufrieden und meinte sogar, der „junge Mann“ habe ein vortreffliches Gedächtnis.

So ging das nicht weiter mit Charles. Seine Mutter wurde energisch. Beschämt oder vielmehr des Sträubens müde, gab der Vater den Widerstand auf. Man wartete noch ein Jahr, bis der Junge die Erstkommunion hinter sich hatte.

Dann vergingen nochmals sechs Monate, und im Jahr darauf wurde Charles endgültig auf das Gymnasium nach Rouen geschickt. Sein Vater brachte ihn gegen Ende Oktober zur Zeit des Saint-Romain-Jahrmarkts selbst hin.

Es wäre heute wohl keinem von uns mehr möglich, sich noch irgendwie besonders an ihn zu erinnern. Er war ein ziemlich ruhiger Junge, der in der Freizeit spielte, im Arbeitszimmer fleißig büffelte, in der Klasse aufmerksam zuhörte, im Schlafsaal gut schlief und im Speisesaal tüchtig aß. Ein Bekannter seiner Eltern, ein Kurzwarenhändler aus der Rue Ganterie, der es übernommen hatte, sich ein bißchen um ihn zu kümmern, ließ ihn allmonatlich einmal an einem Sonntag nach Ladenschluß zu sich kommen, führte ihn am Hafen spazieren, wo er sich die Schiffe anschauen konnte, und brachte ihn, sobald es sieben Uhr war, noch vor dem Abendbrot wieder ins Gymnasium zurück. Jeden Donnerstag abend schrieb Charles mit roter Tinte einen langen Brief an seine Mutter, den er mit drei Oblaten verschloß. Dann vertiefte er sich wieder in seine Geschichtshefte oder las wohl auch in einem alten Exemplar des „Anacharsis“, das im Arbeitszimmer herumlag. Bei den Schulspaziergängen unterhielt er sich am liebsten mit dem Hausdiener, der auch vom Lande war.

Dank seinem Fleiß hielt er sich immer in der Mitte der Klasse; einmal kam er in Naturkunde sogar auf den ersten Platz. Am Ende des dritten Schuljahres nahmen ihn seine Eltern jedoch wieder von der Schule, um ihn Medizin studieren zu lassen; sie waren überzeugt, er würde sich allein bis zum Examen durchbringen.

Seine Mutter mietete ihm bei einem ihr bekannten Färber am Eau-de-Robec ein Zimmer im vierten Stock, gab ihn dort auch in Kost, beschaffte einen Tisch und zwei Stühle, ließ von daheim ein altes Bett aus Kirschbaumholz kommen und kaufte außerdem noch einen kleinen Eisenofen nebst einem Holzvorrat, damit ihr armes Kind nicht zu frieren brauchte. Dann fuhr sie Ende der Woche wieder ab, nachdem sie ihm noch tausendmal ans Herz gelegt hatte, sich jetzt, da er ganz auf sich allein gestellt sei, recht brav zu halten.

Das Verzeichnis der Vorlesungen, das er am Schwarzen Brett las, verursachte ihm ein Schwindelgefühl: Anatomie, Pathologie, Physiologie, Pharmazeutik, Chemie, Botanik, klinischer und therapeutischer Kurs, ganz abgesehen von Hygiene und Diätetik – lauter Namen, bei denen er sich nicht einmal über ihre sprachliche Herkunft klar war und die ihm wie ebenso viele Pforten zu Heiligtümern voll erhabenen Dunkels vorkamen.

Er verstand anfangs gar nichts; er konnte noch so eifrig zuhören, er begriff einfach nicht. Trotzdem arbeitete er, füllte eifrig die Kolleghefte und versäumte keine Vorlesung und keine Visite. Er erledigte sein tägliches Pensum wie ein Zirkuspferd, das mit verbundenen Augen immer im Kreise herumläuft und keine Ahnung hat, wobei es eigentlich mitmacht.

Um ihm Ausgaben zu ersparen, schickte ihm seine Mutter jede Woche durch einen Boten ein Stück Kalbsbraten, von dem er morgens frühstückte, wenn er auf einen Sprung aus der Klinik kam. Dann mußte er zu den Vorlesungen rennen, in die Anatomie, wieder in die Klinik und wieder heim durch alle die Straßen. Abends stieg er nach dem mageren Essen bei seinem Wirt in sein Zimmer hinauf und setzte sich in seinen durchgeschwitzten Kleidern, die ihm am Leibe dampften, vor dem glühenden Ofen an die Arbeit.

An den schönen Sommerabenden, um die Stunde, da die lauwarmen Straßen leer sind und die Dienstmädchen vor den Türen Federball spielen, öffnete er sein Fenster und lehnte sich hinaus. Unter ihm floß zwischen Brücken und Wehren, gelbviolett oder blau schillernd, der kleine Fluß, der diesen Teil von Rouen zu einem schmuddeligen Klein-Venedig macht. Am Ufer hockten Arbeiter, die sich die Arme im Wasser wuschen. An langen, aus den Speicherluken ragenden Stangen waren Baumwollsträhnen zum Trocknen aufgehängt. Vor ihm dehnte sich über den Dächern der klare, weite Himmel, an dem die Sonne rotleuchtend unterging. Wie schön mußte es jetzt daheim sein! Und wie frisch im Buchenwald! Er atmete tief, als spüre er die gute Landluft, die doch nicht bis zu ihm kam.

Er magerte ab; seine Gestalt ging in die Länge, und sein Gesicht nahm einen schmerzlichen Ausdruck an, der es beinahe interessant machte.

Wie nicht anders zu erwarten war, ließ er nach und nach aus Lässigkeit alle seine guten Vorsätze fahren. Einmal versäumte er die Visite, das nächstemal die Vorlesung, und schließlich behagte ihm die Faulheit so gut, daß er überhaupt nicht mehr hinging.

Er gewöhnte sich an, in die Kneipe zu gehen und mit Leidenschaft Domino zu spielen. Sich allabendlich in einem schmutzigen Lokal festzusetzen und mit schwarz punktierten Hammelknöchelchen auf Marmortischen herumzuklappern, schien ihm ein glorreicher Akt männlicher Freiheit, der ihn in seiner eigenen Ächtung steigen ließ. Das kam ihm vor wie die Einführung in die große Welt, wie der Zugang zu verbotenen Freuden, und schon wenn er eintrat, legte er die Hand mit einer fast wollüstigen Empfindung auf die Türklinke. Viel Verdrängtes in ihm entfaltete sich nun; er lernte allerlei Gassenhauer auswendig, die er bei Gelegenheit vortrug, begeisterte sich für Béranger, machte sich die Geheimnisse des Punschbrauens zu eigen und entdeckte schließlich auch die Liebe.

Dank dieser Vorbereitungen fiel er im medizinischen Staatsexamen glatt durch. Und am selben Abend erwartete man ihn daheim, um seinen Erfolg zu feiern!

Er machte sich zu Fuß auf, und als er am Eingang des Dorfes angelangt war, ließ er seine Mutter herbeirufen und beichtete ihr alles. Sie verzieh ihm, schob die Schuld auf die Ungerechtigkeit der Examinatoren, sprach ihm Mut zu und übernahm es, die Angelegenheit ins reine zu bringen.

Erst fünf Jahre später erfuhr Herr Bovary die Wahrheit. Da war schon Gras darüber gewachsen, und er regte sich nicht mehr auf, denn es war ja doch nicht denkbar, daß sein Sprößling ein Dummkopf sein sollte.

Charles setzte sich also wieder an die Arbeit; er wich nun keinen Augenblick mehr von seinen Büchern und paukte sich die Antworten auf sämtliche nur erdenklichen Fragen ein. Er bestand mit einer leidlichen Note. Das war ein Freudentag für seine Mutter und wurde mit einem großen Festessen gefeiert.

Wo sollte er nun seine Kunst ausüben? In Tostes. Dort gab es nur einen alten Arzt, auf dessen Tod Frau Bovary schon seit langem lauerte. Der alte Herr hatte denn auch kaum sein Bündel fürs Jenseits geschnürt, als sich Charles bereits ihm gegenüber als Nachfolger niederließ.

Doch nicht genug damit, daß sie ihren Sohn aufgezogen, ihm das Studium ermöglicht und eine Praxis für ihn gefunden hatte – nun mußte er auch noch eine Frau haben. Auch die fand sie für ihn, und zwar in der Witwe eines Gerichtsvollziehers aus Dieppe, die fünfundvierzig Jahre alt war und zwölfhundert Francs Zinsen jährlich zu verzehren hatte.

Obgleich Frau Dubuc, dürr wie eine Hopfenstange, alles andere als schön war und in ihrem Gesicht so viele Pickel sprossen wie Blüten im Lenz, war sie doch eine begehrte Partie, und Frau Bovary mußte, um zu ihrem Ziel zu kommen, erst eine ganze Schar anderer Freier aus dem Felde schlagen, wobei sie sehr geschickt sogar die Ränke eines Metzgermeisters vereitelte, dessen Werbung von der Geistlichkeit unterstützt wurde.

Charles hatte gehofft, sich durch die Heirat ein angenehmeres Leben zu schaffen, und sich eingebildet, er werde nun freier über sich und sein Geld verfügen können. Statt dessen zeigte sich bald, daß seine Frau der Herr im Hause war. Sie schrieb ihm vor, was er vor den Leuten sagen und was er nicht sagen durfte. Sie zwang ihn, jeden Freitag zu fasten und sich zu kleiden, wie sie es für richtig hielt. Sie war hinterher, daß er säumige Patienten mit Mahnungen verfolgte. Sie öffnete seine Briefe, überwachte seine Gänge, und wenn Frauen bei ihm in der Sprechstunde waren, horchte sie an der Wand.

Sie mußte jeden Morgen ihre Schokolade haben und nahm tausend Rücksichten für sich in Anspruch. Ewig hatte sie zu klagen: bald waren es die Nerven, bald die Brust, bald der Kopf. Das Geräusch von Schritten tat ihr weh. Ging man von ihr fort, stöhnte sie über die Einsamkeit, kam man zu ihr, so hieß es, man könne wohl nicht erwarten, sie sterben zu sehen. Wenn Charles abends heimkehrte, streckte sie ihre langen, hageren Arme unter der Bettdecke hervor, umschlang ihn und zog ihn auf den Bettrand nieder. Dann ging das alte Lied an: er vernachlässige sie, er liebe eine andere! Man habe ihr ja vorausgesagt, sie würde unglücklich werden! Zum Schluß bat sie ihn jedesmal um einen Löffel Sirup für ihre Gesundheit und um ein bißchen mehr Liebe.

2

Eines Nachts gegen elf Uhr wurden sie durch das Getrappel eines Pferdes geweckt, das gerade vor ihrer Haustür anhielt. Das Dienstmädchen öffnete die Bodenluke und verhandelte eine Zeitlang mit einem Mann, der auf der Straße stand. Er komme den Doktor holen und habe einen Brief mit. Nastasie stieg fröstelnd die Treppe hinab und öffnete umständlich die Schlösser und die Riegel. Der Mann ließ das Pferd stehen und folgte der Magd auf dem Fuße bis ins Schlafzimmer der Herrschaft. Hier zog er aus seiner grauen Troddelmütze einen in einen Lappen gewickelten Brief und überreichte ihn ehrerbietig dem Hausherrn, der sich mit dem Ellbogen auf sein Kopfkissen stützte, um ihn zu lesen. Nastasie stand am Bett und hielt das Licht; Frau Bovary blieb schamhaft der Wand zugekehrt liegen und ließ nur ihren Rücken sehen.

In dem Brief, der mit einem kleinen blauen Siegel verschlossen gewesen war, wurde Herr Bovary gebeten, sich sofort nach dem Hof Bertaux zu begeben, um ein gebrochenes Bein zu kurieren. Von Tostes bis Bertaux sind es über Longueville und Saint-Victor gut sieben Meilen. Die Nacht war dunkel. Frau Bovary fürchtete, daß ihrem Mann etwas zustoßen könne. Es wurde also beschlossen, daß der Stallknecht vorausreiten sollte. Charles wollte drei Stunden später bei Mondaufgang nachkommen. Man solle ihm einen Jungen entgegenschicken, der ihm den Weg zum Hof zeigen und das Tor öffnen könne.

Gegen vier Uhr morgens machte sich Charles, warm in seinen Mantel gewickelt, auf den Weg nach Bertaux. Noch schlaftrunken von der Bettwärme, ließ er sich durch den friedlichen Trott seines Pferdes wieder einwiegen. Als das Tier vor einer mit Dorngestrüpp bedeckten Grube, wie man sie an Ackerrainen findet, von selber stehenblieb, fuhr Charles aus dem Halbschlummer auf. Sogleich fiel ihm das gebrochene Bein wieder ein, und er suchte sich sämtliche Knochenbrüche, die er gelernt hatte, ins Gedächtnis zurückzurufen. Es regnete nicht mehr. Der Tag graute, und auf den Zweigen der kahlen Apfelbäume hockten unbeweglich die Vögel und plusterten ihre Federchen im kalten Morgenwind. Endlos dehnte sich das flache Land. Die Baumgruppen um die in großen Abständen verstreuten Höfe bildeten blau schwarze Flecken auf dieser weiten grauen Fläche, die sich am Horizont in der düsteren Tönung des Himmels verlor. Obwohl Charles ab und zu die Augen gewaltsam aufriß, versank er bald wieder in eine Art Dämmerzustand, in dem die jüngsten Eindrücke mit Erinnerungen verschmolzen, so daß er sich gleichsam doppelt empfand: er sah sich als Ehemann im Bett liegen und gleichzeitig wie einst als Student durch den Operationssaal schreiten. Der warme Dunst der Umschläge mischte sich in seinem Kopf mit dem herben Geruch des Morgentaus; er hörte das Klirren der Eisenringe an den Vorhangstangen der Krankenbetten und zugleich das Schnarchen seiner Frau . . .

Als er durch Vassonville kam, sah er am Grabenrand einen Jungen im Grase sitzen.

„Sind Sie der Doktor?“ fragte der ihn.

Als Charles bejahte, nahm der Kleine seine Holzpantoffeln in die Hand und lief vor ihm her.

Unterwegs erfuhr Charles aus den Reden seines kleinen Führers, daß Herr Rouault einer der wohlhabendsten Landwirte der Gegend war. Er hatte sich gestern abend das Bein gebrochen, als er von einem Nachbarn heimkehrte, bei dem er das Dreikönigsfest gefeiert hatte. Seine Frau war schon seit zwei Jahren tot, und er hatte nur das „Fräulein“ bei sich, das ihm den Haushalt führte.

Die Radspuren wurden tiefer. Man näherte sich Bertaux. Der Kleine zwängte sich durch ein Loch in der Hecke, verschwand und tauchte schließlich in einiger Entfernung am Hoftor wieder auf, um es zu öffnen.

Das Pferd trabte weich über das taufeuchte Gras, und Charles mußte sich bücken, um an den tiefhängenden Zweigen vorbeizukommen. Die Hofhunde vor ihren Hütten bellten und rissen an den Ketten. Als Charles auf Bertaux einritt, scheute sein Pferd und machte einen großen Satz.

Bertaux war ein ansehnlicher Hof. In den Stallungen, deren Türen offenstanden, sah man kräftige Ackerpferde gemächlich aus blanken Raufen fressen. An den Gebäuden entlang zog sich ein großer dampfender Misthaufen; außer den Hühnern und Truthähnen pickten auch fünf oder sechs Pfaue darauf herum, der besondere Stolz jedes Geflügelhofes in Caux. Der Schafstall war groß, die Scheune hoch, mit Wänden so glatt wie eine Hand. Im Schuppen standen zwei große Leiterwagen und vier Pflüge samt Peitschen, Kumten und allem Geschirr. Die blauen Wolldecken, die darauf lagen, waren mit dem feinen Staub bedeckt, der von den Schüttböden herunterfiel. Der Hof stieg nach dem Wohnhaus zu ein wenig an und war in regelmäßigen Abständen mit Bäumen bepflanzt. Vom Tümpel her erscholl das fröhliche Geschnatter einer Herde Gänse.

Auf der Schwelle des Hauses erschien jetzt ein junges Mädchen in einem mit drei Volants besetzten blauen Merinowollkleid, um Herrn Bovary zu empfangen. Sie nötigte ihn in die Küche, wo ein großes Feuer loderte. Rings um das Feuer herum schmorte in großen und kleinen Töpfen das Frühstück für das Gesinde. Im Kamin hingen feuchte Kleidungsstücke zum Trocknen. Kohlenschaufel, Feuerzange und Blasebalg, alles von riesiger Größe, funkelten wie blanker Stahl. An den Wänden hing ringsum reiches Küchengerät, darin sich zuckend die Herdflammen spiegelten, vereint mit den ersten Sonnenstrahlen, die durch die Fensterscheiben fielen.

Charles stieg in das erste Stockwerk hinauf zu dem Kranken. Der lag im Bett, schwitzte unter seinen Decken und hatte seine Nachtmütze weit zurückgeschoben. Es war ein kleiner beleibter Mann von fünfzig Jahren, mit weißer Haut, blauen Augen, kahler Stirn und mit Ringen in den Ohren. Neben sich hatte er auf einem Stuhl eine große Flasche Branntwein, aus der er sich von Zeit zu Zeit einschenkte, um „Mumm in die Knochen zu kriegen“. Als er den Arzt sah, wurde er sogleich ganz zahm, und statt weiter zu fluchen, wie er es seit zwölf Stunden getan hatte, fing er nun schwach und kläglich an zu stöhnen.

Der Bruch war einfach und ohne irgendwelche Komplikation. Charles hätte sich keinen leichteren Fall wünschen können. Er dachte daran, wie sich seine Lehrmeister an den Krankenbetten verhalten hatten, und redete dem Patienten zunächst mit allerlei tröstlichen Worten gut zu und zeigte dabei die wohlwollende Milde des Chirurgen, die dem Öl gleicht, mit dem man die Seziermesser einfettet. Dann ließ er sich aus dem Holzschuppen ein paar Latten holen, um das Bein zu schienen, wählte eine aus und glättete sie mit einer Glasscherbe. Derweil riß das Dienstmädchen ein Stück Leinwand in Streifen, und Fräulein Emma übernahm es, kleine Verbandpolster zu nähen. Als sie ihren Nähkasten nicht gleich finden konnte, fing ihr Vater an zu poltern. Sie erwiderte nichts, stach sich jedoch beim Nähen in die Finger, die sie darauf an die Lippen führte, um das Blut aufzusaugen.

Charles war überrascht, wie gepflegt ihre Nägel waren. Sie waren mandelförmig geschnitten, mit feinen Spitzen, und glänzender poliert als die Elfenbeinwaren aus Dieppe. Die Hand selbst war weniger schön; vielleicht nicht weiß genug und an den Fingergliedern ein wenig zu mager, auch zu lang und in den Linien nicht weich genug. Schön waren ihre Augen; eigentlich braun, wirkten sie durch die langen Wimpern fast schwarz, und ihr offener Blick strahlte einen mit freimütiger Keckheit an.

Als der Verband angelegt worden war, lud Herr Rouault höchstselbst den Arzt ein, vor der Abfahrt noch einen kleinen Imbiß zu nehmen. Charles stieg in das Eßzimmer hinunter, das im Erdgeschoß lag. Hier war am Fuße eines großen Himmelbettes mit Kattunvorhängen, auf denen allerlei türkische Gestalten zu sehen waren, ein kleiner Tisch für zwei Personen gedeckt. Silberne Becher glänzten neben den Tellern. Dem Fenster gegenüber stand ein großer Eichenschrank, dem ein Duft von Veilchenwurzel und feuchtem Leinen entströmte. In den Ecken des Zimmers lehnten ein paar Getreidesäcke, die in der nebenan gelegenen Kornkammer, zu der drei Stufen hinaufführten, keinen Platz mehr gefunden hatten. Als Zimmerschmuck hing mitten an der Wand, deren grüner Anstrich hier und da schon von Salpeter zerstört war und abblätterte, eine Kreidezeichnung in goldenem Rahmen, einen Minervakopf darstellend, unter dem in gotischen Lettern geschrieben stand: „Meinem lieben Papa.“

Sie sprachen zunächst über den Kranken, dann über das Wetter, die große Kälte und die Wölfe, die nachts die Gegend unsicher machten. Fräulein Rouault gefiel es gar nicht auf dem Lande, zumal jetzt, da sie fast ganz allein für den Hof zu sorgen hatte. Es war so kalt im Zimmer, daß ihr bei der Mahlzeit die Zähne klapperten. Dabei entblößten sich ihre vollen Lippen, an denen sie, wenn sie schwieg, immer herumnagte.

Ihr Hals erhob sich aus einem weißen Umlegekragen. Ihr schwarzes Haar lag so glatt an, daß es aus einem Stück zu bestehen schien, getrennt nur durch den feingeschwungenen Scheitel in der Mitte, und nach hinten zu hatte sie es, gerade noch die Ohrläppchen freilassend, zu einem üppigen Knoten geflochten; nur an den Schläfen war es leicht gewellt, eine Frisur, die der Landarzt zum erstenmal in seinem Leben sah. Ihre Wangen waren rosig. Zwischen zwei Knöpfen ihrer Bluse steckte wie bei einem Mann ein Lorgnon aus Schildpatt.

Als Charles, nachdem er sich oben bei Vater Rouault verabschiedet hatte, vor der Abfahrt noch einmal ins Zimmer trat, sah er Emma am Fenster stehen und, die Stirn an die Scheiben gelehnt, in den Garten hinausschauen, wo der Wind die Bohnenstangen umgeworfen hatte. Sie wandte sich um.

„Suchen Sie noch etwas?“ fragte sie.

„Verzeihung, meine Reitpeitsche“, sagte er und fing an, auf dem Bett, hinter den Türen und unter den Stühlen herumzusuchen.

Die Peitsche war zwischen den Säcken und der Mauer zu Boden gefallen. Emma entdeckte sie und beugte sich über die Säcke. Charles stürzte galant hinzu, und sich gleichfalls nach der Peitsche bückend, fühlte er, wie seine Brust den Rücken des jungen Mädchens streifte. Als sie sich wieder aufrichtete, war sie ganz rot und reichte ihm mit einem Blick über die Schulter seinen Ochsenziemer.

Statt nach drei Tagen, wie er es versprochen hatte, kam er bereits am nächsten Tag wieder und von da an regelmäßig zweimal in der Woche, die Besuche nicht mitgezählt, die er so zwischendurch, so gleichsam im Vorbeikommen machte.

Im übrigen ging alles gut; die Heilung verlief glatt, und als man Vater Rouault nach sechs Wochen wieder auf eigenen Füßen, wenn auch noch behutsam, in seiner „Bude“ herumstiefeln sah, begann man, Herrn Bovary als große Kapazität zu betrachten. Vater Rouault erklärte, auch die bedeutendsten Ärzte aus Yvetot oder Rouen hätten ihn nicht besser kurieren können.

Was Charles betrifft, so dachte er gar nicht daran, sich zu fragen, warum er so gern nach Bertaux kam. Hätte er es getan, so würde er sich wahrscheinlich vorgeredet haben, es sei ihm nur um den interessanten Fall und um das schöne Honorar zu tun, das ihm hier winkte. War es aber wirklich nur dies, was die Besuche auf dem Gut zu einer so reizvollen Abwechslung in dem Einerlei seines gewohnten Lebens machte? Er stand an diesen Tagen immer schon früher als sonst auf und ritt, sein Pferd anspornend, im Galopp davon. Kurz vor der Ankunft stieg er jedesmal ab, säuberte seine Schuhe im Gras und zog seine schwarzen Handschuhe an; und wenn er dann auf dem Hof ankam und das Gatter mit der Schulter aufschob, wenn der Hahn auf der Mauer krähte und die Dorfjungen ihm entgegenliefen, war ihm richtig wohl ums Herz. Er liebte die Scheune und die Pferdeställe, er liebte den alten Rouault, der ihm auf die Schulter klopfte und ihn seinen Retter nannte; er liebte die kleinen Holzüberschuhe, in denen Fräulein Emma auf den blank gescheuerten Fliesen der Küche hin und her trappelte. Ihre hohen Absätze machten sie ein wenig größer, und wenn sie vor ihm herging, schlugen die rasch bewegten Holzsohlen mit einem spröden kleinen Klappen gegen das Leder der Schuhe.

Wenn er aufbrach, begleitete sie ihn immer bis an die erste Stufe der Vortreppe und blieb bei ihm stehen, bis sein Pferd vorgeführt war. Verabschiedet hatte man sich schon, gesprochen wurde nichts mehr; die freie Luft wehte um sie her, zauste die widerspenstigen Härchen in ihrem Nacken oder spielte mit den Schürzenbändern an ihrer Hüfte, daß sie wie Wimpel flatterten. Einmal, es war Tauwetter, und von den Ästen der Bäume und den Dächern der Gebäude tropfte der geschmolzene Schnee, kehrte sie auf der Türschwelle wieder um, holte ihren Schirm und öffnete ihn. Durch die in Taubenhalsfarben schillernde Seide warf die Sonne spielende Reflexe auf ihr weißes Gesicht. Sie lächelte in der lauen Wärme unter ihrem Schirm, und man hörte, wie Tropfen um Tropfen auf die gespannte Seide fiel.

In der ersten Zeit, seit Charles nach Bertaux ritt, versäumte Frau Bovary nicht, nach dem Befinden des Kranken zu fragen. Sie hatte in ihrer doppelten Buchführung sogar eine schöne neue Seite eigens für Herrn Rouault eingerichtet. Als sie jedoch hörte, daß er eine Tochter habe, zog sie nähere Erkundigungen ein und erfuhr, daß Fräulein Rouault im Kloster bei den Ursulinerinnen aufgewachsen sei und dort eine sogenannte gute Erziehung genossen habe und daß sie infolgedessen im Tanzen, in der Geographie, im Zeichnen, im Sticken und im Klavierspielen bewandert sei. Das war die Höhe!

Also deshalb, sagte sie sich, strahlt er immer so, wenn er zu ihr fährt! Deshalb zieht er immer die neue Weste an, auch auf die Gefahr hin, daß der Regen sie ihm ruiniert! Ah, diese Person! Diese Person!

Und sie haßte sie instinktiv. Anfangs machte sie sich durch Anspielungen Luft, die Charles nicht verstand, dann durch allerlei streitsüchtige Betrachtungen, auf die er sich nicht einließ, um nicht ein Gewitter heraufzubeschwören, und schließlich durch ganz unverblümte Vorwürfe, auf die er nicht zu antworten wußte.

Woher kam es denn, daß er immer noch nach Bertaux fuhr, obgleich Herr Rouault längst geheilt war und diese Leute immer noch nicht bezahlt hatten? Doch wohl nur daher, weil dort jemand war, eine Person, die hübsch zu schwatzen verstand und sich gebildet aufspielte, eine Schöngeistige! Das war ja wohl so nach seinem Geschmack, das brauchte er ja wohl: ein Stadtdämchen! „Hach!“ höhnte sie geringschätzig. „Die Tochter des alten Rouault! Die, und eine feine Dame! Ihr Großvater war Schäfer, und ein Vetter von ihr ist beinah mal vors Schwurgericht gekommen, weil er bei einem Krakeel das Messer gezogen hat! Die hat es gerade nötig, so viel Trara zu machen und sonntags in der Kirche im seidenen Kleid daherzukommen wie eine Gräfin! Der gute Rouault! Als ob nicht jeder wüßte, daß er ohne die gute Rapsernte im vorigen Jahr nicht ein und aus gewußt hätte vor Schulden!“

Um des lieben Friedens willen stellte Charles schließlich seine Besuche in Bertaux ein. In einem großen Liebesausbruch hatte ihn Héloïse unter vielen Tränen und Küssen auf das Meßbuch schwören lassen, daß er nie mehr dort hingehen werde. Er gehorchte auch, aber sein Herz empörte sich gegen seine eigene Fügsamkeit, und in einer Art Bauernschläue legte er es sich so aus, daß dieses Verbot, Fräulein Rouault wiederzusehen, ihm nunmehr ein Recht gebe, sie zu lieben. Und seine Witwe war so mager und hatte so lange Zähne. Sie trug Sommer wie Winter ein kleines schwarzes Halstuch, dessen Enden ihr beständig hinten zwischen den Schulterblättern herumbaumelten. Ihre knochige Gestalt war immer in zu enge, futteralartige Kleider gezwängt, die so kurz waren, daß darunter ihre Knöchel mit den auf den grauen Strümpfen gekreuzten Bändern der großen Schuhe hervorschauten.

Von Zeit zu Zeit kam Charles’ Mutter zu Besuch, aber der Schwiegertochter gelang es immer schon nach wenigen Tagen, sie auf ihre Seite zu bringen, und dann hackten sie beide mit ihren Vorwürfen und Ermahnungen wie zwei Messer auf ihm herum: Wie kann man nur so viel essen! Warum immer gleich jedem ersten besten, der kommt, etwas zu trinken anbieten! Was für ein Eigensinn, kein wollenes Unterzeug zu tragen!

Da geschah es zu Beginn des Frühlings, daß sich der Notar in Ingouville, der das Vermögen der Witwe Dubuc verwaltete, eines schönen Tages bei günstiger Gelegenheit auf und davon machte und unter Mitnahme sämtlicher ihm anvertrauten Gelder über den Ozean entschwand. Nun besaß Héloïse zwar außer einem auf sechstausend Francs geschätzten Schiffsanteil noch ihr Haus in der Rue Saint-François, aber von dieser Herrlichkeit, von der sie einst so viel Aufhebens gemacht hatte, war bis jetzt außer ein paar Möbelstücken und Nippsachen nichts zum Vorschein gekommen. Da mußte Klarheit geschafft werden. Es stellte sich heraus, daß das Haus in Dieppe bis in die Balken von Hypotheken zerfressen war wie von Holzwürmern. Wieviel sie beim Notar hinterlegt hatte, wußte Gott allein, und der Schiffsanteil betrug nicht mehr als tausend Taler. Sie hatte gelogen, die gute Dame!

In seiner Wut zerschlug Vater Bovary einen Stuhl auf den Fliesen und beschuldigte seine Frau, ihren Sohn ins Unglück gestürzt zu haben, indem sie ihn mit so einer Schindmähre verkuppelte, die nicht mal mehr das Futter wert sei. Sie fuhren nach Tostes. Es gab eine Auseinandersetzung und große Szenen. Héloïse warf sich schluchzend in die Arme ihres Gatten und beschwor ihn, sie gegen seine Eltern zu verteidigen. Charles wollte vermitteln, aber da wurden die Alten böse und fuhren ab.

Héloïse konnte den Schlag jedoch nicht überwinden. Acht Tage später, als sie im Hof beim Wäscheaufhängen war, bekam sie einen Blutsturz, und am nächsten Morgen, während Charles ihr gerade den Rücken zuwandte, weil er den Fenstervorhang vorzog, sagte sie: „Ach, mein Gott“, stieß einen Seufzer aus und verlor das Bewußtsein. Sie war tot. Wie sonderbar!

Als auf dem Friedhof alles vorbei war, ging Charles in sein Haus zurück. Unten im Erdgeschoß war niemand. Er stieg in den ersten Stock hinauf und trat ins Zimmer, wo er ihr Kleid noch im Alkoven hängen sah. Dann setzte er sich an den Schreibtisch und blieb, den Kopf in die Hand gestützt, bis in den Abend hinein in schmerzliche Betrachtungen versunken. Sie hatte ihn immerhin geliebt.

3

Eines Morgens erschien Vater Rouault und brachte Charles das Honorar für sein geheiltes Bein: fünfundsiebzig Francs, in Vierzigsousstücken, und eine Truthenne.

Er hatte von dem Trauerfall erfahren und tröstete ihn, so gut er konnte.

„Ich weiß, wie das ist“, sagte er und klopfte ihm auf die Schulter, „ich habe das auch durchgemacht! Als ich meine arme Selige verloren hatte, da lief ich hinaus in die Felder, um allein zu sein. Unter einem Baum warf ich mich hin, flennte, rief zum lieben Gott und sagte ihm allerlei Torheiten. Ich hätte einer von den Maulwürfen sein mögen, wie ich sie manchmal am Weg liegen sah, verreckt, schon die Würmer im Bauch. Und wenn ich dann dachte, daß die anderen nun ihre lieben, netten Weiberchen noch hatten und sie ans Herz drücken konnten, da prügelte ich vor Wut die Erde mit meinem Stock. Ich war wie verrückt; ich aß keinen Bissen mehr. Der Gedanke, allein beim Kaffee zu sitzen, widerte mich an. Na – ja und dann, so ganz sachte, wie ein Tag nach dem anderen verging und ein Frühling nach dem Winter und ein Herbst nach dem Sommer, da ist das so von mir abgebröckelt, Stückchen um Stückchen, fort, weg – oder hinunter, will ich sagen, denn etwas bleibt ja immer in einem stecken, ganz tief im Grunde, so was wie . . . ein Klumpen, da in der Brust! Aber da das ja nun einmal unser aller Schicksal ist, darf man deswegen nicht gleich meinen, es sei alles aus, und sterben wollen, weil andere vor einem gestorben sind. Sie müssen sich aufrappeln, Herr Bovary, das geht alles vorüber! Besuchen Sie uns doch mal! Meine Tochter denkt manchmal an Sie, müssen Sie wissen, und meint schon, Sie hätten sie ganz vergessen. Jetzt wird’s bald Frühling. Wir werden Sie mit ins Revier nehmen auf die Karnickeljagd; das wird Sie ein bißchen zerstreuen.“

Charles folgte seinem Rat und kam wieder nach Bertaux. Er traf alles an, als hätte er es erst gestern und nicht vor fünf Monaten verlassen. Die Birnbäume blühten schon, und der gute alte Rouault, der nun wieder obenauf war, kam und ging und brachte Leben auf den Hof.

Er hielt es für seine Christenpflicht, dem Doktor in seiner Trauer mit aller erdenklichen Rücksicht zu begegnen. Er bat ihn, doch ja die Mütze aufzubehalten, sprach nur mit gedämpfter Stimme zu ihm wie zu einem Kranken und stellte sich ganz zornig darüber, daß man nicht eigens für den Gast noch etwas Leichteres, einen Rahmpudding oder gedünstete Birnen, zubereitet hatte. Er erzählte allerhand Geschichten. Charles ertappte sich dabei, daß er darüber lachte; aber dann erinnerte er sich seiner Frau und wurde plötzlich wieder traurig. Als man jedoch den Kaffee brachte, dachte er schon nicht mehr an sie.

Je mehr er sich an das Alleinsein gewöhnte, um so seltener dachte er an sie. Das angenehme, ihm neue Gefühl der Unabhängigkeit machte ihm die Einsamkeit bald erträglicher. Jetzt konnte er seine Mahlzeiten einnehmen, wann es ihm paßte, kommen und gehen, ohne Rechenschaft darüber abzulegen, und, wenn er so recht müde war, sich in seinem Bett breitmachen und alle viere von sich strecken. So pflegte und hätschelte er sich denn gründlich und ließ sich auch alle die Tröstungen gern gefallen, die ihm zuteil wurden. Übrigens hatte ihm der Tod seiner Frau in seinem Beruf nur Vorteil gebracht, denn dadurch, daß es einen Monat lang immer wieder geheißen hatte: „Der arme junge Mann! Was für ein Unglück!“, hatte sich sein Name herumgesprochen und der Kreis seiner Patienten vergrößert. Nach Bertaux ritt er, sooft er konnte; eine ziellose Sehnsucht, ein unbestimmtes Glücksgefühl war in ihm. Wenn er jetzt so vor dem Spiegel stand und seinen Backenbart bürstete, fand er, daß er doch gar nicht so übel aussehe.

Eines Tages kam er nachmittags gegen drei Uhr auf dem Hof an. Alles war auf dem Feld. Er ging in die Küche, bemerkte jedoch Emma zunächst nicht, weil die Fensterläden geschlossen waren. Durch die Ritzen schoß die Sonne lange, feine Strahlen, die über die Fliesen glitten, sich an den Kanten der Möbel brachen und an der Decke zitterten. An den gebrauchten Gläsern, die auf dem Tisch standen, krochen die Fliegen herum, um sich schließlich summend in den Apfelweinresten zu ertränken. Durch den breiten Rauchfang drang ein wenig Tageslicht, in dem das rußige Kaminblech wie Samt und die kalte Asche ganz bläulich aussah. Zwischen Fenster und Kamin saß Emma und nähte. Sie hatte ihr Busentuch abgelegt, und auf ihren nackten Schultern glänzten kleine Schweißperlen.

Nach ländlichem Brauch bot sie ihm etwas zu trinken an. Er dankte, aber sie bestand darauf und lud ihn schließlich lachend ein, ein Gläschen Likör mit ihr zu genehmigen. Sie holte eine Flasche Curaçao und zwei Gläser aus dem Schrank, füllte das eine bis zum Rand, goß in das andere nur ein paar Tropfen und führte es, nachdem sie mit ihm angestoßen hatte, an den Mund. Da es fast leer war, mußte sie sich weit zurückbeugen und so, den Kopf nach hinten geworfen, die Lippen gespitzt und die Kehle gestrafft, stand sie da und lachte, weil immer noch nichts kommen wollte, während ihre Zungenspitze zwischen den feinen Zähnen herausfuhr und den Boden des Glases in kleinen Stößen ausleckte.

Dann setzte sie sich wieder und wandte sich von neuem ihrer Näharbeit zu. Ein weißer, baumwollener Strumpf war zu stopfen. Sie arbeitete mit gesenkter Stirn und sagte nichts. Charles auch nicht. Ein Luftzug fuhr unter der Tür herein und trieb ein wenig Staub über die Fliesen. Charles sah zu, wie er dahinstrich, und hörte nichts als das Pochen des Blutes in seinem Kopf und ganz in der Ferne das Gegacker einer Henne, die irgendwo auf einem der Höfe ein Ei gelegt hatte. Von Zeit zu Zeit hielt Emma ihre Handflächen an den kalten Eisenknauf eines der großen Feuerböcke und führte sie dann zur Kühlung an ihre Wangen.

Sie klagte darüber, daß sie seit Beginn des Frühjahrs an Schwindelanfällen leide, und fragte, ob Seebäder wohl gut dagegen seien. Sie begann vom Kloster zu erzählen, Charles von seinem Gymnasium; so gerieten sie allmählich in ein ganz lebhaftes Gespräch. Sie stiegen in ihr Zimmer hinauf. Emma zeigte ihm ihre alten Notenhefte von damals, die Bücher, die sie als Schulpreise bekommen hatte, und kleine Kränze aus Eichenlaub, die verlassen unten in einem Schrank lagen. Auch von ihrer Mutter erzählte sie, vom Friedhof, auf dem sie lag, und zeigte ihm sogar im Garten das Beet, von dem sie an jedem ersten Freitag im Monat die Blumen pflückte, die sie der Toten aufs Grab legte. Aber ihr Gärtner verstünde gar nichts, mit dem seien sie schlecht dran. Sie würde gern, wenigstens im Winter, in der Stadt wohnen, obwohl während der langen Sommertage das Leben auf dem Lande vielleicht noch langweiliger sei – und je nach dem, was sie sagte, klang ihre Stimme klar und hell oder wurde plötzlich matt, verschleiert und verlor sich fast in ein Murmeln, als spräche sie zu sich selbst. Bald schlug sie fröhlich die Augen auf und blickte naiv drein; dann wieder schloß sie die Lider halb, der Blick verschleierte sich verdrießlich, ihre Gedanken schweiften in die Ferne.

Abends auf dem Heimweg rief sich Charles alles, was sie gesagt hatte, noch einmal ins Gedächtnis zurück und suchte die Bedeutung ihrer Worte zu ergänzen, um sich ein Bild von ihr zu machen aus der Zeit, als er sie noch nicht gekannt hatte. Dabei gelang es ihm jedoch niemals, sie anders vor sich zu sehen als so, wie er sie zum erstenmal oder jetzt eben beim Abschied gesehen hatte. Dann fragte er sich, was wohl aus ihr werden würde, wenn sie sich verheiratete, und mit wem. Ach, Vater Rouault war sehr reich und sie . . . so schön! Aber Emmas Gesicht schwebte ihm immer und immer wieder vor, und wie das eintönige Summen eines Kreisels summte es ihm unablässig in den Ohren: Wehn du es wärst! Wenn du es wärst! In der Nacht konnte er nicht schlafen, die Kehle war ihm wie zugeschnürt, ihn dürstete. Er stand auf, um ein Glas Wasser zu trinken, und öffnete das Fenster. Der Himmel war mit Sternen besät, ein warmer Wind wehte, fernab bellten Hunde. Er wandte den Kopf nach der Richtung hin, wo Bertaux lag.

Von dem Gedanken ermutigt, daß er ja im Grunde nichts dabei riskiere, beschloß er schließlich, einen Antrag zu machen, sowie sich die Gelegenheit dazu böte; aber jedesmal, wenn sie sich bot, verschloß ihm die Angst, nicht die passenden Worte zu finden, die Lippen.

Vater Rouault wäre nicht böse darüber gewesen, wenn man ihm seine Tochter wegholte, die ihm keine große Hilfe im Haus bedeutete. Er entschuldigte sie bei sich damit, daß sie viel zu gescheit sei für die Landwirtschaft, dieses gottverdammte Gewerbe, das noch keinen zum Millionär gemacht hatte! Er jedenfalls, der gute Rouault selbst, hatte noch keine Reichtümer dabei gesammelt, sondern setzte jedes Jahr nur zu, denn wenn er auch auf dem Markt trefflich seinen Mann zu stehen wußte, weil er sich auf die Kniffe und Schliche des Handels verstand, so lag ihm die eigentliche Landwirtschaft samt der inneren Hofverwaltung durchaus nicht. Er zog nicht gern die Hände aus den Hosentaschen und sparte nicht im geringsten, wenn es sich um Ausgaben für seine eigene Person handelte. Er legte Wert auf gutes Essen und Trinken, einen warmen Ofen, ein weiches Bett. Ein gutes Glas Apfelmost, eine saftige, halb durchgebratene Hammelkeule, ein kräftiger Mokka mit Kognak – das war nach seinem Herzen. Er nahm seine Mahlzeiten immer in der Küche ein, allein für sich, neben dem Herdfeuer, an einem kleinen Tisch, den man ihm, schon fix und fertig gedeckt, hereinbringen mußte wie im Theater.

Als er nun merkte, daß Charles immer ganz rote Backen bekam, wenn er bei Emma war, was ja doch nur bedeuten konnte, daß er eines schönen Tages bei ihm um sie anhalten würde, ließ er sich die ganze Sache schon im voraus durch den Kopf gehen. Der junge Mann war zwar seiner Meinung nach ein bißchen schlafmützig und überhaupt nicht gerade ein Schwiegersohn, wie er ihn sich gewünscht hätte; aber er galt ja doch allgemein als solider, achtbarer Mann, sparsam und tüchtig in seinem Beruf, und vor allem war anzunehmen, daß er wegen der Mitgift keine Schwierigkeiten machen würde, und da Vater Rouault zur Zeit gerade genötigt war, zweiundzwanzig Morgen Land zu verkaufen, außerdem beträchtliche Schulden beim Maurer und Tapezier hatte und auch die Kelter erneuert werden mußte, so sagte er sich: Wenn er sie will, soll er sie kriegen.

Zu Michaelis war Charles drei Tage in Bertaux auf Besuch. Aber auch der letzte Tag verging wie die anderen, Viertelstunde um Viertelstunde, ohne daß etwas erfolgt wäre. Vater Rouault gab ihm das Abschiedsgeleit Sie gingen einen Hohlweg entlang. Gleich mußten sie sich trennen. Nun war der Augenblick gekommen! Charles gab sich noch eine letzte Frist, bis sie an der Hecke des nächsten Seitenweges anlangten, und dann endlich, als sie daran vorbei waren, würgte er hervor: „Herr Rouault, ich möchte Ihnen gern etwas sagen.“

Sie blieben stehen. Charles schwieg.

„Na, schießen Sie nur los!“ lachte Vater Rouault gemütlich. „Ich weiß ja doch schon alles!“

„Vater Rouault . . . Vater Rouault . . .“, stammelte Charles.

„Ich bin ja ganz einverstanden“, fuhr der Landmann fort, „aber obwohl ich überzeugt bin, daß die Kleine so denkt wie ich, muß man sie doch erst noch fragen. Bleiben Sie jetzt hier, ich gehe derweil heim und rede mit ihr. Sagt sie ja, so brauchen Sie nicht gleich zurückzukommen, wegen der Leute, und dann würde es Emma auch zu sehr aufregen. Aber damit Sie nicht so lange Blut schwitzen müssen, werde ich dann in diesem Fall den Fensterladen ganz weit aufschlagen, bis an die Mauer. Von da drüben können Sie es sehen, wenn Sie sich über die Hecke beugen.“

Damit ging er.

Charles band sein Pferd an einen Baum, lief nach dem Seitenweg und wartete. Eine halbe Stunde verging, dann zählte er noch neunzehn Minuten auf seiner Uhr, und dann plötzlich hörte er einen Schlag gegen die Mauer: der Fensterladen war mit läutern Krach aufgeflogen, die Schließkette baumelte noch hin und her.

Am nächsten Morgen war er schon um neun Uhr auf dem Hof. Emma errötete, als er eintrat, und suchte ihre Erregung hinter einem Lächeln zu verbergen. Vater Rouault umarmte den zukünftigen Schwiegersohn. Über die geschäftliche Seite der Sache redete man noch nicht; dazu war ja noch Zeit genug, denn die Hochzeit konnte natürlich nicht vor nächstem Frühjahr stattfinden, also erst, wenn Charles’ Trauerjahr abgelaufen war.

Der Winter verging so mit Warten. Fräulein Rouault beschäftigte sich mit ihrer Aussteuer. Ein Teil wurde in Rouen bestellt. Hemden und Nachthauben fertigte sie sich selbst nach Modezeichnungen an, die sie sich lieh. Bei Charles’ Besuchen sprach man nur von den Hochzeitsvorbereitungen; man überlegte, in welchem Raum das Festessen stattfindensolle, wie viele Gänge man geben müsse und was für Vorspeisen.

Emma hätte sich eigentlich am liebsten um Mitternacht bei Fackelschein trauen lassen; aber für diese Idee zeigte Vater Rouault nicht das mindeste Verständnis. So gab es also eine Hochzeit, zu der dreiundvierzig Personen erschienen, bei der man sechzehn Stunden bei Tische saß und die am nächsten und, etwas abflauend, auch an den darauffolgenden Tagen noch weiter gefeiert wurde.

4

Die Gäste erschienen schon früh in Gefährten aller Art: in Kutschen, Einspännern, zweirädrigen Karren und Kremsern mit Ledervorhängen; und die jungen Leute aus den Nachbardörfern trafen, in Reihen nebeneinander stehend und sich an den Seitenstangen anklammernd, um bei den derben Stößen nicht umzufallen, auf Leiterwagen ein. Manche kamen zehn Meilen weit her, aus Goderville, Normanville und Cany. Sämtliche Verwandten der beiden Familien hatte man eingeladen. Mit Freunden, mit denen man auseinandergekommen war, hatte man sich wieder versöhnt und an Bekannte geschrieben, die man seit langem aus den Augen verloren hatte.

Immer wieder ertönte Peitschengeknall hinter der Hecke; immer wieder tat sich das Gatter auf und ließ ein neues Fuhrwerk ein. Alle galoppierten bis an die erste Stufe der Freitreppe, hielten mit einem Ruck, und die Insassen quollen zu beiden Seiten heraus, rieben sich die Knie, reckten die Arme. Die Damen, in Hauben, trugen Kleider nach städtischer Mode, goldene Uhrketten und Umhänge, deren Zipfel über Kreuz in den Gürtel gesteckt waren, oder kleine farbige Schultertücher, die, im Rücken mit einer Nadel befestigt, den Hals freiließen. Die Knaben waren genauso angezogen wie ihre Väter, und man merkte ihnen an, daß sie sich in ihrem Staat sehr unbehaglich fühlten, und viele von ihnen weihten an diesem Tag ihr erstes Paar Stiefel ein. Neben dem einen oder anderen stand wohl auch stumm und steif ein hochaufgeschossenes vierzehn- oder sechzehnjähriges Mädchen, eine Kusine oder ältere Schwester, mit hochgeröteten Wangen, das Haar von Rosenpomade starrend, im weißen, für diese Gelegenheit verlängerten Kommunionskleid, und war ängstlich darauf bedacht, sich nicht die neuen Handschuhe zu beschmutzen. Da nicht genug Stallknechte zum Ausspannen da waren, krempelten sich die Herren die Ärmel hoch und griffen selber zu. Je nach ihrem Stand waren sie in Leibfräcken, Bratenröcken, Jacken oder Joppen erschienen – hochfeinen Leibfräcken, die von der ganzen Familie mit Ehrfurcht gehegt und nur zu Festzeiten aus dem Schrank geholt wurden; langschößigen Bratenröcken, die im Winde flatterten, mit hohen zylinderförmigen Kragen und mit Taschen, groß wie Säcke; Jacken aus derbem Tuch, zu denen meist Mützen mit kupferbeschlagenen Schirmen gehörten; Joppen mit zwei Knöpfen im Rücken, die dicht beisammenstanden wie ein Paar Augen, und mit ganz kurzen Schößen, die aussahen, wie vom Zimmermann mit der Axt aus einem Stück zurechtgehauen. Einige – und das waren natürlich die, welche dann bei Tisch ganz unten sitzen mußten – trugen nur ihre Sonntagskittel, bei denen der Kragen einfach umgeschlagen, der Rücken in Falten gebügelt war und die Taille durch einen aufgenähten, sehr tief sitzenden Gürtel zusammengehalten wurde.

Wie Kürasse wölbten sich die gestärkten Hemden über den Brüsten! Alles hatte sich die Haare schneiden lassen, so daß die Ohren noch mehr von den Köpfen abstanden, und alle waren sorgfältig rasiert. Nur einige, die schon vor Morgengrauen aufgestanden waren, hatten offenbar nicht genug Licht dazu gehabt, denn sie wiesen große Schmisse unter der Nase oder talergroße Hautabschürfungen am Kinn auf, die sich unterwegs in der frischen Luft noch mehr gerötet hatten, so daß die feisten, vergnügten Gesichter ganz scheckig aussahen.

Da das Gemeindeamt nur eine halbe Stunde vom Höf entfernt lag, begab man sich zu Fuß dorthin und kehrte, als die Feierlichkeit in der Kirche vorüber war, auch zu Fuß wieder zurück. Der Hochzeitszug, der sich zuerst wie ein buntes Band den schmalen Pfad entlang durch die grünen Saatfelder geschlängelt hatte, lockerte sich bald und zerfiel in verschiedene Gruppen, die des öfteren stehenblieben und plauderten. Allen voran schritt der Spielmann mit seiner buntbebänderten Fiedel. Dann kamen das junge Paar, die Eltern und Verwandten und schließlich die anderen Gäste, wie es sich gerade traf. Die Kinder blieben weit hinten und belustigten sich damit, die Glöckchen von den Haferähren abzureißen oder sonst allerlei Unfug zu treiben, froh, daß sich niemand um sie kümmerte. Emmas Kleid, das zu lang geraten war, schleppte ein wenig nach. Von Zeit zu Zeit blieb sie stehen, um es aufzuraffen und behutsam mit ihren behandschuhten Händen die Rauhgräser und Distelhäkchen abzuzupfen, und Charles stand mit leeren Händen dabei und wartete, bis sie fertig war. Vater Rouault im neuen Zylinder und Frack, dessen Ärmelaufschläge ihm bis an die Fingernägel reichten, führte die alte Frau Bovary. Herr Bovary senior, der im Grunde seines Herzens die ganze Gesellschaft verachtete und nur in einem einreihigen Überrock von militärischem Schnitt erschienen war, schäkerte anzüglich mit einer jungen blonden Bäuerin, die ihm artig zuhörte, errötete und nicht wußte, wie sie ihm antworten sollte. Die übrigen Gäste sprachen von ihren Geschäften oder ulkten einander an, um sich schon im voraus in Stimmung zu bringen. Zu alledem vernahm man, wenn man hinhörte, immer das Gefiedel des Spielmanns, der auch hier im Freien unaufhörlich spielte. Wenn er merkte, daß die Gesellschaft hinter ihm zurückblieb, blieb er stehen, verschnaufte, rieb umständlich seinen Bogen mit Kolophonium ein, damit die Saiten besser quietschten, und marschierte dann wieder weiter, hob und senkte den Hals seiner Fiedel, um sich selbst den Takt anzugeben. Vor dem Lärm, den er erzeugte, flohen die kleinen Singvögel schon von ferne.

Unter dem Schutzdach des Wagenschuppens war die Tafel gedeckt. Vier Lendenbraten prangten darauf, sechs Schüsseln mit Hühnerfrikassee, eine Platte mit Kalbfleisch, drei Hammelkeulen und in der Mitte, umgeben von vier in Sauerampfer gekochten Leberwürsten, ein allerliebstes, knusprig gebratenes Spanferkel. An den Tischecken, standen Karaffen mit Branntwein und Flaschen mit süßem Apfelwein, der seinen dicken Schaum schon an den Korken heraustrieb, und auf der Tafel waren sämtliche Gläser im voraus bis an den Rand mit Wein vollgeschenkt. Große Schalen mit gelber Süßspeise, die bei der geringsten Erschütterung des Tisches erbebte, zeigten in verschnörkeltem Zuckerguß die Anfangsbuchstaben der Neuvermählten. Für die Torten und Kuchen hatte man eigens einen Konditor aus Yvetot kommen lassen. Der war erst jüngst in die Gegend gezogen und hatte sich daher besondere Mühe gegeben. Beim Nachtisch trug er eigenhändig ein Prunkstück seiner Kunst auf, das allgemein Bewunderungsrufe erweckte. Der Unterbau aus blauer Pappe stellte einen Tempel dar, mit einem Säulengang und kleinen, mit Goldpapiersternen geschmückten Nischen, in denen zierliche Statuetten aus Tragant thronten. Darüber erhob sich ein Wartturm aus Biskuit, umbaut von winzigen Brustwehren aus Bonbons, Mandeln, Rosinen und Apfelsinenscheiben; und die oberste Plattform endlich, die eine grüne Wiese darstellte, mit Felsen und Teichen aus Zuckerguß und Schiffchen aus Haselnußschalen, war gekrönt von einem kleinen Amor auf einer Schokoladenschaukel, deren Pfosten oben als Knaufe zwei natürliche Rosenknospen trugen.

Man tafelte bis zum Abend. Wer des Sitzens müde geworden war, ging im Hof spazieren oder spielte in der Scheune eine Partie Bouchon und setzte sich schließlich wieder an den Tisch. Gegen Ende der Mahlzeit schliefen manche ein und begannen zu schnarchen. Aber beim Kaffee wurde alles wieder munter. Nun wurden Lieder gesungen und allerlei Kraftproben veranstaltet; man stemmte Gewichte, schoß Purzelbaum, versuchte einen Wagen mit den Schultern zu heben, riß derbe Witze und küßte die Damen. Beim Aufbruch hatte man Mühe, die Pferde anzuschirren, die sich bis an die Nüstern voll Hafer gefressen hatten. Sie bockten und schlugen aus; das Geschirr fiel herunter, und die Besitzer fluchten oder lachten. Die ganze Nacht hindurch rasten im Mondschein Fuhrwerke im Galopp die Landstraße entlang, holperten über Abzugsgräben und Meilensteine, verhedderten sich an den Hecken, und die Frauen beugten sich ängstlich zu den Wagentüren hinaus, um nach den Zügeln zu greifen. Wer in Bertaux blieb, zechte die Nacht über in der Küche weiter, während die Kinder unter den Bänken lagen und schliefen.