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Ein verzwickter Fall, eine wunderbare Kommissarin und Urlaubsfeeling pur in der Provence: Im Provence-Krimi »Madame le Commissaire und das geheime Dossier« von Bestseller-Autor Pierre Martin löst Kommissarin Isabelle Bonnet ihren 11. Fall. Im beschaulichen Fragolin in der Provence gehen die Uhren anders – normalerweise. Denn Madame le Commissaire Isabelle Bonnet erhält einen Anruf direkt aus Paris: Auf Geheiß des Polizeichefs soll sie mit ihrem Assistenten Apollinaire den Einbruch in eine Ferien-Villa bei Gassin in den Hügeln hinter Saint Tropez untersuchen. Nur seit wann kümmert sich der Polizeichef persönlich um Einbrüche? Gabriel Roquefort, der Besitzer der Villa und Staatssekretär des Außenministeriums, lässt sich dann auch eine Weile bitten, bevor er mit der ganzen Wahrheit herausrückt: Bei ihm wurden nicht nur diverse Wertgegenstände gestohlen, sondern auch eine Mappe mit einem geheimen Dossier – die er eigentlich gar nicht aus seinem Büro hätte mitnehmen dürfen. In den Händen gewöhnlicher Einbrecher würde die Mappe mit den brisanten Unterlagen wohl keine Gefahr darstellen. Was aber, wenn es die Diebe genau auf dieses Dossier abgesehen hatten? Madame le Commissaire ermittelt unter Hochdruck. Wenig später ist Roquefort tot … Intelligent-humorvolle Krimispannung am Sehnsuchtsort Provence Pierre Martin liefert mit seinen Wohlfühlkrimis aus der Provence die perfekte Urlaubslektüre: Spannende Fälle, ein Schuss Humor und liebenswerte Figuren zeichnen seine Krimi-Reihe um die Kommissarin Isabelle Bonnet aus. Die Krimi-Bestseller aus Südfrankreich sind in folgender Reihenfolge erschienen: - Madame le Commissaire und der verschwundene Engländer - Madame le Commissaire und die späte Rache - Madame le Commissaire und der Tod des Polizeichefs - Madame le Commissaire und das verschwundene Bild - Madame le Commissaire und die tote Nonne - Madame le Commissaire und der tote Liebhaber - Madame le Commissaire und die Frau ohne Gedächtnis - Madame le Commissaire und die panische Diva - Madame le Commissaire und die Villa der Frauen - Madame le Commissaire und die Mauer des Schweigens - Madame le Commissaire und das geheime DossierEntdecken Sie auch die Südfrankreich Krimi-Reihe von Bestseller-Autor Pierre Martin um »Monsieur le Comte«
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Seitenzahl: 414
Pierre Martin
Ein Provence-Krimi
Knaur eBooks
Im beschaulichen Fragolin in der Provence gehen die Uhren anders – normalerweise. Denn Madame le Commissaire Isabelle Bonnet erhält einen Anruf direkt aus Paris: Auf Geheiß des Polizeichefs soll sie mit ihrem Assistenten Apollinaire den Einbruch in eine Ferien-Villa bei Gassin in den Hügeln hinter Saint Tropez untersuchen. Nur seit wann kümmert sich der Polizeichef persönlich um Einbrüche?
Gabriel Roquefort, der Besitzer der Villa und Staatssekretär des Außenministeriums, lässt sich dann auch eine Weile bitten, bevor er mit der ganzen Wahrheit herausrückt: Bei ihm wurden nicht nur diverse Wertgegenstände gestohlen, sondern auch eine Mappe mit einem geheimen Dossier – die er eigentlich gar nicht aus seinem Büro hätte mitnehmen dürfen. In den Händen gewöhnlicher Einbrecher würde die Mappe mit den brisanten Unterlagen wohl keine Gefahr darstellen. Was aber, wenn es die Diebe genau auf dieses Dossier abgesehen hatten? Madame le Commissaire ermittelt unter Hochdruck.
Wenig später ist Roquefort tot …
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Prologue
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
52. Kapitel
53. Kapitel
54. Kapitel
Épilogue
Hinweis
Es dämmerte schon, als der Wagen auf eine einsame Straße mit Schlaglöchern abbog. Vor ihnen ein aufgelassenes Fabrikgelände mit zwei Schornsteinen.
Doch Isabelle konnte nichts davon sehen. Sie saß auf der Rückbank und hatte einen Jutesack über dem Kopf.
Es rumpelte einige Male. Das Auto fuhr langsamer und blieb schließlich stehen.
»Gibt’s weitere Anweisungen?«, fragte der Mann neben ihr.
Ganz offensichtlich war die Frage nicht an sie gerichtet. Denn logischerweise hätte sie keine Antwort darauf.
»Nein«, antwortete eine heisere Stimme von vorne. »Wir sollen hier warten, bis jemand kommt. Wir übergeben die Geisel und bekommen im Gegenzug die zweite Hälfte unserer Bezahlung.«
»Wie viel?«
»Weiß ich nicht. Raoul wüsste es. Aber ihn können wir nicht mehr fragen.«
Weil sie ihn erschossen hatte, dachte Isabelle. Aus Notwehr. Schließlich hatte Raoul mit einer Maschinenpistole auf sie gefeuert.
Die nächsten Minuten wurde im Auto geschwiegen. Die Zeit zog sich hin. Einer klopfte mit den Fingern nervös auf das Armaturenbrett. Ein anderer zündete sich eine Zigarette an. Das roch Isabelle sogar durch den Jutesack.
»Mach den Glimmstängel aus oder rauche im Freien!«
»Ich bin doch nicht verrückt.«
»Ich glaube, wir werden verarscht.«
»Ich sag ja, der Plan taugt nichts.«
Plötzlich von draußen eine laute Stimme. Offenbar durch ein Megafon.
»Lasst die Geisel raus!«
Jetzt wurde es ernst, dachte Isabelle.
»Zunächst unser Geld!«, forderte einer ihrer Kidnapper.
Die Stimme mit dem Megafon antwortete: »Erst die Geisel, dann bekommt ihr eure Kohle.«
Sie spürte, wie jemand über sie hinweglangte und von innen ihre Tür öffnete.
Dann bekam sie einen Stoß.
Isabelle stürzte aus dem Auto auf den harten Asphalt. Genau auf ihre verletzte Schulter.
Sie versuchte, sich aufzurichten. Was nicht leicht war, denn ihre Hände waren hinter dem Rücken gefesselt.
Schritte kamen näher. Jemand packte sie am Arm.
Dann wurde Isabelle der Jutesack vom Kopf gerissen …
Isabelle stand in der Küche und betrachtete wehmütig ihren Kaffeebecher. Er war aus Keramik, schwarz mit weißen Punkten. So wie sie ihren Kaffee am Morgen am liebsten mochte: stark und schwarz, mit nicht zu viel Milch. Sozusagen ein café au lait für Erwachsene. Die große Kaffeetasse hatte sie noch aus ihrer Zeit in Paris – und jetzt war sie kaputt. Ein Sprung vom Boden bis zum Henkel. Dabei hatte sie den Becher immer liebevoll behandelt. Eine altersbedingte Materialschwäche?
Ihre Gedanken schweiften ab. Auch sonst gingen im Leben gelegentlich Dinge zu Bruch, die einem ans Herz gewachsen waren. Das traf sogar auf Beziehungen zu. Sie gingen entzwei und ließen sich nicht mehr kitten. Doch so war das Leben. C’est la vie, alors!
Sie gab sich einen Ruck und verordnete sich eine Denkblockade. Eine Art geistiger Zensur. So etwas funktionierte, man musste es nur wollen. Sie gab ihrem Kaffeebecher einen Abschiedskuss – und stellte ihn behutsam auf ein Regalbrett. Nein, sie würde ihn nicht im Müll entsorgen. Jedenfalls nicht sofort. Das war eine Frage der Pietät.
Isabelle fiel ein, dass in Fragolin heute Markttag war. Jour de marché. Obwohl sie dichtes Menschengedränge prinzipiell nicht mochte, eine Abneigung, die auf ihre Zeit als Personenschützerin und Terrorexpertin zurückzuführen war, überwand sie immer häufiger ihre Scheu, um über den bunten Markt zu schlendern. Schließlich war sie hier zu Hause. Die meisten Bewohner waren ihr vertraut, zumindest vom Sehen. Und die Touristen, die den Weg hinauf ins Massif des Maures fanden, waren harmlos – und im Ort willkommen, vor allem, wenn sie bereit waren, etwas Geld dazulassen. Auf dem Markt wie heute, aber auch sonst in den kleinen Läden und Boutiquen oder in Jacques’ Bistro oder dem Café des Arts.
Das war nicht immer so gewesen. Schmunzelnd erinnerte sich Isabelle an den alten Georges, der kaum mehr Zähne im Mund hatte und schon am Vormittag seinen ersten Pastis trank. Er wollte Fragolin für Touristen sperren. Nach seiner Überzeugung brächten sie nur ansteckende Krankheiten mit, würden mit ihren Autos die Luft verpesten und ohne Sinn und Verstand kreuz und quer durch die Gassen laufen. Touristen seien eine Geißel der Menschheit, hatte er behauptet, sie sollten unten an der Küste bleiben, in Saint-Tropez, Cannes oder wie diese Sündennester auch hießen. Nach dieser Feststellung pflegte sich Georges zu bekreuzigen. Aber le vieuxGeorges lebte nicht mehr. Und sein Wunsch war nicht in Erfüllung gegangen.
Isabelle hatte auf dem Wochenmarkt ihre Lieblingsstände, bei denen sie gerne einkaufte: Olivenöl, Obst, Gemüse, Käse … Dem Stand mit Töpferware und Steingut hatte sie bislang wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Das würde sich heute ändern. Dort hoffte sie, einen Ersatz für ihren Becher zu finden, den sie mal auf einem Flohmarkt in Paris gekauft hatte. Jetzt lebte sie in Fragolin. Es war also nur konsequent, sich genau hier nach einem Nachfolgemodell umzusehen.
Isabelle musste lächeln. Was führte sie doch für ein privilegiertes Leben? Obwohl sie ein Kommissariat der Police nationale leitete, gab es Tage, an denen sie definitiv nichts Besseres zu tun hatte, als sich um eine neue Kaffeetasse zu kümmern. Was nur möglich war, weil in Fragolin nicht viel passierte – und wenn es doch mal zu kriminellen Vorkommnissen kam, war dafür die Gendarmerie zuständig. Selten gingen die Delikte über Falschparker, Taschendiebstähle oder nächtliche Ruhestörung hinaus. Und wenn doch, lag es an ihr, den Fall an sich zu ziehen – oder es sein zu lassen. Ihr Kommissariat hatte einen Sonderstatus. Ihr einziger Vorgesetzter hieß Maurice Balancourt. Er residierte als graue Eminenz der Police nationale in Paris. Er hatte schon länger nichts mehr von sich hören lassen. Und es sah nicht so aus, als ob sich daran so schnell etwas ändern würde.
Isabelle hatte viele Fähigkeiten, aber auch sie konnte nicht in die Zukunft blicken. Sonst hätte sie gewusst, dass ihr für den Bummel über den Wochenmarkt nicht viel Zeit blieb.
Es war unvermeidbar, dass sie ihrer Freundin Clodine in die Arme lief. Clodine war im Stress, musste sie doch gleich ihren Laden Aux saveurs de Provence aufsperren. Die ersten Busse seien bereits eingetroffen. Glücklicherweise lag ihre Boutique nur wenige Schritte vom Markt entfernt. Clodine war auf Touristen angewiesen. Einheimische interessierten sich nur selten für ihre herzförmigen Seifen mit dem Duft nach Lavendel und Zitronen. Auch nicht für ihre Strohhüte und Schwämme. Für ihre Postkarten sowieso nicht.
»Lass dich kurz umarmen«, sagte Clodine atemlos. »So viel Zeit muss sein. Bisous.«
Lächelnd erwiderte Isabelle ihre Begrüßung.
»Ich wünsch dir gute Geschäfte.«
»Merci, ma chère. Kann ich brauchen. Musst später bei mir vorbeischauen, ich habe coole Bermudas reinbekommen, die würden dir gefallen …«
Besser als die bunt bedruckten Kleider, dachte Isabelle, zu denen Clodine sie das letzte Mal überreden wollte.
»Außerdem will ich dir die aktuelle Paris Match zeigen. Wird dich interessieren.«
Isabelle ahnte, was Clodine ihr zeigen wollte. Wahrscheinlich gab es wieder einen Artikel über Rouven und seine Verlobte. Feinfühligkeit zählte nicht zu Clodines Charaktereigenschaften.
»Warum sollte mich die Illustrierte interessieren? Bitte verschone mich mit diesen Geschichten.«
Clodine verzog das Gesicht.
»Ich meinte ja nur …«
»Falsch gemeint. Und jetzt mach schon, wir sehen uns später. À plus tard.«
Auf dem Weg zum Stand mit den Céramiques kam sie an einem Rollwagen mit roter Markise vorbei. Das kurze Gespräch mit Clodine war ihr auf den Magen geschlagen. Außerdem hatte sie noch nichts gefrühstückt. Die Socca von Albert waren berühmt. »Socca du cours. Faite au feu de bois!« Die Teigfladen aus Kichererbsenmehl waren eine Spezialität aus Nizza, wo sich auf dem Cours Saleya vor dem mobilen Holzofen oft lange Schlangen bildeten. Isabelle war es ein Rätsel, warum diese Pfannkuchen, die heiß vom Blech gegessen wurden, in der gesamten Provence so populär geworden waren. Aber auch sie konnte der goldgelben Versuchung oft nicht widerstehen. Am liebsten mit einem Glas Rosé-Wein, aber dazu war es noch zu früh am Tag.
Das Fladenbrot bekam sie in einer gerollten Papiertüte überreicht. Man musste die heiße Socca sofort essen, im Gehen. Streetfood auf Provenzalisch.
Sie ließ sich Zeit. Erst als sie mit der Socca fertig war, schlenderte sie zum Stand mit den Keramiken. Ein schnauzbärtiger alter Mann begrüßte sie freudig.
»Madame le Commissaire, was verschafft mir die Ehre? Habe ich mir was zuschulden kommen lassen?«
Isabelle überraschte es immer wieder, dass sie in Fragolin fast jeder kannte. Eine Prominenz, auf die sie gerne verzichtet hätte. Gleichzeitig war es aber auch schön. Irgendwie anheimelnd.
»Selbst wenn«, erwiderte sie lachend, »wäre ich dafür nicht zuständig. Außer, Sie hätten jemanden umgebracht.«
»Dieu m’en garde. Gott bewahre.«
»Ich suche eine große Tasse für meinen Frühstückskaffee.«
»Da sind Sie bei mir richtig. Meine Fayencen sind nicht nur schön, sondern auch von bester Qualität. Wir fertigen sie in meinem Atelier nach guter alter Tradition von Hand. Wissen Sie, dass wir die Fayence-Keramik den Mauren zu verdanken haben?«
Natürlich wusste sie das nicht. Es interessierte sie auch nicht. Sie suchte eine Tasse.
»Viele denken«, fuhr der Töpfer begeistert fort, »die Keramik sei nach unserem Dorf Fayence benannt. Aber weit gefehlt. Die Mauren haben die Kunst der Keramikherstellung von Arabien nach Mallorca gebracht, weshalb sie auch unter dem Namen Majolika bekannt war. Von dort kam sie nach Faenza in Italien. Unter unserem König Louis XIV gelangte sie schließlich nach Frankreich …«
»Wie ist Ihr Name?«, unterbrach sie ihn.
»Gustave.«
»Mein lieber Gustave, es ist sicher spannend, was Sie mir über die Geschichte der Fayence-Keramik erzählen können. Aber ich habe wenig Zeit.« Sie deutete auf eine Tasse. »Die hier gefällt mir.«
»Madame, Sie haben einen ausgezeichneten Geschmack. Sicher haben Sie gleich erkannt, dass wir hier ein Motiv von Pablo Picasso interpretiert haben. Blaue Tauben und der Kopf eines Stieres. Übrigens hat der geniale Künstler die Arbeit mit Keramiken erst hier bei uns in der Provence kennengelernt, genauer gesagt im Ort Vallauris und dort im Atelier Madoura …«
Isabelle hob vorwurfsvoll eine Augenbraue.
Gustave verstand und langte sich entschuldigend an die Brust.
»Je m’excuse, ich weiß, ich neige zur Weitschweifigkeit. Erlauben Sie mir nur noch eine letzte Bemerkung. Picasso hat sich in Vallauris in eine junge Keramikverkäuferin verliebt: Jacqueline Roque. Nach seiner Trennung von Françoise Gilot hat er sie geheiratet.«
»Was soll die Tasse kosten?«
Er kratzte sich am Kinn.
»Madame, für Sie mache ich einen Sonderpreis. Sagen wir dreißig Euro? Ein Original-Picasso wäre teurer.«
Isabelle lag es nicht im Blut zu feilschen.
»D’accord. Packen Sie die Tasse bruchsicher ein …«
Isabelles Handy klingelte.
Auf dem Display sah sie, dass sie drangehen musste.
»Ich hol die Tasse gleich ab«, sagte sie zu Gustave und eilte in eine stille Nebengasse. Sie brauchte einen Platz, wo sie ungestört reden konnte.
»Bonjour, chérie«, wurde sie am Telefon von Maurice Balancourt begrüßt.
Heute Morgen erst war ihr durch den Kopf gegangen, dass sich ihr Chef in Paris schon lange nicht mehr gemeldet hatte. Eine Art Gedankenübertragung?
»Salut, Maurice. Ich freue mich, deine Stimme zu hören. Dir geht’s hoffentlich gut?«
Sie fragte das, weil Maurice um diese Zeit normalerweise noch nicht im Büro war. Ihr väterlicher Freund war längst im pensionsfähigen Alter, aber weder er selbst noch die Police nationale konnten sich seinen Ruhestand vorstellen. Maurice Balancourt war der Strippenzieher im Hintergrund. Er kannte alle wichtigen Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft. Und er hatte einen direkten Draht zum Élysée-Palast.
»Weil ich so früh anrufe?« Maurice lachte. »Hast recht, ist entschieden zu früh. Jedenfalls für mich. Während du wahrscheinlich schon deine Joggingrunde absolviert hast und jetzt bei einer Tasse Kaffee und Croissants auf deiner Terrasse sitzt. Stimmt’s?«
»Fast. Ich schlendere gerade über unseren Wochenmarkt.«
»Auch schön. Muss aber trotzdem ziemlich langweilig sein. Ich mach mir wirklich Sorgen.«
Isabelle wusste, worauf er anspielte. In schöner Regelmäßigkeit versuchte er, ihr das Leben in Südfrankreich madig zu machen, um sie zurück nach Paris zu locken. Mittlerweile war das eine Art Spiel. Ernsthaft glaubte er wohl nicht mehr daran. Sie selbst sowieso nicht.
»Musst dir keine Sorgen machen. Mir geht’s prächtig.«
Maurice hustete. Das tat er häufig, wenn er eine Zigarre rauchte. Oder wie diesmal aus Verlegenheit.
»Glaube ich nicht. Die Geschichte mit Rouven geht dir bestimmt nahe. Etwas Abwechslung würde dir guttun, damit du auf andere Gedanken kommst.«
Schon wieder Rouven, dachte Isabelle. Erst Clodine und jetzt Maurice. Als ob sie nicht alleine damit klarkäme, dass sich Rouven verlobt hatte? Sie hätte sich nur anders entscheiden müssen, dann wäre sie heute die Frau des prominenten und schwerreichen Kunstmäzens. Er hatte es sich gewünscht, aber sie hatte ihm einen Korb gegeben, weil sie sich das Jetset-Leben an seiner Seite nicht vorstellen konnte. Für einige Tage war es ja ganz nett, aber nicht für immer. Lieber tuckerte sie mit ihrem alten Fischkutter hinaus aufs Meer, als mit einem Helikopter auf seiner Jacht einzuschweben. Lieber trank sie einfachen Landwein als fortwährend teuren Champagner. Und doch … und doch hatte sie sich insgeheim gewünscht, dass ihre Liaison möglichst lange andauern würde. Sie mochte es, gleichzeitig mit zwei Männern befreundet zu sein: mit dem charmanten Maler Nicolas de Sausquebord, der bescheiden in Fragolin lebte, aber unter seinem Pseudonym CLAC in Kunstkreisen weltberühmt war. Er wusste von ihrer Beziehung zu Rouven und akzeptierte sie. Jedenfalls tat er so. Eh bien, in Zukunft gab es diese Sorge nicht mehr. Da gab es nur noch ihn.
»Hallo, bist du noch da?«, fragte Maurice am Telefon.
»Natürlich, ich hatte nur gerade einen schlechten Empfang. Du meinst, ich bräuchte etwas Abwechslung? Das trifft zwar nicht zu, aber ich kenne dich gut genug, um zu ahnen, dass du mir ein Angebot machen möchtest.«
Diesmal war von Maurice nur ein leichtes Hüsteln zu vernehmen.
»Hast recht, aber ich würde es kein Angebot nennen, vielmehr habe ich einen dringenden Auftrag für dich.«
»J’écoute … lass hören!«
»Sagt dir der Name Gabriel Roquefort etwas?«
»Roquefort wie der Schimmelkäse? Nein, wer ist das?«
»Gabriel Roquefort ist secrétaire d’État, Staatssekretär im französischen Außenministerium am Quai d’Orsay und in der Pariser Politszene eine bekannte Person. Ich kenne ihn ganz gut. Wir spielen gelegentlich Golf zusammen. Gabriel hat mich vor einer halben Stunde auf meinem privaten Handy angerufen. Bei ihm wurde eingebrochen. Ich möchte, dass du dich darum kümmerst.«
»Ich bin nicht beim Einbruchsdezernat …«
Das war ein dummer Einwand, dachte Isabelle. Sie hätte sich die schnippische Bemerkung verkneifen sollen.
»Als ob ich das nicht wüsste. Aber der Fall ist heikel und politisch brisant, deshalb bist du genau die Richtige für den Job. Ich hab ihm gesagt, dass du so schnell wie möglich zu ihm kommst.«
»Nach Paris?«
»Nein, Gabriel Roquefort hat ein Ferienhaus bei Gassin, ist nicht weit von dir. Dort wurde bei ihm eingebrochen, letzte Nacht, während er schlief.«
Der Klassiker, dachte Isabelle. Wahrscheinlich hatten ihn die Diebe mit einem Betäubungsgas außer Gefecht gesetzt.
»Die Gendarmerie ist schon dort?«
»Mon Dieu, natürlich nicht. Wie ich schon sagte, der Fall ist heikel. Gleiches gilt für die … nun ja, für die Begleitumstände.«
»Könntest du bitte etwas konkreter werden?«
»Ungern. Das alles soll dir Gabriel Roquefort persönlich erzählen. Nur so viel: Besagte Begleitumstände sind kompromittierender Natur und weiblichen Geschlechts. Darauf kannst du, aber musst du keine Rücksicht nehmen, sein Problem. Die politische Brisanz liegt in dem, was die Diebe mitgenommen haben. Deshalb hat er mich angerufen. Und deshalb musst du umgehend nach Gassin und … und den Mist vom Hof schaufeln …«
Isabelle erschrak. So drastisch pflegte sich Maurice normalerweise nicht auszudrücken.
Prompt bekam er einen Hustenanfall.
»Isabelle, bitte entschuldige«, fuhr er fort. »Aber der Idiot hat wirklich einen unverzeihlichen Fehler gemacht. Das kann ihn seine Karriere kosten. Aber es geht um mehr, um sehr viel mehr. Du wirst es verstehen, wenn du mit ihm gesprochen hast. Übrigens: Gabriel möchte, dass du in Zivil kommst und keinesfalls in einem Polizeifahrzeug. Er will jede Aufmerksamkeit vermeiden.«
»Ich hab überhaupt keine Uniform, das weißt du doch.«
»Natürlich weiß ich das, ich geb das nur so weiter. Ach ja, und noch etwas: Nimm ihn ruhig hart ran. Gabriel soll nicht herumeiern, sondern dir alles sagen, was er weiß, die ganze Wahrheit. Du hast meine volle Rückendeckung.«
»Jetzt hast du mich wirklich neugierig gemacht. Ich vermute, man hat ihm nicht nur seine Rolex geklaut …«
»Schön wär’s, meine liebe Isabelle, schön wär’s. Und jetzt mach dich bitte auf den Weg. Jacqueline schickt dir eine WhatsApp mit seiner Adresse. Bonne chance.«
Den Mist vom Hof schaufeln …« Immer wieder gingen ihr die ungewöhnlich drastischen Worte von Maurice durch den Kopf. Darunter konnte man sich alles oder nichts vorstellen. Klar war nur, dass Maurice echt sauer und ihre Mission entsprechend wichtig war. Dennoch kam es bei aller Dringlichkeit wohl kaum auf Minuten an, die Einbrecher waren längst über alle Berge. Weshalb nichts dagegen sprach, noch schnell die Picasso-Tasse abzuholen. Isabelle hielt Gustave davon ab, ihr erneut eine Geschichte zu erzählen. Mit der Tüte in der Hand eilte sie nach Hause und zog sich um. Jeans, leichte Cowboystiefel aus Wildleder, T-Shirt und dünne Lederjacke. Dieses Outfit war ihrem »Transportmittel« geschuldet. Roquefort wollte nicht, dass sie bei ihm in einem Einsatzfahrzeug der Police nationale vorfuhr. Nachdem ihr privater Mustang in Flammen aufgegangen war, hatte sie sich noch nicht für ein neues Auto entscheiden können. Weshalb sie übergangsweise ein Angebot von Estelle angenommen hatte, das schwere Harley-Davidson-Motorrad aus der Werkstatt ihres Mannes zu fahren. Ein schlechtes Gewissen musste sie nicht haben, schließlich hatte Estelles Mann versucht, sie umzubringen. Aber das war eine andere Geschichte … Jedenfalls saß er jetzt im Gefängnis und hatte für seine Harley keine Verwendung.
Auf dem Fußweg zum Rathaus machte sie einen Bogen um Clodines Laden. Sie hatte jetzt wirklich keinen Sinn für Bermudashorts oder den neuesten Tratsch aus dem Dorf.
Die Harley-Davidson stand vor dem Rathaus auf dem Platz, wo bis vor Kurzem ihr alter Mustang geparkt war. Das Motorrad machte einen fast noch imposanteren Eindruck. Eine ähnliche Fat Boy hatte Arnold Schwarzenegger im Film Terminator 2 gefahren. Die Maschine wog über dreihundert Kilo. Nicht gerade ein Motorrad für Frauen – doch genau das gefiel ihr an der Harley. Sie hatte nicht die Absicht, sie für länger zu fahren. Die Satteltaschen waren zwar groß genug für ihre Strandsachen, für Baguette und Wein. Doch gab es keinen Platz für eine schusssichere Weste, die sie üblicherweise im Kofferraum hatte. Aber bis sie ein passendes Auto gefunden hatte, machte es Spaß, mit der schweren Maschine durch die Gegend zu cruisen. Es amüsierte sie zu beobachten, wie sich die Männer spontan nach ihr umdrehten. Das war so eine Art pawlowscher Reflex, überlegte sie. Schlanke Frau und dickes Motorrad. Untermalt vom brachialen Sound einer Harley. Isabelle musste lächeln. Offenbar genügten ganz einfache Reize, und schon reagierten fast alle Männer gleich. Das lag wohl an den Hormonen.
Was das Getöse der Harley betraf, war sie durchaus gespalten. Wenn man nicht gerade im Sattel saß, war das penetrante Motorengeräusch für die Allgemeinheit wohl eher eine Zumutung. Erst recht in der idyllischen Abgeschiedenheit des arrière-pays, des Hinterlands fernab des Trubels an der Küste. Ein Grund mehr, das Motorrad bald wieder zurückzugeben.
Isabelle eilte durch die Eingangshalle des Hôtel de ville und betrat ihr Kommissariat. Bevor sie losfuhr, wollte sie noch schnell ihren Assistenten Brigadier Apollinaire begrüßen und ihm von ihrem aktuellen Auftrag berichten.
»Bonjour, Madame«, begrüßte er sie ausgelassen. »Ich hoffe, Sie sind vollends begeistert?«
Sie sah ihn ratlos an. Begeistert? An seinem Äußeren konnte sie keine Auffälligkeiten erkennen. Die ungekämmten Haare standen ihm wie immer zu Berge. Die Strümpfe? Wie üblich rechts und links verschieden. Ein Hemdärmel lang, der andere bis über den Ellbogen hochgekrempelt. Die Krawatte oben ins Hemd gestopft. Offenbar eine neue Marotte. Isabelle sah sich im Büro um. Gelegentlich ließ sich Apollinaire dazu hinreißen, die Möbel umzustellen. Um sie etwa nach den Regeln des Feng-Shui auszurichten. Aber alles befand sich an seinem gewohnten Platz. Sogar die Fahnenstange mit der Trikolore und das große gerahmte Bild mit dem Porträt des von ihm verehrten Charles de Gaulle.
»Apollinaire, bitte helfen Sie mir auf die Sprünge. Warum sollte ich begeistert sein?«
Er runzelte die Stirn.
»Madame, ich kenne Sie als aufmerksame Beobachterin. Da müsste Ihnen doch gerade der unvergleichliche Glanz Ihres Motorrads aufgefallen sein. Ich habe die letzte Stunde damit verbracht, alle Chromteile zu polieren. Ich weiß, das gehört nicht zu meinem Aufgabengebiet, aber ich dachte, ich mache Ihnen damit eine Freude.«
Die Enttäuschung war ihm anzusehen.
»Entschuldigen Sie, ich war abgelenkt, sonst wäre es mir sicherlich aufgefallen. Sie haben mir damit ganz sicher eine große Freude bereitet. Merci beaucoup.«
Apollinaire nickte zufrieden. Sein seelisches Gleichgewicht schien wiederhergestellt. In Wahrheit war ihr der Glanz der Maschine, die sie ja nur leihweise fuhr, nicht so wichtig. Zudem hatte Apollinaire eine ausgeprägte Fähigkeit, Dinge aus Versehen kaputt zu machen. Aber die Harley war robust genug, seinen Ungeschicklichkeiten zu widerstehen. Diesbezüglich musste sie sich also keine Sorgen machen.
»Sie waren abgelenkt?«, hakte er nach.
Isabelle lächelte. Wollte er herausfinden, ob sie ihn angeschwindelt hatte?
»Weil ich einen Anruf von Balancourt erhalten habe. Er hat mir …« Sie korrigierte sich. »Er hat uns einen neuen Fall übertragen. Ich muss dringend nach Gassin. Dort erwartet mich ein Staatssekretär des Außenministeriums in seinem Ferienhaus. Letzte Nacht wurde bei ihm eingebrochen. Das Ganze ist topsecret – keine Ahnung, warum. Die Polizei muss außen vor bleiben …«
»Pardon, wir sind doch die Polizei?«
Wieder musste sie lächeln. »Aber wir sind anders als die anderen.«
»Das stimmt, völlig anders.«
Wenige Minuten später saß sie auf der Harley und verließ Fragolin auf der Straße, die zwar nicht die kürzeste hinunter an die Küste war, aber weniger Kurven aufwies. Sie hatte einen schwarzen Helm auf, mit einem Aufkleber des gallischen Hahns in den französischen Nationalfarben, und trug ihre dunkelgrüne Pilotenbrille. Auch wenn sie nicht mehr in Übung war, kam sie mit der Maschine gut zurecht. Während ihrer Ausbildung bei der Police nationale war sie mal einige Monate bei Staatsbesuchen in einer Motorradstaffel eingesetzt worden. Als damals einzige und erste Frau – wie später so oft in ihrer Karriere. Durch dichte Wälder, die für das Massif des Maures charakteristisch waren, gelangte sie zum Rond point de la Foux und von dort auf die Straße, die nach La Croix-Valmer führte. Schließlich ging es links Richtung Gassin. Ihr Motorrad hatte kein Navi. Sie stoppte bei einer Parkbucht, um auf ihrem Handy die Adresse zu suchen, die ihr Jacqueline in Balancourts Auftrag geschickt hatte. Sie prägte sich den Weg zu Gabriel Roqueforts Villa ein. Sollte nicht schwer zu finden sein. An der Altstadt von Gassin vorbei Richtung Ramatuelle. Dann bei einer markanten Wegmarke gleich links.
Gerade als sie das Handy wieder einstecken wollte, erreichte sie ein Anruf ihres Freundes Nicolas. Immerhin hatte er einen günstigen Augenblick abgepasst. Trotzdem passte es ihr gerade nicht besonders.
»Salut,Isabelle, schön, dass ich dich erwische. Ich möchte dich heute Abend zum Barbecue einladen. Es gibt was zu feiern.«
»Zu feiern?«
»Ja, ich habe das Bild für Rouven fertig. Termingerecht, darauf bin ich stolz. Morgen wird es von einem Transporter abgeholt. Vorher will ich es dir gerne zeigen und mit einem Champagner darauf anstoßen.«
Das war tatsächlich ein Anlass, dachte sie. Für die Eröffnung einer Kunsthalle bei Valence hatte er Rouven einen neuen CLAC versprochen. Eine Auftragsarbeit, die Nicolas in den letzten Wochen voll in Beschlag genommen hatte. Bezahlt wurde er dafür nicht. Das Gemälde war eine Bringschuld für einen Gefallen, den ihm Rouven getan und der Nicolas aus einer sehr prekären Situation gerettet hatte.
»C’est très gentil«, bedankte sie sich für die Einladung. »Ich bin zwar gerade wegen eines neuen Kriminalfalls unterwegs. Aber heute Abend müsste trotzdem klappen. Ich bring den Champagner mit.«
»Ich freu mich. Also dann bis später. Und viel Glück bei deinem neuen Fall.«
»Kann ich brauchen. À bientôt.«
Sie steckte ihr Handy wieder ein, wartete eine Kolonne mit Oldtimern ab und setzte ihre Fahrt fort.
Roqueforts Villa war im typischen Stil einer südfranzösischen Bastide gebaut, mit rustikalen Außenmauern und blauen Fensterläden. Die Zufahrt wurde von lilafarbenen Lavendelsträuchern gesäumt. Links eine große Palme. Im Garten knorrige Olivenbäume. Das alles konnte sie durch die Streben des geschlossenen Tores sehen. Auch, dass nur eine mittelhohe Natursteinmauer ums Grundstück führte. Für Einbrecher stellte sie kein wirkliches Hindernis dar. So gesehen war es von zweifelhaftem Nutzen, dass das Eingangstor mit einer Videokamera gesichert war. Isabelle stellte den bollernden Motor ihrer Harley ab und läutete. Keine Reaktion. Noch einmal. Sie glaubte, hinter einem Fenster einen Schatten zu sehen. Sie winkte in die Kamera. Nichts rührte sich.
Isabelle widerstand der Versuchung, den Mittelfinger in die Kamera zu halten und einfach weiterzufahren. Zum Strand von Pampelonne war es von hier nicht weit. Stattdessen nahm sie ihr Handy und rief bei Roquefort an. Seine Nummer hatte Jacqueline mit der Adresse geschickt. Le numéro que vous avez composé n’est pas joignable actuellement. »Der Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar.« Isabelle schüttelte den Kopf. Der Staatssekretär machte es ihr wirklich nicht leicht.
Sie stieg vom Motorrad, nahm den Helm ab, läutete erneut, diesmal Sturm, und hielt gleichzeitig ihren Dienstausweis in die Kamera.
»Police nationale. Machen Sie schon auf! Ich komme im Auftrag von Balancourt.«
Sie sah, wie sich die Haustür öffnete. Ein groß gewachsener Mann erschien, mit einem weißen Leinenhemd über einer kurzen Hose. Langsam kam er näher.
»Sind Sie Gabriel Roquefort?«, fragte sie durch einen Spalt zwischen den Eisenstreben.
»Kommt darauf an …«
Was war das für eine blöde Antwort, dachte Isabelle. Erst machte er nicht auf, und jetzt stellte er seine eigene Identität infrage.
»Mein Name ist Bonnet, ich bin Kommissarin eines Sonderdezernats der Police nationale. Falls Sie sich zur Entscheidung durchringen können, dass Sie Roquefort heißen, könnten wir uns weiter unterhalten. Ansonsten wünsche ich Ihnen einen schönen Tag und fahre ans Meer zum Baden.«
Er nahm sie über den Rand einer Lesebrille misstrauisch in Augenschein.
»Zeigen Sie mir noch mal Ihren Ausweis!«
Sie hielt ihn durch einen Spalt mit ausgestrecktem Arm direkt unter seine Nase mit der Lesebrille.
Er sah zwischen dem Ausweis und ihr und dem Motorrad hin und her.
»Wie eine Polizistin sehen Sie nicht aus«, stellte er fest.
Isabelle warf einen Blick auf seine nackten Füße.
»Und Sie nicht wie ein Staatssekretär des Außenministeriums. Außerdem wollten Sie, dass ich in Zivil komme. So, jetzt lassen Sie mich schon rein.«
Er nickte und öffnete mit einer Fernsteuerung das Tor. Es fuhr quietschend zur Seite und verschwand schließlich hinter der Außenmauer.
»Entschuldigen Sie mein Misstrauen. Ich bin gerade etwas durch den Wind. Bitte fahren Sie Ihr Motorrad aufs Grundstück und parken es hinter dem dicken Oleander. Muss ja nicht jeder sofort sehen.«
Offenbar war der Staatssekretär sehr darauf bedacht, nicht aufzufallen. Ob die Nachbarn wussten, wer er war? Isabelle schmunzelte. Sicher wäre es ihm nicht recht, wenn sich herumsprach, dass er in seinem Haus Besuch von einer Rockerbraut auf einer schweren Harley bekam. Für einen Politiker gehörte sich das nicht.
Roquefort ging voraus in die große Küche.
»Hier können wir uns am besten unterhalten. Wollen Sie ein Glas Wasser?«
»Später gerne. Aber erst möchte ich wissen, was genau vorgefallen ist. Bei Ihnen wurde letzte Nacht eingebrochen. Warum haben Sie nicht ganz normal die Polizei verständigt und stattdessen Balancourt in Paris angerufen?«
Roquefort kratzte sich verlegen am unrasierten Kinn.
»Weil ich … nun, weil ich nicht alleine war. Sie müssen wissen, ich bin in Paris glücklich verheiratet und habe zwei Kinder.«
Die Risiken einer Affäre hätte er sich vorher überlegen müssen, dachte sie. Aber das war kein hinreichender Grund für seine Geheimnistuerei, jedenfalls keiner, der für Maurice relevant war.
»Das alleine ist es nicht«, hakte sie nach. »Was ist noch passiert? Haben Sie vielleicht einen Einbrecher erschossen und wissen jetzt nicht, wie Sie sich verhalten sollen?«
Diese Möglichkeit war ihr auf der Fahrt eingefallen. Das würde sein Verhalten erklären.
Er schüttelte energisch den Kopf.
»Leider nein, ich hätte den Einbrecher liebend gerne erschossen. Aber erstens habe ich keine Pistole im Haus, und zweitens habe ich während des Einbruchs tief geschlafen und nichts mitbekommen.«
»Genauso wie Ihre Freundin? Wo ist sie eigentlich?«
»Ich habe sie heimgeschickt. Ihr geht es nicht so gut. Ich glaube, die Einbrecher haben uns mit einem Gas betäubt. Beim Aufwachen hat es im Schlafzimmer komisch gerochen, und wir beide hatten einen dicken Kopf.«
»Gut möglich«, bestätigte Isabelle. »Aber jetzt weiß ich immer noch nicht, was ich hier soll?«
»Die Diebe, ich gehe mal davon aus, dass es mehrere waren, haben einiges mitgehen lassen. Meine Brieftasche mit den Kreditkarten, meine Armbanduhr, den Schmuck von Florence, den sie im Bad abgelegt hat … Eine wertvolle Bronzeskulptur mit einem weiblichen Akt …«
Isabelle nickte auffordernd.
»Sprechen Sie weiter! Was noch?«
»Nun, sie haben den Wandsafe in meinem Arbeitszimmer aufgebrochen …«
Langsam, dachte Isabelle, kamen sie der Sache näher. Aber sie hatte keine Lust, ihm alles einzeln aus der Nase zu ziehen.
»Was war drin?«
»Etwas Bargeld, ein Brillantarmband meiner Frau …«
»Und?«
»Und … und eine rote Ledermappe!« Roquefort atmete tief durch. »So, jetzt wissen Sie, warum ich meinen alten Freund Maurice benachrichtigt habe.«
Offenbar war Roquefort durch das Betäubungsgas immer noch etwas benebelt. Sonst wäre ihm aufgefallen, dass das keine hinreichende Begründung war.
»Noch weiß ich gar nichts. Was war das für eine Mappe?«
Wieder kratzte er sich am Kinn.
»Maurice hat gesagt, ich könnte Ihnen vertrauen. Stimmt doch?«
Isabelle musste sich beherrschen.
»Ich hab einige Jahre für den Élysée gearbeitet. Der Präsident der Republik hat mir vertraut. Ob Sie es tun, überlasse ich Ihnen. Jetzt rücken Sie schon raus … oder ich mache auf dem Absatz kehrt und sage Maurice Balancourt, dass Sie ein dummer, störrischer Esel sind.«
Roquefort schnappte nach Luft. Er war es nicht gewohnt, dass man so mit ihm sprach.
Isabelle zählte in Gedanken bis zehn. Bei zehn würde sie ihre Drohung in die Tat umsetzen.
Sie war gerade bei fünf, als sich Roquefort einen Ruck gab.
»Sie haben recht, ich bin ein Esel. Ich hätte die Mappe nie nach Gassin mitnehmen dürfen. Sie enthält ein geheimes Dossier des Außenministeriums mit dem Vermerk, dass es die Mauern des Quai d’Orsay unter keinen Umständen verlassen dürfe. Strictement confidentiel! Sie fragen sich, warum ich mich über das Verbot hinweggesetzt habe? Weil ich bekannt dafür bin, Akten sehr genau durchzuarbeiten. Das schaffe ich nicht immer zu den Bürozeiten. Außerdem hatte ich mich für ein verlängertes Wochenende mit Florence verabredet. Also habe ich die Mappe mit dem Dossier mitgenommen, um … um gewissermaßen das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden.«
Endlich war klar, dachte Isabelle, warum Maurice sie hergeschickt und sich zu seinen drastischen Worten hatte hinreißen lassen. Es ging ihm weniger um seinen Golffreund, ihn würde er im Zweifel über die Klinge springen lassen, so gut kannte sie ihn. Es ging Maurice um das geheime Dossier in der roten Ledermappe. Sie sollte es so schnell wie möglich wiederbeschaffen und sicherstellen, dass es nicht in falsche Hände geriet. Wobei das ja genau genommen schon passiert war. Aber es gab solche falschen Hände, überlegte Isabelle, und andere …
»Jetzt können Sie mir ein Wasser eingießen«, sagte sie. »Dann zeigen Sie mir das Haus und den aufgebrochenen Safe.«
»Wie viel Zeit brauchen Sie?«, fragte Roquefort, während er ihr das Glas reichte.
»Keine Ahnung, vielleicht eine halbe Stunde, dann sollte ich mir einen ersten Überblick verschafft haben.«
»Das meinte ich nicht. Wie viel Zeit brauchen Sie, die Diebe und die Mappe mit dem Dossier zu finden?«
Isabelle schüttelte amüsiert den Kopf.
»Woher soll ich das wissen?«
»Ich muss noch heute Nachmittag zurück nach Paris«, erklärte Roquefort. »Wir haben morgen ein Treffen mit chinesischen Gesandten.«
»Brauchen Sie dafür das Dossier?«
»Nein.«
»Wie lange können Sie das Verschwinden der Mappe verschleiern?«
»Ich hoffe, einige Tage. Höchstens bis Ende der Woche.«
»Ich kann Ihnen nichts versprechen, nur, dass ich alles versuchen werde. Es gibt ja mehrere Szenarien. Das Wahrscheinlichste: Sie wurden Opfer ganz ›normaler‹ Diebe, die darauf spezialisiert sind, in Ferienhäuser einzubrechen. Die haben die Mappe mitgehen lassen und erkennen womöglich gar nicht die Brisanz ihrer Beute. Wenn doch, werden sie versuchen, das Dossier zu Geld zu machen. Was ohne entsprechende Kontakte schwierig ist, die üblichen Hehler kommen dafür ja nicht infrage.«
»Die Diebe könnten das Dossier der Presse anbieten«, fiel Roquefort ein, »das wäre eine Katastrophe.«
Vor allem für ihn persönlich, dachte Isabelle. Je nach Inhalt aber auch weit darüber hinaus.
»Worum geht es eigentlich in den Papieren?«
»Ist geheim, darf ich Ihnen nicht sagen.«
Das war witzig. Die Diebe konnten die Papiere mittlerweile lesen. Sie dagegen durfte nicht wissen, was drinstand.
»Muss ich vorläufig akzeptieren«, erwiderte sie dennoch. »Könnte aber eine Rolle spielen. Denn aus dem Thema ergibt sich womöglich, wem man das Material gegen Bezahlung noch anbieten kann. Denken Sie darüber nach! Und wenn Ihnen dazu was einfällt, sagen Sie mir Bescheid! Gleiches gilt übrigens, falls sich die Diebe mit Ihnen in Verbindung setzen.«
»Warum sollten sie das tun?«
»Um Sie zu erpressen. Das wäre die einfachste Methode, das Dossier zu Geld zu machen.«
Roquefort sah auf den Boden.
»Mich erpressen? Mon Dieu …«
»Mir fallen aber noch andere Szenarien ein«, fuhr Isabelle fort. »Vielleicht war der Einbruch nach dem üblichen Muster der Côte d’Azur nur vorgetäuscht. Die Brieftasche, die Uhr, der Schmuck, das Bargeld, die Bronzeskulptur … alles Nebensache. Die Diebe hatten es von vornherein auf die Mappe abgesehen.«
Er runzelte die Stirn.
»Dafür müssten sie aber wissen, dass ich sie aus Paris mitgenommen habe …«
Na bitte, langsam fing er an, logisch zu denken.
»Ganz genau. Also sollten Sie sich überlegen, ob jemand in Ihrem Ministerium davon gewusst haben könnte.«
»Da gibt’s niemanden, darauf habe ich natürlich geachtet.«
»Gehen wir mal davon aus, dass das stimmt. Was ist mit Ihrer Freundin Florence? Weiß sie von der Mappe?«
Er bekam einen roten Kopf.
»Natürlich nicht. Sie hat mit alldem nichts zu tun. Halten Sie Florence aus Ihren Ermittlungen raus!«
»Das wird nicht gehen. Schon deshalb, weil wir ihre Fingerabdrücke benötigen. Übrigens müssen wir auch von Ihnen die Abdrücke nehmen, um sie von den Einbrechern unterscheiden zu können. Ich brauche also den vollständigen Namen von Florence und ihre Adresse. Wohnt sie in der Nähe?«
Wieder blickte Roquefort auf den Boden. Oder betrachtete er seine nackten Füße?
»Nicht weit weg«, rang er sich schließlich zu einer Antwort durch. »Ich schreibe Ihnen die Kontaktdaten auf. Aber ich bitte wirklich um Diskretion.«
»Warum, ist sie verheiratet?«
»Nein, sie ist ledig.« Er lächelte schief. »Der Ehebrecher, das bin ich.«
Isabelle stellte ihr Wasserglas ab.
»So, jetzt will ich Ihr Haus sehen.«
Der Rundgang nahm sogar etwas weniger als eine halbe Stunde in Anspruch. Danach war sie um einige Erkenntnisse reicher. Zum Beispiel wusste sie jetzt, dass Roquefort die Villa in den Ferien mit seiner Frau und den Kindern nutzte. Das war überall zu sehen, angefangen von den Kosmetikartikeln im Bad über die Garderobe in den Schränken bis hin zu den Kinderzimmern – seine Geliebte Florence schien es nicht zu stören. Aufschlussreicher aber war, dass im Fensterladen zum Schlafzimmer ein Stück Schlauch steckte. Offenbar war der Gummi von außen durch die Lamellen geschoben worden. Das Fenster selbst war nach innen geöffnet. Was die These bestätigte, dass Roquefort und seine Freundin mit Gas betäubt wurden. Des Weiteren hatte sie auf der Terrasse die eingeschlagene Scheibe einer Tür in Augenschein genommen. Durch das entstandene Loch konnte man durchgreifen und sie von innen entriegeln. Am interessantesten aber war der Safe in Roqueforts Arbeitszimmer. Er entsprach weder den höchsten Sicherheitsstandards, noch war er besonders getarnt. Immerhin war der Safe in Größe von etwa zwei Schuhkartons fest in der Wand verankert. Zu öffnen war er mit einem Zahlenschloss – oder wie im vorliegenden Fall auf die brachiale Art mit Sprengstoff. Die Diebe konnten den Lärm getrost in Kauf nehmen. Roquefort und seine Freundin hatten sie zuvor in einen komatösen Tiefschlaf versetzt.
Zurück in der Küche, schaltete Roquefort die Espressomaschine ein.
»Wollen Sie auch einen?«
»Gerne. Was ist eigentlich mit der Videokamera am Tor? Gibt’s eine Aufzeichnung der letzten Nacht?«
Roquefort winkte ab.
»Es gibt keine Aufzeichnung, ich sehe auf dem Monitor nur, wer gerade zu mir will.«
Isabelle war nicht wirklich enttäuscht. Sie ging sowieso davon aus, dass die Diebe an einer anderen Stelle über die Mauer gestiegen waren.
»Ich gehe kurz auf die Terrasse«, entschuldigte sie sich, »und rufe einen Mitarbeiter an. Wir brauchen ihn für die Spurensicherung.«
»Soll aber auch in Zivil kommen!«
»Fühlen Sie sich von Ihren Nachbarn beobachtet?«
»Nicht direkt, die Häuser sind ja alle ein Stück entfernt. Aber sobald die Polizei auftaucht, werden die meisten Menschen zu neugierigen Hyänen. Die will ich mir vom Leib halten.«
»Ist Ihnen schon klar, dass diese Zurückhaltung unsere Ermittlungen erschwert? Eigentlich müssten wir Ihre Nachbarn befragen, ob irgendjemandem letzte Nacht etwas aufgefallen ist. Das wäre normale Polizeiarbeit und würde uns vielleicht weiterbringen.«
»Mag schon sein, geht aber nicht. Wir müssen jedes Aufsehen vermeiden. Ich bin Politiker, ich weiß, wie das läuft. Spricht sich erst herum, dass bei mir eingebrochen wurde, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Presse Wind davon bekommt. Das gilt übrigens auch für die Polizei, immer gibt es irgendwo eine undichte Stelle. Bei Ihnen ist das hoffentlich anders.«
»Sonst hätte mich Maurice Balancourt wohl kaum geschickt. So, jetzt gehe ich kurz raus zum Telefonieren. Und Sie kümmern sich um den Espresso. Ich habe ihn gern extrastark.«
»Wann haben Sie das letzte Mal bei einem Tatort Spuren gesichert?«, fragte Isabelle am Telefon.
»Spurensicherung ist eine geheime Leidenschaft von mir«, antwortete Apollinaire. »Leider übernehmen das normalerweise die Kollegen aus Toulon.«
»Diesmal nicht. Packen Sie alles ein, was Sie dafür brauchen, und kommen so schnell wie möglich hierher!«
»Mit Blaulicht und Sirene? Madame, Sie machen mich glücklich.«
Sie wusste, wie sehr Apollinaire Blaulichteinsätze liebte. Allerdings war er ein miserabler Autofahrer, weshalb sie ihn nach Möglichkeit davon abhielt. Diesmal erübrigte sich die Entscheidung.
»Tut mir leid, aber Sie müssen unser Einsatzfahrzeug stehen lassen und stattdessen mit Ihrem privaten 2CV kommen.«
»Mit meinem deux chevaux? Unter ›so schnell wie möglich‹ verstehe ich was anderes.«
Die Enttäuschung war ihm anzumerken.
»Zum Ausgleich dürfen Sie statt Ihrer Uniform eines Ihrer geliebten Hawaiihemden anziehen. Wir ermitteln quasi undercover.«
»Eine verdeckte Ermittlung? Wie in dem berühmten Film von Martin Scorsese mit Al Pacino … nein, ich meinte natürlich Leonardo DiCaprio und Matt Damon …«
Sie kannte seine Begeisterung für Hollywood. Solange er die Filme nicht mit der Realität verwechselte, hatte sie nichts dagegen.
»Undercover war der falsche Begriff«, korrigierte sich Isabelle. »Wir versuchen nur, jede Aufmerksamkeit zu vermeiden, und gehen deshalb so diskret wie möglich vor. Dass wir von der Polizei sind, muss keiner merken.«
»Ich verstehe, bei DiCaprio war das nicht anders …«
»Apollinaire, bitte konzentrieren Sie sich!«
»Pardon, Madame, ich bin natürlich ganz bei der Sache. Spurensicherung, 2CV, Hawaiihemd, dunkle Sonnenbrille … Ich bin schon unterwegs.«
Eine dunkle Sonnenbrille hatte sie nicht erwähnt.
»Wissen Sie überhaupt, wohin?«
»Wohin? Zum Staatssekretär Roquefort nach Gassin? Ach so, die genaue Adresse bräuchte ich noch.«
»Schicke ich Ihnen aufs Handy. Und fahren Sie bitte vorsichtig. Es kommt nicht auf die Minute an.«
»So schnell wie möglich, aber es kommt nicht auf die Minute an? Madame, es ist nicht immer einfach, Ihre Anweisungen richtig zu interpretieren. Aber ich versuche mein Bestes. Je fais de mon mieux!«
Zurück im Haus, stellte sie fest, dass sich Roquefort jetzt wenigstens Schuhe angezogen und gekämmt hatte. Während sie den espresso double trank, sah sie ihn nachdenklich an. Es fiel ihr schwer, ihn einzuschätzen. Offenbar war er ein ehrgeiziger Politiker, der sich panisch davor fürchtete, gerade seine Karriere aufs Spiel zu setzen. Ihm war klar, dass er das Dossier nicht hätte in sein Ferienhaus mitnehmen dürfen. Auch wenn er das in bester Absicht getan hatte, um am Papier zu arbeiten. Das aber hätte er in seinem Büro am Quai d’Orsay tun müssen. Sich gleichzeitig in Südfrankreich mit einer Geliebten zu treffen war etwas zu viel des Multitasking.
»Können Sie mir bitte den Verlauf des gestrigen Abends schildern?«, forderte sie ihn auf.
»Ich denke, das ist meine Privatsache …«
»Nein, ist es nicht. Am besten fangen wir schon vorher an. Wann und wie sind Sie in Gassin eingetroffen?«
Roquefort biss sich auf die Unterlippe.
»Eh bien«, rang er sich dann doch zu einer Antwort durch. »Angekommen bin ich vorgestern Abend. Mit dem TGV von Paris und ab St. Raphaël-Valescure mit dem Taxi. Ich war todmüde und bin gleich ins Bett. Gestern Vormittag habe ich erst am Dossier gearbeitet, danach bin ich in den Ort gefahren und habe im Le Pescadou zu Mittag gegessen. Filet de dorade royale. Um Ihre nächste Frage vorwegzunehmen: alleine.«
»Wie sind Sie dort hingekommen?«
»Mit dem Jeep in meiner Garage. Anschließend bin ich zum Weingut Château Minuty, um einige Kartons Rosé zu kaufen. Auf dem Rückweg habe ich in einer Épicerie Lebensmittel eingekauft und zwei Tiefkühl-Pizzas mit Trüffel …« Er sah sie spöttisch an. »Ist das ausführlich genug? Oder soll ich noch mehr ins Detail gehen?«
»Sie machen das sehr schön«, antwortete sie mit einem süffisanten Lächeln. »Jetzt müssen Sie mir nur noch verraten, wie es weiterging. Sie haben Besuch von Ihrer Freundin Florence bekommen?«
»Gegen sieben Uhr. Das hatten wir am Telefon so vereinbart. Sie hat ihren Renault in die Garage gestellt, dann haben wir auf der Terrasse mit einem Glas Champagner unser Wiedersehen gefeiert.«
»Sie kennen sich schon länger?«
»Das müssen Sie nun wirklich nicht wissen«, erteilte er ihr eine Abfuhr. »Später haben wir die Pizza gegessen und Rosé getrunken. Gegen elf Uhr sind wir ins Schlafzimmer. So, ab jetzt ist wirklich Schluss mit der Berichterstattung.«
»Ich will nicht indiskret sein, aber um die Tatzeit einzugrenzen, sollte ich wissen, ab wie viel Uhr Sie definitiv nicht mehr wach waren. Vorher kann der Einbruch ja nicht erfolgt sein.«
Er schüttelte missbilligend den Kopf.
»Ich bitte Sie, schauen Sie in so einer Nacht auf die Uhr? Oder haben Sie kein Liebesleben?«
Isabelle fielen spontan gleich mehrere patzige Antworten ein. Umso schwerer fiel es ihr, sich zu beherrschen.
»Monsieur Roquefort, ich bin hier, um Ihnen zu helfen. Also sparen Sie sich bitte solche Bemerkungen und unterstützen Sie mich bei meinen Ermittlungen. Das kann ich von Ihnen erwarten.«
Er winkte beschwichtigend ab.
»Ist ja schon gut. Ich würde mal schätzen, dass die Einbrecher nicht vor zwei Uhr nachts ihr Betäubungsgas ins Schlafzimmer geblasen haben.«
»Na bitte, geht doch. Eine ganz andere Frage: Sie sagten, die Einbrecher hätten unter anderem eine wertvolle Bronzeskulptur mitgehen lassen und aus dem Safe ein Brillantarmband Ihrer Frau. Die Diebe werden versuchen, ihre Beute so schnell wie möglich zu Geld zu machen. Vielleicht kommen wir ihnen so auf die Spur? Wir kennen einige Hehler in der Region, die dafür infrage kommen. Haben Sie von der Skulptur ein Foto? Und gibt’s beim Brillantarmband ein auffälliges Merkmal?«
Er holte aus einem Bücherregal einen Bildband über Art déco der Zwanzigerjahre.
»Die Skulptur stammt von einem bekannten Künstler der Zeit und ist in diesem Buch auf einer Seite abgebildet. Ein stehender weiblicher Akt, in aufreizender Pose, etwa vierzig Zentimeter hoch, mattschwarz, mit vergoldeten Haaren. Ziemlich unverwechselbar. Bis auf eine winzige Absplitterung am Sockel ist sie in einem einwandfreien Zustand.«
Isabelle nahm ihr Handy und fotografierte die Abbildung.
»Das ist schon mal sehr gut«, stellte sie fest.
Roquefort kratzte sich hinter dem Ohr.
»Vom Brillantarmband habe ich zwar kein Foto, es lässt sich aber eindeutig identifizieren. Ich habe es meiner Frau zum zehnten Hochzeitstag geschenkt. Auf der Unterseite gibt es eine Gravur: G&B. Un amour éternel. G steht für meinen Vornamen und B für Bernadette.« Er räusperte sich. »Bitte sagen Sie jetzt nichts! Ich liebe meine Frau wirklich. Das mit Florence ist etwas ganz anderes.«
In ewiger Liebe? Isabelle hatte von solchen Beteuerungen noch nie viel gehalten. Aber in der Liebe war alles möglich. Und auch das Gegenteil davon.
»Also haben wir mit dem Brillantarmband ein zweites Objekt, nach dem wir uns umsehen können. Das ist schon mal ein Anfang. Was ist mit Ihrer Brieftasche?«
»Die Kreditkarten habe ich bereits sperren lassen.«
»Hatten Sie Ausweispapiere in der Brieftasche?«
»Ja, natürlich meinen Führerschein, meine Krankenversicherungskarte und so weiter. Wäre also nett, wenn Sie auch meine Brieftasche wiederbeschaffen könnten.«
Sie hob eine Augenbraue.
»Ich glaube, Sie verwechseln mich.«
»Mit wem?«
»Mit einem Zauberer.«
Die Hupe von Apollinaires altem 2CV klang wie eine Tröte auf einem Kindergeburtstag. Isabelle erkannte sie sofort. Das sei ihr Mitarbeiter Apollinaire Eustache, erklärte sie Roquefort und bat ihn, das Tor zu öffnen.
Dass es sich bei Apollinaire um einen Brigadier der Police nationale handeln könnte, war ihm tatsächlich nicht anzusehen. Er hatte ein viel zu weit geschnittenes gelbes Hawaiihemd mit grünen Palmen an. Seine Hose hatte eine eigenwillige Länge, für Bermudas war sie zu lang, doch über die blassen Unterschenkel reichte sie auch nicht hinaus. Wie angekündigt trug er eine Sonnenbrille. Das Modell mit dem roten Gestell kannte sie bereits.
»Das ist Ihr Assistent?«, fragte Roquefort ungläubig. »Er sieht aus wie ein bunter Papagei.«
Isabelle lächelte. Der Vergleich war neu. Andere hatten ihn mit einer Vogelscheuche verwechselt.
»Lassen Sie ihn das bloß nicht hören. In Uniform wirkt er absolut seriös. Außerdem ist er viel klüger als ein Papagei.«
Apollinaire wuchtete eine große Kühlbox aus dem Auto. In ihr hatte er offenbar sein technisches Equipment.
Im Haus angekommen, stellte er sich zunächst förmlich vor und drückte Roquefort sein Mitgefühl aus – als ob jemand gestorben wäre. Dabei handelte es sich nur um eine Betäubung mit einem Gas.
Aber auch dazu hatte Apollinaire gleich eine Anmerkung. Monsieur Roquefort befinde sich in bester Gesellschaft, erklärte er ihm. Vor einigen Jahren seien der berühmte Formel-1-Fahrer Jenson Button und seine Ehefrau in ihrem Ferienhaus bei Saint-Tropez mit einem Narkosegas außer Gefecht gesetzt worden. Der gestohlene Schmuck habe einen Wert von über vierhunderttausend Euro gehabt. In den letzten Monaten seien an der Côte d’Azur mehrere Überfälle nach diesem Muster zur Anzeige gekommen. Ein Campingbus bei La Môle, ein Ferienbungalow in Cavalaire-sur-Mer. Üblicherweise werde das Gas über die Klimaanlage eingeleitet …
»Bei Monsieur Roquefort durch die Lamellen der Fensterläden und das geöffnete Fenster im Schlafzimmer«, erklärte Isabelle.
Roquefort nickte. »Die Klimaanlage war ausgeschaltet.«
»Auch eine probate Methode«, erklärte Apollinaire. »Außerdem ist es viel gesünder, ohne Klimaanlage zu schlafen. Die Zugluft trocknet die Schleimhäute aus … Pardon, das tut hier … nun ja, nichts zur Sache. Dann werde ich mir mal als Erstes das Fenster anschauen und auf daktyloskopische Spuren untersuchen. Ist es oben im ersten Stock?«
»Ja.«
»Sehr vernünftig. Schlafzimmer im Parterre sind per se ein Sicherheitsrisiko.«
Isabelle schmunzelte.
»Nun machen Sie sich schon an die Arbeit. Ich zeige Ihnen, wo es langgeht. In den Lamellen des Fensterladens steckt übrigens ein Stück Schlauch.«
»Aha, ein Corpus Delicti. Der Fall wird immer interessanter.«
Apollinaire war seine Begeisterung anzusehen. Er gefiel sich in seiner ungewohnten Rolle. Schon holte er Latexhandschuhe aus seiner Kühlbox.
Roquefort kontrollierte auf seinem Handy immer wieder nervös die Uhrzeit. Eine Armbanduhr hatte er ja nicht mehr. Er wartete auf das Taxi, das ihn zum Bahnhof in St. Raphaël-Valescure bringen sollte.
Das war der Vorteil eines Motorrads, dachte Isabelle lächelnd. Die Harley war für Chauffeurdienste ungeeignet. Apollinaires 2CV kam für den Staatssekretär als Transportmittel ebenso wenig infrage.
»Merde, ich verpasse noch meinen Zug«, schimpfte Roquefort. »In Paris erwartet mich meine Frau am Gare de Lyon.«
Er hatte sich mittlerweile standesgemäß angezogen. Anzug, weißes Hemd, Krawatte. Auch sein Aktenkoffer stand schon bereit. Er war vermutlich geringfügig leichter als bei seiner Anreise. Es fehlte die Mappe mit dem geheimen Dossier.
»Wie kommt es eigentlich, dass Ihnen die Diebe Ihr Handy gelassen haben?«, fragte Isabelle.
»Nicht nur mir, sondern auch Florence. Wir hatten unsere Handys mit nach oben genommen. Das Schlafzimmer haben die Schweine offenbar nicht betreten.«
Die Erklärung war schlüssig, dachte Isabelle. Apollinaire würde missbilligend die Stirn runzeln, fiel ihr ein. Nach seiner Überzeugung hatten Handys im Schlafzimmer nichts zu suchen. Er war davon überzeugt, dass die Strahlung von Handys einen gesunden Schlaf erschwere. Nun ja, bei Roquefort und Florence hatte sich dieses Problem nicht gestellt. Zunächst hatten sie Besseres zu tun gehabt, als zu schlafen. Und dann hatte sie das Betäubungsgas mit oder ohne Strahlung ins Reich der Träume geschickt.
»Womit wollen Sie ohne Ihre Brieftasche das Bahnticket bezahlen?«, fragte sie, »und das Taxi?«
»Kontaktlos mit der Kreditkarte auf meinem Smartphone.« Er klopfte sich auf die Brusttasche seines Sakkos. »Und für den TGV habe ich eine Jahreskarte, die steckt noch in meinem Jackett.«
Sie überlegte, dass vorläufig alles geklärt war. Ihr fielen keine weiteren Fragen ein.