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Mord à la Provençale - Band 1 der Bestseller Provence-Krimis von Pierre Martin Eine Kleinstadt im Hinterland der Côte d'Azur in Südfrankreich: verschrobene Einwohner, Lavendelduft, die gute französische Küche, ein ungelöstes Familiengeheimnis, eine Frauenleiche, ein verschwundener Engländer und dazu eine Geheimagentin auf Urlaub – das sind die Zutaten für den ersten spannenden Fall der erfolgreichen Provence-Krimi-Reihe "Madame le Commissaire" von Bestseller-Autor Pierre Martin. Isabelle Bonnet, Leiterin einer geheimen Spezialeinheit in Paris, wäre bei einem Sprengstoffattentat fast ums Leben gekommen. Für ihren Erholungs-Urlaub reist sie in ihren Geburtsort Fragolin in der Provence. Doch mit der Ruhe ist es schnell vorbei, denn erst verschwindet ein reicher Engländer aus seiner Villa und dann wird am Strand von Saint-Tropez eine Frauenleiche gefunden. Isabelle Bonnet lässt sich überreden, den Fall (degradiert zur Kommissarin und ausgestattet mit falschem Lebenslauf) zu übernehmen – was bei den Kollegen vor Ort nicht gerade Begeisterung auslöst, denn in der Provence-Provinz herrschen noch eine ganze Menge Vorurteile. Doch mit dem dümmlich wirkenden Polizei-Archivar wird ihr ein unerwartet findiger Assistent zur Seite gestellt. Was wollte der mysteriöse Engländer in der Provence? Und auch die Rätsel aus Isabelles eigener Vergangenheit, der Unfalltod ihrer Eltern, müssen dringend gelöst werden... Südfrankreich-Flair gewürzt mit viel Spannung Der Provence-Krimi um die charmante französische Ermittlerin spielt in einer der schönsten Urlaubs-Gegenden der Provence. Pierre Martin erzeugt nicht nur Spannung bis zum Schluss, sondern auch eine dichte Atmosphäre von Land und Leute der Provence. Eine perfekte Lektüre für den (Provence-)Urlaub und auch ein unterhaltsamer Reiseführer über das südfranzösische Massif des Maures. Entdecken Sie weitere Fälle der Madame le Commissaire-Bestseller-Krimi-Reihe: - Madame le Commissaire und die späte Rache (Band 2) - Madame le Commissaire und der Tod des Polizeichefs (Band 3) - Madame le Commissaire und das geheimnisvolle Bild (Band 4) - ... - Madame le Commissaire und das geheime Dossier (Band 11) Noch mehr Cozy Crime von Bestseller-Autor Pierre Martin: - Monsieur le Comte und die Kunst des Tötens - Monsieur le Comte und die Kunst der Täuschung
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Seitenzahl: 460
Pierre Martin
Madame le Commissaire und der verschwundene Engländer
Roman
Knaur e-books
Die erfolgreiche Kommissarin Isabelle Bonnet muss nach einer gescheiterten Ehe und einer Explosion, die sie fast das Leben kostete, neu anfangen. Sie bewirbt sich auf die frei gewordene Kommissarsstelle in ihrem Geburtstort Fragolin im Hinterland der Côte d’Azur, um endlich wieder Ruhe zu finden. Doch mit der Ruhe ist es sehr schnell vorbei, denn erst verschwindet ein reicher Engländer spurlos aus seiner Villa, und dann wird am Strand von Saint-Tropez eine Frauenleiche gefunden.Ihr glänzender Ruf als Ermittlerin scheint ihr inmitten der skurrilen Typen, die Fragolin bevölkern, und angesichts jeder Menge Vorurteile nichts zu nützen.
Warum Madame le Commissaire? Und nicht Madame la Commissaire?Das erste Buch dieser Reihe ist bereits 2014 erschienen. Damals waren im Französischen noch Berufsbezeichnungen wie Madame le Président oder Madame le Ministre gebräuchlich. Entsprechend auch Madame le Commissaire. Im Zuge der Genderdebatte wandelt sich auch in Frankreich die zuvor stark männlich geprägte Sprache. Weshalb es heute wohl Madame la Commissaire heißen würde. Der Titel der Reihe ist also seiner Zeit geschuldet. Im übrigen hat sich unsere Protagonistin schon vor Jahren in einem Dialog mit Apollinaire zu diesem Thema geäußert (im Buch: »Madame le Commissaire und der tote Liebhaber«). Dabei hat sie klargestellt, dass sie sich nicht diskriminiert fühlt. Was natürlich Ansichtssache ist. Aber es passt zu ihrer Persönlichkeit.
Sie schloss die Augen – und merkte Sekunden später, dass das ein Fehler war. Ihr Atem beschleunigte sich, sie fühlte plötzlich ihr Herz schlagen, hinter ihren Schläfen begann es zu pochen … Sie glaubte schnelle Schritte zu hören, sie sah regennasse Pflastersteine, einen schwarzen Citroën, den Schatten des Arc de Triomphe, sie vernahm in der Ferne Polizeisirenen … Dann gab es hinter ihren Augenlidern eine grellweiße Explosion, Schockwellen liefen durch ihren Kopf – im nächsten Moment war alles vorbei. Jetzt war alles schwarz und still, totenstill. Ihr Atem beruhigte sich. Mit kreisförmigen Bewegungen massierte sie sich die Schläfen. Dann machte sie ihre Augen wieder auf …
Isabelle Bonnet saß am Rand einer nur wenig befahrenen Landstraße auf einem großen, glatten Stein. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und versuchte auf andere Gedanken zu kommen. Roch es wirklich nach Lavendel, oder bildete sie sich das nur ein? Das Sirren der Zikaden jedenfalls war echt. Ihr Blick schweifte über die weite Landschaft, über die Hügel, die sich irgendwo im flimmernden Licht verloren. In der Ferne ahnte sie das azurblaue Meer. Sie dachte an ein Aquarell von Paul Cézanne, der es wie kaum ein anderer verstanden hatte, die unvergleichlichen Farben der provenzalischen Landschaft einzufangen. Vor allem diese betörenden Ockertöne, das Blau der blühenden Lavendelfelder und diesen merkwürdigen silbrigen Schleier, der über allem lag. In ihrer Pariser Wohnung hatte sie einen Druck dieses Aquarells über ihrem Sofa hängen. Es weckte Kindheitserinnerungen, die fast verschüttet waren, die sie aber am Leben erhalten wollte.
Und jetzt saß sie hier, nicht vor einem Bild von Cézanne, sondern in der realen Welt, im Schatten einer Korkeiche, auf einem Stein, der ihr so vertraut war, als ob sie hier schon als kleines Mädchen gesessen hätte, mit verschränkten Armen über den hochgezogenen Beinen, mit bloßen Füßen und mit blonden Zöpfen. Wie lange war das her? Eine Ewigkeit – und noch einige Jahre mehr.
Isabelle Bonnet fuhr sich mit den Händen durch das Haar. Es war nicht mehr blond, aber grau war es auch noch nicht. Mit einer schnellen Bewegung strich sie eine große Locke über ihre linke Gesichtshälfte. Das war ihr zur Gewohnheit geworden, auch wenn sie wie jetzt alleine war. Die Haare verdeckten eine Narbe, die von der Stirn am Auge vorbei zum Wangenknochen führte.
Sie sah hinüber zu einer bewaldeten Hügelkette, wo sie die Ruinen eines Klosters erahnte. Dort war sie als Kind gewesen, mit ihrem Vater, der ihr von der langen Geschichte der Chartreuse erzählt hatte, von zurückgezogen lebenden Mönchen, die für die Menschheit beteten, vom heiligen Bruno, von Brandschatzungen, Plünderungen und vom Zerfall. Sie nahm sich vor, dem Kloster in den nächsten Tagen einen Besuch abzustatten, nicht mit dem Auto, sondern zu Fuß auf einem Pfad, der durch den Wald führte. Wie damals, mit ihrem Vater, als er noch lebte und die Welt noch in Ordnung war.
Isabelle Bonnet dachte, dass sie alles in Ruhe angehen sollte, schließlich hatte sie Zeit, so viel Zeit wie noch nie in ihrem Leben. Sie würde ans Meer fahren und den kleinen Strand mit den Pinien suchen, wo sie das Schwimmen gelernt hatte. Sie wollte mit der Fähre auf die Insel Porquerolles übersetzen, sich dort ein Fahrrad mieten und zur Plage Notre-Dame fahren. Dort hatte sie mit ihren Eltern mal Picknick gemacht und im Wasser den Handstand geübt. Ihr fiel ein, dass Georges Simenon einige Jahre seines Lebens auf Porquerolles verbracht hatte und dort sogar seinen Kommissar Maigret hatte ermitteln lassen. Von Simenon stammte das Zitat, dass die Insel die »irdische Abteilung des Paradieses« sei. Sie atmete tief durch. Sie glaubte nicht ans Paradies, nicht im Jenseits und erst recht nicht im Diesseits, schon eher glaubte sie an die Hölle.
Sie gab sich einen Ruck, stand auf und lief zu ihrem Auto. Die ersten Schritte taten weh, und das linke Bein machte nicht so ganz, was es sollte, aber dann ging es besser. Beim Einsteigen schmerzte der Rücken. Dennoch war sie nicht unzufrieden. Sie hatte sich schon wesentlich schlechter gefühlt, es ging voran. Und einen Vorteil hatte es, wenn aus allen möglichen und unmöglichen Körperregionen Schmerzsignale eintrafen. Jetzt musste sie sogar lächeln. So wusste man wenigstens, dass noch alles vorhanden war. Nun gut, es gab so etwas wie einen Phantomschmerz, aber daran wollte sie nicht denken.
Sie startete den Motor und nahm die letzten Kilometer in Angriff. Bald würde sie am Ziel ihrer Reise angelangt sein, in Fragolin, jenem kleinen Ort im südfranzösischen Département Var, wo sie ihre Kindheit verbracht hatte und seitdem nie mehr gewesen war – nur in ihren Erinnerungen.
Die Menschen in Fragolin waren stolz darauf, im arrière-pays zu leben, im Hinterland der Côte d’Azur, im Massif des Maures, inmitten von Korkeichenwäldern und Kastanienbäumen. Zwar war es nicht weit zur Küste, und doch war man vom Trubel rund um Saint-Tropez, Cavalaire oder Le Lavandou Lichtjahre entfernt. Unter den älteren Einwohnern gab es welche, die waren nur ein- oder zweimal im Leben am Meer gewesen. Le vieux Georges, der kaum mehr Zähne im Mund hatte, aber schon am Vormittag seinen ersten Pastis trank und gerne Geschichten erzählte, behauptete gar, das Meer nur als blauen Streifen von der Ferne zu kennen. Dazu pflegte er verächtlich auf den Boden zu spucken. Nur größenwahnsinnige Idioten würden sich dort unten herumtreiben, man bekomme ansteckende Krankheiten und Ohrensausen. Das sei eine allgemein bekannte Tatsache. Man sollte ein Gesetz verabschieden, das den Besuch der Küstenorte für Gesundgebliebene unter Strafe stellte. Gleichzeitig sollte Fragolin für Touristen gesperrt werden. Diese würden mit ihren Autos die Luft verpesten und ohne Sinn und Verstand kreuz und quer durch die Gassen laufen. Üblicherweise bestellte Georges spätestens jetzt einen zweiten Pastis. Dann zündete er sich eine filterlose Gitanes an, musste husten und begann vom Krieg zu erzählen.
Natürlich ging in Fragolin keiner so weit wie der alte Georges. Man hatte prinzipiell nichts dagegen, dass Gäste vom Meer heraufkamen, um hier ihr Geld auszugeben. So lebte Clodine mit ihrem Laden Aux saveurs de Provence ausschließlich von Touristen. Kein Einheimischer käme je auf die Idee, bei ihr eine Seife zu kaufen. Nicht einmal die herzförmigen coeurs mit dem Duft nach Lavendel und Zitronen. Das Hotel Auberge des Maures war gefragt bei Gästen, die die Natur liebten und in der Umgebung ausgedehnte Wanderungen unternahmen. Es gab das Restaurant La Terrasse Provençale, das sogar vom Guide Michelin empfohlen wurde. Es gab das Korkgeschäft, vor dem Alain, in einem alten Lehnstuhl sitzend, auf Touristen wartete, die sich für die von ihm geschnitzten Schalen interessierten. Es hatten sich auch Fremde in Fragolin niedergelassen, einige Künstler, ein Aussteigerehepaar aus Schweden, eine Handvoll Engländer, Zweitwohnsitzler aus Paris, die nur selten da waren. Aber beim nachmittäglichen Pétanque vor dem Hôtel de ville, dem Rathaus, war man unter sich. Es galt die unausgesprochene Regel, dass sich am Boulespiel nur beteiligen durfte, wer im Ort gebürtig war. Fragolin war zwar mit der Zeit gegangen, aber einige Uhren schienen im Ort langsamer zu gehen, manche waren sogar stehengeblieben – irgendwann, vor vielen Jahren. Fragolin hatte sich viel von seinem ursprünglichen Charakter bewahrt. Vielleicht deshalb, weil die beiden Straßen, die zum Ort führten, ebenso schmal wie kurvig waren. Fragolin lag für Touristen nicht so nah wie etwa Ramatuelle, Grimaud oder La Garde-Freinet. Der alte Georges bekreuzigte sich. »Dieu m’en garde!« Gott bewahre!
Isabelle Bonnet näherte sich Fragolin auf einer Straße, die auf beiden Seiten von Platanen gesäumt wurde. Sie überquerte einen Bach, blieb auf der kleinen Brücke kurz stehen. Sie versuchte sich an das Bild mit der alten Mühle zu erinnern – vergeblich. Sie bog rechts ab, kam am Korkgeschäft von Alain vorbei, das es zu ihrer Kindheit ganz gewiss noch nicht gegeben hatte, und entdeckte ein Schild, das auf die Auberge des Maures hinwies, wo sie ein Zimmer reserviert hatte. Dann ging es nicht weiter. Vor ihr stauten sich einige Fahrzeuge, was erstaunlich war, denn es waren kaum welche unterwegs. Schließlich entdeckte sie den Grund für die Verzögerung, und zwar in Form einer Uniform der örtlichen Gendarmerie. Der gute Mann hatte die Straße gesperrt und kontrollierte die Papiere. Isabelle lächelte. Dem war wohl langweilig. Auch eine Form, sich zu amüsieren. Was aber ein einseitiges Vergnügen war. Sie spielte mit dem Gedanken, über den Bürgersteig an den Autos vorbeizufahren, dem Gendarmen einen ihrer Ausweise unter die Nase zu halten, am besten gleich jenen vom Élysée-Palast, der vom Präsidenten der französischen Republik unterschrieben war und ihr alle Vorrechte einräumte, doch sie besann sich eines Besseren. Warum sollte sie das tun? Sie hatte Zeit und den festen Vorsatz, sich zu erholen. Also wartete sie geduldig, bis sie an der Reihe war. Der Gendarm salutierte und fragte nach ihrer carte d’identité und dem Führerschein. Er war ungefähr in ihrem Alter. Isabelle überlegte, dass die theoretische Möglichkeit bestand, dass sie als kleine Kinder zusammen gespielt hatten.
»Sind Sie von der Presse?«, fragte der Gendarm mit unerwartet scharfer Stimme.
Isabelle zog fragend die rechte Augenbraue nach oben. »Von der Presse? Sehe ich so aus? Und warum spielt das eine Rolle?«
Der Gendarm sah sie konzentriert an. »Beantworten Sie meine Frage! Sind Sie von der Presse?«
»Nein, bin ich nicht«, sagte sie. »Ich bin zur Erholung hier und habe da vorn im Hotel ein Zimmer reserviert.«
»Zur Erholung, soso. Ich werde Sie im Auge behalten!«
»Könnten Sie mir erklären, warum? Ist etwas vorgefallen?«
»Kein Kommentar. Aber wenn Sie doch von der Presse sind, bekommen Sie Ärger, und zwar mit mir persönlich.« Er winkte ihr, weiterzufahren. »Bonne journée!«
Isabelle dachte, dass sie sich den Empfang in ihrem Geburtsort herzlicher vorgestellt hatte. Wenig später fuhr sie auf den gekiesten Parkplatz des Hotels.
An der verwaisten Rezeption betätigte sie die Glocke auf dem Tresen. Es dauerte eine Weile, dann schlurfte eine dicke Concierge heran. Immerhin lächelte sie freundlich und schaute nicht so finster wie der Gendarm. Während Isabelle das Gästeformular ausfüllte, als Beruf »Beamtin« angab und als Grund des Aufenthalts »Ferien«, erzählte die Concierge von den guten Wetteraussichten, dass es Frühstück von acht bis zehn Uhr gebe, Rauchen auf dem Zimmer verboten sei – und dass ihr die Knie weh täten, wegen der vielen Arbeit. Weil außerdem der Dienstbote heute freihabe, müsse die Dame ihr Gepäck bitte selber aufs Zimmer bringen.
Isabelle sagte, dass das kein Problem sei, sie habe nicht viel dabei. Dann fragte sie, ob es einen Grund für die Polizeikontrolle gebe, in die sie gerade geraten sei. Ob denn etwas passiert sei?
Die Concierge deutete auf die Titelseite vom Var-Matin, der regionalen Tageszeitung, die auf dem Tresen lag. »Das hier ist der Grund. Jetzt spielen sie alle verrückt. Dabei kann es uns doch egal sein. Die beiden waren doch nicht von uns.«
Isabelle las die Überschrift: »Fragolin: Keine heiße Spur im Mordfall!« Darunter: »Verschwundener Engländer ist dringend der Tat verdächtig. Wer ist die tote Frau?« Sie fragte, ob sie die Zeitung mitnehmen dürfe.
Die Concierge nickte. »Das waren keine von uns«, wiederholte sie. »Warum also diese ganze Aufregung? Sollen sie sich doch gegenseitig umbringen, diese étrangers. Wen interessiert das? Schadet nur dem Geschäft …«
Isabelle schmunzelte. Sie klemmte sich die Zeitung unter den Arm, nahm die Reisetasche und machte sich auf den Weg zu ihrem Zimmer. Dort schmiss sie alles aufs Bett, öffnete die blauen Fensterläden und sah hinaus auf den kleinen Platz mit der Kirche. Jetzt war sie also angekommen – in ihrer Vergangenheit, an die sie sich kaum mehr erinnern konnte. In Fragolin wollte sie wieder zu sich selbst finden, wollte sie an Leib und Seele genesen und herausfinden, wie es im Leben weitergehen sollte.
Nachdem sie sich frisch gemacht hatte, nahm Isabelle zwei Schmerztabletten, dann brach sie zu einem kleinen Spaziergang auf. Als Erstes ging sie hinüber zur Kirche und dem dahinter gelegenen kleinen Friedhof. Dort dauerte es eine Weile, bis sie den Grabstein gefunden hatte. Es war ein seltsames Gefühl, ihren eigenen Nachnamen darauf zu lesen: »Bonnet«. Und darunter die Vornamen ihrer Eltern. Das Sterbedatum war identisch. Ihre Eltern waren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Isabelle faltete die Hände. Damals war sie noch das kleine Mädchen mit den Zöpfen gewesen. Sie hatte auf dem Rücksitz gesessen und wie durch ein Wunder überlebt. Kinder haben oft einen Schutzengel, ihre Eltern hatten keinen. Sie sah auf das Grab. Wer kümmerte sich eigentlich um die Pflege? Warum hatte sie keine Blumen mitgebracht? Mon papa, maman … das nächste Mal, ich komme wieder, jeden Tag, solange ich hier bin.
Sie verabschiedete sich mit einem hingehauchten Kuss, in der Kirche zündete sie zwei Kerzen an, dann machte sie sich auf den Weg durch die verwinkelten Gassen. Amüsiert blieb sie vor einem kleinen Holzmast mit einer Unmenge von Richtungspfeilen stehen: Centre Village, Vieux Village, Église, Bibliothèque, Boulangerie-Pâtisserie, Boucherie, Écoles … Dabei war doch alles nur wenige Schritte voneinander entfernt. Am besten gefiel ihr das Schild mit dem Hinweis: Toutes Directions. Der Pfeil deutete nach oben, direkt in den Himmel. Sie ging an zwei Häusern vorbei, die so dicht mit Laub bewachsen waren, dass man die Fenster kaum öffnen konnte. Eine Gedenktafel neben einem Brunnen erinnerte an die »Résistance et Brigade des Maures« und an Widerstandskämpfer, die im Mai 1944 von den Nazis erschossen wurden. Auf einer Schiefertafel vor einem kleinen Bistro mit dem Namen Chez Jacques wurden als plat du jour, als Tagesempfehlung, couscous de poissons angeboten. Schließlich stand sie vor einem hübschen Laden mit hellblauer Holzvertäfelung. Aux saveurs de Provence stand in geschnörkelten goldenen Lettern über dem Eingang. Davor einige Körbe mit verschiedenen Seifen und schwarzen Täfelchen. Besonders gut gefielen ihr die herzförmigen cœurs in Pastellfarben: verveine, vigne rouge ou lavande broyée. Als sie aus Neugier durch die Scheibe in den Laden schauen wollte, blickte sie zufällig auf den Aufkleber mit den Öffnungszeiten und dem Namen der Besitzerin: Clodine Cassien. Isabelle spürte, wie ihr Herz plötzlich heftiger zu schlagen begann. Clodine Cassien? Sie konnte sich kaum mehr an Namen aus ihrer Kindheit erinnern, aber an diesen schon. Clodine war als kleines Mädchen ihre beste Freundin gewesen. Mit ihr hatte sie noch über Jahre Briefe gewechselt und sich Postkarten geschickt, bis es dann irgendwann eingeschlafen war. Clodine Cassien. Warum hatte sie noch ihren Mädchennamen? Dumme Frage, sie selbst trug ihn ja auch noch – weil ihr die Karriere immer so wichtig gewesen war, dass sie ganz vergessen hatte zu heiraten. Aber das war ein anderes Thema, darüber wollte sie nicht nachdenken. Kurzentschlossen betrat sie den Laden, der randvoll war mit provenzalischen Köstlichkeiten und Souvenirs und in dem es duftete wie diese Stoffsäckchen, gefüllt mit Lavendel, Thymian und Rosmarin. Eine dunkelhaarige Frau, die in ihrem Alter sein mochte, sortierte gerade Flaschen mit Olivenöl ins Regal.
»Clodine?«, fragte Isabelle vorsichtig. »Bist es du?«
Die Frau drehte sich um und sah sie fragend an.
»Ich bin’s, Isabelle, Isabelle Bonnet. Du erinnerst dich? Es ist lange her …«
Sekunden später hielten sie sich in den Armen. Isabelle, die sich für einen harten Knochen hielt und Sentimentalitäten verabscheute, musste feststellen, dass sie Tränen in den Augen hatte. Da Clodine in wenigen Minuten ihren Laden zur Mittagspause schließen wollte, verabredeten sie sich in dem kleinen Bistro, wo es als Tagesgericht Couscous gab.
Isabelle ging schon voraus, fand einen freien Tisch und setzte sich. Jetzt hatte sie die Vergangenheit also wirklich eingeholt! Sie war aufgeregt und fühlte sich im Glück. Auf dem Nachbartisch lag die gleiche Ausgabe der Tageszeitung Var-Matin, die bei ihr in der Auberge auf dem Bett lag. Jene mit dem Mordfall auf der Titelseite, mit dem verschwundenen Engländer und der unbekannten toten Frau. Obwohl ihre Gedanken eigentlich bei Clodine und ihrer Kindheit waren, griff sie wie von selbst zur Zeitung und überflog den Artikel. Die Fakten waren eher dürftig: Vor zwei Tagen hatte eine Haushaltshilfe in einer Villa am Ortsrand von Fragolin eine tote junge Frau entdeckt, halbnackt, von mehreren Kugeln niedergestreckt – eine hatte ihr Gesicht zerfetzt. Das Anwesen gehörte einem alleinstehenden Engländer, der noch nicht lange hier wohnte und von dem man wenig wusste. Der Mann war verschwunden. Die Gendarmerie fahndete nach ihm. Sie hielt ihn für dringend verdächtig, die junge Frau, die vermutlich seine Geliebte war, erschossen zu haben. Man hatte von ihr keine Ausweispapiere gefunden, nur eine Handtasche mit Schlüssel, Lippenstift und Kondomen. Das Gesicht war so verunstaltet, dass man sich kein Bild von ihrem Aussehen machen konnte. Isabelle faltete die Zeitung zusammen und legte sie zurück. Der Fall ließ sie kalt, sie hatte schon weit Schlimmeres erlebt, im Vergleich dazu war das eine Art Kindergeburtstag. Aber sie musste zugeben, dass sie überrascht war. Im beschaulichen Fragolin hatte sie so etwas nicht erwartet. Doch warum sollte es hier keine Verbrechen geben? Die gab es überall, wo Menschen lebten. Wenn das jemand wusste, dann sie.
Die Zeit mit Clodine verging wie im Fluge. Sie stießen mit zwei Gläsern Rosé auf ihr Wiedersehen an. Isabelle erfuhr, dass Clodine keine Kinder hatte, geschieden war und ihren Mädchennamen wieder angenommen hatte, dass sie die Abfindung von ihrem Mann in den kleinen Laden investiert hatte, einen Traum, den sie schon lange gehegt hatte. Das Geschäft laufe nicht besonders gut, berichtete sie, Fragolin liege eben weit ab vom Schuss, aber zur Saison, da kämen doch ausreichend Touristen. Mit dem Umsatz schaffe sie es so gerade über die schlechten Monate. Sie erzählte von ihrem Bruder Pascal, dem im Ort die Metzgerei gehörte. Isabelle erinnerte sich an das Schild mit dem Hinweis auf die Boucherie. Pascal sei glücklich verheiratet und im Dorf sehr beliebt.
Ihr Gespräch wurde unterbrochen, weil ein großgewachsener Mann mit grauen Schläfen an ihren Tisch trat, um Clodine zu begrüßen. Er gab ihr drei Wangenküsse, gab Isabelle die Hand, machte einen Scherz im provenzalischen Dialekt, den Isabelle nicht verstand, aber dennoch stimmte sie in Clodines Lachen ein. Dann eilte er davon.
»Thierry«, sagte Clodine, »unser Bürgermeister und Notar. Ich kenne ihn schon lange, er ist wie ich geschieden. Er ist total nett, aber leider will er nichts von mir wissen.«
Nun war Isabelle an der Reihe, von sich zu erzählen. Das tat sie nicht gern. Wenn es persönlich wurde, war sie normalerweise verschlossen wie eine Auster. Aber bei Clodine konnte sie sich nicht drücken. Dass sie nach dem Tod ihrer Eltern zu ihrer Großmutter nach Lyon gekommen war, daran konnte sich ihre Freundin erinnern, damals hatten sie noch ihre Brieffreundschaft gepflegt. Nach der Schule sei sie nach Paris gezogen, habe dort studiert und sei schließlich in den Staatsdienst eingetreten. Nein, sie habe nie geheiratet, auch keine Kinder, habe einige Liebschaften gehabt, sei aber aktuell wieder mal solo. Doch das sei für sie kein Problem, ganz im Gegenteil, sie sei gerne allein, habe keine Lust, sich nach einem Mann zu richten. Außerdem habe sie immer viel zu tun gehabt. Auf Clodines Frage nach ihrem Wohlbefinden sagte sie, dass es ihr gutgehe. »Pas de problème, tout va bien!«
»Du konntest schon als kleines Mädchen nicht gut lügen«, sagte Clodine. »Dir geht es überhaupt nicht gut, das sehe ich sofort.«
»Doch, doch, alles in Ordnung.«
»Was ist mit deinem Bein? Ich hab schon im Laden gemerkt, dass du beim Gehen Beschwerden hast. Die Narbe an deiner Schläfe lässt sich nicht verstecken, die sieht ziemlich frisch aus. Und beim Anstoßen hat deine Hand gezittert. Hattest du einen Unfall? Mir kannst du es doch erzählen.«
Isabelle zögerte. »Ja, einen kleinen Unfall«, gab sie zu, »vor siebenundneunzig Tagen und sechs Stunden. Aber jetzt bin ich wieder fit.« Sie lächelte leise. »Na ja, jedenfalls fast.«
Clodine nahm ihre Hand. »Was ist passiert?«
»Ich will nicht darüber reden.«
»Davon wird es auch nicht besser.«
Isabelle leerte das Glas mit dem Rosé und gab dem Ober ein Zeichen, ihr ein zweites zu bringen. »Ich muss ja heute nicht arbeiten«, sagte sie entschuldigend, »und auch nicht mehr Auto fahren.«
»Also, was ist passiert?«
»Es hatte was … hatte was mit meiner … mit meiner Arbeit zu tun …«, stotterte Isabelle.
»Na komm, jetzt sag schon. Was genau machst du eigentlich im Staatsdienst?«
Isabelle sah sich um und vergewisserte sich, dass ihnen niemand zuhörte. »Vor siebenundneunzig Tagen und sechs Stunden ist in Paris eine Bombe hochgegangen, in der Nähe des Arc de Triomphe …« Sie sprach nicht weiter.
Clodine blickte sie mit erschrockenen Augen an. »Du meinst das Attentat auf den Präsidenten, die vielen Toten … Du warst dabei?«
Isabelle schluckte. »Ja, ich war dabei.« Wieder versuchte sie sich ein Lächeln abzuringen. Sie deutete auf ihre Narbe. »Wie es scheint, war ich etwas zu dicht dran.«
Clodine rückte ihren Stuhl näher zu ihrer Freundin und umarmte sie. »Was für ein Glück, dass du noch lebst.«
Isabelle strich sich ihre Locke über die Schläfe. »Langsam glaube ich auch, dass ich froh sein muss, noch leben zu dürfen. Am Anfang ging es mir so beschissen, da wollte ich nur sterben.«
»Ich versteh das nicht«, sagte Clodine nach einer Pause. »Da hat es doch Sondereinsatzkommandos gegeben, es ist doch alles abgeriegelt worden, man hat den Präsidenten in Sicherheit gebracht. Ich dachte, da sind keine Zivilisten verletzt oder getötet worden. Nur Mitglieder einer geheimen Antiterroreinheit …«
Isabelle nickte. »Ja, das stimmt.«
»Aber warum dann du?«, fragte Clodine.
Isabelle nahm einen Schluck vom Rosé. »Warum ich? Weil ich der Chef der Antiterroreinheit war, deshalb!«
Clodine sah sie fassungslos an. »Du warst das? Du hast dem Präsidenten das Leben gerettet?«
»Vielleicht habe ich das, aber ich habe viele meiner Jungs verloren. Ich hab’s verbockt.«
»Du bist eine Heldin!«
»Nein, ich habe es vermasselt. Die erste Frau in diesem Job hat versagt.«
»Quatsch. Du hättest dafür einen Orden verdient.«
»Grand-croix de la Légion d’Honneur«, flüsterte Isabelle.
»Das Großkreuz der Ehrenlegion? Das wär was, so einen Orden hättest du verdient.«
»Das dachte der Präsident auch«, sagte Isabelle. »Er hat mir den Orden letzte Woche verliehen.«
»Wahnsinn!«
Isabelle sah verstört nach oben. Sie fuhr sich mit zitternden Händen übers Gesicht. »Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Ich hätte dir das nie erzählen sollen. Die Tabletten, der Rosé …«
»Ist schon gut, keine Angst, ich sag es nicht weiter. Ich bin verschwiegen.«
Isabelle kniff die Augen zusammen. »Verschwiegen? Bist du das? Ich kenn dich doch überhaupt nicht, zwischen damals und heute liegt ein Leben.«
»Verschwiegen wie ein Grab«, beteuerte Clodine.
Isabelles Spannung löste sich. »Ich hoffe es für dich«, sagte sie mit einem Lächeln, »sonst muss ich dich nämlich erschießen!«
Eine Stunde später befand sich Isabelle auf dem Weg zurück zum Hotel. Sie hatte Clodine noch erzählt, dass sie das Angebot des Innenministeriums abgelehnt hatte, bei vollen Bezügen in den Vorruhestand zu gehen. Dafür fühle sie sich wirklich noch viel zu jung. Mitte vierzig sei kein Alter, um sich auf die faule Haut zu legen. Außerdem entspreche das nicht ihrem Naturell. Aber sie traue sich noch nicht zu, wieder zu arbeiten. Andererseits habe sie von den Reha-Kliniken und dem Gequatsche von einer posttraumatischen Störung die Nase voll. Deshalb habe sie sich ein zeitlich unbestimmtes congé sabbatique genommen, eine Auszeit, um sich zu regenerieren. Dann sehe sie weiter. Ihr Vorgesetzter, zu dem sie einen freundschaftlichen Kontakt pflege, wisse, dass sie nach Fragolin gefahren sei, um alte Kindheitserinnerungen aufzufrischen und sich in der milden provenzalischen Luft zu erholen. Er habe das für eine gute Idee gehalten, aber gemeint, dass ihr dort vor Langeweile bald die Decke auf den Kopf falle.
Das Gehen auf dem alten Kopfsteinpflaster tat ihr weh, aber sie biss die Zähne zusammen und versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Sie kam am Platz vor dem Hôtel de ville vorbei, wo einige Männer Boule spielten. Sie blieb kurz stehen und schaute zu. Dann entdeckte sie eine große Tafel mit einer Übersichtskarte von Fragolin. Man wollte es den Touristen so einfach wie möglich machen, deshalb auch die vielen Richtungstafeln im Ort. Ob Thierry dafür verantwortlich war, der charmante Bürgermeister, den sie im Bistro kennengelernt hatte? Der Mann hatte ihr gefallen, aber wenn sie momentan etwas nicht brauchte, dann war das ein Mann. Sie dachte nicht weiter über ihr Single-Dasein nach. Stattdessen suchte sie auf der Karte nach der Straße mit der Villa des Engländers. Im Zeitungsartikel war sie in Klammern genannt worden. Sie hatte sich die Adresse gemerkt. Als sie die Straße gefunden hatte, dachte sie, dass das ein netter Spaziergang wäre. Vielleicht hatte man von dort einen schönen Blick über das Land? Sie grinste. Nun, das war eine faule Ausrede, das wusste sie selber. Aber nach den langen Jahren bei der Police Nationale war sie irgendwie darauf programmiert, Orte des Verbrechens aufzusuchen. Auch wenn sie gottlob nichts damit zu tun hatte, wie in diesem Fall.
Der Weg war steiler als gedacht, doch mit jedem Schritt wurden die Schmerzen im Bein weniger, die Bewegung tat offenbar gut. Dafür pochte es jetzt hinter ihrer Schläfe, aber sie hatte gelernt, solche Nebensächlichkeiten zu ignorieren. Schließlich war sie vor dem Haus angelangt. Es war leicht zu erkennen, denn es war ein rot-weißes Plastikband vor das Eingangstor geklebt: »Gendarmerie Nationale: Accès interdit!« Zutritt verboten. Sie hatte nicht die Absicht, sich darüber hinwegzusetzen. Eigentlich wusste sie nicht so recht, warum sie überhaupt hier war. Eine schöne Villa, eine tote Frau und ein verschwundener Engländer. Höchstwahrscheinlich eine Beziehungstat, so einfach war das. Der Mann war längst über alle Berge, den würde man in dieser Gegend nicht mehr finden. Eigentlich gab es für die örtliche Gendarmerie nicht mehr viel zu tun. Nun ja, die Identität der Toten wäre von Interesse, aber bald schon würde keiner mehr danach fragen. Die Zeiten waren schnelllebig, die Medien hatten einen kurzen Atem … Sie atmete tief durch und ließ den Blick über das Land schweifen, dann hinunter auf die Dächer von Fragolin. Kein Zweifel, der Engländer hatte die Lage seiner Villa gut gewählt. Vielleicht träumte er gerade von seinem Haus, von den Palmen im Garten und der herrlichen Aussicht? Wenn er tatsächlich der Mörder war, würde er sich daran kaum mehr erfreuen können. Rückkehr ausgeschlossen.
»Sie sind doch von der Presse, ich habe es geahnt!« Vor ihr stand der Gendarm, den sie von der Verkehrskontrolle kannte. Sie hatte ihn nicht kommen hören. Das wäre ihr früher nicht passiert, sie war wirklich nur noch ein Schatten ihrer selbst. Jetzt sah sie auch den blauen Renault der Gendarmerie, der hinter dem Haus geparkt war.
»Wie oft muss ich Ihnen das noch sagen«, entgegnete sie, »ich bin nicht von der Presse. Ich mache hier Urlaub und gerade meinen Nachmittagsspaziergang. Hätten Sie das Tor nicht so auffällig zugeklebt, wäre ich überhaupt nicht auf die Idee gekommen, stehen zu bleiben. Wenn Sie mich bitte entschuldigen. Au revoir.« Sie drehte sich um und setzte ihren Weg fort. Der Gendarm eilte ihr hinterher.
»Dann sind Sie eben eine neugierige Touristin. Wenn ich etwas noch weniger leiden kann als Journalisten, dann sind das Voyeure, die die polizeiliche Ermittlungsarbeit behindern.«
»Ach so, Sie haben gerade ermittelt. Darf ich fragen, was?«, sagte sie schnippischer als beabsichtigt.
Er hob drohend den Zeigefinger. »Nehmen Sie sich in Acht. Noch ein falsches Wort, und Sie haben eine Anzeige wegen Beamtenbeleidigung am Hals.«
Isabelle zügelte ihr Temperament. Zwar gab es zwischen ihrer Police Nationale und der militärisch organisierten Gendarmerie eine tief verwurzelte und nicht immer freundschaftliche Rivalität, aber dafür konnte der brave Mann nichts. Er machte nur seine Arbeit – auch wenn er nicht zu wissen schien, worauf es dabei ankam. Aber wer war schon in einem verschlafenen Ort wie Fragolin auf einen Mord vorbereitet?
»Könnten Sie mir bitte den kürzesten Weg zur Auberge des Maures zeigen«, sagte sie mit versöhnlicher Stimme, »dann sind Sie mich schon los.«
Der Gendarm zeigte mit der Hand vage in eine Richtung, murmelte einige unverständliche Worte und machte kehrt. Isabelle dachte, dass es definitiv eine blöde Idee gewesen war, die Villa des Engländers zu suchen. Dafür hatte es überhaupt keinen Grund gegeben. Die Gendarmerie, die offenbar die Ermittlungen in diesem Fall führte, was in ländlichen Regionen üblich war, reagierte gereizt auf neugierige Menschen. Das konnte sie gut verstehen, sie kannte das von sich selbst. Isabelle beschloss, in Zukunft einen großen Bogen um diesen Fall zu machen. Sie hatte genug Probleme mit sich selbst.
Zurück im Hotel, zog sie die Schuhe aus und ließ sich aufs Bett fallen. Auf ihrem Handy entdeckte sie eine SMS von Clodine, die sie zum Abendessen einlud. Es würde auch ihr Bruder Pascal kommen und seine Frau Jeanne. Isabelle dachte, dass sie einen anstrengenden Tag hinter sich hatte. Sie war müde – aber das fühlte sich angenehm an. Sie schloss die Augen und schlief ein.
Auf dem Tisch standen noch die Teller mit den Essensresten, Clodine zündete eine Kerze an, Pascal schenkte Wein nach, seine junge Frau Jeanne summte zu einem alten Chanson von Edith Piaf: »Non, la vie n’est pas triste et le bonheur existe …« Isabelle dachte, dass der heutige Abend ein Beweis dafür war, dass das Leben nicht immer triste sein musste. Hoffentlich hatte die große Chansonnière recht: »Tu peux tout changer …« Kann man wirklich alles ändern, irgendwie von vorne anfangen und ein neues Glück finden? Schön wär’s.
»Noch zwei Minuten, dann gibt’s Schokoladentörtchen«, verkündete Clodine. Aus der offenen Küche roch es verführerisch. »Fondant au chocolat, mit einem flüssigen Kern, einfach zum Niederknien.«
Isabelle langte sich lachend an den Bauch. »Ich kann nicht mehr.«
»Als kleines Mädchen warst du eine Naschkatze, weißt du noch?«
»Wenn du es sagst, wird es wohl stimmen. Aber ich bin kein kleines Mädchen mehr …«
»Doch, heute Abend schon.«
»Dann dürfte ich keinen Wein trinken …«
»Santé!«
Sie stießen mit den Gläsern an. Isabelle fühlte sich so wohl wie schon lange nicht mehr.
Eine halbe Stunde und zwei Schokotörtchen später machte sie einen erneuten Versuch zu gehen, was an den Protesten von Clodine und Pascal scheiterte. Jeanne stand auf dem Balkon und rauchte eine Zigarette. Sie hatte einen kurzen Rock an und wunderschöne Beine. Pascal hätte es schlechter treffen können.
Nicht ohne Stolz erzählte Clodine, dass Pascal früher bei der Légion étrangère gedient habe, bei der Fremdenlegion. Schon deshalb würde er im Dorf allgemein respektiert und oft hinzugebeten, wenn es galt, einen Streit zu schlichten.
Pascal winkte lächelnd ab. Das dürfe man nicht überbewerten, aber er helfe immer gerne. Noch lieber gehe er aber auf die Jagd, er sei mit Herz und Seele chasseur.
»Könnt ihr euch an die näheren Umstände des Unfalls erinnern, bei dem meine Eltern starben«, fragte Isabelle unvermittelt.
Clodine und Pascal schauten sich an. »Nein, wir waren ja selber noch Kinder.«
»Wurde später nie darüber gesprochen?«
»Eigentlich nicht«, überlegte Clodine laut. »Ich weiß nur, dass das Auto von der Straße abgekommen ist.«
»Dein Vater ist gefahren«, sagte Pascal, »so viel steht fest. Ich kenne die Kurve, wo es passiert ist, da geht es steil den Berg hinunter, saugefährlich. Heute gibt’s dort eine Leitplanke.«
Isabelle bat Pascal, ihr die Unfallstelle genauer zu beschreiben. Clodine holte Zettel und Stift, ihr Bruder machte eine Skizze.
»Ich finde es keine gute Idee, wenn du dich damit beschäftigst«, sagte Clodine zu Isabelle. »Lass die Vergangenheit ruhen, du hast es in der Gegenwart schwer genug.«
»Wahrscheinlich hast du recht. Aber ich weiß so wenig von meinen Eltern, fast gar nichts. Meine grand-mère in Lyon hat nicht viel erzählt.«
»Im Rathaus gibt es ein Gemälde mit einem Porträt deines Vaters«, sagte Clodine.
»Immerhin war er der Bürgermeister von Fragolin«, ergänzte Pascal.
»Hast du in Fragolin keine Verwandten?«, fragte Jeanne, die an den Tisch zurückgekehrt war.
»Nein, keine. Meine Eltern hatten keine lebenden Geschwister, und ich bin ein Einzelkind.«
»Wie traurig.«
»Eigentlich habe ich damit kein Problem. Aber dadurch ist die Vergangenheit wie ausradiert. Keiner kann mehr von früher erzählen. Meine grand-mère ist vor fünfzehn Jahren gestorben.«
»Sag mal, die alte Florence, lebt die noch?«, fragte Clodine ihren Bruder.
»Ja, ich denke schon«, antwortete er.
»Wer ist diese Florence?«, wollte Isabelle wissen.
»Florence Chapoulet war die langjährige Sekretärin deines Vaters. Eigentlich müsstest du dich an sie erinnern.«
Isabelle schüttelte den Kopf. »Leider nicht, habe ich vergessen, wie fast alles.«
»Wenn du wirklich mehr von deinen Eltern erfahren willst, solltest du sie besuchen. Ihre Adresse kriegen wir raus.«
»Das ist eine gute Idee«, sagte Isabelle. »So, und nun ist endgültig Schluss. Ich muss ins Bett. Tausend Dank für einen wunderschönen Abend.« Sie stand auf und verabschiedete sich von allen mit Küsschen. Pascal und Jeanne begleiteten sie hinunter auf die Straße. Es waren zu Fuß nur wenige Minuten zur Auberge des Maures.
Am nächsten Morgen gönnte sich Isabelle den Luxus, nicht gleich aufzustehen. Im Halbschlaf träumte sie von einem einsamen Strand mit einer großen Pinie, vom azurblauen Meer mit einem weißen Segelboot, dann von ihrem Vater, der sie auf dem Schoß wiegte, von ihrer Mutter, wie sie ihr Zöpfe flocht, von duftenden Lavendelfeldern – und von wunderbaren Schokoladentörtchen. Im Aufwachen stellte sie lächelnd fest, dass sie nur schöne Dinge geträumt hatte. Das war ihr schon lange nicht mehr passiert. Sie glaubte die Stimme von Edith Piaf zu hören: »Non, la vie n’est pas triste et le bonheur existe …« Nein, das Leben ist nicht traurig, das Glück, es existiert …
Später löste sie ihr gestriges Versprechen ein und legte Blumen auf das Grab ihrer Eltern. Anschließend ging sie zum Hôtel de ville, wo sie gleich in der Eingangshalle des Rathauses die kleine Gemäldegalerie mit den früheren Bürgermeistern fand. Sie trat näher heran, um die Messingtäfelchen mit den Namen zu lesen. Dann stand sie vor dem Bild ihres Vaters. Er schaute streng und ungemein würdig. Isabelle war beeindruckt – und ein kleines bisschen stolz.
»Sie interessieren sich für die Geschichte unseres Ortes?«
Sie drehte sich um. Hinter ihr stand Thierry Blès, der aktuelle Bürgermeister von Fragolin. Er sah wirklich verdammt gut aus, stellte sie fest. Aber noch mehr beunruhigte sie, dass sie erneut nicht bemerkt hatte, wie sich jemand von hinten näherte. Das gefiel ihr überhaupt nicht und machte sie unsicher.
»Nein, nicht direkt«, antwortete sie auf seine Frage.
»Auf dem Gemälde vor Ihnen, das ist Maire Frédéric Bonnet.« Thierry schmunzelte. »Er war sozusagen mein Vorvorvorgänger.«
»Ich weiß«, sagte Isabelle, »er war mein Vater.«
Er sah sie fassungslos an. »Sie sind seine Tochter?«
»Ja, das bin ich«, antwortete sie knapp.
»Es ist mir eine große Ehre«, sagte Thierry und gab ihr einen formvollendeten Handkuss. »Ich habe Ihren Vater nicht mehr kennengelernt, ich wurde erst kurz nach seinem tragischen Tod geboren.«
»Demnach sind Sie um einige Jahre jünger als ich«, stellte Isabelle fest.
Er machte einen zweifelnden Gesichtsausdruck. »Das kann nicht sein«, sagte er galant. »Wie kommt es, dass wir uns noch nie begegnet sind?«
»Nach dem Tod meiner Eltern hat mich meine Großmutter nach Lyon geholt. Seitdem bin ich nicht mehr hier gewesen, deshalb.«
»Darf ich Sie zum Abendessen einladen«, fragte Thierry spontan, »um Sie als Bürgermeister ganz offiziell in Fragolin willkommen zu heißen? Die Tochter von Maire Bonnet, ich glaube es nicht.«
Isabelle zögerte nur kurz, dann sagte sie zu. »Gerne, aber unter einer Bedingung: Erzählen Sie es nicht weiter.«
»Dass wir zum Essen gehen?«
Sie lachte. »Nein, aber wer ich bin.«
»Das wird mir schwerfallen. Clodine weiß Bescheid, oder?«
»Ja, Clodine schon, auch ihr Bruder und seine Frau Jeanne. Aber das reicht. Zumindest für den Moment. Ich will meine Ruhe.«
Thierry versprach, Isabelle um zwanzig Uhr im Hotel abzuholen. Er schien sich wirklich zu freuen.
Eine knappe Stunde später stand sie in einer engen Kurve an einer Leitplanke und blickte in die Tiefe. Hier also waren ihre Eltern mit dem Auto von der Straße abgekommen. Kein Wunder, dass sie das nicht überlebt hatten. Eher war es ein Rätsel, warum ihr dabei nichts passiert war. Sie schien wirklich einen besonders aufmerksamen Schutzengel zu haben – der hatte ihr zum ersten Mal als Kind das Leben gerettet und zum zweiten Mal vor nunmehr genau achtundneunzig Tagen. Sie drehte sich um und betrachtete die Straße. War ihr Vater ein so unvorsichtiger Fahrer gewesen? Hatte es vielleicht einen technischen Defekt gegeben? Was war mit Zeugen? Waren ihre Eltern sofort tot gewesen? Fragen über Fragen, auf die sie keine Antworten kannte. Isabelle ging langsamen Schrittes zurück zu ihrem Wagen. Im Wechselbad der Gefühle hatte sie gerade wieder einen Tiefpunkt erreicht.
Auf dem Weg zum Meer wählte Isabelle keine spezielle Route. Sie hatte auch kein wirkliches Ziel im Auge, bog an den unvermeidlichen Kreiseln eher intuitiv ab und erreichte nach einigen Irrfahrten tatsächlich die Uferstraße. Dort fuhr sie einfach weiter und parkte irgendwo, wo sie Stufen entdeckte, die hinunter zum Wasser führten. Jetzt saß sie an einem kleinen Strand, der fast so schön war wie in ihren Erinnerungen – nur nicht so leer. Sie trug einen Badeanzug und hatte sich einen Pareo um die Hüften geschlungen. Noch genierte sie sich ein wenig wegen der Narben am linken Bein und ihrer blassen Hautfarbe. Dann dachte sie, dass das völlig egal sei, entledigte sich ihres Tuches und stürmte ins Meer, die Schmerzen ignorierend. Sie schwamm weit hinaus, ließ sich von den Wellen treiben, spürte, wie ihre Muskeln müde wurden, und kraulte schließlich zurück an den Strand. Stolz ging sie an den Menschen vorbei zu ihrem Handtuch und trocknete sich ab. Edith Piaf hatte recht: »Tu peux tout changer!« Du kannst alles ändern, es liegt an dir! Sie legte sich in den Sand und genoss die Sonnenstrahlen auf ihrer Haut. Das war die beste Therapie, da konnten ihr alle Medizinmänner und Psychologen gestohlen bleiben.
Später fragte sie sich, ob es Zufall war, dass genau in einem Moment, in dem sie darüber nachdachte, wie sie ihr Leben ändern könnte, ihr Handy in der Badetasche läutete. Auf dem Display sah sie, wer anrief. Sie zögerte kurz, dann nahm sie das Gespräch entgegen. Maurice war nicht nur ein väterlicher Freund, er war im Innenministerium auch ihr oberster Vorgesetzter.
»Hallo, Chérie, wie geht es dir?«, begrüßte er sie.
»Ça va«, antwortete Isabelle, »mir geht es gut.«
»Ist dir schon langweilig?«, fragte er.
Sie schaute hinaus aufs Meer. »Nein, überhaupt nicht. Ich gewöhne mich gerade ans Nichtstun.«
»Oh, là, là, das klingt gefährlich. Ich kenne doch meine kleine Isabelle. Das hältst du keine Woche aus, dann rufst du mich an und bettelst flehentlich darum, wieder arbeiten zu dürfen.«
»Glaube ich nicht«, sagte sie. »Ich will nicht weg, mir gefällt es hier.«
»Du bist in Fragolin, richtig?«
Isabelle lächelte. »Noch habe ich mein dienstliches portable, also weißt du genau, wo ich gerade bin.«
»Ich käme nie auf die Idee …«
»Nein, kämst du nicht. Mein lieber Maurice, ich danke dir für deinen Anruf. Aber wie gesagt, ich will hier nicht weg, ich bin ja gerade erst angekommen. Mir geht es gut. Na ja, relativ gut, dir muss ich nichts erklären.«
»Ich freu mich für dich. Ich will ja überhaupt nicht, dass du weggehst. Bleib, wo du bist. Fragolin ist sicherlich ein wunderschöner Ort. Und das Meer ist so nah, der Strand …«
»Du hast mich also doch lokalisiert, du gemeiner Kerl.«
Maurice lachte. »Non, non, das war nur so eine Eingebung. Hör bitte zu: Ich habe dir ein Angebot zu machen. Du kannst es dir überlegen, bis morgen früh um acht Uhr. Ich bin dir nicht böse, wenn du ablehnst, aber ich würde mich sehr wundern. Das wäre für dich die beste Therapie, glaub mir.«
Isabelle rollte sich auf den Bauch. Ihre Zehen spielten im Sand. »Ich kann’s mir ja mal anhören«, sagte sie.
»Nichts Großes und garantiert stressfrei.«
»Jetzt rück schon raus!«
»In deinem friedlichen und ach so schönen Fragolin hat’s eine unbekannte Tote gegeben, und ein Mann ist verschwunden …«
»Der Engländer, ich weiß. Die Gendarmerie ermittelt.«
»Jetzt nicht mehr.«
»Nicht mehr? Wie das?«
»Nach Abschluss der ersten Beweisaufnahme durch den zuständigen Staatsanwalt hat der Untersuchungsrichter in Toulon von seinem Entscheidungsrecht Gebrauch gemacht und den Fall der Police Nationale übertragen. Keine große Sache, ein Routinevorgang. Ich hab durch Zufall davon erfahren, beim Kaffeetrinken mit einem Kollegen. Richard, du kennst ihn, ihr wart zusammen auf der École la magistrature.«
»Klar kenne ich ihn, wir haben früher gemeinsam gejoggt.«
»Als ich Richard erzählt habe, dass du gerade in Fragolin bist und vor Langeweile stirbst …«
»Stimmt doch gar nicht, ich bin gerade erst angekommen!«
»Unterbrich mich nicht, ich bin dein Vorgesetzter! Also, da hat Richard gesagt, dass der Einfachheit halber du den Fall übernehmen könntest. Da müssen wir nicht extra jemanden hinschicken.«
»Es ist lange her, dass ich so etwas gemacht habe.«
»Ich weiß, aber du warst eine der Besten. Deshalb hast du ja Karriere gemacht. Die Frage ist, ob du dich für einige Tage wieder auf das Niveau einer stinknormalen Polizeiarbeit begeben willst. Wäre doch eine nette Abwechslung, oder? Und du könntest in Fragolin bleiben.«
»Hmmm.« Isabelle fuhr sich durch die nassen Haare.
»Damit es keine Verwirrungen gibt, könnten wir dich pro forma degradieren …«
»Spinnst du!«
»… und dir wieder den Rang eines Commissaire geben. Natürlich nur vorübergehend, so lange, bis die Untersuchung abgeschlossen ist und bis du dich entschieden hast, wie du dir dein weiteres berufliches Leben vorstellst. Wie du weißt, stehen dir alle Türen offen.«
»Mir ist nicht klar, warum der Juge d’instruction den Fall der Police Nationale überträgt. Wahrscheinlich handelt es sich um eine Beziehungstat mit Todesfolge. Aber selbst bei vorsätzlichem Mord liegt die Zuständigkeit in ländlichen Regionen wie Fragolin bei der Gendarmerie. Also ein Routinefall wie dieser, ohne besondere Auffälligkeiten …«
»Stopp, da muss ich dich unterbrechen. Eine kleine Auffälligkeit gibt es nämlich schon. Und genau deshalb liegt der Fall jetzt bei uns.«
»Mach’s nicht so spannend.«
»Der verschwundene Engländer war in Fragolin als Brian C. Hobart registriert. Auf diesen Namen waren auch all seine Ausweispapiere ausgestellt. Nun hat sich herausgestellt, dass sämtliche Personaldokumente gefälscht sind. Einen Brian C. Hobart mit seinen Geburtsdaten gibt es nicht.«
»Hoppla, jetzt versteh ich.« Isabelle setzte sich auf und schlang sich den Pareo um die Schultern.
»Hab ich dein Interesse geweckt?«, fragte Maurice.
»Ich weiß nicht …«
»Wenn du willst, bekommst du den Fall übertragen. Die Gendarmerie wird zwar nicht erfreut sein, aber dir alle Untersuchungsunterlagen übergeben und dich über den Stand der Ermittlungen informieren. Dann kannst du ein bisschen rumschnüffeln, wie in alten Tagen. Und wenn nichts dabei herauskommt, ist es auch egal.«
»Was soll schon dabei rauskommen?«
»Na, zum Beispiel die Identität der beiden.«
»Du sagtest, ich muss mich bis morgen um acht Uhr entscheiden?«
»Richtig, denn im Falle deiner Ablehnung müssten wir einen Kollegen beauftragen, nach Fragolin zu fahren und die Sache zu übernehmen.«
»Der spaziert dann vor meiner Nase rum«, stellte Isabelle fest. »Das würde mich nerven.«
»Anders geht’s nicht. Entweder du oder ein Kommissar aus einer nächstgelegenen Dienststelle, irgendeiner muss es machen.«
»Ich glaub, ich geh noch mal schwimmen.«
»Du bist zu beneiden. In Paris regnet es.«
»Der Fall ist garantiert nicht stressig?«, fragte sie. »Oder hast du mir was verschwiegen?«
»Nein, ich hab dir nichts verschwiegen«, antwortete Maurice. »Mann dreht durch, erschießt seine Geliebte und haut ab. Weißt du, wie oft das jeden Tag vorkommt? Auf einen Fall mehr oder weniger kommt’s nicht an, da kräht kein Hahn danach.«
»Es könnte auch anders gewesen sein«, überlegte Isabelle laut. »Vielleicht wurde er gekidnappt, und die junge Frau war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort?«
»Gekidnappt?« Maurice lachte. »Na, na, jetzt geht aber die Phantasie mit dir durch. Mach’s nicht komplizierter, als es ist. Du müsstest nur ein bisschen ermitteln und vielleicht die Identität der beiden rausfinden. Das macht mehr Spaß, als am Strand zu liegen. Außerdem hättest du dafür immer noch genug Zeit. Überleg’s dir, ruf mich morgen früh an. Und jetzt geh schwimmen!«
»Das mach ich. Und unterstehe dich, noch mal mein portable zu orten …«
»Isabelle, das käme mir nie in den Sinn, du kennst mich.«
»Ganz genau, eben deshalb!«
Sie glaubte schnelle Schritte zu hören, ohne entscheiden zu können, ob sie sich entfernten oder bedrohlich näher kamen. Isabelle wälzte sich im Bett auf die Seite und zog sich das Kissen über den Kopf. Polizeisirenen, quietschende Reifen, Schreie … Im linken Ohr begann es zu pfeifen, erst ganz leise, dann immer lauter, unerträglicher. Mit einem Ruck setzte sie sich auf, das Kopfkissen von sich schleudernd. Mit der Bettdecke wischte sie sich den kalten Schweiß von der Stirn. Sie holte tief Luft, hielt kurz an und atmete ganz langsam wieder aus. Einmal, zweimal, dreimal … Plötzlich war das Pfeifen im Ohr weg, als ob es jemand mit einem Schalter ausgeknipst hätte. Isabelle warf einen Blick zur Uhr auf dem Nachtkästchen. Kurz vor neun! Sie stand auf und öffnete die Fensterläden. Schon wieder so ein wunderschöner Morgen, keine Wolke am blauen Himmel. Ob es in Paris immer noch regnete? Paris? Plötzlich war Isabelle hellwach. Sie sah erneut zur Uhr. Merde! Bis acht Uhr hätte sie sich entscheiden sollen. Auf dem Boden lagen ihre Kleidungsstücke verstreut. Was war denn das für eine Unordnung? Hatte sie gestern vielleicht zu viel getrunken? Ihr fiel Thierry ein, der Bürgermeister. Er hatte sie zu einem gutgemeinten Abendessen eingeladen, etwas außerhalb von Fragolin, in ein Restaurant mit einer romantischen Terrasse, bei Kerzenlicht und Champagner – also genau das, was sie im Moment am wenigsten brauchte. Wo verdammt noch mal war ihr portable. Schließlich fand sie es unter ihrer zerknautschten Bluse. Die Nummer von Maurice war abgespeichert. Er meldete sich sofort.
»Bonjour, meine liebe Isabelle.«
»Tut mir leid, ich hab verschlafen.«
»Warum nicht? Du bist im Urlaub.«
»Ich bin zu spät, oder?«
»Kommt darauf an. Willst du es machen?«
»Ich hab ja keine Wahl. Bevor hier ein überehrgeiziger Kollege auftaucht und alles durcheinanderwirbelt, mache ich es lieber selber.«
»Habe ich mir gedacht.« Maurice lachte. »Deshalb habe ich die Papiere schon unterschrieben. Noch ein Anruf, und du bist ganz offiziell für diesen Fall zuständig.«
»Du bist ein Halunke.«
»Ich weiß. Aber du wirst es nicht bereuen. Arbeit ist die beste Erholung.«
»Eine gewagte These!«
»Madame le Commissaire …«
»Wie bitte?«
Erneut musste Maurice lachen. »An diese Anrede musst du dich bis zum Abschluss der Ermittlung gewöhnen.«
Isabelle lehnte am geöffneten Fenster. »Puh, das ist lange her. Madame le Commissaire? Klingt komisch, wie aus einem früheren Leben.«
»Ist ja nicht für immer. Sobald du zurück in Paris bist, kannst du dir was Feineres aussuchen. In zwei Jahren gehe ich in Pension. Ich würde deine Bewerbung als meine Nachfolgerin unterstützen.«
»Das ist lieb. Aber dazu wird es nicht kommen …«
»Lass dir Zeit, nur nichts überstürzen. Jetzt schnüffle erst mal bisschen rum, das lenkt dich ab. Dann schreibst du das Abschlussprotokoll und legst dich wieder in die Sonne.«
»D’accord. Was sind die nächsten Schritte?«
»Hast du schon gefrühstückt?«
»Nein.«
»Dann ist das der nächste Schritt: Croissant und Café au Lait!«
»Gibt’s so etwas wie eine Übergabe?«
»Richtig, das hätte ich fast vergessen. Um siebzehn Uhr hast du einen Termin bei der Gendarmerie in Fragolin, zusammen mit dem Staatsanwalt. Man wird dir ohne große Begeisterung die Ermittlungsakten in die Hand drücken und dir scheinheilig viel Erfolg wünschen. C’est tout!«
»Hab ich ein Büro?«
»Nein, aber ab jetzt zahlt dein Hotelzimmer die Police Nationale.«
»Na, immerhin. Und was ist, wenn ich einen Assistenten brauche?«
»Wofür? Um dir am Strand den Rücken abzutrocknen?«
»Spinnst du?«, empörte sich Isabelle.
»Du wirst keinen Assistenten benötigen«, antwortete Maurice. »Du bringst die Ermittlungen zu einem ordentlichen Abschluss. Es wird wahrscheinlich nichts dabei herauskommen. Das erwartet auch keiner. Der Untersuchungsrichter wird trotzdem zufrieden sein, weil er alles richtig gemacht hat. Voilà, so einfach ist das.«
»Ich will’s dir mal glauben.« Isabelle schmunzelte. »Aber wer sagt, dass dabei nichts herauskommt? So ein bisschen Ehrgeiz habe ich noch.«
»Ich wollte nur, dass du dir keinen unnötigen Druck aufbaust. Ich umarme dich. Und jetzt geh frühstücken. Bonne journée!«
Eine halbe Stunde und eine erfrischende Dusche später saß Isabelle auf der Frühstücksterrasse unter einem weißen Sonnenschirm. Sie rührte in ihrem Café au Lait, tunkte ein Croissant hinein und blätterte in der lokalen Tageszeitung Var-Matin. Der Aufmacher beschäftigte sich mit einem großflächigen Waldbrand im Hinterland von Sainte Maxime. Die bisherige Bilanz: Mehrere Häuser, einige Autos und ein Bauernhof waren in Flammen aufgegangen. Ein Campingplatz musste geräumt werden. Hundertschaften von Feuerwehrleuten, Hubschrauber und Löschflugzeuge vom Typ Canadair waren im Einsatz. Der Präfekt der Region verwies auf die lang anhaltende Trockenheit und auf den Mistral, der das Feuer immer wieder anfachte. Die Polizei hatte einen tatverdächtigen Brandstifter verhaftet. Isabelle musste daran denken, dass es die schlimmen Waldbrände schon in ihrer Kindheit gegeben hatte. Sie erinnerte sich an den roten Himmel, an schwarze Rauchwolken und an Asche, die vom Wind bis in den Ortskern von Fragolin getragen wurde.
Beim Weiterblättern suchte sie nach einer Meldung, die sich mit dem verschwundenen Engländer und der toten Frau beschäftigte. Erst ganz hinten wurde sie fündig. Der Beitrag war nur kurz und bestätigte, dass es keine neuen Erkenntnisse und vom Engländer keine Spur gebe. Ihr fiel ein, dass sie gestern Abend kurz mit Thierry darüber gesprochen hatte. Der hatte angedeutet, dass man in den Ferienregionen kein Interesse an einer übertriebenen Berichterstattung habe, wenn es um lokale Verbrechen ging. Man halte solche Ereignisse gerne weitgehend aus den Medien raus, erst recht aus den überregionalen. Das sei sonst eine ausgesprochen schlechte Werbung, schließlich sehnten sich die Touristen nach einer heilen Welt. Das gelte auch für Fragolin. Isabelle dachte, dass Thierry es sicher gerne sah, dass die Meldung von der Titelseite verschwunden war. Sie musste lächeln. Aber brennende Wälder in Sichtweite vom Meer waren auch keine gute Werbung, schienen jedoch den Fremdenverkehr nicht wirklich zu beeinträchtigen. Wahrscheinlich hatte man sich daran gewöhnt.
Isabelles Handy läutete. Sie entdeckte die Nummer von Clodine auf dem Display und nahm das Gespräch entgegen.
Clodine erzählte, dass sie Florence Chapoulet ausfindig gemacht habe. Sie nannte ihr das Altersheim, in dem die Sekretärin ihres Vaters ihren Lebensabend verbrachte. Es befand sich in der Bezirkshauptstadt Draguignan. Isabelle bedankte sich für die Information und beschloss, die alte Dame möglichst bald zu besuchen. Vielleicht erfuhr sie durch sie tatsächlich mehr von ihren Eltern und wie es zu dem tödlichen Unfall kommen konnte.
Im weiteren Tagesverlauf unternahm Isabelle eine Wanderung, die sie zum Kloster führte, das sie einst mit ihrem Vater besucht hatte. Von ihrem Pfad durch das Massif des Maures hatte sie immer wieder schöne Ausblicke. An der Chartreuse angekommen, stellte sie fest, dass von den verfallenen Ruinen aus ihrer Erinnerung nicht mehr viel zu sehen war. Stattdessen empfing sie eine aufwendig rekonstruierte Klosteranlage, die von Ordensschwestern geführt wurde, mit einem Shop im Eingangsbereich, mit reichhaltig Devotionalien und mit geführten Besichtigungen. Zwar hatte sich das Kloster einiges von seiner Magie bewahrt, aber die verfallenen und verlassenen Ruinen aus ihrer Kindheit hatten ihr besser gefallen.
Pünktlich um siebzehn Uhr stand Isabelle vor dem Amtsgebäude der Gendarmerie in Fragolin. Wie es der Zufall wollte, kam ihr genau in diesem Augenblick der Gendarm entgegen, mit dem sie schon zweimal aneinandergeraten war. Er enttäuschte sie nicht. »Sie schon wieder«, blaffte er. »Langsam gehen Sie mir auf die Nerven. Können Sie nicht wie andere Touristen im Café sitzen oder im Wald spazieren gehen?«
Statt einer Antwort zuckte Isabelle mit den Schultern.
Er machte eine auffordernde Bewegung mit seinem behandschuhten Zeigefinger. »Darf ich nochmals Ihre Ausweispapiere sehen?«
Sie lächelte. »Nein, das dürfen Sie nicht. Aber Sie können mich zum Besprechungszimmer bringen, wo der Staatsanwalt Fabré auf mich wartet und Ihr Vorgesetzter, Capitaine Briand.«
Der Gendarm zog die Augenbrauen zusammen. Ganz offenbar tat er sich schwer, mit der Situation klarzukommen. »Ihr Name?«, fragte er scharf.
»Schon vergessen?«, antwortete sie, auf die Verkehrskontrolle anspielend. »Mein Name ist Isabelle Bonnet. Ich komme ungern zu spät. Also lassen Sie mich entweder vorbei, oder Sie zeigen mir den Weg.«
Ohne es zu merken, hatte sie einen anderen, schärferen Ton angeschlagen. Der Gendarm gab klein bei. »Bitte folgen Sie mir!«
Eine knappe Stunde später war alles vorbei. Staatsanwalt Fabré und Capitaine Briand gaben ihr zum Abschied die Hand und wünschten ihr viel Erfolg. Isabelle musste schmunzeln. Ganz so, wie es Maurice vorhergesagt hatte. Sie hatte die Ermittlungsakten in einer mitgebrachten Plastiktüte von Galéries Lafayette verstaut. Außerdem wusste sie nun offiziell, was sie sich schon gedacht hatte: dass es im Fall keine weiterführenden Erkenntnisse gab. Nur dass der Engländer einen falschen Namen hatte, so viel war gewiss. Und dass die Spurensicherung keine eindeutigen Hinweise auf den Tathergang gefunden hatte. Nicht gerade viel. Vielleicht lächelte der Capitaine deshalb so süffisant. Weil er genau wusste, dass sie nichts erreichen würde?
Ob sie denn schon lange Kommissarin sei, wollte er im Plauderton wissen, und wie es um ihre Erfahrung bestellt sei. Isabelle blieb ihm eine Antwort schuldig. Hätte sie ihm sagen sollen, dass sie den Job erst seit wenigen Stunden innehatte? Dass es Jahre her war, dass sie Ähnliches schon mal gemacht hatte? Dass sie auf der Karriereleiter der Police Nationale bereits ganz nach oben geklettert war? Dass sie die Druckwelle einer explodierenden Bombe aus der Bahn geschleudert hatte? Dass der Präsident ihr gerade einen hohen Orden verliehen hatte? Dass sie oft Kopfschmerzen hatte und schlechte Träume? Dass sie in Fragolin war, um sich zu erholen und wieder zu sich selbst zu finden? Hätte sie ihm das alles sagen sollen, ihm und dem kleinen blasierten Staatsanwalt? Nein, natürlich nicht! Das ging die beiden einen Scheißdreck an! Da war es ihr lieber, sie hielten sie für eine spät berufene Berufsanfängerin.
Isabelle lächelte, als man ihr einen gewissen Sergeant Albertin als Kontaktmann zuwies. Der fühlte sich in seiner Haut sichtlich unwohl. Immerhin mussten sie sich nicht lange kennenlernen.
Sergeant Albertins Angebot, sie mit dem Streifenwagen in die Auberge