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Madame le Commissaire ermittelt an den Traumzielen der französischen Riviera: »Madame le Commissaire und die gefährliche Begierde« ist der 12. Provence-Krimi um die sympathische Kommissarin Isabelle Bonnet von Bestseller-Autor Pierre Martin. Isabelle Bonnet ist geschockt, als sie von einer psychiatrischen Klinik kontaktiert wird: Dort behandelt man eine Patientin mit Amnesie. Die Frau ist ihre beste Freundin, Clodine. Sie wurde vor einigen Tagen früh morgens am Strand von Pampelonne aufgegriffen, splitterfasernackt und völlig verwirrt. Als erste Erinnerungen zurückkehren, erzählt Clodine von einer Party am Strand. Waren K.-o.-Tropfen im Spiel? Madame le Commissaire bemerkt ein auffälliges Armband, das sie noch nie an Claudine gesehen hat – die ebenfalls nicht weiß, woher sie es hat. Als Apollinaire auf einen ähnlichen Fall stößt, bei dem das Opfer das gleiche Armband trug, wird der Fall brisant. Denn diese junge Frau ist tot … Die perfekte Urlaubslektüre für alle Frankreich-Fans Ihre Ermittlungen führen Isabelle Bonnet an pittoreske Schauplätze, die die Provence von ihren schönsten Seiten zeigen – von malerischen Stränden bis zu blühenden Lavendelfeldern. Mit seinen Urlaubskrimis bietet Pierre Martin die perfekte Mischung aus spannenden Fällen, sympathischen Figuren, traumhaftem Urlaubsflair und einer Prise Witz. Die Wohlfühlkrimis um Madame le Commissaire Isabelle Bonnet sind in folgender Reihenfolge erschienen: 1. Madame le Commissaire und der verschwundene Engländer 2. Madame le Commissaire und die späte Rache 3. Madame le Commissaire und der Tod des Polizeichefs 4. Madame le Commissaire und das geheimnisvolle Bild 5. Madame le Commissaire und die tote Nonne 6. Madame le Commissaire und der tote Liebhaber 7. Madame le Commissaire und die Frau ohne Gedächtnis 8. Madame le Commissaire und die panische Diva 9. Madame le Commissaire und die Villa der Frauen 10. Madame le Commissaire und die Mauer des Schweigens 11. Madame le Commissaire und das geheime Dossier 12. Madame le Commissaire und die gefährliche Begierde Noch mehr spannende Urlaubslektüre aus Südfrankreich liefert Bestseller-Autor Pierre Martin mit seiner Krimi-Reihe »Monsieur le Comte«.
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Seitenzahl: 402
Veröffentlichungsjahr: 2025
Pierre Martin
Ein Provence-Krimi
Knaur eBooks
Isabelle Bonnet ist geschockt, als sie von einer psychiatrischen Klinik kontaktiert wird: Dort behandelt man eine Patientin mit Amnesie. Die Frau ist ihre beste Freundin Clodine. Sie wurde vor einigen Tagen frühmorgens am Strand von Pampelonne aufgegriffen, splitterfasernackt und völlig verwirrt. Als erste Erinnerungen zurückkehren, erzählt Clodine von einer Party am Strand. Waren K.-o.-Tropfen im Spiel? Madame le Commissaire bemerkt ein auffälliges Armband, das sie noch nie an ihrer Freundin gesehen hat – und auch Clodine weiß nicht, woher sie es hat. Als Apollinaire auf einen ähnlichen Fall stößt, bei dem das Opfer das gleiche Armband trug, wird der Fall brisant. Denn diese junge Frau ist tot …
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Prologue
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
52. Kapitel
53. Kapitel
54. Kapitel
55. Kapitel
56. Kapitel
57. Kapitel
Épilogue
Sie kam sich vor wie in Watte gepackt. Eigentlich ein schönes Gefühl. Gleichzeitig war ihr übel. Und sie wusste nicht, wo sie war. Das war weniger schön. Es fiel ihr schwer, die Augen zu öffnen. Warum sah sie alles unscharf? Sie stellte fest, dass sie auf einem Bett lag. Das Kopfkissen und das Leintuch waren ihr vertraut. Womöglich lag sie auf ihrem eigenen Bett?
Sie versuchte, sich aufzurichten. Im zweiten Anlauf schaffte sie es in eine sitzende Position. Tatsächlich, das war ihr Schlafzimmer. Na, immerhin. Warum aber war sie dann so benebelt? Und noch wichtiger: Warum war sie nackt? Am Handgelenk entdeckte sie ein hübsches Armband. Funkelnde Brillanten und blaue Saphire. Noch nie gesehen.
Sie fasste sich an den Kopf und versuchte verzweifelt, sich zu erinnern. Zumindest war ihr gerade eingefallen, wer sie war. Das war ja schon mal ein Anfang. Aber darüber hinaus? Fehlanzeige!
Die Balkontür war geöffnet. Der Vorhang wehte leicht im Wind. Draußen war es dunkel. Aber ihre Nachttischlampe war eingeschaltet. An ihr hing ein roter Büstenhalter mit schwarzen Spitzen. Sie wusste, wo sie ihn gekauft hatte. Sie machte also Fortschritte.
Der Verdacht lag nahe, dass sie Herrenbesuch hatte. Nur konnte sie sich nicht daran erinnern. Die letzten Stunden waren wie ausgelöscht. Ein Filmriss, wie sie ihn noch nie erlebt hatte. Dazu dieser taube Geschmack im Mund. Und ihr war immer noch übel.
Sie bemühte sich aufzustehen. Was ihr schwerfiel, denn ihre Beine gaben nach. Dabei ging sie regelmäßig ins Fitnessstudio. Schließlich schaffte sie es doch. Sie musste sich an einer Kommode festhalten, weil sich plötzlich um sie herum alles drehte. Als der Schwindel nachließ, torkelte sie ins Wohnzimmer. Dabei stützte sie sich an den Wänden ab. In einer Vase auf dem Couchtisch ein hübscher Blumenstrauß. Rote und weiße Rosen, Nelken, Chrysanthemen …
Sie ging ins Bad – und übergab sich in die Toilettenschüssel.
Anschließend hielt sie den Kopf unter die kalte Dusche. Das tat gut. Doch die Erinnerung an die letzten Stunden wollte nicht zurückkehren.
Aus dem Kühlschrank holte sie eine Flasche Wasser. Sie fiel runter, war aber aus Plastik. Der Schwindel wurde wieder stärker. Und sie tat sich schwer beim Atmen.
Sie taumelte durch das Zimmer Richtung Balkon. Dabei stieß sie gegen den Couchtisch. Die Vase mit den Blumen kippte um. Es war ihr egal …
Auf dem kleinen Balkon angekommen, klammerte sie sich an das Geländer. Vom vierten Stock aus hatte man einen schönen Blick über die Dächer von Paris. Sogar den Eiffelturm konnte man sehen. Aber das interessierte sie nicht. Sie schnappte nach Luft. Ihr wurde schon wieder übel. Vor allem aber drehte sich erneut alles um sie herum. Die Dächer, der beleuchtete Eiffelturm … wie in einem Karussell …
Musste sie sich schon wieder übergeben? Sie beugte sich würgend über das Geländer – und verlor das Gleichgewicht.
Es gelang ihr nicht mehr, sich festzuhalten. Kopfüber stürzte sie in die Tiefe …
Isabelles alter Fischkutter wurde von Touristen, die den Weg zur kleinen Marina an der Côte d’Azur fanden, häufig fotografiert. Kein Wunder, denn der pointu, wie diese traditionellen Holzboote in der Provence genannt wurden, war perfekt restauriert und liebevoll lackiert – bis hin zum Bugspriet mit der roten Spitze. Sie hatte das Boot von Thierry geerbt und achtete darauf, dass der Pflegezustand erhalten blieb. Dazu fühlte sie sich verpflichtet.
Isabelle liebte es, mit dem pointu an der Küste entlangzutuckern. Meist alleine, mit sich und ihren Gedanken. Sie hatte ihre Lieblingsbuchten, wo sie ankerte, ins Meer sprang und loskraulte. Ohne Badeanzug, aber mit Flossen. Thierry hatte mal gesagt, so sehe sie aus wie eine Meerjungfrau. Das mit der Jungfrau stimmte schon mal nicht.
Zu ihrem Ritual gehörte es, sich an Deck die nackte Haut von der Sonne trocknen zu lassen. Es interessierte sie nicht, dass das ungesund sein sollte. Isabelle lebte für den Augenblick. Ganz so unvernünftig war sie aber dann doch nicht: Sie hatte immer Trinkwasser dabei – aber auch eine Flasche Rosé in der Kühlmanschette. Außerdem: une baguette, du jambon, un melon tranché … ein Baguette, Schinken, eine aufgeschnittene Honigmelone. Fertig war ihr Paradies.
Aber auch im Paradies funktionierte nicht immer alles nach Plan. Heute zum Beispiel wollte sie schon früh am Morgen ablegen, doch der Diesel sprang nicht an. Jetzt stand ein alter Mechaniker vor dem Schacht mit dem Motor. Er wischte sich die ölverschmierten Hände an ihrem Badetuch ab und schüttelte den Kopf. »Je suis désolé. Tut mir leid, ich brauche ein Ersatzteil. Wird ein paar Tage dauern.«
In ihrem Leben hatte Isabelle schon schlimmere Schicksalsschläge hinnehmen müssen, also nahm sie den Motorschaden mit einem Schulterzucken zur Kenntnis. Weil es in der Provence nie zu früh für einen Schluck Wein sein konnte, öffnete sie die mitgebrachte Flasche, goss zwei Gläser ein und bedankte sich bei dem Mechaniker fürs schnelle Kommen.
»Für Sie doch immer«, sagte er mit einem breiten Grinsen. »C’est un plaisir pour moi.«
Auch ohne Bootsausflug nahm sich Isabelle vor, das Beste aus den nächsten Stunden zu machen. Sie packte ihren mitgebrachten Proviant in die großen Satteltaschen ihrer Harley-Davidson, startete das schwere Motorrad und fuhr zu einem nahe gelegenen Strand. Schließlich brauchte man kein Boot, um im Meer zu schwimmen.
Später ging es über Landstraßen zurück nach Fragolin. Sie fuhr langsam und genoss die Fahrt. Auf engen Kurven ging es durch die Wälder des Massif des Maures. Korkeichen, Kastanien und Kiefern wechselten sich ab. Mit jedem Kilometer entfernte sie sich vom Trubel der an der Küste gelegenen Ferienorte wie Sainte-Maxime, Saint-Tropez, Cavalaire-sur-Mer oder Le Lavandou. In Fragolin gingen die Uhren anders – vor allem langsamer.
Isabelle fuhr auf ihren angestammten Parkplatz vor dem Hôtel de ville. Sie sah, dass die Fenster des Kommissariats im ersten Stock des Rathauses geöffnet waren. Ihre Harley war nicht zu überhören. Gleich würde Apollinaire seinen Kopf rausstrecken. Sie lächelte, als das überraschte Gesicht ihres Assistenten auftauchte. Bei welcher Tätigkeit sie ihn wohl störte? Bestimmt nicht bei der Arbeit, denn aktuell waren sie mit keinem Fall befasst.
Im Treppenhaus begegnete sie Chantal Lefèvre, der Bürgermeisterin.
»Salut, Isabelle, wo kommst denn du her? Wolltest du dir heute nicht freinehmen?«
»Freinehmen vom Nichtstun?« Isabelle lachte. »Hast recht, das wollte ich, aber der Motor meines Bootes streikt. Jetzt bin ich halt wieder hier. Wollen wir uns zum Mittagessen in Jacques’ Bistro treffen?«
»Bonne idee. In einer Stunde?«
»Sehr gerne,à bientôt.«
Vor der Tür zu ihrem Kommissariat schaute sie kurz auf das Schild neben dem Eingang. Police nationale stand darauf, mit dem Zusatz Commission spéciale. Apollinaire hatte sich das ausgedacht. Sie fand Commission spéciale etwas hochtrabend. Aber in der Sache stimmte es, denn sie übernahmen keine regulären Polizeiaufgaben.
Ohne anzuklopfen, trat sie ein.
Apollinaire erwartete sie mit rotem Kopf. Weil er ein schlechtes Gewissen hatte?
»Wobei habe ich Sie gestört?«, fragte sie.
»Natürlich haben Sie mich … haben Sie mich bei nichts gestört …«
Er zog sich die hochgerutschten Hosenbeine nach unten. Ihr fiel auf, dass seine ansonsten wirren Haare oben flach gepresst waren. In der Ecke neben der Fahnenstange mit der Trikolore lag am Boden ein Kissen.
»Lassen Sie mich raten: Sie haben Ihre alten Yogaübungen wieder aufgenommen und gerade einen Kopfstand gemacht, als Sie mein Motorrad gehört haben. Stimmt’s?«
Er sah sie erstaunt an.
»Woher können Sie das wissen?«
»Beobachtungsgabe, mein lieber Apollinaire. Ich bin Polizistin, da sieht man so was.«
»Madame, Sie werden mir immer unheimlicher. Aber Sie haben recht: Der Kopfstand heißt im Yoga Sirsasana. Er stärkt die Wirbelsäule, senkt die Atemfrequenz …«
»Und fördert die Durchblutung im Kopf.«
»Auch das. Man kann besser nachdenken.«
»Worüber haben Sie nachgedacht?«
Apollinaire kratzte sich am Kinn.
»Gute Frage. Habe ich vergessen …«
Isabelle nickte.
»Ich fasse zusammen, der Kopfstand fördert die Denkleistung, aber vermindert die Merkfähigkeit.«
»Mais non, so kann man das nicht sagen«, protestierte er.
Sie winkte lächelnd ab.
»Sie dürfen nicht immer alles wörtlich nehmen. Ich bin nur kurz hier, dann können Sie gerne mit Ihren Übungen fortfahren.« Isabelle deutete auf seinen leeren Schreibtisch. »Zu arbeiten gibt’s ja aktuell nichts. Eigentlich könnten Sie auch heimgehen.«
»Letzteres, Madame, widerspricht meiner Dienstauffassung. Zweitens …«
Sie zog eine Augenbraue nach oben.
»Was ist mit erstens?«
»Nun, erstens bezog sich auf Letzteres, also auf meine soeben zitierte Dienstauffassung, zweitens danke ich Ihnen für Ihr großzügiges Angebot, viertens …«
»Was ist mit drittens?«
»Madame, Sie bringen mich völlig durcheinander …«
»Ich tippe eher auf Nachwirkungen Ihres Kopfstands.«
»Das möchte ich ausschließen. Wo war ich gerade? Ach ja, drittens suche ich in unseren Datenbanken nach unaufgeklärten Verbrechen. Cold Cases, denen wir uns widmen könnten.«
Tatsächlich, überlegte Isabelle, hatten sie damit in der Vergangenheit schon Erfolg gehabt. Eine Art Arbeitsbeschaffungsprogramm für ihr Kommissariat in Phasen, in denen sie aus Paris keine neuen Anweisungen oder Aufträge bekamen.
»Waren Sie erfolgreich?«
»Noch nicht, aber ich bleibe zuversichtlich. Viertens dachte ich, Sie hätten sich heute freigenommen. Weshalb ich mich fünftens frage, weshalb Sie jetzt hier sind. Ist was passiert?«
»Der Motor meines Kutters ist kaputt, sonst ist nichts passiert. Also mache ich mir einen schönen Tag in Fragolin. Ich treffe mich gleich mit unserer Bürgermeisterin zum Mittagessen. Später bereite ich unseren alten Herren eine Freude, indem ich mich mal wieder ihrer Boulerunde anschließe.«
Apollinaire grinste.
»Die Freude der Senioren wird nicht ungetrübt sein, wenn Sie wie üblich gewinnen.«
»Meine eigene Mannschaft hat nichts dagegen«, erwiderte sie lachend, »und das nächste Mal spiele ich dann halt mit den Verlierern.«
Zu diesem Zeitpunkt konnte sie nicht ahnen, dass sie an dem Spiel nicht teilnehmen würde – weder bei den Siegern noch bei den Verlierern.
Isabelle wartete in der Eingangshalle des Rathauses auf Chantal. Dabei betrachtete sie die ehrwürdigen Porträts früherer Bürgermeister. Sie hatten alle eines gemeinsam: Sie lebten nicht mehr. Ihr Vater war einem Attentat zum Opfer gefallen, als sie noch ein Kind war. Entsprechend verklärt waren ihre Erinnerungen an ihn. Ganz anders bei Thierry Blès. Es kam ihr vor, als ob er sie erst gestern verlassen hätte. Sie waren ein Paar gewesen – dann hatte man ihn umgebracht.
»Nicht sentimental werden«, sagte Chantal, die von hinten dazugetreten war.
»Nur ein bisschen, aber ich bin darüber hinweg.«
»Irgendwann wird auch ein Bild von mir hier hängen«, stellte die Bürgermeisterin fest.
»Bist dann aber hoffentlich noch lange am Leben. Das hättest du all deinen Vorgängern voraus.«
Chantal lachte.
»Das ist mein fester Vorsatz. So, jetzt lass uns gehen.«
Auf dem Weg zum Bistrokamen sie an Clodines Souvenirladen vorbei. An der Tür ein Schild: Fermé. Je suis à la plage.
»Ihre Boutique ist schon seit Tagen geschlossen«, bemerkte Chantal. »So lang kann sie doch nicht am Strand sein.«
»Vielleicht hat Clodine einen neuen Freund, der sie rund um die Uhr in Beschlag nimmt?«
Chantal lachte.
»Wäre nicht das erste Mal.«
Im Bistroangekommen, kümmerte sich Jacques persönlich um einen freien Tisch.
»Die Bürgermeisterin und Madame le Commissaire. Welche Ehre.«
Was lustig war, dachte Isabelle. Denn sie kamen fast täglich zum Essen. Nur selten zusammen.
Auf der Schiefertafel mit den plats du jour standen eine soupe de poissons de roche, rouille et croûtons sowie gambas sauvages de Méditerranée, coriandre et gingembre. Weil sie sich zwischen der Fischsuppe und den Gambas nicht entscheiden konnten, wählten sie ein drittes Gericht: Pavé de thon grillé, provençale de légumes, sauce vierge. Den Thunfisch hatte Jacques nur selten auf seiner Tageskarte.
Sie zogen ihr Mittagessen in die Länge – weil sich herausstellte, dass Chantal Anfang der Woche Geburtstag gehabt hatte. Darauf mussten sie anstoßen. Mit dem Älterwerden hatte die Bürgermeisterin kein Problem, behauptete sie wenigstens. Zum Beweis zitierte sie Coco Chanel: Das Alter habe keine Bedeutung. Man könne mit zwanzig hinreißend sein, mit vierzig charmant und den Rest seiner Tage unwiderstehlich … Chantal lachte. Sie selbst befinde sich gerade in der charmanten Phase. Die Perspektive sei also gar nicht so schlecht.
Isabelle dachte nur kurz darüber nach, dass sie selbst weder hinreißend noch charmant sein wollte, erst recht nicht unwiderstehlich. Mit diesen Rollenbildern konnte sie sich nicht identifizieren. Aber sie sah auch nicht aus wie Coco Chanel. Und sie trug auch keine Perlenkette am Hals wie die Bürgermeisterin. Stattdessen einen schwarzen Totenkopf am Lederband. Dass es dennoch Männer gab, die von ihr fasziniert waren, war ihr unerklärlich.
Der Bouleplatz befand sich direkt vor dem Rathaus. Der alte Alain war schon da und begrüßte sie mit zwei Wangenküsschen. Weil Isabelle wusste, dass er eine filterlose Gauloise nach der anderen rauchte, hielt sie dabei die Luft an. Er roch wie ein Aschenbecher. Aber er war ein herzensguter Mann – und ein guter Boulespieler. Sie hatte ihn gern in ihrer Mannschaft. Der Dorfpfarrer kam mit einem quietschenden Fahrrad. Er war schwerhörig, weshalb er keine Beichte mehr abnahm. Ein pensionierter Lehrer gesellte sich dazu. Er war noch der Fitteste von allen, hatte aber die nervige Eigenschaft, den Mitspielern ständig die Regeln zu erklären. Dabei waren diese beim Pétanque, also der provenzalischen Variante des Boule, weder besonders kompliziert, noch gab es irgendwelche Tricks, sie zu umgehen. Zum Abstandmessen hatte er nicht nur ein Maßband dabei, sondern auch eine tirette mit ausziehbarem Stift und für ganz heikle Fälle einen Zirkel. Beliebt war er nicht.
Isabelle war die einzige Frau, die in dieser Traditionsrunde mitspielen durfte. Ein Privileg, das sie zu schätzen wusste.
Als sie schließlich zu sechst waren und sich gerade zu einer triplette formiert hatten, bei der drei gegen drei spielten und jeder Spieler zwei Kugeln hatte, störte Chantal ihre Vorbereitungen.
Die Bürgermeisterin kam herbeigeeilt.
»Isabelle, ich muss dich dringend sprechen.«
»C’est impossible«, protestierte Alain. »Isabelle ist gerade dran, unser cochonnet zu werfen.«
Cochonnet, so wurde die hölzerne Zielkugel genannt, Schweinchen.
»Tut mir wirklich leid, ist wichtig.«
»Nichts ist wichtiger als Pétanque«, stellte der Lehrer fest. Fehlte nur noch, dass er der Bürgermeisterin einen Verweis erteilte.
Isabelle drückte Alain das Schweinchen in die Hand.
»Fangt schon mal an, bin gleich wieder da.«
Chantal zog sie zur Seite.
»Während wir beim Essen waren, hat meine Sekretärin einen merkwürdigen Anruf entgegengenommen. Er kam von einer psychiatrischen Klinik in der Nähe von Saint-Tropez. Man habe seit zwei Tagen eine verwirrte Patientin zur Behandlung, die unter einem massiven Gedächtnisverlust leide und sich nicht einmal an ihren eigenen Namen erinnern könne. Vor einer Stunde sei er ihr offenbar wieder eingefallen: Isabelle Bonnet, Fragolin. Mehr habe sie nicht gesagt. Jetzt wollte die Klinik vom Bürgermeisterbüro in Erfahrung bringen, ob eine Person mit diesem Namen in Fragolin bekannt sei und vermisst werde.«
Chantal hatte recht: Der Anruf war in der Tat merkwürdig – und unerklärlich.
»Meine Sekretärin«, fuhr Chantal fort, »hat zur Antwort gegeben, dass eine Isabelle Bonnet in Fragolin sehr wohl bekannt sei und garantiert nicht vermisst werde, denn sie sei gerade mit der Bürgermeisterin beim Mittagessen.«
»Haben wir eine Telefonnummer der Klinik?«
»Ja, haben wir. Sie erwarten deinen Anruf.«
Isabelle wandte sich an ihre Mitspieler.
»Tut mir leid, aber ich muss mich ausklinken.«
»Du solltest dir einen anderen Beruf suchen.«
Alain nickte. »Das kannst du nur mit einer Runde Pastis wiedergutmachen.«
Isabelle lachte.
»Dazu lade ich euch gerne ein. Vielleicht bin ich aber schon in zehn Minuten wieder zurück.«
»Der Pastis wird trotzdem fällig«, stellte der pensionierte Lehrer klar.
Der Pfarrer lächelte. »Mit dem Pastis sind dir deine Sünden vergeben.«
Wenn es im Leben nur immer so einfach wäre, dachte Isabelle. Dann lief sie mit Chantal ins Rathaus. Im Bürgermeisterbüro ließ sie sich einen Zettel mit der Telefonnummer geben. Anschließend ging sie hinunter ins Kommissariat.
»Wo kommen denn Sie plötzlich her?«, fragte Apollinaire. »Ich hab Sie doch gerade noch auf dem Bouleplatz gesehen?«
Tatsächlich hatte man von ihrem Büro freien Blick auf den Bouleparcours.
»Ist heute ein Tag voller Überraschungen. Ich muss in einer psychiatrischen Klinik anrufen. Ich schalte auf Lautsprecher, dann muss ich nichts erklären.«
Er nickte.
»Nichts erklären, ich verstehe …«
Ihm war anzusehen, dass er gerade nichts verstand. Ihr erging es kaum anders.
Minuten später hatte sie den Chefarzt am Apparat. Sie bestätigte ihm, dass sie ganz sicher nicht seine Patientin sei. Vielmehr sei sie bei der Police nationale und leite in Fragolin ein Kommissariat.
»Dann ist mir unerklärlich, warum uns die Frau einen falschen Namen genannt hat«, sagte der Arzt.
»Ist ja nicht falsch«, antwortete Isabelle. »Mich gibt’s ja. Vielleicht will sie mit mir sprechen?«
»Das hätte sie ja dazu sagen können. Die Frau macht es uns wirklich nicht leicht.«
»Wie kommt sie in Ihre Klinik? Was ist passiert?«
»Würde ich Ihnen gerne persönlich sagen. Können Sie bei mir in den nächsten zwei Stunden vorbeikommen? So lange habe ich noch Dienst.«
Den Nachmittag hatte sie sich anders vorgestellt, dachte Isabelle.
»Einverstanden, ich komme. Aber können Sie mir vorab wenigstens eine Personenbeschreibung geben?«
»Nicht so gerne. Aber Sie werden ja die Frau bei mir kennenlernen.«
Isabelle fragte sich, warum sich Ärzte immer wieder schwertaten, offen mit der Polizei zu reden. Ihre Schweigepflicht stand doch keiner Personenbeschreibung im Wege.
»Wie alt habe ich mir die Person vorzustellen?«
»Sie ist im besten Alter.«
Was bitte hatte das zu bedeuten? Der Doktor nervte.
»Können Sie mir wenigstens einen Hinweis geben«, ließ Isabelle nicht locker, »wie die Frau in Ihre Klinik gelangt ist?«
»Nur so viel: Die Gendarmerie hat sie vorgestern an uns überwiesen. Die Frau wurde am frühen Morgen an der Plage de Pampelonne aufgefunden. Völlig verwirrt und orientierungslos. Sie kann sich an nichts erinnern, nicht einmal an ihren eigenen Namen.«
»Hatte sie keine Ausweispapiere bei sich, zum Beispiel einen Führerschein oder eine Bankkarte?«
»Sie hatte gar nichts bei sich. Nicht einmal was zum Anziehen. Die Frau war nackt!«
Nach Beendigung des Telefonats schüttelte Apollinaire fassungslos den Kopf. Eine nackte Frau, die sich an nichts erinnern könne, sei tatsächlich ein tragischer Fall. Er wolle nicht in der Haut dieses bemitleidenswerten Geschöpfes stecken. Er räusperte sich. Was aus verschiedenen, nicht zuletzt aus anatomischen Gründen kaum möglich sei. Das mit der Haut habe er selbstverständlich im übertragenen Sinne gemeint.
Isabelle suchte im Polizeicomputer nach einer Vermisstenmeldung. Es gab keine.
»Haben Sie irgendeine Erklärung«, fragte er, »warum diese Frau Ihren Namen genannt hat und um wen es sich bei ihr handeln könnte?«
Isabelle dachte nach.
»Eine Erklärung habe ich nicht, aber eine Ahnung.«
»Wollen Sie mich an Ihrer Ahnung teilhaben lassen?«
»Sie kennen mich. Ahnungen behalte ich lieber für mich. So, dann werde ich mal aufbrechen. Ich nehme unser Einsatzfahrzeug.«
»Soyez prudent sur la route … fahren Sie vorsichtig!«
Schmunzelnd wies sie ihn darauf hin, dass er es war, der ihrem Polizeiwagen die bislang einzige Delle zugefügt hatte, beim Rückwärtsfahren gegen einen Olivenbaum.
Die Clinique psychiatrique lag versteckt in einem Pinienwald. Sie sah nicht so aus, als ob hier üblicherweise Patienten behandelt würden, die bei der Aufnahme keine goldene Kreditkarte hinterlegen konnten. Eher suchten hier überspannte Wohlstandsbürger nach ihrem seelischen Gleichgewicht. Aber vielleicht war nirgendwo sonst ein Bett frei gewesen? Außerdem achteten auch private Nobelsanatorien darauf, sich gelegentlich einen sozialen Anstrich zu geben.
Isabelle stellte das weiß-blaue Einsatzfahrzeug der Police nationale ziemlich weit hinten auf den Besucherparkplatz. Sie wollte die Idylle nicht stören und kein Aufsehen erregen.
Am Empfang wurde sie bereits erwartet. Eine Concierge brachte sie zur Abteilung in einen Seitenflügel, wo sie vom Chefarzt, mit dem sie telefoniert hatte, erwartet wurde. Er ließ sich ihren Polizeiausweis zeigen.
»Sie sehen nicht aus wie eine Kommissarin«, stellte er fest.
Den Spruch, dachte Isabelle, konnte sie nicht mehr hören. Sie wusste auch nicht, wie sie sich verändern müsste, dass sie wie eine Polizistin aussah. Kam hinzu, dass sie so wahrscheinlich dann auch nicht aussehen wollte.
»Kann ich zu ihr?«, fragte sie, ohne auf ihn einzugehen.
»Ich möchte mich mit Ihnen erst unter vier Augen unterhalten.« Er bat sie in sein Arztzimmer. »Sie sollten wissen, dass die Patientin zu aggressiven Ausbrüchen neigt. Ein Pfleger hat bereits Kratzwunden im Gesicht davongetragen. Wir sahen uns deshalb gezwungen, die Frau körperlich zu fixieren …«
»Sprechen Sie von einer Zwangsjacke?«
»Mon Dieu, so etwas gibt es bei uns nicht. Aber wir haben die Bewegungsfreiheit ihrer Hände eingeschränkt, das ist eine praktikable und vergleichsweise humane Methode. Alternativ hätten wir sie medikamentös sedieren müssen, doch damit hätten wir ihren kognitiven Heilungsprozess negativ beeinflusst.«
Isabelle sah ihn skeptisch an.
»Wir hoffen«, fuhr er fort, »dass die Patientin von selbst zur Ruhe kommt und im Zuge dessen auch ihre Erinnerung zurückkehrt. Medizinisch haben wir es mit einer retrograden Amnesie zu tun, die auch das autobiografische Gedächtnis betrifft. Leider kennen wir den Auslöser nicht, sonst könnten wir sie zielgerichteter behandeln.«
»Hat sie äußere Verletzungen?«
»Nein, keine. Wir konnten auch keine Einstichstelle einer Injektionsnadel feststellen. Zudem spricht ihre Gesamtverfassung gegen eine Drogenabhängigkeit.«
»Die Laborwerte?«
»Sind unauffällig.«
»Könnte sie ein Opfer von K.-o.-Tropfen geworden sein?«, äußerte sie einen naheliegenden Verdacht.
»Kann ich seriöserweise nicht ausschließen. Die Patientin wurde uns erst am späten Nachmittag überstellt. Viele Betäubungsmittel sind nach zwölf Stunden nicht mehr nachweisbar. Aber aufgrund der Symptomatik tippe ich eher auf ein traumatisches Erlebnis. Kommt hinzu, dass die sogenannten K.-o.-Tropfen vor allem in der Fantasie von Boulevardjournalisten existieren. In der Praxis kommen sie gar nicht so häufig vor.«
Genau das Gegenteil dürfte der Fall sein, dachte Isabelle.
»Zudem dienen K.-o.-Tropfen oft als faule Ausrede«, fuhr er fort, »wenn sich Frauen für etwas genieren, wozu sie sich in betrunkenem Zustand haben hinreißen lassen.«
Isabelle kam zu dem Schluss, dass der Arzt ein chauvinistischer Schwachkopf war. Aber es lohnte nicht, mit ihm zu streiten.
»Wurde sie vergewaltigt?«, fragte sie stattdessen.
»Die Patientin verweigert eine vaginale Untersuchung. Aber bei den meisten Vergewaltigungen sind an kritischen Stellen Hämatome zu erkennen. Diese charakteristischen Blutergüsse fehlen bei ihr. Wie gesagt, ich favorisiere ein traumatisches Erlebnis.«
»Eine Vergewaltigung ist ein traumatisches Erlebnis«, stellte Isabelle fest.
Er hob die Schultern. Eine Richtigstellung sah anders aus.
»Übrigens sind fehlende Hämatome kein hinreichendes Indiz«, ergänzte Isabelle. »Unter dem Einfluss von K.-o.-Tropfen lassen die Opfer einen Missbrauch oft ohne Gegenwehr über sich ergehen.«
Er runzelte die Stirn.
»Mag sein, aber das fällt dann wohl in Ihr Ressort. Ich bin Arzt und kein Kriminaler.«
Isabelle dachte, dass es unsinnig war, die Diskussion fortzusetzen.
»So, jetzt würde ich die Patientin gerne sehen«, entschied sie.
Als Isabelle das Krankenzimmer betrat, blieb sie konsterniert stehen. Sie hatte nicht wirklich damit gerechnet, dass sich ihre Ahnung bestätigen würde.
Denn auf dem Bett vor ihr lag … Clodine. Ihre Freundin sah sie mit verheulten Augen an. Die Hände waren mit Ledermanschetten an das Bettgestell gefesselt.
Sie versuchte, sich aufzurichten.
»Enfin tu es là«, sagte sie mit stockender Stimme. »Endlich bist du da!«
»Sie kennen die Patientin?«, fragte der Doktor überrascht.
»Ja, sehr gut sogar.«
Isabelle ging zum Bett und gab Clodine einen Kuss auf die schweißnasse Stirn.
»Tout ira bien«, sagte sie. »Alles wird gut.«
Isabelle begann, Clodines Fesseln zu lösen.
»Was machen Sie da?«, herrschte sie der Arzt an. »Die Frau ist aggressiv.«
»Unsinn. Höchstens gegenüber Pflegern, die sie grob behandeln. Sonst ist Clodine eine Seele von Mensch.«
»Vielleicht war sie das vor ihrem traumatischen Erlebnis. Aggressives Verhalten zählt zu den klassischen Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung.«
»Sie können ja rausgehen, wenn Sie Angst haben«, schlug Isabelle vor. »Wäre mir sowieso lieber, wenn Sie uns alleine lassen.«
»Auf Ihre Verantwortung. Sie finden mich im Arztzimmer. Ich benötige dann noch die Personalien dieser Clodine. Und wir müssen entscheiden, wie weiter mit ihr zu verfahren ist.«
»Das müssen nicht wir entscheiden, das kann sie schon selber.«
Als sie alleine waren und sie die Ledermanschetten gelöst hatte, half ihr Isabelle beim Aufstehen. Clodine hatte ein gepunktetes Nachthemd an mit dem eingestickten Namen der Klinik. Sie klammerte sich an Isabelle.
»Du bringst mir mein Leben zurück«, flüsterte sie.
»Dein Leben war nie weg.«
»Dann war alles nur ein böser Traum?«
»Die Ärzte sagen, du hättest dein Gedächtnis verloren. Stimmt das?«
Clodine nickte.
»Du kannst dir nicht vorstellen, wie schlimm das ist …« Sie klopfte sich gegen die Schläfen. »In meinem Kopf war alles leer. Ich konnte mich an nichts erinnern. An absolut nichts. Ich wusste nicht mehr, wer ich war … Erst recht nicht, was mit mir passiert ist.«
»Aber jetzt ist deine Erinnerung wieder da, stimmt’s?«
Clodine versuchte zu lächeln.
»Nicht ganz. Aber seit dem Aufwachen heute Morgen kehrt sie Schritt für Schritt zurück. Immerhin weiß ich jetzt wieder, wer ich bin. Und mir ist eingefallen, wer meine beste Freundin ist. Bei der Visite habe ich dem Arzt deinen Namen genannt und ihn gebeten, dich zu verständigen.«
»So kam das bei ihm nicht an«, sagte Isabelle. »Er dachte, du wärst ich.«
»Weil der Trottel nicht richtig zuhört … Aber kann sein, dass ich undeutlich gesprochen habe«, gab sie zu. »Mein Mund war nach der Nacht total ausgetrocknet und meine Zunge schwer und dick wie eine Kartoffel.«
Offenbar, dachte Isabelle, hatte Clodine ihre Sprachschwierigkeiten überwunden. Sie drückte sich schon wieder so einfallsreich aus, wie sie es von ihr gewohnt war.
»Warum hast du ihm deinen Namen verschwiegen? Oder hat er da auch nicht richtig zugehört?«
»Weil, weil …«
Isabelle ließ ihr Zeit.
»Weil ich Angst vor der Wahrheit hatte. Die habe ich noch immer. Ich hab keine Ahnung, was mit mir passiert ist. Vielleicht habe ich was Schlimmes angestellt, und die Polizei sucht nach mir …«
»Tut sie nicht, das wüsste ich.«
»Ich hab so Flashbacks, da sehe ich mich nackt über einen Strand laufen …«
»Das wäre kein Verbrechen. Es gibt Strände, da sieht man nur Nackte. Und nicht alle sehen so gut aus wie du.«
»Aber mir geistern noch andere bruchstückhafte Bilder durch den Kopf. Da sehe ich mich mit jemandem kämpfen. Vielleicht habe ich ihn umgebracht?«
»Mit wem glaubst du gekämpft zu haben? Wie sah er aus?«
Clodine schüttelte den Kopf.
»Ich hab keinen Schimmer. Ist vielleicht nur eine Einbildung. Genauso wie die Szenen, bei denen ich wie wild tanze und mich mit ausgebreiteten Armen im Kreis drehe.«
»Scheint mir sehr realistisch«, sagte Isabelle lächelnd. »Ich hab dich auch schon wie ein Derwisch im Kreis tanzen sehen. Mir wird dabei schon beim Zuschauen schwindlig.«
Clodine sah sie erstaunt an.
»Wirklich? So etwas mache ich?«
»Und nicht nur das. Wird dir schon noch einfallen. So, und jetzt checken wir hier aus. Ich spreche mit dem Arzt, du kannst dich in der Zwischenzeit schon mal anziehen.«
»Ich hab doch nichts zum Anziehen …«
»Stimmt. Ich besorg dir einen Bademantel. Und tu mir in der Zwischenzeit einen Gefallen und kratz bitte keinem Pfleger die Augen aus.«
Clodine sah sie empört an.
»Käme mir nie in den Sinn.«
»Ich bin gleich wieder da.«
Isabelle hatte eine Erklärung unterschrieben, mit der sie die volle Verantwortung für die angeblich psychisch kranke Patientin Clodine Cassien übernahm. Erst dann wurde ihnen erlaubt, die Clinique psychiatrique zu verlassen.
Clodine war noch unsicher auf den Beinen, wollte aber nicht, dass Isabelle sie stützte. Sie trug einen rosafarbenen Bademantel. Die Klinik würde ihn auf die Rechnung setzen. Sie liefen durch einen langen Flur und kamen gerade an einer kleinen Theke mit einer Schale Orangen vorbei, als ihnen ein stämmiger Pfleger entgegenkam.
»Da kommt ja dieses rabiate Schwein«, murmelte Clodine. »Connard …«
Sie griff sich eine Orange und warf sie in Richtung des Pflegers. Die Attacke kam so abrupt, dass Isabelle sie nicht stoppen konnte – auch war der Pfleger zu überrascht, um auszuweichen. Am erstaunlichsten aber war, dass Clodine ihn trotz ihrer Gleichgewichtsstörungen aus drei Metern Entfernung zielsicher am Kopf traf.
Isabelle legte ihren Arm schützend um Clodine.
»Mein Fehler, pardon«, sagte sie. »Ich bin von der Polizei und hätte die Person davon abhalten müssen.«
Der Pfleger lächelte schief.
»War ja nur eine Orange. Aber es wird höchste Zeit, dass Sie diese renitente Frau von hier wegschaffen.«
Es war offensichtlich, dachte Isabelle, dass man in dieser Klinik nicht auf schwierige Patientinnen wie Clodine eingestellt war. Die Schönen und Reichen machten offenbar weniger Stress.
Als sie auf dem Weg zurück nach Fragolin im Auto saßen, versuchte Isabelle behutsam, herauszufinden, woran sich Clodine mittlerweile erinnerte. Tatsächlich war das schon ziemlich viel. Sie wusste sogar, dass sie einen Laden für Souvenirs betrieb und dass er Aux saveurs de Provence hieß. Nur was in der Nacht passiert war, bevor sie nackt am Strand aufgefunden wurde, daran konnte sie sich partout nicht erinnern.
Isabelle warf ihr von der Seite immer wieder forschende Blicke zu. Clodine war anzusehen, wie angestrengt sie nachdachte. Mit steilen Falten auf der Stirn.
»Ich glaub, da war eine Party«, sagte sie schließlich. »Das würde erklären, warum mir immer wieder Bilder in den Kopf kommen, auf denen ich mich tanzen sehe … Was aber Quatsch ist, man kann sich ja nicht selbst von außen sehen …«
»In Träumen schon«, sagte Isabelle. »Die einfachste Erklärung wäre, dass dir auf einer Party jemand K.-o.-Tropfen in dein Getränk gegeben hat. Die haben dich dann ausgeknockt. Ich weiß, dass es Substanzen gibt, die nicht nur die nächsten Stunden aus der Erinnerung löschen, sondern auch zu lang anhaltenden Gedächtnisstörungen führen können.«
»Ich pass eigentlich immer auf, dass mir keiner was reintut. Ich bin ja nicht doof.«
»Kann aber trotzdem passieren.«
»Ja, kann es …«
»Darf ich dich was Intimes fragen? Wurdest du missbraucht?«
»Hat mich dieser Volltrottel von Arzt auch schon gefragt. Um ehrlich zu sein: Ich weiß es nicht.«
Isabelle sah erneut zu ihr rüber. Dabei entdeckte sie an ihrem Handgelenk ein glitzerndes Armband.
»Was ist das für ein bracelet?«, fragte sie. »Habe ich bei dir noch nie gesehen.«
»Ich auch nicht. Muss mir jemand geschenkt haben.«
»Wirklich? Sieht wertvoll aus.«
»Dachte ich zunächst auch.«
Clodine nahm das Armband ab und drehte es zwischen den Fingern.
»Sind aber leider keine Brillanten, sondern geschliffene Glaskristalle. Dazwischen blaue Saphire, sind aber auch nicht echt. Ich kenn mich mit Modeschmuck aus, ich verkauf ja selber welchen. Trotzdem ist das Armband schön und bestimmt nicht billig.«
»Und du weißt tatsächlich nicht, von wem du es hast?«
»Sagte ich doch gerade, nein, ich hab keine Ahnung.«
Isabelle glaubte ihr. Doch einen Reim konnte sie sich nicht darauf machen.
In Fragolin angekommen, fuhr Isabelle direkt bis vor Clodines Haustür. Sie wollte ihr ermöglichen, schnell und unauffällig in ihrer Wohnung zu verschwinden. Sollte sie in einem rosafarbenen Bademantel gesehen werden, würde das die Fantasie der Dorfbewohner beflügeln. In Fragolin passierte nicht viel, da genügten kleinste Anlässe, um zum Gesprächsthema zu werden.
Ein kleines Hindernis gab es noch: Clodine war nicht nur ihre Bekleidung abhandengekommen, sondern auch ihr Hausschlüssel. Aber Isabelle kannte ihr brillantes Versteck für den Zweitschlüssel. Sie fand ihn am Fenstersims unter einem Blumentopf.
»Kann ich dich eine Weile alleine lassen?«, fragte Isabelle, als sie schließlich in der Wohnung waren. »Ich komm in einer Stunde wieder und bring was zum Essen mit.«
»Musst dir keine Sorgen machen, ich bin gerade gerne etwas alleine … Und bring nicht nur was zum Essen mit, sondern auch eine Flasche Rosé. Mein Kühlschrank ist leer.«
Isabelle lächelte.
»Daran kannst du dich erinnern? Du machst Fortschritte.«
Apollinaire schaute ungläubig, als ihm Isabelle die Identität der Patientin offenbarte.
»Clodine, vraiment? Unsere Clodine? Was macht sie aber auch für Sachen?«
»Oder was hat man mit ihr gemacht? Das wäre die richtigere Frage.«
Er fuhr sich durch die Haare.
»Stimmt, sollte man meinen. Muss aber nicht zwingend sein. Spontane Gedächtnisverluste können auch medizinische Ursachen haben, zum Beispiel durch eine Gehirnentzündung ausgelöst werden oder durch einen Schlaganfall.«
Isabelle sah ihn skeptisch an.
»Woher wollen Sie das wissen? Sagen Sie bloß, Sie haben das wieder in einem Ihrer Hollywoodfilme gesehen?«
»Wäre möglich, da haben Sie recht. Ich erinnere mich an einen Thriller …« Er schnippte mit den Fingern. »Wie war doch gleich der Titel? Na egal, aberum ehrlich zu sein, ich habe während Ihrer Abwesenheit im Internet recherchiert.«
»Einen Schlaganfall hatte Clodine ganz gewiss nicht, sie trifft aus drei Metern eine Orange ins Ziel.«
»Eine Orange? Hätte nicht gedacht, dass das Werfen einer Orange zu den therapeutischen Praktiken einer psychiatrischen Klinik zählt.«
Isabelle schmunzelte.
»Ich auch nicht. Aber im Ernst, der Verdacht liegt nahe, dass Clodine mit K.-o.-Tropfen außer Gefecht gesetzt wurde.«
»Habe ich in der Zwischenzeit auch nachgelesen. Normalerweise führen solche Betäubungsmittel nur zu einem temporären Erinnerungsverlust, der die Zeit unmittelbar nach der Einnahme betrifft. Aber es sind auch weitaus dramatischere Fälle dokumentiert – bis hin zu Todesfällen. Ist eine Frage der Dosierung.«
Wie so oft im Leben, dachte Isabelle.
»Die Dosierung ist nur ein Aspekt«, fuhr er fort, »die Wahl des Betäubungsmittels ein anderer. Ich hab nachgelesen, dass es weit über hundert verschiedene Substanzen gibt, mit ganz unterschiedlichen Folgen und Nebenwirkungen.«
»Clodine glaubt sich an eine Strandparty zu erinnern. Da käme dann wohl Liquid Ecstasy infrage. Wobei ich nicht weiß, ob diese Droge zu so massiven Gedächtnisstörungen führen kann.«
»Ich werde mich schlaumachen«, versicherte Apollinaire. »Aber wenn Sie erlauben, möchte ich den Blickwinkel öffnen.«
»Den Blickwinkel?«
»Nun ja, bei aller Sympathie für Clodine muss sie ja selber nicht ganz unschuldig sein. Vielleicht hat sie freiwillig eine Partydroge genommen, um sich aufzuputschen – und ist dabei über das Ziel hinausgeschossen.«
Wäre ihr zuzutrauen, dachte Isabelle. Auch dass sie sich im Rausch selber ausgezogen hat, um nackt zu tanzen.
»Der Arzt in der Klinik hat gesagt, er glaube eher an ein Trauma als Auslöser. Aber er hatte auch keine Idee, wie ein solches Schlüsselerlebnis in ihrem Fall aussehen könnte. Clodine ist äußerlich völlig unverletzt.«
Apollinaire klopfte sich mit einem Lineal an die Stirn.
»Darüber müssen wir nachdenken …«
Isabelle vermutete, dass er zu diesem Zweck alle ihm bekannten Hollywoodfilme durchsehen würde. Er hielt sie für einen unendlichen Quell der Weisheit. Noch wichtiger waren für ihn nur noch fernöstliche Philosophen wie Konfuzius oder Laotse. Aber zum Thema Partydrogen würde er bei ihnen kein passendes Zitat finden.
»Bevor Sie damit anfangen, sollten wir uns um die naheliegenden Fragen kümmern. Wo genau wurde Clodine an der Plage de Pampelonne aufgefunden? Der Strand ist über vier Kilometer lang. Wir brauchen das Protokoll der Gendarmerie. Gibt es irgendwelche Zeugenaussagen? Hat man ihre Kleider gefunden? Wo hat Clodine ihr Auto geparkt? Was ist mit ihrem Handy? Es ist ausgeschaltet, das habe ich schon überprüft.«
Apollinaire machte sich Notizen.
»Protokoll, Zeugen, Kleider, Auto, Handy«, wiederholte er. »Wird prompt erledigt.«
»Muss nicht mehr heute sein. Morgen reicht völlig. Ich sollte jetzt sowieso wieder aufbrechen und nach Clodine sehen. Ich glaub nicht, dass ich sie heute Nacht allein lassen sollte.«
»Vielleicht fällt ihr bis morgen alles wieder ein? Dann können wir uns die Arbeit sparen.« Er zog eine Grimasse. »Wäre schade, ausgesprochen schade.«
»Warum schade?«
»Weil mir Spaß machen würde, in diesem Fall zu ermitteln. Ich kann ja nicht den ganzen Tag Kopfstände machen oder unserem Kaktus beim Wachsen zusehen.«
Clodine öffnete Isabelle die Tür mit nassen Haaren.
»Ich bin gerade ewig unter der Dusche gestanden«, erklärte sie. »Was immer mit mir auch passiert sein sollte, ich hab alles von mir abgewaschen.«
Wenn das nur so einfach wäre, dachte Isabelle.
»Auch dieser Parfumduft ist jetzt endgültig weg.«
»Was für ein Parfum?«
»Keine Ahnung. Irgendjemand hat mich wohl damit eingesprüht.«
Kurz darauf saßen sie gemeinsam am Tisch. Isabelle hatte eine gekühlte Flasche Côte de Provence mitgebracht und eine provenzalische Pizza. Genau genommen handelte es sich um eine pissaladière, eine Spezialität, die in Nizza ihren Ursprung hatte. In ihrem Fall belegt mit Zwiebeln, Tomaten, Sardellen und schwarzen Oliven.
Clodine aß mit Appetit und stieß mehrfach mit Isabelle an. Merci, merci, flüsterte sie immer wieder.
Isabelle ließ sich Zeit, bis sie wie beiläufig die erste Frage stellte.
»Kann es sein, dass dich ein Freund auf die Party eingeladen hat?«
Clodine riss die Augen auf.
»Was? Ich habe einen Freund?«
»Davon gehe ich aus.«
Tatsächlich war Clodine nie lange solo. Sie verliebte sich ständig aufs Neue. Nur hielten ihre Beziehungen selten länger.
»Ein Freund wäre toll. Zu dumm, dass ich mich an keinen erinnern kann. Ich hoffe, er ist gut aussehend und meldet sich bei mir.«
»Könnte schwierig sein. Du hast zu Hause kein Festnetz, und dein Handy ist weg.«
»Merde. Jetzt habe ich womöglich einen Freund, von dem ich nichts weiß, und er kann mich nicht anrufen.«
Isabelle lächelte.
»Wir besorgen dir morgen ein neues Handy. Vielleicht können wir deine alte Nummer übernehmen.«
»Das wäre großartig. Womöglich liegt das Handy aber in meinem Auto. Hast du dort mal nachgeschaut?«
»Mache ich gern«, antwortete Isabelle schmunzelnd. »Wo hast du den Autoschlüssel?«
»Den Autoschlüssel?« Sie blickte ratlos um sich. »Verdammt … der ist ja auch weg.«
»Weißt du, wo du deinen Renault geparkt hast? Auf seinem angestammten Platz hinter deinem Laden steht er jedenfalls nicht.«
»Dort steht mein bébé nicht? Dann werde ich wohl mit meinem Schnuckelauto dort hingefahren sein, wo, wo …« Clodine langte sich an die Schläfen. »So ein Mist. Ich hab keine Ahnung.«
»Mach dir keinen Kopf. Wir werden ihn gleich morgen suchen und bestimmt schnell finden.«
Das sollte tatsächlich nicht schwer sein, dachte Isabelle. Halt irgendwo an der Plage de Pampelonne, und zwar in der Nähe der Stelle, wo sie von der Gendarmerie aufgegriffen wurde. Blieb die Frage, wie sie den Renault ohne Schlüssel wegfahren konnten.
»Gibt es für dein Auto einen Zweitschlüssel?«, fragte sie deshalb.
»Natürlich gibt es einen Zweitschlüssel. Leider habe ich ihn vor einigen Monaten bei einer Kajaktour vor dem Cap Camarat verloren.«
»Ich gratuliere.«
»Wozu?«
»Dass du dich daran erinnern kannst.«
»Ach so … ja, ich mache Fortschritte.«
Isabelle sah auf ihr Handgelenk.
»Wo ist eigentlich das Armband?«
»Habe ich beim Duschen abgelegt. Solange ich nicht weiß, ob ich mit dem Armband gute oder schlechte Erinnerungen verbinden soll, bleibt es in meiner Küchenschublade.«
»Darf ich es mir ausleihen? Vielleicht bringt es uns auf eine Spur?«
»Bien sûr. Nimm es mit!«
Isabelle sah ihre Freundin prüfend an.
»Kann ich dich heute Nacht alleine lassen, oder soll ich bei dir auf der Gästecouch schlafen?«
»Warum denn das? Ich bin schon ein großes Mädchen und hab alles im Griff. Außerdem bin ich hundemüde. Musst dir also keine Sorgen machen. Und wenn ich dich doch brauchen sollte, rufe ich dich einfach an.«
Einfach würde das nicht sein, dachte Isabelle … ohne Telefon. Aber Clodine hatte schon recht: Sie war ein großes Mädchen und konnte normalerweise gut auf sich selber aufpassen. Und im Rosé, den sie gerade tranken, waren definitiv keine K.-o.-Tropfen.
Am nächsten Morgen brachte Isabelle ihrer Freundin frische Croissants vorbei. Dabei überzeugte sie sich, dass es ihr gut ging. Clodine war noch schlaftrunken. Isabelle füllte gemahlenen Kaffee in die Pressstempelkanne und goss ihn mit heißem Wasser auf.
»Du bist ein Schatz«, murmelte Clodine. »Tu es un amour … Darf ich dich heiraten, falls ich keinen Mann finde?«
Isabelle lachte.
»Wird nicht passieren. Du findest immer einen Mann.«
Vielleicht nicht immer den richtigen, dachte Isabelle. Wie zum Beispiel in besagter Nacht.
»Stimmt, bisher hatte ich diesbezüglich keine Probleme. Wird wohl an meinem unwiderstehlichen Aussehen liegen.«
»Schön, dass du wieder zur Selbstironie fähig bist. Gerade schaust du aus wie ein toter Fisch.«
Clodine hob den Zeigefinger.
»Aber ich riech besser.«
»Stimmt, und ganz so schlimm siehst du auch nicht aus. Hast ja einiges durchgemacht. Darf ich fragen, ob dir seit gestern Abend noch irgendwas eingefallen ist?«
Clodine nickte.
»Absolut, nämlich dass ich so schnell wie möglich meinen Laden wieder öffnen muss. Die Kunden stehen bestimmt schon Schlange … Aber im Ernst: Nein, die Erinnerungslücke bleibt. Ich weiß nicht, was in jener Nacht geschehen ist. Nur, dass ich auf einer Party war, das scheint mir immer wahrscheinlicher. Das würde zu den Bildern passen, die durch meinen Kopf spuken. Aber sicher weiß ich auch das nicht.«
»Wir werden es herausfinden.«
Clodine kniff die Augen zusammen und legte den Kopf zur Seite.
»Warum eigentlich? Vielleicht ist es besser, alles zu vergessen?«
Da mochte sie sogar recht haben, dachte Isabelle. Aber sie war Polizistin. Sie konnte nicht ignorieren, was passiert war. Falls Clodine jemand K.-o.-Tropfen verpasst und sich womöglich an ihr vergangen hatte, durfte er nicht ungestraft davonkommen.
»Wir werden diskret vorgehen«, versprach Isabelle.
»Wer ist wir?«
»Apollinaire und ich, nur wir zwei.«
»D’accord. Apollinaire vertraue ich.«
»Du könntest allerdings auch einen Beitrag leisten: Hör dich doch mal bei deinen Freundinnen um, ob jemand mit dir auf einer Party war. Oder ob du vorher davon erzählt hast. Kannst ja beiläufig in ein Gespräch einfließen lassen.«
»Damit sie nicht neugierig werden? Ja, ich denke, das bekomme ich hin. Aber … aber ich hab kein Handy.«
»Apollinaire wird sich darum kümmern.«
Clodine überlegte kurz.
»Muss er nicht. Der Inhaber unserer Boutique de téléphonie macht mir immer schöne Augen. Er freut sich bestimmt über meinen Besuch.«
Eine halbe Stunde später betrat Isabelle das Kommissariat im Rathaus. Diesmal sah ihr Assistent nicht so aus, als ob sie ihn gerade bei einem Kopfstand gestört hätte. Vielmehr saß er konzentriert vor seinem Computer und traktierte seine Tastatur. Kein Wunder, dass er alle paar Monate eine neue benötigte.
Er unterbrach seine Arbeit und sah sie erwartungsvoll an.
»Bonjour, Madame. Haben Sie schon mit Clodine gesprochen?«
»Ja, habe ich.«
»Und?«
Isabelle wusste, worauf er hinauswollte. Hielt er gerade die Luft an?
»Sie kann sich immer noch nicht erinnern.«
Er atmete tief aus.
»Gott sei Dank … Ich meine, natürlich wäre es schön … Also, was ich sagen will …«
Isabelle sah ihn lächelnd an.
»Sie wollen sagen, dass Sie sich freuen, einen neuen Fall zu haben. Sie trauen sich aber nicht, es auszusprechen, weil Sie Clodine natürlich nur das Beste wünschen.«
»Nur das Beste … naturellement, das versteht sich ja von selbst. Übrigens bin ich schon dabei, unsere Liste abzuarbeiten. Das Protokoll der Gendarmerie habe ich ausgedruckt, es liegt auf Ihrem Schreibtisch.«
»Was steht drin?«
»Wollen Sie, dass ich es Ihnen vorlese?« Er runzelte die Stirn. »Mais non, ich verstehe, Sie wollen von mir quasi die Quintessenz hören, also den substanziellen Kern des Protokolls.«
»So könnte man es ausdrücken.«
»Nun, im Protokoll wird der Strandabschnitt genannt, wo man Clodine an der Plage de Pampelonne aufgegriffen hat. Wir wissen also, wo wir nach ihrem Auto suchen können. Sie wird ja nackt nicht allzu weit gelaufen sein.«
»Kann man bei Clodine nicht wissen.«
»Wir könnten die Gendarmerie bitten, nach Clodines Renault zu suchen.«
»Den Gefallen werden sie uns kaum tun. Das machen wir selber. Was gibt’s noch?«
»Was es noch gibt? Also nur das, was es nicht gibt. So wurden keine Kleider am Strand gefunden. Kein Handy und nichts. Aber um ehrlich zu sein, kann ich mir nicht vorstellen, dass die Gendarmerie groß danach gesucht hat.«
»Gibt’s einen Hinweis auf eine nächtliche Strandparty? Vielleicht eine Anzeige wegen Ruhestörung?«
»Ist nichts vermerkt, aber ich kann nachfragen.«
»Was ist mit Zeugen?«
»Im Protokoll ist namentlich nur ein älteres Ehepaar und ihr Hund vermerkt, denen beim morgendlichen Gassigehen die verwirrte Clodine in die Arme gelaufen ist. Sie haben daraufhin die Gendarmerie verständigt. Ich bezweifle, dass sie uns weiterhelfen können, aber ich werde sie selbstverständlich kontaktieren und eingehend befragen.«
Isabelle bemerkte, dass Apollinaire immer wieder auf ihr rechtes Handgelenk blickte. Dort trug sie Clodines Armband. Offenbar war ihm aufgefallen, dass es neu war. Aber er war zu taktvoll, um sie darauf anzusprechen.
Sie streifte das Armband ab und legte es ihm auf den Schreibtisch.
»Wollen Sie es sich genauer anschauen?«
Er bekam einen roten Kopf.
»Madame, das ist mir jetzt aber peinlich. Ich hätte meine Neugier besser verbergen sollen. Schließlich geht es mich nichts an … Nein, wirklich nicht. Das Armband ist Ihre Privatsache …«
Sie lächelte.
»Ist nicht mein Armband, ist von Clodine.«
»Von Clodine? Hätte ich mir denken können. Das Armband passt nicht zu Ihrem Style.«
»Warum eigentlich nicht?«
»Nun, wie soll ich sagen … also, das Armband ist zu klassisch und zu damenhaft.«
Isabelle hob eine Augenbraue.
»Bin ich in Ihren Augen keine Dame?«
Er kratzte sich am Kinn.
»Sie bringen mich in Erklärungsnot. Natürlich sind Sie eine Dame, aber eine, die Männer mit einem Handkantenschlag außer Gefecht setzen oder während einer Hechtrolle mit der Pistole ins Schwarze treffen kann.« Er räusperte sich. »Was ich sagen will: Sie sind keine damenhafte Dame im klassischen Sinne. Was Sie bitte als Kompliment verstehen.«
Isabelle wusste auch nicht, warum sie Apollinaire mit ihrer provokanten Frage in Verlegenheit gebracht hatte. Aber sie liebte es, sich von Zeit zu Zeit mit ihm zu necken. Außerdem hatte er sich gut aus der Affäre gezogen. Sie lachte.
»Akzeptiert!«
Dann berichtete sie ihm, was Clodine über das Armband erzählt hatte. Dass sie es nach der verhängnisvollen Nacht plötzlich am Handgelenk vorgefunden habe – ohne zu wissen, wie sie dazu gekommen sei. Die funkelnden Brillanten und die blauen Saphire seien nicht echt, sondern geschliffene Glaskristalle. Dennoch dürfte ein solches Armband nicht billig sein.
»Clodine geht davon aus, dass ihr das Armband jemand geschenkt hat«, erklärte Isabelle. »Aber sie hat keine Ahnung, wer das sein könnte. Übrigens habe ich Ihnen noch eine Information vorenthalten: Clodine glaubt sich schemenhaft zu erinnern, mit einem Mann gekämpft zu haben. Sie hält es aber auch für möglich, dass diese Szene ihrer Fantasie entspringt. Auch hat sie dabei kein Gesicht vor Augen.«
Apollinaire nahm sein Lineal zur Hand und klopfte es gegen den Schreibtisch. Noch eine seiner Angewohnheiten. Irgendwann würde ihm gelingen, es auseinanderzubrechen.
»Können Sie bitte damit aufhören. Es nervt.«
Apollinaire stoppte sofort.
»Pardon, aber so kann ich besser nachdenken.«
»Worüber denken Sie nach?«
»Über alternative Szenarien. Zugegeben, am wahrscheinlichsten ist, dass Clodine K.-o.-Tropfen verabreicht wurden. Oder sie hat sich aus eigenen Stücken mit Ecstasy in einen Rausch versetzt. Sie haben den Arzt erwähnt, der als Auslöser ein traumatisches Erlebnis für möglich hält. Ich frage mich, wie könnte ein solches Ereignis aussehen? Vielleicht hatte Clodine am Strand Sex, was erklären würde, warum sie nackt war. Dabei sind sie von einem gewaltbereiten Spanner gestört worden. Es kam zu einer Rangelei. Clodines Sexualpartner hat die Flucht ergriffen …«
»Als Trauma reicht mir das noch nicht aus.«
»Okay, dann halt so: Clodines Sexualpartner ist nicht geflüchtet, sondern hat heldenhaft mit dem Störenfried gekämpft … Dabei wurde er von ihm getötet. Anschließend hat der Wüstling Clodine vergewaltigt …« Er sah sie triumphierend an. »So, ich denke, das würde für ein Trauma ausreichen.«
»Aus welchem Film haben Sie denn diese wilde Geschichte?«
»Kein Film. Das Drehbuch habe ich mir gerade selber ausgedacht.«
»Apollinaire, ich muss schon sagen, Sie haben eine blühende Fantasie.«
»Sie haben mal selber gesagt, ein guter Ermittler müsse auch fähig sein, das Undenkbare zu denken.«
»Das ist Ihnen gerade zweifellos gelungen.«
Während Isabelle noch überlegte, ob an seiner Geschichte vielleicht doch was dran sein könnte, fuhr er fort:
»Also sollten wir nicht nur nach Clodines Auto und Habseligkeiten suchen, sondern auch nach einer männlichen Leiche.«
»Die hätte man längst gefunden«, stellte sie fest. »Um diese Jahreszeit herrscht an der Plage de Pampelonne Hochbetrieb. Da liegt niemand lange unbemerkt rum.«
Apollinaire war anzusehen, dass er seine Theorie nicht so schnell aufgeben wollte.
»Okay, dann hat er sich schwer verletzt nach Hause geschleppt und ist dort seinen Verletzungen erlegen.«
Isabelle schüttelte den Kopf.
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